Hardcover Am Po - Alex Gfeller - E-Book

Hardcover Am Po E-Book

Alex Gfeller

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Beschreibung

Erzählungen aus Feld und Wald. Hemmungslos und unvernünftig.

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Seitenzahl: 429

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Po: Der Po entspringt nahe der französischen Grenze in den Alpen und ist mit 652 Kilometern der längste italienische Fluss. Er bildet vor der Einmündung in die Adria beim gleichnamigen Ort 5 große und einige weitere kleine Mündungsarme aus.

Inhaltsverzeichnis

Am Po

Auf dem Frienisberg

Berwick

Das Lager

Der Flug

Digne

Im Taxi

In der fremden Stadt

Komotini

In der prager Vorstadt

Loulé

Krämerseele

Ovar

Le Déjeuner

Ronda

Leutnant Musil auf Fronturlaub in Bozen

Liebe machen

Słupsk

Über das Sterben I

Über das Sterben II

Über das Sterben III

Über das Sterben IV

Am Po

Eine winterliche Reise den alten Po entlang ist in meinem Kopf im Gange; solcherlei lässt sich bei ständiger Schlaflosigkeit gar nicht vermeiden. Ich sitze auf meiner roten Guzzi, und es steht gleich zu Beginn fest, dass die alte Wasserstraße und die jungen Landwege zwei ganz verschiedene Dinge sind, die überhaupt nicht zueinander passen, die nichts miteinander zu tun haben und die einander meiden, wo immer sie können. Es ist wie verhext: Sämtliche Straßen, ob groß, ob klein, scheinen stets vom Po wegzuführen, und nie zu ihm hin oder gar schön brav einfach den Fluss entlang, wie ich es gerne hätte. So jedenfalls kommt es mir vor, dem unbedarft Reisenden, der immer die Nähe des beruhigenden Wassers sucht. Wirklich nirgendwo sind sie sich einig, die langen, flachen und schnurgeraden Landwege und der alte, im unteren Teil zwischen hohe Dämme eingezwängte, breite Wasserweg; man muss die Karte schon sehr genau studieren, damit man das geografisch dominante Gewässer nicht ständig aus den Augen verliert und in der weiten Ebene erst wieder mühsam suchen muss, denn man weiß bald einmal und für lange Zeit nicht mehr, wo er sich überhaupt befindet, der große, auffällige Fluss, der im unteren Teil ganz eindrücklich zum Strom wird. Er scheint sich ständig zu ducken und zu verstecken, obschon dies in einer solch offenen Weite wie in dieser breiten Ebene eigentlich gar nicht möglich sein sollte. Säße ich jetzt in einem Motorboot und nicht auf einem Motorrad, sähen die Dinge wohl ganz anders aus, denn dann wäre diese bestimmt etwas ungewöhnliche Rei-se in diese riesige Ebene hinein, immer den Windungen und Wendungen des Flusses folgend, weitaus logischer und nachvollziehbarer.

Zu Beginn seines Daseins ist der Fluss naturgemäß geradezu lächerlich klein. Ein ganz gewöhnlicher Bergbach ist das, wie viele andere, absolut identische Bergbäche hier oben an diesen nackten Hängen, ein rauschender Bach, den man überspringen kann, nicht breiter als ein Meter. Das ist nur einer von vielen reißenden Bächen in dieser steilen Gebirgsregion, die vom kah-len Pian del Re am Fuße des Monte Granero knapp unterhalb des alten Col de la Traversette rauschend zu Tale stürzt und sich bald einmal in die lichten, leeren Weiten der Poebene ergießt, die sich von Villafranca an dem staunenden Auge eröffnen, mit mindestens drei Großstädten, nämlich Torino, Milano und Bologna, nebst vielen anderen, kleineren Städten, die sich allerdings angesichts der Weite des Landes trotz aller geschichtlichen Bedeutung recht klein und bescheiden ausmachen, lauter klingende Namen voller historischer und kultureller Geheimnisse, wie Cuneo, Novara, Pavia, Piacenza, Cremona, Parma, Bréscia, Modena, Mántova, Pádova, Ferrara, Ra-venna, Venezia und viele mehr. Ein urbaner Kosmos, ein kulturelles Weltzentrum.

Es sind dies bereits hier im Piemont überaus beeindruckende Distanzen in dieser zunächst grasgrünen Ebene unter einer gleichmäßig hellgrauen Nebeldecke, die bald einmal in endlose, rechteckige Reisfelder eingeteilt ist, soweit das Auge reicht und es der hartnäckige Nebel überhaupt zu erkennen zulässt. Diese großen Vierecke müssen jetzt allerdings, zu dieser späten Jahreszeit, zur nebligen, feuchten Winterszeit also, für einige wenige Monate ruhen. Grobe, fast schwarze, schwere Erdschollen glänzen fett im fahlen Licht, das zuweilen hinter dem Nebelvorhang hervorrieselt. Die großen Maschinen und Traktoren stehen in alten Schuppen still, und die vielen Leute, die hier ansonsten das Land bearbeiten, sind jetzt alle weit weg. Sie müssen gegenwärtig ganz woanders arbeiten, wer weiß wo, in den Fabriken und Werkstätten Turins vielleicht, oder sogar im Ausland, wenn sie nicht arbeitslos zu Hause sitzen, in einer der größeren oder kleineren Städte der Region Piemont jedenfalls, denn die fruchtbaren Landschaften geben sich um diese kalte Jahreszeit ausgesprochen leer, wirken ungewohnt verlassen und streckenweise sogar völlig ausgestorben. Einzig die gelben Nebelwarnlampen blinken auf einsamen Landstraßen still vor sich hin und täuschen Leben vor, wo gar keines ist, und an menschenleeren Straßenkreuzungen stehen verloren ei-nige jämmerlich frierende afrikanische und albanische Huren in viel zu knapper Kleidung herum, wahrhaft bemitleidenswerte junge Frauen, die geduldig und ihrem Schicksal ergeben auf die eher knauserige Kundschaft in vollgepafften Kleinwagen warten, um ihre Großfamilien, die sich vielleicht weit weg von hier in kleinen Dörfern oder großen Slums befinden und sehnlich auf die Überweisung aus Italien warten, ernähren zu können. Ansonsten ist niemand und nichts zu sehen, kaum Verkehr, wenn man von vereinzelten Nebel- und Abblendlichtern absieht, die zuweilen gespenstisch geräuschlos aus der weißgrauen Watte auftauchen, um gleich wieder darin zu verschwinden, kurzzeitig einen oder zwei rote Punkte in den beiden Rückspiegeln der Guzzi hinterlassend.

Bis Turin ist der Po noch erstaunlich klein; eng und schmal schießt er in mutwilligem Hin und Her wie ein junges Fohlen durch sein altes, steiniges Bett, gesäumt von vielen lichten Er-len- und Pappelwäldchen in der Form akkurat abgemessener Quadrate. Die jungen Bäumchen stehen wie stramme Soldaten zur Musterung aufgereiht, kleine Gehölze voller gebrauchter Präservative, Papiertaschentücher und achtlos weggeworfener, weißer, hellblauer und hellrosa Plastiksäcke, wie man sie auf allen italienischen Märkten beim Einkaufen kriegt. Dazwischen liegen unzählige Schrebergärten, denen man selbst in diesem kalten und leeren, aber schneelosen Winter ansehen kann, dass sie sommers üppig Ernte bringen.

Immer wieder öffnet sich die angenehm ruhige Landschaft, um stets neue, äußerst großzügige Einblicke zu gewähren, und wenn sich der Nebel für einige Stunden lichtet, stellt man überrascht fest, wie groß und weit dieses prächtige, fruchtbare Land eigentlich ist, durch dessen Mitte ich soeben planlos fahre, wie majestätisch das Piemont ist, wie würdevoll die Lombardei sich präsentiert. Ich streife sogar kurz die anmutige Emilia-Romag-na und gelange schließlich in das weite, flache und helle Venetien hinein, wo der Fluss endlich die Dimension annimmt, die man von ihm eigentlich schon längst erwartet hat, sehr breit und sehr schwer nämlich, massig bleiern schimmernd und träge unter einem ebensolch bleiernen Himmel überaus gelassen da-hinströmend, eingefasst von hohen, breiten Dämmen, die das weite, farbige Land mit seinen unzähligen alten Ortschaften vor Überflutung schützen.

Still, glatt und leer gleitet „il fiume“ langsam und majestätisch dahin, um sich schließlich in einem überaus weitläufigen Gewirr von Ästen und Armen ins lichte, freundliche Meer zu ergießen. Das ist es allerdings nicht, was mir von dieser Reise in Erinnerung bleiben wird, nicht etwa die Geografie, seltsamerweise, auch nicht die Reise als solche, denn in der Erinnerung verkürzen sich auch die größten Distanzen zu übersichtlichen und somit erträglichen Abständen. Die landschaftlichen Räume schrumpfen in der Vorstellung immer auf ein lächerliches Minimum zusammen, auf eine Begrenztheit, die sie nicht verdient haben, und der weite Himmel ist im Nachsinnen zur Gänze aus dem Bild der Erinnerung, als hätte ihn ein launischer Gott einfach böswillig ausgeknipst, oder als hätte es ihn gar nie gegeben. Allenfalls der sture Nebel bleibt äußerst hartnäckig als feste Vorstellung bestehen, weil er überaus listig, genau wie die trügerische Erinnerung selber, alles viel kleiner und enger macht, weil er alles entweder ins Unfassbare entrückt, oder aber, ganz im Gegenteil, in eine unwirkliche Nähe bringt, je nachdem, worum es sich handelt.

Ich ertappe mich dabei, dass ich ob allem Erinnern unwillkürlich an Dinge denke, die nichts Besonderes mit dieser Reise zu schaffen haben, die aber so beschaffen sind, als hätten sie etwas damit zu tun. Eine schwarze Reisetasche fällt mir unvermittelt ein, deren Reißverschluss klemmt, so dass ich sie nicht mitgenommen habe, obschon ich nicht mehr weiß, ob sich dies tatsächlich anlässlich dieser Reise oder vielleicht nicht doch eher zwanzig Jahre früher zugetragen hat. Ein überaus wohlschmeckendes Sandwich mit Olivenpaste und Anschovis fällt mir zudem ein, ein Teller Spaghetti mit winzigen Muscheln, ein roter Kaffeeautomat in der Nähe einer Bushaltestelle, ein Spiegelei mit geriebenen, schwarzen Trüffeln, eine junge Frau in einer engen Küche, die auf einem winzigen Küchentisch Gnocchetti herstellt, eine andere junge Frau, die in einer weißen Strumpfhose in einem kühlen Flur auf dem Boden sitzt und weinend ihrem amante telefoniert, dann ein leicht bitterer Raukensalat mit Parmesan-Flocken und Balsamico, ein überaus hässlicher, billiger, schwarz-grün gestreifter Pullover aus synthetischer Wolle, den ich in einem gammelig verwinkelten Warenhaus einer weit verbreiteten Warenhauskette gekauft und sogleich hoffnungsfroh übergestreift habe, so hoffnungsvoll eben, wie man sich neuerstandene Kleidungsstücke nun mal immer überstreift, in Erwartung eines ganz neuen Wohlgefühls, dem überaus wichtigen Gefühl der persönlichen Bestätigung nämlich, der Bestätigung eines intimen Selbstwertgefühls, das einer überaus angenehm warmen Dusche ähnlich ist, wie ich sie mir jüngst in einer freundlichen Herberge nahe Valenza gewährt habe, wo ich einen Teller dieser wunderbar frischen, ungewohnt leichten, überaus schmackhaften Sepia-Spießchen gegessen habe, an die ich mich wohl immer werde erinnern können.

Oder ich entsinne mich unvermittelt einer einsamen Tankstelle im großen, leeren, nebligen Land draußen, genau dort, wo außer einer grünen Erdgaspumpstation gar nichts ist, nicht ein-mal eine Kreuzung oder Ähnliches, auch kein Gebäude, wo ich eine ganze Weile mit dem freundlichen, aber furchtbar gelangweilten Tankwart geplaudert habe, weil er sichtlich froh darüber gewesen ist, dass heute überhaupt jemand an seiner abgelegenen und scheinbar vergessenen Tanke angehalten hat. Ich erinnere mich, so scheint es mir jedenfalls, jeweils vorwiegend und vor allem andern an das, was ich bereits vorher gekannt habe oder zumindest gekannt hätte, nehme ich mal an, ohne jetzt diese mentalen Mechanismen genau zu kennen oder exakt durchschauen zu wollen, versteht sich, denn ich erinnere mich weniger oder überhaupt nicht an all das, was bei jeder Reise unweigerlich neu hinzukommt, denn das, was neu ist, sehe ich meist gar nicht auf Anhieb.

Es kommt nämlich oft vor, dass ich erst im Nachhinein herausfinde, was ich auf meiner Reise eigentlich alles gesehen ha-be oder zumindest hätte gesehen haben können, erst wenn ich entweder längst wieder zu Hause bin, oder bestenfalls gleichentags im Hotel, beim abendlichen Studieren der Landkarte oder eines ausführlichen Reiseführers, oder oft auch noch viel später, manchmal sogar Jahre später, z.B. beim Betrachten eines Bildbandes oder anlässlich einer informativen Fernsehsendung. Da fällt es mir jeweils sofort auf, dass ich diesem und jenem ja schon mal begegnet bin, damals, oft ohne zu wissen, was ich da oder dort eigentlich gesehen habe.

Soweit ich diese zerebralen Mechanismen überblicken kann, muss das Erinnern in seinen Grundzügen eher ein unablässiges Bestätigen sein, denn es ist augenscheinlich, dass der Vorgang jeweils ausschließlich oder zumindest vorwiegend das bereits Vorhandene bestätigt. Darum halte ich mich in der Rekonstruktion eines längst vergangenen Vorganges lieber an die innere Reise, nicht an die äußere, also an die sensible, nicht an die effektive, im Bewusstsein, dass die innere Reise ausnahmslos präziser und eindeutig getreuer als die wirkliche Reise wiedergegeben werden kann, deren Einzelheiten einem längst entfallen sind, und dass sie, also die innere Reise, zudem immer ein-malig und einzigartig bleiben wird, authentisch eben und als solche wahrhaftig unvergesslich, während man die wirkliche Reise, wie gesagt, die echte Reise also, allmählich in groben Teilen oder gleich als Ganzes vergessen darf und auch tatsächlich vergisst.

Nur farbige Bruchstücke davon tauchen jeweils unvermutet wieder auf, in der Erinnerung natürlich eher pittoresk überhöht, oft und gerne auch in undurchschaubaren Zusammenhängen, zuweilen erst Jahrzehnte später, meist zur eigenen Verblüffung, bunte Bruchstücke, von denen man zu sagen pflegt, dass man gar nicht wisse, wie man „da jetzt daraufgekommen sei“, oder „wo man sie jetzt herhabe“.

Ich nehme an, dass die griechische Authentie, die Authentizität also, besonders in der Welt der Künste als allererste und al-lerwichtigste Voraussetzung für Qualität längst ein offenes Geheimnis ist. Oder täusche ich mich? Authentizität ist das Schlüsselwort für das Produzieren und auch für das Rezeptieren von Kunst, und es steht ausschließlich für Echtheit, Zuverlässigkeit, Glaubwürdigkeit und auch Einmaligkeit. Oder doch nicht? Auf den ersten Blick scheint dieses Rezept für serielle Kunst nicht zu passen, auch nicht für den kontradiktorischen Pop Art, und doch muss auch diese Kunst authentisch sein, versteht sich. Jedenfalls wird Authentizität immer Mangelware bleiben, das ist schon mal sicher.

Der Grad der Authentizität bestimmt die Bedeutung und den Wert der Kunst. Komisch, nicht wahr, wenn man bedenkt, dass doch eigentlich alles authentisch ist, was ist. Gibt es authentische Authentizität und unauthentische Authentizität? Was wäre denn überhaupt unauthentisch? Eine Kopie? Ein Plagiat? Eine Reproduktion? Ein Falsifikat? Man möchte zuweilen und vielleicht nur spaßeshalber versucht sein, dem Unauthentischen bisweilen mehr Authentizität zuzubilligen als dem Authentischen selber.

Das Gedächtnis arbeitet nun mal nicht fotografisch oder filmisch, meines jedenfalls ganz entschieden nicht, denn diese innere Reise entlang dem alten Po setzt nämlich genau dort ein, wo die Erfahrungsdefizite beginnen, und nicht etwa die Erinnerungsdefizite. Dadurch wird diese Reise erstaunlicherweise viel wahrhaftiger. Das ist ein merkwürdiger Vorgang, der es lohnt, festgehalten zu werden. Eine Reise beginnt ja oft bereits beim Bedürfnis nach Neuem, Fremdem und Anderem, beim unablässigen, dringlichen und steten Verlangen nach Schönem, Betörendem und Berauschendem, ein sehr vitales und verständliches Bedürfnis, angesichts der kulturellen Ödnis, in der wir uns meist befinden, das zudem zumeist ganz banal und deshalb durchaus legal, also berechtigt ist, wenn es sich denn nicht um eine versteckte Flucht handelt. Das wäre ein anderes Motiv.

Doch der Drang besteht vorwiegend darin, eine innere Reise zu erfahren. Dies ist das einzig Wichtige, dies ist das einzig Entscheidende; nur dies zählt später überraschenderweise als Argument und auch als wirklicher Erfahrungswert. Alles andere ist mehr oder weniger ohne Belang, insbesondere die Spezifikation. Es kann der Po sein, es könnte aber ebenso gut die Donau sein, die Daugava, der Rhein, der Tejo, die Elbe, der Ebro, die Loire, die Themse, der Dnjepr oder die Weichsel. Die äußere Form der Reise ist austauschbar, die innere nicht.

Nur deshalb, also aus Gründen der Ordentlichkeit, fängt meine innere Reise den Po entlang an seiner Quelle an, wo denn sonst, an der Quelle des Po, was eigentlich logisch ist, was allerdings nie der Praxis entsprechen kann: Man muss ja immer überhaupt erst dorthin gelangen können, und dies ist im Falle des Po ein durchaus beschwerliches Unterfangen. Das erklärt gleichzeitig den Unterschied zwischen der äußeren und der inneren Reise: Die äußerliche Reise kann, wie gesagt, unmöglich an der Quelle beginnen; sie hat also schon viel früher begonnen, schon zu Hause beim Packen, zum Beispiel, während die innerliche Reise praktischerweise immer genau da beginnt, wo man sie beginnen lassen will, damit sie sich mit der Vorstellung deckt. Genau dort, an der Quelle des Po also, ist ein etwas unbeholfenes Plakat zu sehen, ein großes, etwas plumpes Holzbrett, das jemand an eine dunkle, nasse Felswand geschraubt hat. Darauf steht in weißen, sorgfältig von Hand gemalten Lettern in Ölfarbe: SORGENTE DEL PO.

An der Quelle fängt alles an, alles Leben und alles Sein, und Quellen sind demzufolge seit jeher heilig oder zumindest mystisch, wie man weiß, übrigens auch heute noch, und dies völlig zu Recht. An den Quellen tummeln sich bevorzugt, nebst Myriaden von Nymphen, die Götter selber; sie lieben es ganz besonders, sich an Quellen aufzuhalten, nicht nur, weil man sich an Quellen wie nirgendwo sonst erfrischen kann, weil dort verständlicherweise das beste und sauberste Wasser zu finden ist oder weil man an Quellen jeweils Kreti und Pleti trifft, sondern vor allem deshalb, weil Quellen weitaus mehr hergeben als ein-fach nur einen zufälligen Treffpunkt, weil, wie gesagt, Quellen mythisch und somit mystisch sind. Das merkt jeder, der sich schon mal mit wachen Sinnen an einer Quelle aufgehalten hat, sofort, an jeder beliebigen Quelle, ganz egal wo. Viel Verrücktes ist an Quellen geschehen, Anfänge von langen Geschichten, nicht nur von langen Flüssen, denn an Quellen wird bevorzugt gelagert, gelabt, geliebt und gezeugt, gesungen, getanzt und gestritten, gehandelt, intrigiert und auch schon mal getötet, und allein deshalb sind Quellen bestimmt nicht der richtige und nützliche Ort für Zaudernde, Zaghafte, Furchtsame und Ängstliche. No, Sir.

Von all den Dumpfbacken, Nullen und Nieten wollen wir gar nicht erst reden; die hätten das gar nicht verdient, denn sie merken normalerweise gar nichts davon, sie merken eigentlich nie etwas davon, weil sie grundsätzlich nichts merken, denn wenn man nicht aufmerksam genug ist, bleibt man einfach ahnungslos, meist für immer.

Einige mögen dies jetzt ungerecht finden, vor allem natürlich diejenigen, die nichts von alledem merken. Doch so ist es nun mal. Die meisten Leute nehmen nicht einmal die scharfen Quellennymphen wahr, die gerade an Quellen eigentlich unübersehbar sind. „Tut uns leid“, sagen deshalb die Götter achselzuckend. „Es können nun mal nicht alle Götter, Halbgötter, Viertelgötter oder wenigstens annähernd göttergleich sein, denn wenn alle Götter wären, sagen wir mal, dann fielen die entscheidenden Unterschiede endgültig dahin, und folglich wä-re es überhaupt nicht mehr lustig, ein Gott zu sein. Nicht wahr? Das müsst ihr Idioten halt endlich mal kapieren.“ „Was denn?“ „Es gibt einerseits die Welt der Götter, und es gibt anderseits die Welt der Arschlöcher, voilà, c’est tout. Das muss man sich einfach merken können, denn das sind zwei ganz verschiedene Dinge, zwei ganz enorm verschiedene Dinge!“ „Warum denn?“ „Die Welt der Götter bleibt ewig bestehen, und die Welt der Arschlöcher wird immer wieder untergehen, so ist das, mehr oder weniger. Das ist ein universelles Gesetz, und dagegen ist kein Kraut gewachsen.“ „Und wir? Sind wir denn nichts?“ „Ja, doch, stimmt, richtig. Ihr seid nichts. Rein gar nichts.“ „Haben wir nicht auch universelle Daseinsrechte? Existenzielle Präsenzbescheinigungsberechtigungen? Wenigstens symbolische Solvenzbescheide?“ „Nein, sowas könnt ihr vergessen. Ihr be-steht nur aus Scheiße. Merkt euch das. Ihr könnt nicht einmal fliegen. Und unsterblich seid ihr auch nicht, göttlich sowieso nicht, ihr Arschgeigen. Ihr seid nicht einmal göttergleich.“ „Wozu sind wir denn da?“ „Ganz einfach: Ihr seid da, um uns, den Göttern, immer wieder die Unterschiede zwischen Sterblichen und Unsterblichen vor Augen zu führen. Versteht ihr? Ihr seid da, um uns fortgesetzt in unserer göttlichen Einmaligkeit zu bestätigen, damit wir jeweils erneut unsere göttlichen Vorteile erkennen können und selbige stets von neuem zu schätzen wissen.“ „Und sonst?“ „Sonst ist da nichts.“ „Gar nichts?“ „Gar nichts, nein, tut uns leid.“ „Haben wir denn keinerlei Bedeutung?“ „Bedaure, nein. Ihr seid, einfach so und für euch allein gesehen, also aus dem globalen Zusammenhang gerissen und somit isoliert betrachtet, gar nicht interessant und recht eigentlich eine Zumutung, jedenfalls zu wenig ansprechend für uns Götter. Versteht ihr? In der Regel seid ihr zudem, als wenn das alles nicht bereits ausreichen würde, auch noch unsäglich blöde.“

Gewöhnliche, also Sterbliche, merken, wie immer, überhaupt nichts von alledem. Das ist nun mal so, davon kann man schon mal mit einiger Sicherheit ausgehen. Die Dumpfbacken merken überhaupt nie etwas, genau besehen, das heißt, sie merken al-lenfalls oder bestenfalls erst dann etwas, wenn es längst zu spät ist. So ist das, und man mag das bedauern, oder auch nicht. Ein launischer Gott oder eine überaus kapriziöse Göttin kann einem verdatterten Sterblichen nach seinem unausweichlichen Exitus ohne weiteres und aus reinem Jux nachsichtig und vielleicht sogar etwas boshaft, jedenfalls gar spöttisch einhauchen: „Jetzt bist du aber ganz, ganz tot, du blödes Arschloch, bist mausetot, du armes Schwein!“ „Was? Wie bitte?“ „Steif und starr bist du, du dämlicher Sitzpinkler! Das hast du jetzt davon!“ „Wie? Was?“ „Selber schuld! Du blöde Knallcharge!“ „Wo bin ich?“ „Du bist nirgendwo, du verfaulender Kotzbrocken!“ „Was ist geschehen?“ „Du bist abgekratzt, Alter, das ist geschehen! Du hast soeben endgültig den Löffel abgegeben, du verblichene Furzgurke!“

Und der jetzt bereits ehemalige Sterbliche, also der umgehend Dahingegangene, in seinem billigen Eichenfurniersarge liegend, begreift allenfalls endlich, vielleicht sogar erstmals, doch bestimmt ein allerletztes Mal, die wenigen wesentlichen Zusammenhänge, hebt zum Abschied überrascht den Kopf, schaut sich verwundert um und fragt ungläubig: „Ach ja? Ist es tatsächlich schon passiert?“ „Ja. Du bist weg vom Fenster, Alter.“ „Bin ich endgültig hinüber?“ „Genau. Definitiv weggetreten, Mann.“ „Habe ich ins Gras gebissen?“ „Du sagst es. Du hast ausgeschissen, wie der Lateiner sagt.“ „Hat es mich aus den Socken gekippt?“ „Korrekt. Das Ende der Fahnenstange ist erreicht.“ „Bin ich in die Ewigen Jagdgründe eingegangen?“ „Jawohl. Wenn du es sagst. Abgedüst mit der Nirwana-Air ins Nirwana.“ „In die Grube gesaust?“ „Du nimmst mir das Wort aus dem Mund.“ „Kann ich die Radieschen jetzt von unten betrachten?“ „Du hast endgültig ausgekackt.“

Dann schüttelt der boshafte Gott oder die schelmische Göttin voller Unsterblichkeit vielleicht eine Weile bedeutungsvoll und unerklärlich vielsagend das göttliche Haupt, wenn überhaupt, verzieht gleichzeitig vor lauter Angewidertsein unmerklich das Gesicht, senkt daraufhin die Stimme mit möglichst gewichtiger Miene, mit einer offiziellen oder wenigstens halboffiziellen Gottesmiene nämlich, die gemäß dem göttlichen Mimikrepertoire sowohl dem definitiven Charakter, als auch der imperativen Bedeutung des Geschehens angemessen ist, und der junge, des Sterbens und des Todes Unerfahrene, der erfahrungsgemäß äußerst schlecht informierte Tote, der ja in seiner ganzen Unerfahrenheit und Uninformiertheit meist überhaupt erst das erste und letzte und zudem garantiert das einzige Mal tot ist und somit puncto Totsein sowieso noch keine Erfahrung hat, noch haben kann, ja, der aus verständlichen Gründen gar keine Todeserfahrung kennen kann, will daraufhin in den allermeisten Fällen ums Verrecken apodiktische Beweise für seinen definitiven Abgang haben, hernach vielfach weitere, unerdenklich erhellende und für ihn selber möglichst vorteilhafte Auskünfte erhalten, das versteht sich von selbst, neugierig, eitel und zickig, wie tote Grünhörner in der Regel nun mal sind. Er will des Langen und Breiten wissen, warum und wieso und wozu und wieviel und so weiter, das Übliche halt, und all dies zudem meist auch noch mit der allergrößten und beharrlichsten Hartnäckigkeit und Uneinsichtigkeit, die man sich nur vorstellen kann und die ihm überhaupt gegeben sind, oder mit der hartnäckigsten Beharrlichkeit, wenn man so will: „Bin ich jetzt im Jenseits angekommen?“ „Ja.“ „In den Ewigen Jagdgründen?“ „Genau.“ „Im Paradies?“ „Vielleicht. Wer weiß? Wer weiß das schon genau?“ „Oder bin ich doch in der Hölle gelandet?“ „Möglich. Durchaus möglich. Wenn ich Sie so ansehe, liegt das nahe.“ „Und wie viel kostet mich das?“ „Nichts.“

Und so geht es gleich anschließend, doch zum Glück nicht endlos weiter: „Habe ich ein Anrecht auf Bedienung?“ „Hat es hier irgendwo eine Kneipe, wo man ein frisches Bier kippen kann?“ „Kann ich meine Kleider anbehalten?“ „Brauche ich jetzt meine Identitätskarte noch?“ „Ist meine Kreditkarte hier überhaupt gültig?“ „Akzeptiert man Visa oder Mastercard?“ „Nehmen Sie auch Traveller-Checks?“ „Hat es hier Robben?“ (ein Eskimo) „Werden hier um zweiundzwanzig Uhr die Lichter gelöscht?“ „Darf man hier Fahrrad fahren?“ „Funktioniert hier mein Handy noch?“ „Muss ich mich irgendwo eintragen?“ „Kann ich einen Fensterplatz reservieren?“ „Wo kann ich die Batterien aufladen?“ „Wo ist das Nichtraucher-Abteil?“ „Wisst ihr, dass ich Broccoli nicht mag?“ „Habt ihr einen Großbild-Flachbildschirm-Fernseher mit Fernbedienung?“ „Sind hier meine Telefonkarten noch gültig?“ „Wo finde ich frische Unterwäsche?“ „Kann ich meine Diät verlangen?“ „Wo kann ich hier meinen Wagen parkieren?“ „Habt ihr Insulin?“ „Sind die Duschen sauber?“ „Darf ich telefonieren?“ „Ist das Essen koscher?“ „Kriege ich vor dem Zubettgehen an der Bar noch einen Schlummertrunk serviert?“ „Habt ihr im Paradies eine Hörgeräte-Reparatur-Annahmestelle?“ „Genieße ich hier dieselben Versicherungsleistungen wie auf Erden?“ „Kann ich um acht geweckt werden?“ „Darf man mal kurz austreten?“ „Gehen die Rentenzahlungen hier weiter?“ „Bin ich gegen Unfälle und Krankheit versichert?“ „Wie steht es mit den Zusatzleistungen?“ „Kann man von hier aus ab und zu einen kurzen Ausflug zurück auf die Erde machen?“ „Gibt es ein individuelles, interaktives Fernsehprogramm?“ „Darf ich meinen Herzschrittmacher behalten?“ „Wo kann ich meinen Laptop anschließen?“ „Wo ist der Internet-Zugang?“ „Darf man hier Alkohol trinken?“ „Gibt es überhaupt ein Unterhaltungsprogramm?“ „Wo kann ich tanken?“ „Muss ich mein Gebiss herausnehmen?“ „Wo muss ich mich abmelden, wenn ich mal pinkeln gehen muss?“ „Habe ich hier Anrecht auf eine Privatsphäre?“ „Wechselt hier jemand die Bettwäsche, oder muss man das auch selber machen?“ „Kann ich bitte Mineralwasser ohne Gas haben?“ „Gibt es einen anständigen Puff mit flotten Weibern in der Nähe?“

Doch der bedauernswerte Gott, der sich dummerweise des Verblichenen angenommen hat, oder die geplagte Göttin, die sich versehentlich mit dem doch allmählich Erkaltenden herumschlägt, kann darauf jeweils nur mitleidig und gleichzeitig leicht angewidert, also etwas abschätzig die Schultern heben, sich langsam zum Entseelten hinunter neigen und leichthin oder gar spöttisch zurückfragen: „Spielt denn das jetzt noch eine Rolle, du Furz?“

Nein, spielt es nicht, natürlich nicht, jetzt nicht mehr, definitiv nicht mehr, das müssen wir, die Sterblichen, zerknirscht einsehen und unumwunden eingestehen, oft gegen unseren er-klärten Willen, und zwar ausnahmslos alle, also ohne jede Ex-zeption, ohne uns auf einen einzigen Sonder- oder Spezialfall berufen zu können, wie wir alle bestens wissen oder zumindest wissen sollten. Das hat es übrigens noch nie, eine Rolle gespielt nämlich, das kann man getrost vergessen. Doch genau das fällt einem in der Regel erst jetzt ein, jetzt, da man bereits tot ist, da alles gelaufen ist. Alles klar, wir sind ja schließlich nicht von gestern, wir sind nicht naiv und auch nicht hinter dem Mond, selbst wenn wir jetzt tatsächlich tot sein mögen wie nur irgendwas, denn toter als tot kann man ja gar nicht sein.

Dies alles muss sich fortan und wirklich peinlich berührt, ja, fast geniert, der Verstorbene zur eigenen Festigung und Aussöhnung zerknirscht eingestehen, weil er sich natürlich bei sei-nen wahrhaft kindischen und entschieden kleinlichen Überlegungen endlich ertappt fühlt. Versöhnlichkeit ist jetzt also angesagt, Versöhnung an breitester Front. Der Verstorbene will, dem überwältigenden Ereignis gemäß, verständlicherweise zu-mindest den eigenen Tod angemessen reflektieren können, bitte sehr, wenigstens das; das ist, wenn auch kein ausdrückliches Menschenrecht, so doch ein Totenrecht und auch irgendwie verständlich, nicht wahr? Der Tote will sich nicht auch noch im Tode zu Tode blamieren müssen.

Vielleicht nur deshalb ist er jetzt verhältnismäßig betreten, fühlt sich fast ein wenig verarscht, zumindest ziemlich beleidigt, und dazu ist er bereits leicht sauer geworden, wenn nicht gar säuerlich, der soeben verblichene Verblassende; er merkt also schon etwas von der kommenden, unausweichlichen, ätzenden Totensäure, die in ihm langsam hochsteigen und die ihn unausweichlich zusetzen, die ihn also sehr konkret zersetzen wird, die ihn erst innerlich überschwemmen und von innen her auflösen und verfaulen lassen wird, angefangen bei den empfindlichsten inneren Organen, ausgerechnet, noch bevor sie die Peripherie erreicht hat. Das ist sozusagen der ultimative Körpersaft, der seinen Körper von jetzt an unaufhörlich und für immer erkalten lässt, nachdem ihn ein Spermaspritzer zum Le-ben erweckt hat, und der Mausetote merkt somit schon bald einmal etwas von der unabwendbaren, von nun an reinweg gnadenlos ewig währenden Totheit, die ihn jetzt in ihrer ganzen so heftigen Totalität ohne Wenn und Aber, ohne Ausweichmöglichkeit, ohne Alternative, also absolut unausweichlich er-fassen wird.

Er lässt es wohl oder übel damit bewenden, gezwungenermaßen dem Unabwendbaren wehrlos ausgeliefert und endlos ergeben zu sein, oder eben nicht mehr zu sein, não é verdade? Was will er denn schon dagegen anrichten? Auch wenn er da-bei ziemlich ungehalten und zudem reichlich unbefriedigt bleiben sollte, fühlt er sich fortan auch als Toter insgeheim enorm enttäuscht, reichlich frustriert und ganz objektiv gesehen massiv zurückgesetzt und endgültig zurückgestuft, abgesetzt, abge-stuft, abgehalftert und ausgestoßen, auf entwürdigende Weise erledigt und ausrangiert, jedenfalls ungerecht behandelt, sitzen-gelassen, richtig versetzt, ausgegrenzt und ausgedient, definitiv und doppelt durchgestrichen, ausgerückt, eliminiert und ausradiert, schlimmstenfalls auch noch von seinen Erben ausgeplündert und von der Öffentlichkeit definitiv vergessen oder gar als alte Witzfigur entehrt.

Er findet sich bestenfalls darein, in den Tod also, und das wäre wahrscheinlich sein Glück, vermuten wir mal, und er fügt sich in diese allerletzte Peinlichkeit, die ihn jetzt unausweichlich ereilt hat. Das muss er, wohl oder übel; es bleibt ihm gar nichts anders übrig; das muss er notgedrungen tun, da muss er durch, und sei es nur deshalb, um womöglich noch Peinlicheres und noch Unvorteilhafteres zu vermeiden. Denn wer weiß, was ihm sonst noch alles hätte blühen können, was ihm sonst noch alles hätte zustoßen können, wenn er nicht rechtzeitig gestorben wäre! Es hätte ja alles noch viel schlimmer kommen können! Es hätte ja direkt höllisch werden können! Nicht wahr?

Ja, was hätte nicht noch alles auf ihn zukommen können! Man darf gar nicht daran denken! Tausend Teufel mit glühenden Zangen, allesamt Leute, die aussehen wie geschniegelte Banken- und Versicherungsvertreter, und tausend feixende He-xen, die aussehen wie seine ehemalige Ernährungsberaterin oder wie die Vorsteherin seiner Schule aus Kindheitstagen, tau-send schleimige Autoverkäufer vom Lande mit viel Gel im öli-gen Haar und allerhand tückische Verleger mit schmutzigen Hemdkragen, dazu viel altes, heißes Frittieröl, zusammen mit Pech und Schwefel, zänkische Ehefrauen, erschreckende Steuerbescheide, Tod und Teufel, verspätete Ordnungsbußen wegen unerheblichen Geschwindigkeitsübertretungen, völlig überzogene Heizkostenabrechnungen und auch noch fünfzig tip top herausgeputzte Scheidungsanwälte in Hochform, also das volle Programm.

Der Verstorbene hätte verständlicherweise viel lieber etwas Aufbauenderes gehabt, etwas Bejahenderes, etwas Positiveres, hätte bevorzugt etwas Erheiternderes gehört und bestimmt et-was Erquicklicheres erlebt, das versteht sich von selbst. Etwas Angenehmeres halt. Etwas Harmonischeres. Etwas Erfreulicheres. Etwas Erbaulicheres, zum Beispiel ein garantierter Werterhalt, eine vertraglich abgesicherte himmlische Besitzstandgarantie oder zumindest eine paradiesische, also reichlich bemessene, ewige Pensionsberechtigung mit automatischem Teuerungsausgleich, etwas in der Art, soziale Sicherheit eben und private Vorteile – auch im Himmel. Das wäre durchaus verständlich und für alle nachvollziehbar gewesen. Sicherheit auch im Tod, ewige Weiterzahlungen, verbunden mit leichter, meinetwegen klassischer Musik. Oder schöne Weiber bis zum Abwinken, wem sowas gefallen mag und wer noch nicht genug davon gekriegt hat. Saufen, bis der Doktor kommt. Endlose Fe-rien in Spanien oder auf den Malediven, direkt am Nacktstrand. Ein prächtiger Golfplatz mit achtzehn Löchern. Eine moderne Kegelbahn, dazu ein Fass Bier und ein gutes Dutzend Kumpel aus der Nachbarschaft oder aus dem Betrieb. Oder ein interessantes Nachtleben. Ein reichhaltiges Kulturangebot. Erstklassige Küche. Thé dansant. Maniküre, Pediküre, Massage, Meditation. Bäder, Sauna, Ruhe, Wellness, das ganze Programm. Eine Luxuskreuzfahrt in der Ägäis, oder auch nur gemächliches Altersturnen, einmal pro Woche, mit einem braungebrannten, tschechischen Muskelmann mit eindrücklichen Geschlechtsteilen. Pompöse Theater- und Opernbesuche. Verdi, Puccini, Ros-sini, Claustrophobini. Oder ein gut geführtes, vollständig ausgerüstetes Fitness-Center mit angeschlossener Nouvelle cuisine oder wenigstens mit einer guten Sushibar bestückt. What ever.

Aber diese ultimative Frustration, diese mortifizierte Kompensation ist nun mal eisernes Gesetz. Man mag dies bedauern, man mag dies beklagen, doch man muss jetzt das Beste daraus machen, man muss dies jetzt vor allem positiv sehen; etwas anderes bleibt einem gar nicht übrig. Eigentlich ist es ganz ein-fach: Man muss nichts mehr machen müssen, denn wenn man tot ist, so eine einleuchtende Erfahrung, die sich übrigens gleich als erstes einstellt, gibt man sich mit den unausweichlichen Umständen viel schneller zufrieden, als wenn man lebendig geblieben wäre; das ist die einhellige Erkenntnis unter fast allen Toten und auch ganz generell die einhellige und fast tröstliche Meinung aller Verblichenen überhaupt. Das ist durchaus erstaunlich, nicht wahr?

Man muss es einfach so sehen: Der Tod ist eigentlich überaus praktisch und kostet vor allem nichts. Er ist das absolut Einfachste, was man jemals haben kann. Niemand kann einen dafür belangen, und finanzielle Forderungen, von welcher Seite auch immer, prallen einfach ab. Denn das Naheliegende, was man nach dem definitiven Abgang noch machen kann, muss und darf, ist nämlich im Tod möglichst einsichtig sein und es auch bleiben. Ja, genau. Einsicht bis zum Abwinken ist jetzt angesagt, discernement à l’infinie. Die ultimative Erkenntnis, Alter. So geht das. Lupenrein.

Immerhin muss man, wie schon angedeutet, keine Rechnungen mehr bezahlen, muss nichts mehr unterschreiben und keine unerwünschten Telefonanrufe mehr entgegennehmen. Das alles fällt schon mal weg. Keine Steuererklärung mehr ausfüllen. Keine unerwünschten Besuche mehr empfangen. Keine lästigen Verpflichtungen mehr eingehen. Keine Telekom- oder Cablecom-Vertreter mehr anhören müssen, keine Telefonumfragen mehr unterbrechen. Die Nachbarn ist man auch endgültig los. Aber sowas von los! Die Glotze fällt endgültig weg, mitsamt den fünfhundertfünfzig Programmen für erwachsene Halbschlaue, mental Bescheuerte und zehnjährige Analphabeten. Man wird auch von den Politikern nicht mehr bedrängt, bedroht, beleidigt und erpresst; man muss sie nicht mehr wählen und wird von ihnen auch nicht mehr übers Ohr gehauen, getäuscht, belogen und betrogen, beschwindelt und hintergangen. Nie mehr. Man wird von überhaupt niemandem mehr über den Tisch gezogen, nicht einmal von Automobilverkäufern. Man muss viel Unangenehmes nie mehr tun. Man muss nie mehr mit dem Hund Gassi gehen. Den verdammten Scheißköter ist man nämlich los, und zwar für immer, so wie man auch nie mehr den Kehricht hinuntertragen muss. Nie mehr den Müll trennen, nie mehr Staub wischen, nie mehr die Post holen, nie mehr Fenster putzen, nie mehr bügeln, nie mehr die Autoreifen auswechseln, nie mehr Blumen gießen, nie mehr Knöpfe annähen und nie mehr das WC entstopfen. Die diversen körperlichen und geistigen Gebresten, sowohl die großen, als auch die kleinen, hat man auch wie durch ein Wunder für immer hinter sich gelassen. Kurz: Man ist definitiv kuriert. Ist das was, oder ist das nichts?

Was bleibt einem da anderes übrig, als sich ergeben darein zu fügen? Die Perspektiven sind geradezu verlockend. Die neuen Umstände machen es einem leicht, sehr leicht sogar, und vermutlich ist man nach diesen Erkenntnissen mit einer gewissen Genugtuung tot, nicht wahr? Man wird wahrscheinlich ein zufriedener Toter sein. Weder freut man sich zwar sonderlich, noch ärgert man sich darüber, dass man endgültig und für immer abgetreten ist; es ist einfach so, wie es ist, und es ist einem gleichzeitig absolut scheißegal und doch nicht scheißegal, denn scheißegal kann einem nichts mehr sein, wenn man tot ist. Es kann einem überhaupt nichts mehr sein.

Eine ganz neue und durchaus interessante Erfahrung bedeutet dieser erstmalige und einmalige, weil tatsächlich und entgegen gewissen Prognosen durchaus ewig währende Zustand des Nichtseins, der gleichzeitig gar keiner ist. Existenzialphilosophisch ist das nämlich hochinteressant, wie wir von Herrn Sartre aus Paris gelernt haben. L’Être et le Néant. Da muss man erst mal drauf kommen, das muss man überhaupt erst mal schätzen lernen, einschätzen lernen und abschätzen lernen, denn weder ist dies eine dieser absolut lachhaften und stets zwangsweise von außen angedrohten, also nur aufgesetzten Todesdepressionen (Depressionen hat einer als Toter natürlich auch nicht mehr und absolut nie mehr, ebenso wenig wie Parkinson, Haarausfall, Hämorrhoiden, Schwerhörigkeit, Karies, Muskelschwäche, Gelenkrheuma, Angina, Brust- und Gebärmutterkrebs, Arthritis, Impotenz, Zahnschmerzen, Prostatavergrößerung, Grüner Star, Fußpilz, Schuppen und Gehbeschwerden), noch ist dies ein typischer Ausdruck ewigwährender, existenzieller Gleichgültigkeit, wie einige leicht enttäuschte und leicht versauerte Moralisten jetzt vielleicht vermuten mögen. Null Nihilismus also, denn eine ewige Ablehnung „aus grundsätzlichen Überlegungen“ oder auch nur eine banale existenzielle Gleichgültigkeit wären ja auch noch was.

No, Sir, es gibt nichts mehr, absolut nichts mehr, also auch keine Ängste mehr, und das mag den flüchtigen Neid ausmachen, den die Lebenden zuweilen den Toten gegenüber verspüren, und bedauerlich ist ein Tod eigentlich nur dann, wenn er gewaltsam eingetreten ist, nicht wahr, wenn er allenfalls viel zu früh und gegen den Wunsch und Willen des Verschiedenen eingetreten ist, denn hiermit haben wir es eindeutig mit nichts zu tun, und zwar klein geschrieben, mit nichts, einfach mit nichts. Nicht mit dem heideggerschen Nichts, dem pompösen, germanischen Nichts, das gewissermaßen immer und intensiv von wagnerianischen Fanfarenklängen und teutonischem Kesselpaukengedröhns begleitet wird, also mit dem groß geschriebenen Nichts, mit dem großen Nichts, als handle es sich hierbei um ein gigantisches Schauspiel mit Blitz und Donner, und als müsse sich selbst das bedeutungslose Nichts erst mal gewaltig in Szene setzen, aber auch nicht mit dem spröden Husserl-Nichts, noch mit dem relativ eleganten, weil ausnehmend französischen Sartre-Nichts. Nein, nichts davon.

Das alles wäre auch noch was, und genau das fällt „aus ganz grundsätzlichen Überlegungen“ ersatzlos weg. Gestrichen. Ge-löscht. Nicht einmal ein Wort sollte es dafür geben, weil es ja nichts ist, auch nicht das Wort „nichts“. Aus den Augen, aus dem Sinn. Nein, übrig bleibt einfach nichts, ohne bestimmten oder unbestimmten Artikel, auch ohne besondere Satzzeichen wie Anführungs- und Schlusszeichen, noch mit verräterischen Majuskeln: nichts. Keine versteckte Symbolik, kein esoterischer Brotaufstrich, kein religiöser Popanz, kein existenzieller Firlefanz. Nichts davon. Großes nichts macht sich also breit, klein geschrieben, wie gesagt, und kursiv ist es auch nur, damit man es überhaupt erkennen kann, und das wiederum ist weder gut noch böse, weder befriedigend noch schade, denn all dies wäre ja auch wieder etwas. Es ist einfach nichts von alledem, es ist absolut unqualifiziert und undeterminiert nichts und zudem, wie bereits gesagt, nicht einmal ein bühnengerechtes Nichts, um endlich ein- und für allemal die ganze, göttliche Wahrheit zu sagen, kein Verdi, kein Mahler, kein Bruckner und auch kein Cage, und schon gar nicht so etwas Unglaubliches, Unglaubwürdiges und Unglaubhaftes wie Himmelfahrt, Fegefeuer, Wiedergeburt und ähnlich schmückendes Beiwerk. Null Prunk und Pracht, null Glanz und Gloria, null Klimbim und Klamotte. Nichts davon. Einfach nichts.

Machen wir uns nicht lächerlich und machen wir uns nichts vor: Das Pompöse ist und bleibt für immer völlig und endgültig verschwunden, das Barocke ist für immer und ewig erledigt, der ganze, künstlich aufgesetzte Popanz ist einfach nicht mehr vorhanden, und auch die Romantik ist endgültig vorbei, und somit kann es auch, wenn wir schon das Positive daran erkennen wollen, im Nachhinein keine Blamage mehr geben, keine Abfuhr, keine Enttäuschung, kein Verlust, keine Niederlage und auch keine penetrante Renitenz. Orgelklänge: Aus. Zimbeln und Pauken: Nada. Trompeten und Posaunen: Weg. Schalmeien und Harfenklänge: Null. Sonstige Himmelsklänge: Nix. Engelchöre: Negativ. Weihrauch und Myrrhe: Kein. Ewiges Leben: Numquam.

Das mag jetzt manchen gehörig in Staunen versetzen, denn schließlich ist einem solcherlei als Resultat eines vieltausendjährigen Irrtums ein Leben lang eingetrichtert worden, schon von Kleinkindsbeinen an. Doch wie man es dreht und wendet: Es ist und bleibt unabänderlich nichts, und zwar das kleingeschriebene nichts, und es bleibt auch klein geschrieben, völlig frei von allerlei trügerischen, verfänglichen, weil verführerischen und vor allem verderblichen Artikeln, Adjektiven, Numeralien, Attributen oder sonstigen verdächtigen Disqualifikationen aller Art. Es ist tatsächlich nichts, und das ist völlig richtig so, wenn man es fachgemäß und fachgerecht bedenkt, nämlich klar und unumstößlich. Das muss so sein und ist vielleicht sogar ein großes Glück, ja, das ist recht eigentlich das große Glück schlechthin, diesmal großgeschrieben, also Glück, denn wäre da noch etwas, nach dem Tode also, dann wäre dies auf jeden Fall nichts anderes als ein einziger, großer Beschiss, garantiert. Ein Betrug. Eine Schildbürgeriade. Eine Schlaumeierei. Eine Schlitzohrigkeit, zudem Grund für endlose Streitereien im Auslegungsbereich, im Anlagenbereich und im Auslagenbereich, Grund für grenzenlose Richtungskämpfe, Grund für blutige Religionskriege und mörderische Selbstmordattentate und vor allem Grund für hemmungslose Intrigen, für trickreiche, hinterhältige Ränkeschwänke und für gemeinste Machtspielchen, dessen können Sie versichert sein. Und dann hätten wir die Kacke, denn da wären wir wieder, wo wir angefangen haben, Religion halt, Glaubensfragen, all dies. Der nackte Horror.

Eine himmlische Vorspiegelung falscher Tatsachen also, so richtig vollgekackt und vollgeschissen, beschissener noch als ein durchschnittlicher Versicherungsvertrag oder ein lausiges Bankenabkommen, so richtig Abfall, so richtig Schrott, so rich-tig wertloser Kitsch jedenfalls. Darauf können Sie getrost einen fahren lassen.

So fahre ich auf der Guzzi gemächlich dahin, erlebe das Motorradfahren wieder einmal als einen angenehm intensiven, me-ditativen Akt der inneren Befreiung, lasse den bewährten Zwei-zylinder auf schnurgeraden piemontesischen, lombardischen und venetischen Straßen leise säuseln oder schnurren, oder aber tuckern und klickern, wenn nicht gar bollern und donnern, und genau dies ist die beste Voraussetzung für die innere Reise, weil das Motorradfahren alle meditativen Bedürfnisse abdeckt. Es ist eine Reise im Kopf, auch und vielleicht sogar ganz besonders dann, wenn ich tatsächlich reise, weil nun mal jede Reise vorwiegend, ja, manchmal sogar fast ausschließlich eine Kopfreise ist, wie schon erwähnt, auch und besonders wenn sie tatsächlich stattfindet, wie wir jetzt gelernt haben. Ich denke einfach unbestimmt vor mich hin, mental indefinit, denn reisend denkt es sich nun mal überaus gut. Meditativ, intransitiv und kognitiv.

Das ist definitiv meine ultimative Lieblingsbeschäftigung und wäre bestimmt auch mein völlig unnützer und unproduktiver Lieblingsberuf, wenn ich denn zu wählen hätte: Denkreisender, also Reisender in Sachen Vor-sichhin-denken. Ein Überlegungsgrübler, oder ein Grübelüberleger. Ja, ich denke gerne vor mich hin, so die langjährige, gesicherte Erfahrung, und wehe, es will mich jemand von diesem unbestimmten Dahindenken abhalten oder mein Denken gar in sachdienliche Bahnen lenken, wenn möglich mit dem Hinweis auf Kostennutzendenken, Zeit-ist-Geld-Forderungen, Pflichtschuldigkeitsargumente, Nützlichkeitsfragen oder Rentabilitätskoeffizientenberechnungen! Ganz zu schweigen von Leuten, die daraus nur für sich Kapital schlagen möchten. Solcherlei Leute habe ich leider bereits zur Genüge antreffen müssen, unausweichlich und unumgänglich, und es waren dies ohne Zweifel ausnahmslos alles abverreckte Arschlöcher, durch und durch korrupte Vaganten, gottverdammte Gauner und geisteskranke Halunken. O ja! O ja! Nie ist mir jemand über den Weg gelaufen, der die meditativen Faktoren einer Kopfreise gewürdigt, der deren intellektuellen Aspekte betont oder der die kulturellen Werte dieser spezifischen Geistesleistung hervorgehoben hätte! Nie! Im Gegenteil! Man hat mich deswegen ständig gerügt, man hat mich des-wegen sogar bedroht, man mich deswegen meiner Lebensgrundlage beraubt und man hat mich deswegen auch noch jahrelang verhöhnt! Derart behandelt man hierzulande Kulturschaffende. Dieses Ungleichgewicht muss ich heute nicht mehr haben; das muss ich gottseidank nie mehr haben, by the way.

Vielleicht zieht es mich genau deshalb immer wieder auf kleine, unbestimmte und so genannt unnütze Reisen ohne bestimmtes Ziel, ohne bestimmten Zweck, ohne ausreichenden Sinn, wer weiß? Auf Reisen also, die man gar nicht klar definieren könnte, die man auch nicht schlüssig rechtfertigen könnte, falls man nachher gefragt würde: „Wo bist du gewesen?“ „Das weiß ich nicht mehr genau.“ „Du weißt nicht mehr, wo du gewesen bist?“ „Ne, hab’ ich vergessen.“ „Und? Was hast du dort gemacht?“ „Nichts.“ „Du bist irgendwo gewesen und hast dort nichts gemacht?“ „Kann sein. Weiß ich auch nicht mehr.“ „Was hast du dort gesehen?“ „Hab’ ich glatt vergessen.“ „Warum bist du überhaupt weggegangen?“ „Kann ich dir auch nicht sagen. Hab’ ich auch vergessen.“ „Und warum bist du überhaupt zurückgekommen?“ „Das frage ich mich auch, jetzt, wo ich dich sehe und du mich fragst.“

Dies ist durchaus möglich, durchaus vorstellbar und vielleicht sogar auch nachvollziehbar, obwohl ich ebenso gut bequem im Bett liegend reisen könnte, stundenlang und intensiv, ganze, schlaflose Nächte lang, ein unverzichtbares, belebendes Element bei längeren Spital-, Kur- oder Knastaufenthalten, reisen also, ohne mich deswegen überhaupt erst anziehen, zurechtmachen, körperlich bewegen und vielleicht sogar anstrengen zu müssen, und zudem ohne einen einzigen Cent ausgeben zu müssen. Das darf man auch berücksichtigen. Unangestrengt reisen kann ich nämlich sowohl in meinem warmen Bett, als auch und sogar bevorzugt auf der verlässlichen Guzzi, aber auch im Auto, im Zug, im Bus oder sonst wie und sonst wo. Ganz egal wann, wie und wo, solange wir uns auf festem Boden befinden. Das ist kein großes Problem und kostet mich zudem, wie gesagt, überhaupt nichts, nicht einmal eine bescheidene körperliche Anstrengung, noch eine faktische Verschiebung meines Standortes. Das ist praktisch und kommt meiner angeborenen Bequemlichkeit aufs Vorzüglichste entgegen, denn dies ist, ganz nebenbei, ein rein intellektueller Vorgang, wie wir inzwischen gemerkt haben mögen.

Nur in Flugzeugen und auf Schiffen kann das nicht klappen, denn dort habe ich verdammte Angst, dort ist mir nicht geheuer, dort klappt es nicht. Das Reisen per Schiff oder per Flugzeug passt mir einfach nicht in den Kram, das widerspricht meinem ausgeprägten Sicherheitsbedürfnis, und deshalb geht dort gar nichts. In Flugzeugen und auf Schiffen ist unweigerlich jeglicher Gedanke an Höheres oder Weiteres blockiert, und zwar genau so lange, wie ich mich an Bord befinde, genau so, wie ich dort aus ständiger, unausweichlicher Angst vor dem Absturz oder vor dem Absinken mental gehemmt und kognitiv blockiert bin. Und wenn ich gehemmt oder blockiert bin, läuft einfach nichts in der Birne. Dagegen kann ich nichts unternehmen, da hilft auch kein mentales Training, noch helfen da Drogen aller Art; dem verdammten Scheiß-Angstgefühl in Scheiß-Flugzeugen und auf Scheiß-Schiffen bin ich nun mal hilflos ausgeliefert, oder anders gesagt: Ich meide konsequenterweise Schiffe und Flugzeuge. Amerika, Australien Adieu!

Diese beiden Fortbewegungsmittel sind nicht für mich geschaffen. In Flugzeugen dächte ich unablässig ans Abstürzen, überall, immerzu und unweigerlich, während des ganzen, verdammten Fluges, und auf Schiffen, insbesondere auf Segelschiffen, dächte ich fortlaufend ans Absaufen, ans Ertrinken, also ans Untergehen, und zwar vom Anfang bis zum Ende der verdammten Reise. Ich brauchte mir bloß vorzustellen, wie tief ich durch die eiskalte Atmosphäre fallen müsste, wie heftig der Aufprall am Boden wäre, oder wie bodenlos die schwarze See unter mir ist und wie unglaublich tief mein armer Körper erst absinken müsste, um endlich wieder auf festen Grund zu gelangen. Dann aber wäre es verständlicherweise längst zu spät, denn dort unten, bei den schauerlichschrecklichen Gorgonen, den Töchtern von Phorkys und Keto, und bei den zwei Graien, die beide zusammen nur ein Auge und einen Zahn haben, wie immer das gehen mag, möchte ich ganz bestimmt nicht landen. No Sir, definitiv nicht, niemals.

Derart intensiv ist ansonsten mein beliebtestes Reisen, das innere Reisen also, wenn es nicht auf dem Wasser oder in der Luft stattfindet, dass es mich jeweils höchst genussvoll schlingernd und schlackernd durch fast alle meine aktiven und passiven Gehirnwindungen führt und leitet, schwemmt und spült, rückelt und drückelt, schiebt und stößelt, drängelt und zwängelt. Gleichzeitig lässt dieses andauernde Sinnenbaumeln in mir unablässig sprudelnd die absonderlichsten und eindrücklichsten Bilder, Klänge, Gerüche, Geschmäcker, Gedanken und Überlegungen aus ihren verborgenen Tiefen hochkommen, die absonderlichsten Einfälle wie wunderliche, irrlichternde Wesen mit bizarren Formen aus der Tiefsee, und zwar immer wieder von neuem, phantastisch, bizarr und nahezu pausenlos, aber gleichzeitig auch reichlich amateurhaft, zugegeben, wenig sys-tematisch, wenig strukturiert und bestimmt auch wenig wissenschaftlich. Kenner wenden sich deshalb mit Grausen ab, ich weiß. Aber gerade dieses reflexive Baumelnlassen ist überaus kreativ und lebendig, also durchaus produktiv, meine Damen und Herren, also weitaus erfreulicher als jeder andere Gemütszustand, ganz gewiss! Und garantiert unakademisch!

Alles gefällt mir in den piemontesischen, lombardischen und venetischen Weiten, wie auch die überfüllige Emilia-Romagna, und alles fällt mir dort ein, alles kommt gleich massenweise aus angeblich unbekannten oder ungeahnten Tiefen hoch, alles ist schlagartig ungeheuer präsent, ganz hell, ganz licht, ganz transparent und klar, Altes, Neues, Schönes, Hässliches, Erfreuliches und Bedauerliches, zusammen mit einem überwältigenden Schwall, mit einer breiten Lawine, mit einem richtigen Meer von architektonischen, künstlerischen, historischen, kinematografischen, kulturellen, bildlichen und bildhaften, wirtschaftlichen, gastronomischen, wissenschaftlichen, opernhaften, literarischen, politischen und auch sozialen Höchstleistungen, mit allem, was in dieser kulturell bedeutenden Landschaft unbedingt dazugehört, wenn man durch dieses reiche und überaus reichhaltige Land zieht, um das sich die unterschiedlichsten Mächte schon immer gewaltsam oder ränkereich gestritten ha-ben, ohne indessen jemals die ehrbaren und fleißigen Leute dort befragt zu haben, versteht sich, eine Landschaft voller Ge-schichte und Geschichten, das heißt, voller Intrigen und Kabalen, voller miesester Hinterhältigkeiten und Doppelspiele, voller trickreicher Machenschaften und fintenreicher Arglisten, voller übler Schiebungen, Manöver und hinterletzter Hinterlisten.

Dies alles geschieht zudem leichterhand, nur ganz nebenbei, ganz spielerisch, als supplément volontaire, sozusagen, denn dies entspricht durchaus den freudigen Erwartungen und den üppigen Vorstellungen, die man mit diesen vielfältigen Landschaften verbindet. Hier gefällt es mir, hier könnte ich bestimmt noch lange verweilen, hier könnte ich mich sogar ernsthaft zu Hause fühlen, sehr schnell und für sehr lange, denn hier ist das Leben interessant, und vielleicht ist dies ein unbewusstes, aber authentisches Andenken an meine eigenen Vorfahren, die vor langer Zeit hier gelebt haben. Wer weiß schon, wie lange die unbewusste, also unreflektierte kollektive Erinnerung anhält?

Denn wie uns die Sprache in ihrer ganzen Geschichte und Entwicklung allein schon zeigt, muss dies ein sehr langanhaltender Prozess sein, ein geradezu nie enden wollender Vorgang, ein Entwicklungsgang, der viel älter ist, als wir uns jemals vorstellen können. Allein die Luft hat hier bereits die Konsistenz einer würzigen Gemüsesuppe, hat die Zusammensetzung einer deftigen Minestrone. Sie ist vorwiegend grün, mit einigen roten und gelben Sprenkeln drin, und sie muss neuerdings in €uro bezahlt werden. Ein Liter gewöhnliche Atemluft kostet hierzulande etwa 2 Cents, und das ist nicht sonderlich überrissen, wenn man bedenkt, dass es sich hierbei um erstklassige, vitaminreiche Vorzugsluft in ausgesuchter Gemüsesuppenqualität handelt. Viele Leute ernähren sich hier fast ausschließlich von dieser Luft, ganz abgesehen von der Liebe, die indes eher ein flüchtiger Stoff ist, wie wir alle wissen, und diese Ernährungsmethode kommt die glücklichen Bewohner dieser Ebene nicht einmal sonderlich teuer zu stehen. Es braucht lediglich als notwendige, deshalb empfohlene und sinnvolle Ergänzung zum bestehenden Luftangebot eine Kalziumtablette und ein handelsübliches Multivitaminpräparat mit den kompletten Spurenelementen, täglich eingenommen, und so erhalten der sterbliche Körper und auch der sterbliche Geist nebst Kohlehydraten, Mineralstoffen und Vitaminen, Eiweißen und Proteinen praktisch alles, was sie benötigen:

ergocalciferolum, acidum ascorbicum, cacii gluconas, hydogenophosphas anhydricus, saccharinum, cyclamas, vanillinum, aromatica, excipiens pro compresso abducto, retinoli palmitas, cholecalciferolum, tocoferolum alpha, thiamini nitras, riboflavinum, pyridoxini hydrochloridum, cyanocobalaminum, nicotinamidum, acidum folicum, calcii pantothenas, biotinum, aci-dum ascorbicum, cuprum ut cupri, gluconas anhydricus, manganum ut mangani, zincum ut zinci, magnesium ut magnesii, oxidum leve, ferrum ut ferrosi, fumaras, calcium et phosphorus ut calcii, hydrogenophosphas, acidum paraminobenzo-icum, cholini hydrogenotartras, inositolum, flavonoidea, carthami tinctorii seminis oleum, hesperidinum, rutosidum, lysinum und: papainum.

Tja, wenn das der Papst wüsste! Er, der allein wegen der ausstehenden Salzsteuer durch seine Truppen seinerzeit ganze Städte wie das stolze, etruskische Perugia vernichten und dem Erdboden gleichmachen ließ!

Die ortsansässigen Leute leben also recht günstig, sind kaum übergewichtig und stehen der Wirtschaft voll und ganz zur Verfügung. Das Wirtschaftsgeschehen ist denn auch weitherum bekannt dafür, dass allein die regionalen Betriebe für ein richtig sattes Bruttosozialprodukt der ganzen Nation geradestehen können, ganz abgesehen vom weltweit führenden Design in allen Bereichen der Wirtschaft, der Mobilität, des Wohnens, der Kleidung, der Kunst und der Architektur.

Man kann ohne zu zögern und ohne erst lange zu überlegen mit Fug von einer gelungenen Revitalisierung der Volkswirtschaft sprechen, und es zeichnet für einmal nicht nur die omnipräsente Automobil-, Nutzfahrzeug- und Motorradindustrie verantwortlich, sondern ebenso ausdrücklich die beeindruckende Käseindustrie mit ihrem weltbekannten Hartkäse. Die Wurstwarenindustrie. Die Fleischverarbeitungsindustrie überhaupt. Die überragende Genussmittelindustrie. Die Textilindu-strie. Die Kosmetikindustrie. Die Verpackungsindustrie und die Möbelindustrie. Die großen, trägen Kühe produzieren zudem genügend bis ausreichend biologisch-dynamische Abgase, um die Nebelbildung massiv und nachhaltig zu beschleunigen. Dieser Nebel wiederum, als treffliches Sinnbild eines eher un-terbelichteten Lebens in einer zunehmend unterbelichteten Ge-sellschaft einer reichlich unterbelichteten Welt, bekräftigt uns täglich in der Annahme, dass wir nicht fürs Leben lernen, sondern für besagten Nebel, wie Ermano Borgo selig schon ausreichend deutlich dargebracht und auch vorausgesagt hat, bevor er in seinem roten Ferrari für immer und ewig von uns gebraust ist und uns alle etwas ratlos und leicht verärgert zurückgelassen hat, der verdammte Scheißkerl.

Wir, die ganz Gewöhnlichen, die sterblichen Massen also, wir müssen uns zu guter Letzt völlig alleine im Nebel dieser Welt zurechtfinden können, so sagen sich zumindest die Leute in der Poebene, auch wenn dies in einem kurzen Menschenleben nicht immer sonderlich zufriedenstellend machbar ist. Ein nebelreiches Leben ist das hier, ausschließlich hervorgerufen durch die vielfältigen Mechanismen und erstaunlichen Phänomene der Tiefebenen-Hydrologie, der Tiefebenen-Morphologie und der Tiefebenen-Klimatologie, im Verbund mit den Windverhältnissen, also den Druckverhältnissen, sowohl den meteorologischen, als auch den politischen, wie immer und überall, den Göttern sei’s geklagt. Man kann sich füglich fragen, wie weit denn ein nur durchschnittlich begabter Schriftsteller überhaupt gehen soll, wenn er sich nicht ständig im dichten Nebel der nebulösen Vorstellungen verlieren will.

Wollen wir das überhaupt? Auch diese Frage müssen wir lei-der unbeantwortet im weiten, offenen und durchaus hellen Wirtschaftsraum der Poebene stehen lassen. „Dunque“, rufen wir munter und fröhlich aus, und wir fahren sogleich mit den Ausrufezeichen und mit trotzig erhobener Faust tapfer fort: „Avanti, popolo! Alla riscossa! Bandiera rossa trionferà!“

Auf dem Frienisberg

Ich finde mich an meinem angestammten Fensterplatz im an-genehmen Frühstückscafé, wo ich mich soeben befinde, rein existenziell gesehen recht gut aufgehoben, und ich habe vorderhand gewiss nicht die Absicht, die überaus freundliche Örtlichkeit bald wieder zu verlassen, denn draußen erwartet mich ein ungewöhnlich heftiger Schneesturm, der ungehindert und ungebremst über die weiten Abhänge des Frienisbergs fegt.