Hartland - Wolfgang Büscher - E-Book

Hartland E-Book

Wolfgang Büscher

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Beschreibung

Zu Fuß in das Herz Amerikas, drei Monate lang, 3500 Kilometer von Nord nach Süd: Wolfgang Büscher hat das Abenteuer gewagt. Er läßt sich durch die schneebedeckte Prärie Norddakotas treiben, entdeckt den verlassenen Ort Hartland, der einst Heartland hieß, und freundet sich in den Great Plains mit einem rätselhaften indianischen Cowboy an. Dann folgt er der Route 77 vom Missouri bis zum Rio Grande. Bob Dylan nannte diese historische Straße einmal das eigentliche Herz Amerikas, ihr entlang lasse sich der Geist des Landes einfangen. In Kansas muß Büscher mit gespreizten Armen und Beinen am Wagen des Sheriffs stehen, auf offener Landstraße, er schläft in gespenstischen Motels und viktorianischen Herrenhäusern und flieht aus einem Nachtasyl. Dann Texas. Ranches, groß wie kleine Staaten, die Hitze des Südens. Bei Waco, wo einst die bewaffnete Davidianer-Sekte wochenlang vom FBI belagert wurde, trifft er den heutigen Sektenchef – der Wahn lebt. Büscher läßt sich weitertreiben, immer weiter nach Süden, durch die Desierto de los Muertos, bis er schließlich über den Rio Bravo nach Mexiko verschwindet ... Ein einzigartiges Reiseabenteuer – geschrieben von einem Autor, dessen Bücher, so der «Spiegel», «zum Besten gehören, was in den letzten Jahren in deutscher Sprache erschienen ist». Seit 'Berlin-Moskau' wissen wir, dass Wolfgang Büscher literarisch reist wie kein anderer. Es ist ihm noch einmal gelungen, im Westen diesmal, der Sonne entgegen, Amerika im Blick, Europa im Herzen. (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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Seitenzahl: 336

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Wolfgang Büscher

Hartland

Zu Fuß durch Amerika

Für Susanne, Anna und Fedor

Teil 1

Am Missouri, wo alles begann

Der Amerikadepp

Im Jahr, als der Winter nicht enden wollte, ging ich nach Amerika hinunter, ein dunkler Punkt in der weißen Unendlichkeit der nördlichen Great Plains, eine Ameise im Schnee. Manchmal sah ich mich so, wenn der Geist sich löste und aufflog und einen Moment lang über mir flatterte, während die Füße mechanisch weiterstapften. Der einzige Sinneseindruck, der mir versicherte, du bewegst dich, du bist es, der da geht durch die winterliche Prärie, war das Knirschen meiner Schritte im Eis.

War dort nicht etwas – eine geduckte Bewegung im Augenwinkel? Am Morgen hatte mir der letzte Mann, den ich im letzten Ort vor der Grenze sah, nachgerufen, nicht nur vor den Wölfen solle ich mich in acht nehmen, auch vor den Kojoten. Sie hätten sich mit ihnen vermischt und seien selbst halbe Wölfe geworden. Nein, da schlich nichts. Nicht einen Wolf sah ich, nicht einen Kojoten, nur weiße, weiße Wüste.

Ich fand das Tier an eine Schneewehe geschmiegt. Als wolle es nur ein wenig ausruhen, so heil sah es aus – ein Stinktier, ein Skunk. Seine letzte Tat war es gewesen, sich auf die Todeswunde zu wälzen, als sei es ihm unangenehm, so gesehen zu werden, so tot. Dir sollte es unangenehm sein, dachte ich, es so zu sehen, so tot, aber es widerstrebte mir nicht. In seinem starken, dunkel glänzenden Haar spielte der Wind, blies kleine Wirbel und Schneisen hinein. Ich war allein mit dem Skunk, mit ihm und der Prärie und der großen blauen Blässe darüber, die man Himmel nennt.

Die Wintersonne schien, die Straße war ein schwarzes Band, ausgerollt auf die Grenze zu. Von Norden kam ich, von Kanada, von Saskatchewan her, nach Süden wollte ich, nach Dakota und weiter, immer weiter bis Texas und über den Rio Grande. Ich ging schnell, Erlösung war nahe, heute noch würde ich in Amerika sein.

Ich ging nicht allein. Bei mir waren meine treuen Hunde, die Warnungen. Gehen in Amerika sei ein Ding der Unmöglichkeit, hatten mir Kenner versichert, also alle daheim. Alle kannten Amerika, nur ich kannte es schlecht. Unüberwindbare Autobahnlandschaften, Straßenkreuzungslabyrinthe, gnadenlose Sheriffs! Niemand, wirklich niemand gehe zu Fuß in Amerika, nicht einmal in den Städten. Wagte ich es doch, sei ich von Stund an ein Freak, ein Outlaw, jeder Sheriff werde mich an seinen Wagen stellen, Arme vorgestreckt, Beine gespreizt, wie in den Filmen, und mich ins Gefängnis stecken. Man riet mir dringend zu einem Auto, einem Motorrad, ja sogar zu einem Pferd. Ich weiß nicht, sagte ich, ich gehe lieber. Ich war der Amerikadepp.

Das Duell

Ich erreichte die Grenze noch vor der Nacht. Ein verschlafener Truckerübergang war North Portal – das übliche Grenzmobiliar, Sperren, Schleusen, ein Flachbau. Am Mast das Sternenbanner, riesig, als wolle es sich selbst Mut zuwehen an diesem einsamen Posten.

Ich spähte hinüber. Dort drüben, das war Amerika. Einige Häuser konnte ich ausmachen, das mit dem schlichten Holzgeländer mochte der Saloon sein – regte sich etwas darin, oder war er seit langem geschlossen? Und der barackenartige Langbau, Tür neben Tür, war wohl das Motel. Hinter einer davon würde ich, wenn alles gutging, heute nacht schlafen. Die Häuser lagerten dicht um den Grenzposten, wie ein paar Generationen zuvor die Hütten der Pelz- und Schnapshändler um das schützende Fort.

Mir blieb keine Zeit, Portal näher zu betrachten. Der erste Grenzer, der mich sah, erwachte sofort aus seiner Routine, stellte mich und gab mir Befehle: «Halt! Hier stehenbleiben… Nein, so nicht… Ja, so.» Er war jung. Er wollte alles richtig machen in diesem außergewöhnlichen Fall. Er nahm mir den Paß ab und begann das Verhör. «Woher?… Wohin?… Genaue Reiseroute?» Er beeilte sich, einen harschen Ton anzuschlagen, seine älteren Kameraden waren herausgekommen und umringten uns jetzt, neugierig zu sehen, was für ein Vogel ihnen da ins Netz gegangen war.

Ein Ranghöherer übernahm. Auch er begann mit Befehlen: «Hinein jetzt! Auf den Stuhl da! Taschen leeren, Rucksack leeren. Herüberreichen die Sachen, aber einzeln, Stück für Stück! Nicht aufstehen!» Alles wurde auf die Theke gepackt, die den einen Teil des Raums von dem anderen trennte, der den Grenzern vorbehalten war. Nun das ganze Verhör noch einmal und jetzt richtig. Alles wollten sie wissen, über mich und meine Absichten und über die Reise hierher, von Europa an die amerikanische Nordgrenze, sämtliche Orte und Zeiten.

«Waffen?»

«Keine Waffen.»

Es war weniger eine Durchsuchung meiner paar harmlosen Sachen als meines Hirns. Der neue Vernehmer tastete es auf Widersprüche ab, und ich sah zu, daß keine meiner Aussagen vom ersten Verhör abwich. Auf jedes noch so belanglose Detail würde er sich stürzen, um diesen Kerl zu entlarven, der behauptete, zu Fuß aus der winterlichen Prärie zu kommen, und der vorgab, durch Amerika gehen zu wollen.

Ich wurde in einen anderen Raum geführt. Erstaunlich, wieviel Verhörtechnik, wie viele Türen und Zimmer dieser von außen so unscheinbare Flachbau barg. Etliche lernte ich kennen in den nächsten Stunden. Nahmen sie mir zwei- oder dreimal die Fingerabdrücke ab? Fotografierten sie mich drei- oder viermal in allen Varianten: nah, ganz, amerikanisch? Ich habe nicht mitgezählt, sie wissen es besser als ich. Sie wissen es ganz genau.

Noch hielt meine Contenance. Sicher, ich war in ihrer Hand, aber ich wußte, was sie nicht wußten: Meine Papiere waren in Ordnung und, nun ja, meine Absichten auch. Ich war ihnen ein Rätsel, sie verstanden mich nicht, ich verstand sie gut. Sie taten Dienst auf diesem gottverlorenen Posten, um die Grenze ihres Landes zu schützen, und so, wie ich daherkam, mußte ich Verdacht erregen, auch das sah ich ein. Vermutlich war so einer hier noch nie aufgetaucht.

«Kommen Sie mit!»

Ein neuer Grenzer, ein neuer Raum, ein neuer Fingerabdrucktisch. Der Neue stellte sich breitbeinig auf, bereit einzugreifen, falls es erforderlich würde, ein Riese, der vor sich hingriente, als amüsiere ihn das alles. Endlich was los am Rande der Welt. Der Junge, der mich zuerst verhört hatte, sollte es machen. Er nahm die Sache bluternst. Als ich meine Fingerkuppen in den dafür vorgesehenen Schälchen abrollen wollte, um es hinter mich zu bringen, packte er meine Hand. «Ich mach das.» Und der grinsende Riese sagte: «Entspannen Sie sich, dann geht’s leichter.» Sie hatten wohl verschwitzte Verhörfinger erwartet. Als sie merkten, daß meine Kuppen trocken waren, viel zu trocken für die Prozedur, wies der Riese den Jungen an, Alkoholspray aus dem Regal zu holen, um meine Finger anzufeuchten. Dann packte er jeden einzeln und rollte ihn ab, zehn Stück Fleisch, eines nach dem anderen. So gründlich ging er zur Sache, daß er nicht merkte, wie nahe er mir kam – und die Dienstwaffe an seinem Gurt meiner freien Hand. Hätte der Riese meinen Blick auf die Pistole seines unachtsamen Kollegen aufgefangen, er hätte wohl seine Waffe gezogen. Wie schwer es fiel, den Blick zu lösen – ich mußte meine Augen zwingen, von der Pistole abzulassen. Dann war auch das vorüber.

Alles, was ich bei mir trug, war nun durch ihre Hände gegangen. Neugierig erst, aber bald schon gelangweilt hatten sie meine Stiefelsocken, Schreibhefte und Karten hin- und hergewendet und auf den Haufen persönlicher Dinge gelegt. Täuschte ich mich, oder verließ meine Vernehmer die Lust an der Sache? Die Fragen verloren an Schärfe, die Pausen wurden länger, Nachfragen blieben aus. Trauten sie mir? Ich flocht einen Scherz ein und registrierte die Andeutung eines Lächelns. In diesem beinahe weichen Moment sprang einer mich an, den ich kaum beachtet hatte. Aufgefallen war er mir zwar unter all den Uniformierten, weil er bloß einen grünen Overall trug, als sei er der Gärtner der Grenzstation, aber gerade darum hatte ich ihn bald aus den Augen gelassen. Er mich nicht. So feindselig und bitter ging er mich an, als platze er gleich und habe nun genug von diesem laschen Verhör, wie ein endlich losgelassener Hund. Ein Hund? Nein, er erinnerte mich an etwas anderes, ich kam nicht drauf, so überrumpelt war ich von dem jähen Zorn, der auf mich losfuhr.

Er trug weder ein hoheitliches noch ein Rangabzeichen, nur diese alberne Gärtnerkluft und ein rötliches Oberlippenbärtchen. Keine Uniform, keine Litze, nicht einmal eine Nummer verriet, wer oder was er sein mochte und in wessen Namen er sich einen Ton herausnahm, wie ihn keiner der Grenzer anschlug. Sie hielten Abstand zu ihm. Er gehörte ihrer Truppe nicht an, er gehörte überhaupt keiner regulären Truppe an. Aber er war im Einsatz. Scheinbar wahllos griff er sich dies und das aus dem Haufen meiner privaten Dinge heraus, wie Beweisstücke lagen sie auf der Theke. Als das zu nichts führte, nahm er sich meinen Paß vor, Seite für Seite, neugierig und zugleich angewidert, offenbar erregte es ihn, einen vor sich zu haben, der in all diesen fremden, verdächtigen Ländern gewesen war und nun begehrte, nach Amerika eingelassen zu werden. Was wollte der hier, was hatte er hier zu suchen? Er suchte und suchte den wunden Punkt, bis er zu einem besonders auffälligen Visum kam. Er hielt es hoch und zeigte es herum, als habe er die Tatwaffe entdeckt.

«China! Warum China? Was hatten Sie da zu suchen?»

«Ich war dort, um ein Buch zu schreiben.»

«Ach ja? Und warum fahren Sie nicht nach Taiwan? Ihnen gefällt wohl das politische System in China, wie?»

Mir lag die Antwort auf der Zunge, aber sie kam mir nicht über die Lippen. Was ich von China hielt, was ging es ihn an? Dies war keine Plauderei, es war ein Verhör, er wollte nicht reden, er wollte mich erledigen, einen Feind Amerikas zweifellos. Er blätterte weiter.

«Sie waren in Israel. Wie oft?»

«Einmal, glaube ich, in letzter Zeit.»

«Ha! Im Paß sind zwei Einreisestempel. Sie lügen!»

«Ich dachte, die andere Reise sei länger her und der Stempel in einem älteren Paß.»

Das war die Wahrheit. Aber ich spürte es selbst, sie klang wie eine Lüge. Ich begann, mich mit seinen Ohren zu hören und mit seinen Augen zu sehen. Meine Selbstsicherheit verließ mich. Und er, darauf abgerichtet, solche Dinge zu erschnuppern, spürte es und setzte nach.

«Sie wollen mir sagen, Sie wüßten nicht mehr, wann Sie dort waren? Ich weiß noch ganz genau, was ich vor anderthalb Jahren zum Frühstück gegessen habe, und Sie erzählen mir, Sie wüßten nicht mehr, wann Sie in Israel waren?»

«Und in Jordanien.»

Das war leichtfertig – die Aufforderung zum Tanz auf einem neuen Minenfeld. Aber ich warf ihm hin, was mir gerade einfiel. Vielleicht brachte es ihn aus der Fassung und verschaffte mir eine Atempause. Er schnappte nach dem Köder und wiederholte es, hell empört: «Jordanien!» Und noch einmal, an die Grenzer gewandt, so siegessicher, als habe er mich gleich am Boden: «Er war in Jordanien!»

Es schien zu funktionieren. Jetzt war er es, der leichtfertig wurde. Er hatte wer weiß wie viele Monate untätig in seinem Büro gehockt, während die Grenzer ihre Arbeit taten. Deren Blicke fragten, wozu er eigentlich da sei den lieben langen Tag. Er hatte auf den Moment gewartet, es ihnen zu zeigen. Auf seinen Einsatz. Auf einen wie mich. Jetzt wollte er ihnen demonstrieren, wie man es macht. Die Legende vom harmlosen Hobo entlarven. Rotchina, Jordanien – kommunistische Kontakte, arabische Reisen. Bingo, was für eine Beweiskette! Es bedurfte nur noch ein, zwei gezielter Schläge, und ich läge am Boden.

«Kein jordanischer Stempel im Paß! Sie lügen ja schon wieder.»

«Der Stempel muß drin sein, schauen Sie nach, der Übergang am Jordan, früher Allenby Bridge, heute King Hussein.»

Er fand den Stempel. «Ach da.» Es focht ihn nicht an – um so schlimmer für mich. Er wandte sich an die Grenzer, den Paß mit dem arabischen Gekrakel verächtlich hin und her schlenkernd: «Ich kann das nicht lesen.»

Ich sah die unbewegten Gesichter der Grenzer. Schwer zu sagen, was sie über ihn und über mich dachten, ob sein Hohn bei ihnen zündete oder nicht. Er ließ mir keine Atempause.

«Sie mögen meine Fragen nicht, was?»

Ich schützte schlechtes Englisch vor und murmelte irgendwas daher. Eine neue Lüge in seinen Augen, war doch unsere Konversation bisher flüssig verlaufen. Keiner mußte aussprechen, was er vom anderen hielt. Ihm stand es im Gesicht, das sah ich, und in meinem stand es wohl auch. Wir haßten uns herzlich.

Was war es bloß mit diesem Gesicht? Etwas Beleidigtes und Empörtes zuckte um den wie zum Abschmecken einer Soße gespitzten Mund. Ja, das war er, ein Feinschmecker, ein chef des Verdachts. Und als müsse der ohnehin spitze Zug um seinen Mund ins Komische gesteigert werden, schwebte darüber das Dreieck des rötlich-schütteren Oberlippenbärtchens als Accent circonflexe.

Wir standen uns gegenüber, zwei Schritte entfernt – nein, nur er stand, ich saß. Es war mir verboten aufzustehen. Ihm aufrecht gegenüberzutreten war im Moment mein dringendster Wunsch. Wer war ich? Kein freier Mann, ein Gefangener der Grenzstation. Wer war er? Kein Grenzer, CIA, FBI, Homeland Security, woher sollte ich das wissen, er verbarg es ja, nur soviel wußte ich, daß er ein Eiferer war, ein Moralist an der Nordgrenze, einer von der schwarzmoralischen Sorte, Saint-Just in Amerika. Die Grenzer taten ihre Arbeit, aber in ihm glühte der Haß auf die Untugend. Er befand sich im Krieg, und der Feind war die Lüge. Das war das Spitze an ihm, das Beleidigte und Empörte – daß die Welt nicht so wollte, wie sie sollte, daß sie log und betrog, man mußte ihr auf die Schliche kommen, sie zwingen, die Untugend zu bekennen.

Wie wir auf den Papst kamen, weiß ich nicht mehr. Plötzlich warf er sich darauf. Was der Papst mich anginge, fuhr er mich an. Das geht dich einen Dreck an, dachte ich und begann widerwillig und umständlich: «Nun, er ist Deutscher und…»

Da schrie er, triumphierend, als führe er den letzten, tödlichen Hieb gegen diesen Schurken zu Fuß und seine Lügen: «Der Papst ist Österreicher!»

Es war klar, er hatte den Papst mit Hitler verwechselt. Er hatte sich auf ein Feld gewagt, das zu groß für ihn war. Kaum hatte er das herausgeschrien, da schrumpfte er. Vielleicht sah nur ich es und sonst keiner im Raum, aber ich sah es deutlich. Er wurde klein und schrumpelig vor meinen Augen.

Irgendwann in diesen Stunden, in denen ich festgehalten wurde, hatte ich mit dem Gang durch Amerika abgeschlossen. Wollt ihr mich nicht, dann will auch ich nicht. Sollten sie mich doch fortjagen von ihrer Grenze, ich würde den Rucksack schultern und die Straße nach Norden gehen, die ich gekommen war, dem toten Skunk zunicken und nie wieder dieses Land bitten, es betreten zu dürfen. Ich hatte die Angriffe meines Widersachers weiter pariert, aber dem Verhör wie ein Beobachter zugeschaut, als ginge es mich nichts mehr an. Dieser Gleichmut war nun weggeblasen. Ich spürte die Waffe in der Hand, er selbst hatte sie mir zugespielt bei seiner letzten übergeschnappten Attacke. Die Grenzer schwiegen. So kühl und so abschließend wie möglich sagte ich in die Stille hinein: «Der Papst ist natürlich Bayer.»

O ja, es war kindisch. Nein, es war bitterernst. Was war es gewesen – ein Duell zwischen amerikanischer Ignoranz und europäischer Arroganz? Vielleicht. Vielleicht auch umgekehrt. Die Grenzer standen im Halbkreis um uns, sie hatten das Verhör bis zuletzt verfolgt. Mancher sah zur Seite, keiner ließ sich anmerken, was er dachte. Das Duell war ausgetragen. Der Papst war Bayer, mein Widersacher besiegt. Fauchend verschwand er. Die Tür fiel hinter ihm zu, mir stand die Tür nach Amerika offen. Ein paar Minuten noch, und ich war frei.

Um die Anspannung zu lösen, fragte ich dies und das über Dakota, der Riese und auch der Junge gingen gleich darauf ein. Dakota sei sicher, sagten sie, aber je weiter südlich man komme, desto unsicherer werde es. Am schlimmsten sei Texas, aber Mexiko noch viel schlimmer. Wie es hier oben denn mit wilden Tieren bestellt sei, fragte ich weiter. Wölfe gebe es und Kojoten, erklärte mir der Riese und, nach einer Pause, um es spannend zu machen:

«Und cougars, Berglöwen.»

«Greifen sie Menschen an?»

«Kojoten haben mehr Angst vor Ihnen als umgekehrt», sagte der Junge. «Mit den Berglöwen ist es was anderes.»

«Erst neulich wurde einer gesichtet, zwei Meilen vor der Stadt», sagte der Riese, und es erschien ein breites Grinsen auf seinem Gesicht. «Also, wenn Sie zu Fuß gehen wollen… Wenn Sie allein sind, und der Löwe ist hungrig…»

Sie hatten mich angewiesen, Jacke und Stiefel wieder anzuziehen und meine Sachen einzupacken, aber nun ging den Grenzern mein sorgsames Packen auf die Nerven, sie sagten, ich solle das Zeug einfach in den Rucksack stopfen und draußen warten. Nach einer Weile gaben sie mir meinen Paß, darin fand sich das Visum. Ich könne nun nach Amerika gehen, sagten sie. Ich ging in den Saloon.

Norddakota im Morgenlicht

Ich erwachte, machte Licht und fand mich in einem Dreißig-Dollar-Zimmer. Ich sah es mir genau an. Ich würde es oft wiedererkennen in den Monaten, die vor mir lagen, beinah jede Nacht – den Teppichboden von unklar dunkler Farbe, mit den unübersehbaren Spuren der Motelgäste; den abgewetzten Sessel, auf dem mein Rucksack die Nacht verbracht hatte; das Kingsize-Bett, darin ich; und auch mein Zimmergenosse, der Fernseher, würde mir vertraut werden, mehr als das, ein verläßlicher Reisekamerad.

Er war es, der mir abends als letzter gute Nacht sagte, und er war es, der mir als erster guten Morgen wünschte, wenn ich, eben aufgewacht, zur Fernbedienung griff, um zu hören, wie heute das Wetter würde. Er warnte mich vor Blizzards, Hagelstürmen, Tornados, vor der Regierung und berichtete mir knapp, was ich noch wissen mußte. Auch wenn ich einmal nicht schlafen konnte und Mitternacht lange vorbei war, wußte er Rat; dann kramte er aus einem seiner Kanäle einen alten Abenteuerfilm hervor.

Und noch etwas war im Zimmer, dieser falsche Geruch. Restschwaden des Gute-Laune-Sprays hatten die Nacht überlebt, gestern versprüht, um alle anderen Gerüche zu überdecken, hier wie in allen Motels. Spuren von etwas Fruchtigem, ein Hauch von Vanille. Ich versuchte, nicht durch die Nase zu atmen, riß das Fenster auf und die Tür.

Ein Blick auf die Armbanduhr, sechs Uhr früh. Draußen war es noch dunkel, Winterluft wehte herein. Ich schüttete meine Dinge, die ich gestern so hastig in den Rucksack hatte stopfen müssen, aufs Bett, packte neu und ging. In keinem der Zimmer links und rechts brannte Licht. Auch Portal schlief noch, die Häuser hier und da schwach beleuchtet von einem Scheinwerfer, einer einzelnen Lampe.

Als ich am Saloon vorbeikam, fiel mir der gestrige Abend ein. Hungrig war ich gewesen nach dem Ringen, und der Saloon war der einzige Ort in Portal, an dem es etwas zu essen gab. Redneckmusik lief, an den Wänden hingen verstaubte Wagenräder, Cowboyhüte, Revolver und Flinten, es roch nach Bier und Bratfett, aber es war warm und belebt, darum war es gut. An einem der Tische mochte ich nicht sitzen, ich hatte von Tischen und Stühlen erst einmal genug. Ich stellte mich an die Bar, und mit jedem Ausatmen fiel die Grenze von mir ab, Stück für Stück. Er hatte mich nicht besiegt. Ich war hier. Hier in diesem schäbigen Saloon. Und würde durch Amerika gehen, nach Süden, immer nach Süden.

Am großen Tisch hinter mir saß ein spindeldürrer Kerl, er trank und spielte Dart mit den anderen dort. Immer, wenn er aufstand, um seine Pfeile zu werfen, sah ich, wie lang und hager er war. Sogar die engen Röhren seiner Jeans schlackerten ihm um die Beinstöcke, sein Haar hing in Fransen herab, seine Hüfte, so schien es, vermochten zwei kräftige Hände zu umgreifen. Er hatte ein graues, unangenehmes Gesicht und konnte seinen Jähzorn kaum beherrschen, wenn er schlecht warf. Er warf oft schlecht.

Irgendwann ging er in einen Nebenraum, den ich gut einsehen konnte von meinem Platz an der Bar, um den kleinen Jungen zu quälen, der dort Videos schaute. Er fuhr ihn an und packte ihn grob am Nacken, der Kleine rollte sich unter dem harten Griff zusammen wie ein Kätzchen. Sobald der Spindeldürre von ihm abließ und zurück zum Tisch ging, an dem auch die Mutter des Jungen saß, die all das nicht störte, griff der Kleine zur Fernbedienung und kroch zurück in seine Innenwelt mit ihren Helden und Heldentaten.

Was tat er um diese frühe Stunde, schlief er noch? Über dem Saloon war alles dunkel und still. Würde ihn ein gutes Wort wecken oder die harte Hand des Spindeldürren oder das fahle Frühlicht, das sich jetzt in die wenigen Straßen von Portal stahl? Halt durch, roll dich ein, wenige Jahre noch, und du wirst fortgehen, heimlich im Morgengrauen, an einem Morgen wie diesem, solange halt durch.

Weg von hier wollte auch ich, fort aus der Gegend der fanatischen Gärtner und hungrigen Berglöwen. Als ich mich irgendwann umdrehte, war von Portal nur noch der Wasserturm zu sehen, dann verlor auch er sich in der weißen Leere von Dakota. Selten nur kam mir ein Auto entgegen. Einen Menschen außerhalb dieser wenigen Pickups bekam ich nicht zu sehen, und so würde es bleiben. Die einsamen Farmen, an denen ich vorüberging, konnte ich an einer Hand abzählen. Keine Sichtung, geschweige denn Begegnung, nirgendwo ein Mensch. Lag es am Winter, der nicht enden wollte, oder war es immer so? Ich wußte es nicht.

Vor Tagen noch hatte ich so vieles gewußt. Niemals hatte ich ein Land so wohlinformiert, so bildersatt betreten wie dieses. Über Amerika hatte ich mehr gelesen, aus Amerika mehr Filme und Lieder, mehr Namen und Momente im Kopf als von jedem anderen Land, und das waren nur die altmodischen Verfahren. Die neumodischen hatten mir Geistreisen hierher angeboten, am Bildschirm war ich ausgiebig im Grenzgebiet unterwegs gewesen: die Great Plains aus nächster Nähe und Anschauung, herangezoomt, Straßen, Flüsse und Farmhäuser mit Tonnendach. An Kreuzungen stehend, hatte ich mich in Präriestädtchen umsehen dürfen, in 360-Grad-Schwenks, und gemeint, das Quietschen über mir hängender Ampeln zu hören. Jeden Ort hier kannte ich beim Namen, jeden Teich, jeden Hügel, winzigste Siedlungen waren mir geläufig, sogar solche, die es gar nicht mehr gab, die Geisterstädte von Dakota. Jetzt war ich wirklich hier und sah das alles wirklich, und mein Vorwissen zerging zu nichts. All die Bilder und Informationen, wo waren sie hin? Wie Funde aus uralten Gräbern zerfielen sie an der Luft, sobald sie ihr ausgesetzt wurden. Balsamierte Momente. Gegenwarten aus dritter Hand. Bloße Schatten wirklicher Bilder.

Starr stand die Sonne, als hielte jemand die Erdachse an, starr lag das Land unterm Eis. Nur Skelette des letzten Sommers stachen daraus hervor. Autowracks und Erntegerät, wie in Krämpfen verrenkt, die Stacheldrahtgirlanden der Farmzäune, halb versunken im Schnee. Ein Adler kreiste. Güterzüge sah ich im Winterschlaf liegen, ab und zu eine Ölpumpe – ihr heiseres Nicken und Picken dann. Die schwarzen Drähte einer Oberleitung liefen über mir wie Notenlinien, aber es fehlten die Noten, kein Vogel saß auf dem Draht – ein am Winterhimmel hängendes ungeschriebenes Lied. Ich wollte es hören.

Dieser knisternd gegenwärtige Wintermorgen in Norddakota, die schneidende Kälte, in der ich ging, der leichte Schmerz beim Einatmen, die winterstarre Welt – all das barg die pochende Erwartung von Dingen, die kommen würden, die auf mich warteten an der Biegung der Straße. Immerzu hielt ich Ausschau nach etwas, nach einer Farm, einem Haus, einer Rinderherde, einem Pferd, einem Auto, einem totgefahrenen Hirsch oder Kojoten. Das alles gab es alle paar Meilen, aber es diente nur dazu, die Leere um so vernichtender, um so grandioser zu empfinden, die endlose, baumlose, brettflache Prärie. Wie leer Amerika war! So leer war Amerika, so amerikanisch die Leere – so hatte ich das nicht gewußt. Hätte ich mein reiches, überreiches Vorwissen in einem Beutel bei mir getragen, in diesem Augenblick wäre er in den Schnee geflogen. Nein, ich hatte dieses Land nicht gekannt, zu meinem Glück. Ich sah Amerika zum ersten Mal.

Hartland

Über Nacht war das Wetter umgeschlagen, von Saskatchewan her kam eine schwarze Wand gezogen. Sinnlos, ihr entkommen zu wollen, der Schneesturm flog schnell, bald würde er mich einholen. Noch aber ließ er mir einen Vorsprung. Gestern, in der Abenddämmerung, war ich in einen winzigen Ort gekommen, wo ich zu meiner Überraschung eine Unterkunft fand, eine im Winter offene Lodge, seit dem Morgen war ich weitergelaufen, auf die Stadt Minot zu.

Allmählich veränderte sich das Land. Es wurde karstig, hügelig. Ich zog die Karte zu Rate. Bis Minot würde ich es nicht schaffen an einem Tag. Heute früh in der Lodge hatte man mir gesagt, auf halbem Weg gebe es ein Motel, in einem kleinen Ort namens Berthold, doch Berthold lag abseits der großen Straße nach Minot, eine Nebenstraße führte dorthin. Ihr folgte ich nun schon seit Stunden.

Erst fand ich es nicht ungewöhnlich, niemandem zu begegnen, aber es blieb dabei. Kein einziges Auto überholte mich oder kam mir entgegen, niemand sonst nahm diesen Weg, der sich in die Hügel schlängelte und später durch unbestelltes Ödland. Irgendwann erreichte ich wieder Farmland, eine flache Hochebene, wenn meine Orientierung mir keinen Streich spielte, aber an ihr begann ich zu zweifeln. Ich hatte das Gefühl für die Himmelsrichtungen verloren. Erst als ich entdeckte, daß die Feldwege, die ich kreuzte, Namen trugen, erhielt mein Weltvertrauen neue Nahrung. Avenue oder Street hießen die numerierten Wege. Sonderbar nur, daß meine Karte sie nicht verzeichnete und auch die Straße nicht, auf der ich ging. Ich steckte die Karte weg, sie nutzte mir nichts mehr.

Ich sah mich um. Kein Ort, kein Haus, kein Lebenszeichen. Die schwarze Wand von Kanada her schien verschwunden, aufgelöst, aber das war sie nicht. Sie hatte sich über den ganzen Himmel verteilt. Es begann zu schneien. An asphaltierten Straßen wie dieser lagen gelegentlich Farmen, das war mein einziger Trost. Ich hoffte, auf eine zu stoßen, aber selbst wenn, wußte ich nicht, ob es mir helfen würde. Viele Farmen hier draußen waren aufgegeben oder nur noch Sommerhäuser ihrer alten oder neuen Besitzer und den Winter über unbewohnt.

Ich ging ohne Sorge, ohne Eile. Nichts gleicht dem Frieden, den fallender Schnee übers Gemüt des Wanderers wirft. Peitschender Regen hätte mich aufgebracht und meine Schritte beschleunigt, betäubende Hitze meine Reserven mobilisiert. Wie sanft fiel doch der Schnee, wie leicht wurde mir darin. Im lautlosen Flockengestöber gehen, in einer aufgeschüttelten Schneekugel, ringsum ein Taumeln – alles gleich, oben und unten, nah und fern, nicht mehr auszumachen, wo das Land endete und der Himmel begann. Himmel, wie soll es weitergehen – wohin? Jetzt war nicht mehr bloß meine Karte sinnlos, jetzt schwand auch die letzte Orientierung. Ich sah und hörte die Welt vor lauter Schneeflocken nicht mehr, ich wurde schneetaub und schneeblind. Wäre eine Farm aufgetaucht, gar nicht weit vom Weg, ich wäre an ihr vorübergegangen, ohne sie zu bemerken, so dicht fiel und wehte der Schnee.

Ein sachter Schwindel erfaßte mich. Als ich das nächste Avenue-Schild im Gestöber entdeckte, eine unverhoffte Senkrechte in der wirbelnden Welt, ließ ich mich an ihr herabsinken, riß den Rucksack auf, zerrte die Rettungshaut hervor, außen silbern, innen rot, und hüllte mich ganz hinein. Da blieb ich hocken, ein atmendes Silberhäuflein in der großen Gleichgültigkeit, und schneite langsam ein. Um nicht wegzudämmern, summte ich ein Lied, das russische Lied vom Tod. Wald, öde Heide, kein Haus weit und breit. Kamst wohl, mein Bäuerlein, aus der Schenke. Trankst dir ein Räuschlein an, ich denke. Komm, leg ein wenig zur Rast dich nieder, schütt du, Schneesturm, ihm auf das Bette! Auf, rüst ihm sorglich die Ruhestätte.

Mein Geist ging ein und aus mit jedem Atemzug, jetzt sah ich den betrunkenen Bauern sich durch den Schnee schleppen, jetzt sah ich mich selbst unter meiner Silberdecke hervorblinzeln, jetzt sah ich, was da aufgeschüttelt wurde, das Taigatotenbett für ihn, das Prärietotenbett für mich. Nicht mehr lange, und ich würde mich unter meine Plane strecken, ins sorglich aufgeschüttete Bett. Aber der Bettenmacher wollte mich noch nicht – das Gestöber ließ nach. Es legte sich schließlich ganz und gab den Blick frei auf etwas, das wie ein Haus aussah, und das war es, ein Haus, eine kleine Farm.

Ich fand keine Schelle und klopfte. Niemand öffnete, aber es gab eine frische Spur im Schnee, das Haus war nicht unbewohnt. Ich pochte noch einmal. Endlich hörte ich drinnen Schritte, jemand schlurfte herbei. In der Tür erschien ein hochgewachsener Mann, von der Hüfte abwärts in ein buntgestreiftes Handtuch gewickelt, seine dürren Knie schauten heraus. Obgleich er grau war und eingefallen, mußte er einmal eine stattliche Figur abgegeben haben. An ihm vorbei sprangen zwei Hunde heraus, das ganze Gegenteil ihres Herrn, klein und schwer.

«Kann ich helfen?» fragte er jetzt. «Wo ist denn Ihr Auto liegengeblieben?»

«Kein Auto, ich bin zu Fuß unterwegs.»

«Zu Fuß?» Er hatte etwas Militärisches an sich, trotz des bunten Handtuchs. Er musterte mich wie ein Ausbilder, der schon vieles gesehen hat und sich nichts daraus macht, wie idiotisch einer daherkommt, er würde ihn schon zurechtschleifen. «Entschuldigen Sie», sagte er, auf das Handtuch deutend, «ich habe Krebs, ich habe niemanden erwartet und konnte nicht so schnell zur Tür kommen. Sie haben also kein Auto.»

«Ich glaube, ich habe mich verlaufen.»

«Sie haben sich verlaufen? Sie wollen mir sagen, Sie laufen im Schneesturm zu Fuß in der Prärie herum?»

Gern wäre ich sang- und klanglos verschwunden, es war mir unangenehm, ihn aus seiner Winterruhe aufzustören. Das ging nun nicht mehr. Er hatte mir geöffnet und mir eine Frage gestellt, ich mußte etwas vorbringen. Ich wühlte die Karte wieder heraus und zeigte ihm die Stelle, an der ich glaubte, von der großen Straße abgebogen zu sein.

Er sah meine Verlegenheit und deutete sie auf seine Weise: «Warum sagen Sie nicht geradeheraus, daß Sie darum hier sind?» Er machte eine unwirsche Handbewegung ins Land hinaus.

«Darum – was meinen Sie damit?»

«Halten Sie mich nicht zum Narren. Sie sind nicht der erste, der vor dieser Tür steht und danach fragt. Allerdings ist noch keiner im tiefsten Winter gekommen, das muß ich zugeben.»

«Ich fürchte, ich verstehe immer noch nicht.»

«Jetzt hören Sie mal! Sie klopfen im Schneesturm an meine Tür. Laufen in einer Jahreszeit hier draußen herum, in der niemand seinen Hund vors Haus jagt. Jäger sind Sie jedenfalls nicht, Sie haben ja nicht mal ein Gewehr. Was ist – wollen Sie einen heißen Kaffee oder nicht?»

Wir gingen hinein. Er ließ sich in einen schweren Sessel fallen, der so ans Fenster gerückt war, daß er freien Blick ins Land bot. Viel war allerdings nicht zu erkennen, der Schnee fiel wieder dichter. Was der Mann nötig hatte, lag und stand in Reichweite. Ein Zehnerpack plastikverschweißter Wasserflaschen, aufgerissen, eine billige weiße Thermoskanne. Ein zerkratzter Armeefeldstecher lag auf der Armlehne, sein Jagdgewehr lehnte daran. Auf dem Boden stapelten sich Wolldecken, auf einem Tisch Militärzeitschriften und Medikamente. Auch seine Hunde froren, sie watschelten zu ihren Decken auf beiden Seiten des Sessels.

«Ich bin nicht von hier», begann er, während er mir eine Tasse Kaffee eingoß. «Ich hab das Haus vor ein paar Jahren gekauft, als ich die Diagnose kriegte. Ich sitze hier, nehme meine Pillen und schaue hinaus, so vergehen die Tage. Man sorgt für mich, jemand bringt mir, was ich brauche. Manchmal kommt Wild in Schußweite, ich jage vom Sessel aus, die beiden» – die Hunde sprangen auf, bereit, seinem Befehl zu folgen – «holen vom Feld, was ich schieße. Dann feiern wir ein Truthahnfest.» Er unterbrach sich. «Das interessiert Sie nicht, stimmt’s? Sie sind hinter diesen alten Schauergeschichten her. Ich sag’s Ihnen gleich, ich weiß nichts darüber. Es wird manches geredet, ich glaube, das meiste ist Phantasie. Da draußen vermodern ein paar alte Häuser, keine zwei Meilen von hier. Wollen Sie mir immer noch weismachen, Sie hätten sich verlaufen und keine Ahnung, wovon ich rede?»

«Schon gut, schon gut.» Ich lenkte ein, ohne zu wissen, wohin. Keine zwei Meilen von hier – meine Karte kannte in dieser Gegend nur einen Ort. Er war verlassen, eine Geisterstadt, soviel ich wußte. «Meinen Sie Hartland?»

«Was denn sonst?»

«Wissen Sie etwas darüber?»

Er lachte heiser. «Na also, ich kenne euch doch. So haben die anderen auch an der Tür gestanden. Sie kommen mit einem alten Foto, einem alten Zeitungsausriß, einer kam sogar aus New York, er wollte einen Film drehen. Ich frage mich, über was. Ich weiß nicht, was in die Leute gefahren ist, sie sind verrückt nach alten Indianergeschichten, nach Geisterstädten und all dem Zeug. Als ich jung war, hat sich niemand dafür interessiert, wir wollten hinaus ins Leben und nicht auf dem Dachboden in halbvermoderten Sachen herumwühlen.» Er nahm das Jagdgewehr, legte an, zielte durchs geschlossene Fenster auf einen Punkt in der Winterprärie, setzte es wieder ab. «Wie heißen Sie?»

Ich nannte meinen Namen.

«Können mich Big nennen. Bei der Armee kannten mich alle nur als Big. Na und, sagen Sie, irgend so ein Spitzname. Aber es ist mein Name, und glauben Sie mir, ich hab ihn mir verdient. Als ich die Diagnose bekam, sagte ich mir, geh in die Prärie, kauf dir da draußen ein Haus, verschwinde.» Er grinste. «Heute ist es leicht zu verschwinden und doch da zu sein.» Er fischte einen Laptop unter dem Sessel hervor, klappte ihn auf und wischte das eingebaute Kameraauge blank. «Klick – der alte Big in Camouflage, Gewehr in der einen Hand, in der andern den erlegten Truthahn. Klick – ein Gruß an die Kameraden, der gute alte Big auf allen Bildschirmen.» Er lehnte sich zurück. «Ich tu’s nicht für mich, ich tu’s für die Jungs. Ich will, daß alles so bleibt für sie. Sie sollen mich nicht so sehen – nicht so.» Er raffte sein Handtuch zusammen, es drohte herabzurutschen, und warf einen verzweifelten, angewiderten Blick auf die Schmerzmittel. «Wissen Sie, Big und ich, wir beide machen uns nichts vor. Wenn einer von uns die Chance hat, etwas länger den Kopf oben zu halten, dann ist es nicht der alte Mann, den Sie hier sehen, dann ist es Kamerad Big. Ich tu’s für ihn.»

«Für einen Namen?» sagte ich.

Er sah mich scharf an. «Ja, für einen Namen. Wie lange sind Sie im Land?»

«Seit vorgestern.»

«Nehmen Sie’s mir nicht übel, aber Sie müssen noch eine ganze Menge lernen. Namen sind – nein, sie sind nicht wichtig, sie sind manchmal alles.» Sein Blick glitt über das Altmännerchaos um ihn her. «Alles, was man noch hat.» Er grinste herausfordernd. «Mir ist, als hättet ihr Deutschen das mal gewußt. Sie sind doch Deutscher, was? Ich erkenne den Akzent, kannte ihn mal ganz gut.»

Wir schwiegen und schlürften unsere Kaffeetassen leer. Dann nahm er den Faden wieder auf. «Sie müssen lernen, die Fährten zu lesen, jeder Name ist eine. Auch Hartland, das ursprünglich Heartland hieß. Als in der Prärie erste Städte entstanden, waren große Träume im Spiel. Wer einen Haufen Bretter und Balken im Nirgendwo ablud, das erste Haus zusammennagelte, drum herum eine Stadt gründete und sie Heartland nannte, Herzland, der hoffte, sie würde eines Tages das Herz einer blühenden Gegend sein und ihn reich machen. Platzte der Traum, ließ er alles stehen und liegen und zog weiter. Wir haben so viele Geisterstädte, weil wir so viele Träume haben – und so viele geplatzte. Wir ziehen immer weiter, so ist es bis heute.» Er erhob sich, er wirkte müde. «Entschuldigen Sie, wenn ich Sie nicht zur Tür bringe, es strengt mich zu sehr an.»

Ich bat ihn sitzenzubleiben. «Und danke für den Kaffee und für das Gespräch.»

«Es liegt da drüben.» Er ließ sich in den Sessel zurückfallen und zeigte mir die Richtung durchs Fenster.

Ich ging in die Richtung, die er mir gewiesen hatte, mit dem deutlichen Gefühl, beobachtet zu werden, es war mehr als ein Gefühl, ein leichter Druckpunkt im Kreuz, ich war mir sicher, er zielte auf mich, vielleicht mit dem Feldstecher, vielleicht mit dem Gewehr.

Nach einer knappen Stunde schälte sich ein hoher, massiver Körper aus dem Schneegestöber. Ein grain elevator. Jeder Prärieort hatte so ein Wahrzeichen, daran erkannte man sie, ihre Holzkirchen waren unscheinbar dagegen. Die Kornspeicher waren die höchsten Erhebungen in der Prärie und, wenn nicht gerade Schnee fiel, weithin zu sehen – der Speicher von Hartland aber war dramatisch: Gotisch stand er da, abseits der Häuser auf freiem Feld, eine Kornkathedrale mit Seitenschiffen und Kapellen, dem Sturm trotzend und dem Verfall. Irgendwo scheuerte sich ein loses Eisen wund, es schrie wie ein verlassenes Maultier. Ein halbes Dutzend Häuser, das war Hartland, gezimmert aus Brettern, die ihre Farbe verloren hatten, bleich wie Schwemmholz am Meer stand es in der Prärie und moderte der Erde entgegen. Eine Holzscheune neigte sich schon zur Seite, Wind und Regen hatten Löcher in ihr Dach gerissen. Schnee trieb mir ins Gesicht und ließ mich blinzeln, ich sah nicht mehr viel. Heute noch Berthold zu erreichen, war unmöglich.

Eine Tür unverschlossen zu finden, hatte ich nicht gehofft. Ich war noch nicht lange genug hier, um zu wissen, daß auch die Türen bewohnter Häuser selten verriegelt wurden. Gleich die erste Haustür gab nach. Ich durchsuchte das verlassene Haus, es würde meines sein für diese Nacht, und legte meine Vorräte auf den staubigen Küchentisch, einen Rest Schokolade und zwei Zigarillos. Die würde ich mir einteilen müssen, der Abend brach eben erst an.

Dem Schneesturm entronnen und sicher zu sein vor der eiskalten Nacht und ihren Gefahren, war ein Geschenk, aber auch hier drinnen war es schneidend kalt. Ich zog über, was ich hatte, verzichtete auf das Sofa, hustend vom auffliegenden Staub, verkantete zwei Stühle, klemmte sie gegen die Tür, kroch in die Rettungshaut und suchte mir einen Platz auf dem Boden. Dann lag ich wach und lauschte dem Sturm – kein markerschütterndes Brausen, eher ein unheimliches Wehen und Treiben ums Haus. Wo er eine Ritze fand, blies er Schneepulver herein. Dem Anwachsen dieser harmlosen Verwehungen an Türen und Fenstern zuzuschauen, bereitete ein gewisses Behagen, nach und nach fand ich mich in meine Lage. Der Sturm erreichte mich nicht, das Haus hatte viele solcher Nächte überstanden, seitdem seine Bewohner es aufgegeben hatten, und würde auch diese Nacht überstehen. Dieser Gedanke und die Erschöpfung gewährten mir einen immer wieder von seltsamen Geräuschen und Wachbildern unterbrochenen Schlaf.

Einmal saß der Alte in seinem Sessel am Fenster der Küche, auf deren Boden ich lag. Er stieß das Fenster auf, Schnee wehte in Mengen herein, er legte sein Gewehr an, zielte und schoß in die Nacht. Ich fuhr hoch, der Knall hallte nach, ja, es hatte geknallt, ganz deutlich, aber wo sollte ich nach der Ursache suchen, im Haus oder im Traum? Ich gab es auf, kroch wieder in meine Silberhaut und lag wach. Wo ich war, wußte ich immer noch nicht. Big hatte viel geredet, mir aber nichts über Hartland gesagt. Das mußte er auch nicht. Er hatte mir geraten, die Wortfährte zu lesen, und sie war deutlich genug. Die Spur im Schnee, die von Herzland nach Hartland führte, war die der zerbrochenen amerikanischen Träume. Vielleicht waren es deutsche Einwanderer gewesen, die hier gescheitert waren, dafür sprach das deutsche hart, aber das tat nichts zur Sache, gescheitert waren viele. Verhungert, verdurstet, erschossen, verschollen. Irgendwann schrieb er nicht mehr nach Hause, der Sohn, der Vater, der Verlobte, der Mann, im letzten Brief hatte gestanden, er schließe sich nun einer Truppe von Goldgräbern an. Ganze Trecks waren nie angekommen und nie wieder heimgekehrt. Heartland, das Herz. Hartland, der Schmerz. Die beiden Enden der amerikanischen Parabel.

Der Morgen war ein graues Gebet. Ich stand auf, aß den restlichen Brocken Schokolade, dankte dem Haus und warf einen letzten Blick auf den gotischen Kornspeicher. Dann ging ich nach Berthold, nach Süden.

Rotes, rotes Auto

Als ich in die erste Stadt kam, Minot, fielen mir die Warnungen vor dem Gehen durch Amerika wieder ein. Draußen im offenen Land hatte die Straße befestigte Ränder, die mir zwar nicht zugedacht waren, auf denen es sich aber laufen ließ, mal leichter, mal schwerer. Hatte ich Pech, war der Rand aus grobem Schotter, hatte ich Glück, lief ich auf einem Teppich aus feinem Split. Wo die Stadt begann, endete derlei Luxus.

Minot betreten hieß, hin und her zu springen, links, rechts – rechts, links, einen Fuß im Autoverkehr, den anderen in Vorgärten, an Böschungen, in einer Einfahrt. Noch schwerer passierbar waren Straßenkreuzungen und Überführungen. Wer zu Fuß hinübermußte, nahm sich besser am Hasen ein Beispiel. Hakenschlagend kam ich voran, Stück für Stück in die Stadt hinein. Sie empfing mich mit einem Strauß konsternierter Blicke durch Windschutzscheiben und mit einer neuen Warnung: Ein Blizzard zog heran, es stand auf Tafeln an der Straße geschrieben, er wurde noch heute erwartet.

Gewohnt, in einem fremden Ort das Zentrum zu suchen, dort würde sich alles finden, lief ich immer weiter durchs Spalier der Autohäuser, Läden und Tankstellen; eine europäische Dummheit, ich hing ihr an, bis ich merkte, daß die eine, große Straße, die durch die Stadt führte, ausdünnte und wieder zur Landstraße wurde. Ich warf einen Blick auf die Karte. Ich war dabei,