Hasi - Christoph Straßer - E-Book

Hasi E-Book

Christoph Strasser

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Beschreibung

Marco "Hasi" Haas ist 35 Jahre alt, Verkäufer in einem heruntergekommenen Sexshop und von seinem Leben angewidert. Im festen Glauben, zu Höherem berufen zu sein, schlägt er sich durch die Tage und lässt seine Umwelt jede seiner Launen spüren.Bis sich ihm die Chance zu bieten scheint, auf die er sein Leben lang gewartet hat. Einzige Bedingung: Hasi muss 10.000 Euro aufbringen. Geld, das er nicht hat und niemals haben wird. Aber er weiß, wer es hat Hasi schmiedet einen schlauen Plan. So schlau, dass er bald nicht nur die Polizei im Nacken sitzen hat, sondern auch die wirklich bösen Jungs hinter ihm her sind."Hasi: Die Ballade eines Verlierers" ist die Geschichte eines widerlichen Typen, der im Rausch wahnhafter Selbstüberschätzung glaubt, die Welt aus den Angeln heben zu können. Ob es ihm gelingt?Ein bitterböses Milieudrama, erzählt mit ätzendem, pechschwarzem Humor.

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Seitenzahl: 331

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Table of Contents

Drama eBook Band 1

KOVD Online

Titelseite

Impressum

Heute, Donnerstag, 30. Oktober

Dienstag, 07. Oktober

Mittwoch, 08. Oktober

Zwei Jahre zuvor

Donnerstag, 09. Oktober

Freitag, 10. Oktober

Samstag, 11. Oktober

Einen Tag später

Montag, 13. Oktober

Dienstag, 14. Oktober

Einen Tag zuvor

Mittwoch, 15. Oktober

Einen Tag später

Freitag, 17. Oktober

Einen Tag zuvor

Freitag, 17. Oktober

Samstag, 18. Oktober

Einen Tag später

Montag, 20. Oktober

Dienstag, 21. Oktober

Einen Tag später

Donnerstag, 23. Oktober

Einen Tag später

Samstag, 25. Oktober

Einen Tag später

Fünfunddreißig Jahre zuvor

Montag, 27. Oktober

Dienstag, 28. Oktober

Mittwoch, 29. Oktober

Heute, Donnerstag, 30. Oktober

Der Autor

Meine literarische Zuflucht

 

Drama eBook

Band 1

Online zu erreichen unter:

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Impressum

Alle Rechte vorbehalten.

Copyright © dieser Ausgabe 2020 by KOVD Verlag, Herne

 

Nachdruck und weitere Verwendung

nur mit schriftlicher Genehmigung.

 

ISBN: 978-3-98522-313-8

»Wer heute einen Gedanken sät, erntet morgen die Tat,

übermorgen die Gewohnheit, danach den Charakter

und endlich sein Schicksal.«

Gottfried Keller

 

Heute, Donnerstag, 30. Oktober

 

Dustin schob die Schaufeln auf die Ladefläche des Transporters, schlug die Tür zu und betrachtete seine Handflächen. Es war bereits lange her, dass ihm Staub an den Händen geklebt hatte, und er vermisste den Dreck absolut nicht. Er wischte sich die Handflächen an seiner Hose ab und ging um den Kastenwagen herum. Der Tag war ungewöhnlich kalt, weswegen er die Tür schnell nach sich zuzog.

»Immer Ärger mit dem Personal, was?«, lachte er Hans entgegen, als er die Stufe hinauf in die Fahrerkabine stieg und hinter dem Lenkrad Platz nahm.

Sein Begleiter blickte ihn nur mürrisch an. Hans war nicht gern hier bei ihm, wusste Dustin. Also beschloss er, keine weitere Konversation zu betreiben, sondern die ganze Sache einfach nur hinter sich zu bringen. Kurz und schmerzlos.

»Ist denn alles so weit vorbereitet?«, fragte Hans schließlich in die Stille. »Ich will nicht, dass diese Sache länger dauert als unbedingt nötig.«

»Verständlich«, grinste Dustin. »Aber ich hab vorhin mit einem meiner Leute gesprochen, es ist alles parat. Man wartet nur auf uns.«

Hans nickte.

»Gut. Und eine Sache noch: Wenn das hier vorbei ist, dann gibt es keinen Grund mehr, dass wir beide uns je wiedersehen.«

Dustin lachte kurz auf.

»Soll mir recht sein.«

Er blinzelte kurz in die Sonne und startete den Wagen. Auch wenn der morgendliche Berufsverkehr bereits nachgelassen hatte, mussten die beiden los, wenn sie ihr Ziel noch rechtzeitig erreichen wollten.

»Aber eine Frage hätte ich noch«, sagte Dustin, ohne Hans anzusehen. »Aus reiner Neugier: Wird das eine Lebendbestattung oder knippst du dem armen Teufel vorher wenigstens noch die Lichter aus.«

Hans sah seinen Begleiter ebenfalls nicht an.

»Nein, der geht lebendig unter die Erde. Dann kann er noch ein bisschen über seine Tat nachdenken.«

»Harter Hund«, lachte Dustin und gab Gas.

Dienstag, 07. Oktober

 

Mir tat schon wieder der Arsch weh.

Ich stand von dem hölzernen Hocker auf, dem man noch nicht einmal die kleinste Polsterung gegönnt hatte, und streckte mich. Anschließend warf ich wieder einmal einen Blick auf die Uhr: noch eine halbe Stunde bis Mitternacht, also noch eine halbe Stunde bis zum Feierabend.

Ich ging einen Schritt rückwärts, lehnte mich an dem riesigen Schrank an und beobachtete die Bildschirme vor mir. Zwei große Farbmonitore befanden sich auf der Theke, einer für die Kasse, der andere gehörte zu den beiden Kameras, die den Verkaufsraum überwachten. Auf dem Boden standen drei klobige Schwarzweiß-Monitore, die dazu dienten, den Bereich mit den Videokabinen zu überwachen. Eigentlich hatte man auch diese Dinger eleganter platzieren wollen, was aber aus irgendwelchen Gründen nicht funktionierte. Deswegen standen sie nun auf dem Fußboden. Rein provisorisch.

Seit drei Jahren. Der Schrank, an dem ich noch angelehnt auf die flackernden Ungetüme starrte, stammte noch aus den besseren Zeiten dieses heruntergekommenen Sexshops. Zehn riesige Schubladen beherbergten einst Unmengen von Porno-DVDs, die man hier hatte ausleihen können. Das war allerdings schon einige Jahre her und die Zeiten, in denen die Leute es in Kauf nehmen mussten, ihr Haus zu verlassen, um sich mit Pornos einzudecken, waren lange vorbei. Überhaupt atmete die ganze Bruchbude den Geist der 90er Jahre, wenn man davon absah, dass sich mit mir noch ein lebendiges Wesen darin befand. Aber auch ich selbst fühlte mich mit jedem weiteren Tag hier wie ein Relikt.

Auf einem der Monitore zu meinen Füßen sah ich, wie ein abgehalfterter, junger Typ in einer der Videokabinen verschwand. Schön, dann befanden sich jetzt zwei lebende Wesen in diesem Wrack, das nur noch vage an die goldenen Zeiten erinnerte, in denen Sex ein lukratives, wenn auch schlüpfriges Geschäft gewesen war. Inzwischen war Sex, zumindest aus kaufmännischer Sicht, ein von zu vielen Bauern beackertes Feld. Und da man sich das Zubehör für jeden noch so abgedrehten Fetisch inzwischen online bestellen konnte, gehörten Läden wie diese bald ganz einfach der Vergangenheit an. Im Grunde taten sie es bereits jetzt schon und wurden nur noch künstlich am Leben gehalten von alten Leuten, die zu blöd fürs Internet, aber trotzdem noch geil waren. Und natürlich von der Sorte Männern, die sich in der Mittagspause oder nach Feierabend schnell in einer der Kabinen einen runterholen wollten, weil es ihr Frauchen zu Hause nicht gernhatte, wenn sie auf der Couch Pornos guckten und dabei an sich herumspielten. Oder weil sie zu der Sorte Männer gehörten, die sowieso immer und überall wichsten.

Ohne diese Typen, die sich nicht einmal davor ekelten, sich in die Glückslache ihrer Vorgänger zu setzen, gäbe es Läden wie diesen längst nicht mehr. Natürlich verkauften wir auch gelegentlich noch Sexspielzeug und Blu-rays, aber das kam ausgesprochen selten vor.

Ich drehte mich zu der Stereoanlage herum, die auf dem Schrank thronte, und riss den USB-Stick heraus. Auf diesem hatte mein dümmlicher Arbeitskollege zu Hause eine Sammlung von in seinen Augen guter Musik gespeichert, die man hier während der Schichten laufenlassen konnte, ohne damit Leute zu verschrecken. Leider hatte mein Kollege den Musikgeschmack eines schwachsinnigen Kindes, sodass man außer dem klassischen 1Live-Programm - Musik von gehirnamputierten Halbwüchsigen für gehirnamputierte Halbwüchsige - nicht viel zu hören bekam. Der letzte Titel, der im Grunde nur aus Elektrogedudel und einem gelegentlichen »Oh Baby« bestand, hatte das Fass für heute zum Überlaufen gebracht. Ich warf den Stick in den Papierkorb und schaltete die kleine Kompaktanlage schließlich ab. Im Laden befand sich niemand, weswegen nichts dagegensprach, vor der Tür ein wenig frische Luft zu schnappen.

Ich ging um die Theke herum durch den Verkaufsraum und gelangte schließlich in den schmalen Flur, der zum Ausgang führte. Parallel dazu verlief der Gang mit den Videokabinen. Auf jeder Seite befanden sich vier dieser Dinger, in die man Geld einwerfen konnte, um sich dann einen Porno seiner Wahl anzusehen.

Die Auswahl war riesig, weswegen die ersten vier Euro meist schon für die Filmsuche draufgingen. Der Gang war natürlich aus Diskretionsgründen eher düster gehalten, wenn man von den knallroten Neonröhren absah, die in den Winkeln zwischen Wand und Decke angebracht worden waren. Wahrscheinlich sollte das Rotlicht den Gang erotisch wirken lassen, aber tatsächlich sah er nun pausenlos aus wie ein U-Boot im Alarmzustand.

Aber das störte niemanden, immerhin bekam man davon nichts mit, wenn man die Tür der Kabine zugezogen hatte und mit sich und seiner Geilheit allein war. Ich erreichte das Ende des Korridors und stieg die zwei Stufen hinauf zum Bürgersteig. Draußen umwehte mich kühle Abendluft, und ich lehnte mich an die Hausfassade.

Was zum Teufel machte ich hier eigentlich? Wieso hing ich überhaupt bis mitten in der Nacht in so einem verwanzten Drecksladen herum?

Vielleicht meinte es das Schicksal einfach nicht gut mit mir. Vielleicht liebte mich Gott einfach nicht … oder vielleicht war ich in einem früheren Leben Josef Stalin gewesen. Es musste doch einen Grund dafür geben, mich mit einer solch trostlosen, endlos öden Perspektivlosigkeit zu strafen, die noch nicht einmal gut bezahlt wurde.

Ein Mann huschte an mir vorbei in den Laden. Ich sah ihm nach und stellte fest, dass er nicht zu den Kabinen ging, sondern direkt auf den Verkaufsraum zusteuerte. Nicht einmal fünf Minuten frische Luft waren mir vergönnt. Ich folgte ihm, und als ich den Shop betrat, stand der Typ schon vor der Theke und grinste breit.

Ich ging um den Tresen herum und sah den Mann an. Seine Gesichtshaut war widerlich gegerbt und hatte eine unnatürlich rotbraune Farbe angenommen.

Wahrscheinlich übernachtete dieser Vogel auf der Sonnenbank.

Seine Glatze und die gebleichten Zähne rundeten das Bild ab.

»Hallöchen«, begrüßte er mich und deutete eine Art Winken an.

Das hatte ich mir gedacht: eine Schwuchtel.

»Ja?«, gähnte ich und setzte mich auf meinen Hocker.

»Ähm, ja. Bist du Hasi?«

Ich sprang augenblicklich wieder auf.

»Hast du Pisseule mich tatsächlich gerade Hasi genannt?«

Der Mann wich einen Schritt zurück, und augenblicklich schoss ihm das Blut in den Kopf. Hierbei verfärbte sich sein Gesicht jedoch nicht gleichmäßig rot, sondern bekam nur hier und dort rötliche Flecken, sodass er mehr wie eine Art Alien als wie ein Mensch aussah.

»Ich … Ich … sollte hier nach einem Hasi fragen, wenn ich was kaufen will«, stotterte der Typ.

»Aha. Was denn kaufen?«

»Na ja, vielleicht ein bisschen was für die Nase. Wenn du verstehst …«

»Für die Nase? Nasenspray oder was? Sieht das hier aus wie eine Apotheke?«

Ich ging um den Tresen herum, griff mir einen der Vibratoren aus dem Regal und hielt ihn dem Mann vor das Gesicht.

»Sieht das aus wie etwas, das man in der Apotheke bekommen kann? Gehst du in die Apotheke und fragst nach einem vibrierenden Knüppel, den du dir in den Arsch schieben kannst?«

Der Typ vor mir blickte sich hilfesuchend um, aber wir waren noch immer allein.

»Hier spielt die Musik«, sagte ich und schnippte mit den Fingern.

»Ich … hatte nur gehört, dass du hier was verkaufst. Mehr nicht … ich kann ja auch wieder …«

»Wer? Wer hat dir gesagt, dass ich hier was verkaufe? Und was überhaupt? Drogen? Unterstellst du mir, dass ich hier Drogen verkaufe?«

»Ich geh einfach wieder, okay?«

Ich schüttelte den Kopf und ging langsam wieder um die Theke herum.

»Aber einmal angenommen ich hätte etwas«, sagte ich schließlich und hob den Finger. »Was dürfte es denn sein?«

»Was?«

»Was du haben willst, will ich wissen.«

»Tja, also … ich weiß nicht mehr so recht …«

Ich legte den Vibrator aus der Hand und lächelte.

»Komm schon, entspann dich. Ich hab dich doch nur verarscht. Alles cool.« Der Kerl entspannte sich wie auf Kommando und lächelte ein Lächeln, zu dem er sich ganz offensichtlich zwang.

»Mann, du hast mich ganz schön erschreckt.«

»Tja, das höre ich oft«, lachte ich und machte mit den Armen eine einladende Geste. »Also, was darf’s sein?«

»Hast du Koks da?«

»Wie viel?«

»Zwei, drei Gramm?«

»Leider nur ein Gramm. Ist aktuell schwierig zu kriegen.«

»Das stimmt wohl. Okay, ich nehm das Gramm, wenn die Qualität okay ist.«

»Die ist spitze, vertrau mir.«

Ich zog meinen Schlüsselbund aus der Tasche und öffnete eine der Schubladen unter der Theke. Aus einer Geldkassette griff ich ein kleines Tütchen, in dem sich das Pulver befand, und legte es vor mich. »Das sind dann 90 Euro, der Herr.«

»Das ist teuer.«

»Wie gesagt: Spitzenqualität und schwer zu bekommen in diesen Tagen.«

Er zog seine Brieftasche aus dem Sakko und reichte mir einen Hunderter. Anschließend gab ich ihm einen Zehner zurück.

»Danke dir«, sagte der Mann, zwinkerte mir zu und schob sich das Tütchen in die Hosentasche.

Oha, auf einmal war er wieder so mutig, dass er mir zuzwinkerte?

»Alles klar«, sagte ich. »Und jetzt mach ’nen Satz, bevor ich dir die Zähne aus dem Maul prügle.«

Das Lächeln des Typen fror augenblicklich ein.

»Wie bitte?«

»Hast du was an den Ohren? Verpiss dich!«

Der Kerl hob beschwichtigend die Hände und zog sich zurück. Auf einem der Monitore konnte ich erkennen, wie er das Gebäude schließlich verließ.

»Alles ätzend«, gähnte ich und setzte mich wieder.

Wie schön und gemütlich der Handel doch wäre, wenn nicht die lästigen Kunden wären. Vor allem, wenn man nicht sicher sein konnte, ob es sich bei den Kunden um Zivilbullen handelte, die mir irgendjemand auf den Hals gehetzt hatte, weil er sauer, neidisch oder einfach nur ein Arschloch war. Mein kleiner Nebenjob machte mich nicht unbedingt reich, was auch daran lag, dass ich sehr vorsichtig war, aber er sicherte mir ein nettes Zubrot, das dringend notwendig war, denn von meinem Gehalt hier konnte ich gerade einmal die Miete und den Unterhalt für mein Auto zahlen. Im Grunde genommen war dieser Job eine absolute Katastrophe, die sich niemand freiwillig antun würde, wenn er nicht musste. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass ich keine andere Wahl gehabt hätte, als diesen Job hier anzunehmen, aber tatsächlich bot er mir alles, was mir gefiel: Niemand gab mir Anweisungen, ich musste mich nicht morgens schon aus dem Bett quälen und ich konnte in aller Seelenruhe meinem Nebenjob nachgehen. Auch wenn dieser in letzter Zeit nicht mehr viel abwarf.

Wahrscheinlich bestellten die Leute ihre Party- und Modedrogen inzwischen auch online oder nahmen ganz einfach nichts mehr, was wirklich bedauerlich wäre, zumindest für mich, da diese Tatsache mich zu einem trotteligen Sexshop-Verkäufer mit einem Sexshop-Verkäufer-Gehalt degradieren würde. Nein, an so etwas durfte ich gar nicht erst denken. Es würden auch wieder bessere Zeiten kommen. Ich verkaufte schließlich die Klassiker: Koks, Speed und gelegentlich ein bisschen Gras. Keine abgedrehten Sachen und erst Recht kein Junkiepenner-Zeugs wie Crystal Meth oder Heroin.

Abgesehen davon, dass ich an diesen Kram überhaupt nicht herankam, überließ ich das Feld lieber der ekligen Sorte von Dealer, die selbst ihre besten Kunden waren und sich auch in Blowjobs bezahlen ließen. Und selbstredend durfte sich der Laden wohl kaum zum Hotspot für die Obdachlosen dieser Stadt entwickeln.

Ich klickte mich gelangweilt durch die verschiedenen Filme, die wir in den Videokabinen anboten, bis mir auffiel, dass sich der Typ, der vorhin in einer dieser Dinger verschwunden war, noch immer keinen Film ausgesucht hatte. Laut Anzeige war der Bildschirm in seiner Kabine weiterhin schwarz. Ich blickte auf die Uhr: 15 Minuten vor Mitternacht.

Wenn der Spinner sich nicht langsam mal entschied, dann würde ich hier wahrscheinlich übernachten. Ich klickte mit dem Zeiger auf das kleine Kamerasymbol, um zu sehen, was der Idiot da so lange trieb.

Natürlich war es wegen der Datenschutzgeschichten streng verboten, in das Innere der Kabine zu sehen.

Aber erstens wusste ja niemand, dass wir dazu in der Lage waren, und zweitens ging mir dieser Quatsch komplett am Arsch vorbei.

Außerdem bot sich so gelegentlich die Möglichkeit, Pärchen beim Vögeln zu beobachten, wenn sie sich dazu wirklich in eine der ekligen Wichskabinen trauten. Ich betrachtete diese Show als Teil meines Gehalts.

Das kam natürlich im Frühling öfter vor als jetzt im Herbst, wo hauptsächlich alte Kerle verzweifelt versuchten, ihr kleines Pimmelchen wenigstens so lange oben zu halten, bis sie sich einen auf ihren Schwulenporno heruntergeholt hatten.

Das war dann selbstverständlich die weniger interessante Show, die ich dann auch gern übersprang. Mal sehen, was es jetzt bei dem kleinen Gammler zu entdecken gab, der sich überhaupt nicht zu rühren schien.

»Das darf doch nicht wahr sein!«, rief ich und sprang von meinem Hocker auf.

Ich riss eine der Schubladen auf und griff nach einem Paar Gummihandschuhe, das neben der Schachtel mit den Einweghandschuhen lag. Während ich um die Theke herum in den Gang mit den Kabinen lief, streifte ich die Handschuhe über und kramte in der Hosentasche nach meinem Schlüsselbund. Vor der Kabine angekommen, schloss ich die Tür auf und schob sie laut krachend zur Seite.

Der kleine Penner saß noch immer schief in dem Schalensitz, der Mund war leicht geöffnet und seine Augen versuchten erfolglos, mich zu fixieren.

Um den Oberarm lag locker ein Gürtel, und auf dem Fußboden zwischen seinen verrotteten Sneakers lag noch immer die Spritze, mit der er sich gerade irgendeinen Dreck in die Vene gejagt hatte.

»Junkiescheiße!«, schrie ich, griff dem Kerl ins Haar und zog ihn mit einem Ruck aus dem Sitz.

Beinahe ohne jeden spürbaren Widerstand ließ sich der Mann von mir über den PVC-Fußboden ziehen. Erst, als wir den Ausgang beinahe erreicht hatten, kehrte so etwas wie Leben in ihn zurück und er fummelte mit seinen kraftlosen, verdreckten Fingern nach meinem Handgelenk. Ich stoppte kurz und schlug ihm mit der Faust hart ins Gesicht. Sofort zog er seine Arme wieder zurück, und ich setzte meinen Weg mit ihm fort. Am Ausgang angekommen, griff ich mir noch seinen Hosenbund und zerrte den Mann auf den Bürgersteig, wo er hart landete und mit dem Gesicht nach unten wie tot liegenblieb. Ich sah mich um, aber außer uns war niemand zu sehen, was neben der Uhrzeit auch daran lag, dass wir uns nicht in einer vielbevölkerten Fußgängerzone, sondern in einem Wohngebiet etwas außerhalb des Stadtzentrums befanden. Hier lebten größtenteils normale Leute, und normale Leute schliefen um diese Zeit bereits.

Der Junkie lag zu meinen Füßen, wand sich und schnaubte. Offensichtlich war er noch immer vollkommen weggetreten, aber das Leben kroch langsam wieder in ihn zurück. Wenn man das als »Leben« bezeichnen wollte. Inzwischen lag er auf der Seite und sein Blick fand noch immer keinen Halt in der Umgebung. Vielleicht konnte ich ihm ja beim Wachwerden helfen. Ich nahm zwei Schritte Anlauf und trat dem Penner mit aller Wucht in den Bauch.

Er heulte kurz auf und zog sich dann wie in Zeitlupe in Embryonalhaltung zusammen.

Wie eine Schnecke, der man Salz auf ihren schleimigen Körper gestreut hatte und die sich nun langsam zusammenzog. Ein widerlicher Anblick.

Leider bestand die einzige Möglichkeit, sich dieses Gesindel vom Hals zu halten, darin, es bis aufs Blut zu quälen und dann den anderen Pennern davon berichten zu lassen, an welchen Stellen der Stadt man sich besser keinen Schuss setzte oder Crack rauchte.

Ich ging vor dem Junkie in die Hocke und griff nach seinem Gesicht. Der Mann zuckte und versuchte, sich seitwärts wegzurollen, aber ich hielt seinen Kopf fest zwischen meinen Handflächen. Als er jeden Widerstand aufgegeben hatte, lächelte ich ihn an.

»Kannst du mich hören, Sonnenschein?«

Ich bekam ein Schnaufen und Augenrollen zur Antwort und wertete das als ein Ja.

»Wenn ich dich Müllhalde hier noch ein einziges Mal sehe …«

Ich ließ meine Faust auf die Nase des Penners krachen, was diese mit einem Knacken quittierte.

»Nur ein einziges Mal, hörst du? Dann werde ich dich töten. Kapiert? Ich bringe dich um. Ich werd dir dein verdammtes Junkieherz rausschneiden und es irgendwelchen Kötern zu fressen geben.«

Der Kopf des Mannes wackelte kraftlos in meinen Händen, und aus seiner Nase lief blutiger Schleim. Er öffnete den Mund, und erst jetzt nahm ich die ekelhafte Alkoholfahne wahr, die sich, begleitet von zähem Speichel, aus dem zahnlosen Mund befreite. Ich strich ihm über das Haar und bemerkte eine relativ große, gezackte Narbe auf seiner Stirn. Ich lächelte. Harry Potter auf Heroin.

Als ich den Schädel losließ, sank der Junkie augenblicklich zu Boden. Ich lehnte mich an die Hausfassade, zog die Gummihandschuhe aus und ließ sie auf den Boden fallen.

Gott, wie ich den Herbst verabscheute. Sobald die Temperaturen fielen, kroch der gesamte menschliche Unrat aus den Gebüschen und machte sich auf die Suche nach Unterkunft und Wärme. Wären Junkies Waschbären, hätte man sie längst alle als Plage abgeknallt. Dabei waren Waschbären sogar noch putzig und verbreiteten nicht halb so viele Krankheiten wie dieser Dreck, der sich vor meinen Augen gerade wieder aufrappelte. Der Mann hievte sich keuchend erneut auf seine dünnen Beinchen, indem er sich zitternd an einem Stromkasten aufwärts zog. Der schmale Plastikgürtel, mit dem er sich den Arm abgebunden hatte, rutschte abwärts und fiel beinahe geräuschlos zu Boden. Ganz so lange konnte er dem Heroin noch nicht zugetan sein, überlegte ich. Die Jungs, die schon länger dabei waren, fanden in der Regel überhaupt keine freie Vene mehr in ihren Armen und spritzten sich den Dreck in den Hals, die Füße, die Leiste oder Gott weiß wohin. Hauptsache, die verdreckte und mit allem Möglichen gestreckte Droge gelangte irgendwie in die Blutbahn.

Der Typ vor mir hustete und spuckte einen schleimigen Brocken aus. Dann machte er sich langsam auf den Weg. Ich gab ihm zur Unterstützung noch einen kräftigen Tritt in den Hintern und beobachtete überrascht, dass der Mann sich wacker auf den Beinen hielt, anstatt vornüber zu fallen.

»Und beehren Sie uns bald wieder, Mister Potter!«, rief ich dem Junkie nach, schob die Hände in die Hosentaschen und machte mich wieder auf den Weg in das Gebäude. Zurück im Shop griff ich mir Handfeger und Kehrblech, um damit die Spritze aus der Kabine auf die Straße zu bugsieren. Anschließend hockte ich mich wieder hinter die Theke und ließ meinen Blick umherwandern. Gleitgels, Vibratoren, Magazine, Wäsche … Als ob es hier drin nicht schon schräg genug wäre, auch ohne dass ich mich um abgetakelte Obdachlose kümmern musste.

Es war nun kurz vor Mitternacht, also nahe genug am Geschäftsschluss, um die Bude für heute dichtzumachen. Ich verriegelte den Eingang und schaltete die Videokabinen aus. Anschließend rechnete ich die Kasse ab, was wie meistens sehr schnell ging. Die Tageseinnahmen in den dafür vorgesehenen Tresor zu legen, lohnte den Aufwand nicht, denn sie beliefen sich auf nicht einmal 200 Euro.

Ich ließ sie einfach in der Kassenschublade liegen und schrieb meinem Kollegen einen Zettel, dass er sich morgen früh nicht auf den Weg machen musste, das Geld zur Bank zu bringen. Anschließend fuhr ich den Rechner herunter, schaltete das Licht aus und ging um den riesigen Schrank herum zum Hinterausgang. Dort nahm ich meine Jacke vom Haken und tippte den Code ein, um die Alarmanlage scharf zu stellen. Schließlich verließ ich den Laden durch den Hausflur des Nachbarhauses. Wieder draußen ging ich einige Schritte bis zu meinem Wagen, lehnte mich an den Kotflügel und streckte mich. Mein Rücken krachte regelrecht. Es wäre ein absolutes Wunder, wenn ich durch die pausenlose Hockersitzerei nicht längst einen Haltungsschaden bekommen hatte. Ich legte den Kopf in den Nacken und beobachtete den Himmel.

Obwohl es bereits finsterste Nacht war, hatten der Himmel und die Wolken eher eine gräuliche Färbung. Eine der Wolken strahlte besonders auffällig. Anscheinend verbarg sich hinter ihr der Vollmond oder ein zumindest sehr großer Mond. Die Abende waren noch angenehm warm, aber man konnte bereits riechen, dass es Herbst war. Und ich meinte nicht den Geruch von feuchtem Laub, Regen oder Nebel. Mit so etwas hatte ich keine Erfahrungen.

Mein Herbst roch nach Urin, Zigarettenqualm und anderem Pennergestank. Aber streng genommen rochen die anderen Jahreszeiten auch nicht anders. Ich überlegte, was ich jetzt noch unternehmen konnte, denn einer der Nachteile meines Jobs war, dass er zwar jede Lebensfreude aus einem heraussaugte, einen aber nicht ermüdete. Jedenfalls nicht so, dass man am liebsten sofort ins Bett fallen wollte.

Ich gehörte nicht zu der Sorte Mensch, die sich jetzt auf den Weg zu einer After-Work-Party machte, um dann mit Freunden noch ein bisschen zu tanzen und dabei vielleicht noch zwei oder drei Cocktails zu trinken. Im Gegenteil ekelte ich mich vor diesem oberflächlichen, dummen Getue. Und mich widerten diese Menschen an, wenn sie zusammenstanden und kicherten, ihr Draft-Beer oder ihren Mojito tranken und sich für das Zentrum des Universums hielten, bloß, weil es genug andere Idioten gab, die sie in dieser Annahme bestätigten in der Hoffnung, sie vielleicht eines Tages ficken zu dürfen. Nein, da war ich mir mehr wert.

Ich stieg in meinen Wagen und fuhr los. Nach Hause wollte ich noch nicht, denn dort wartete niemand auf mich. Abgesehen davon fand ich, dass ich mir nach einem langen und ereignisarmen Arbeitstag einen kleinen Ausgleich verdient hatte. Work-Life-Balance und so. Nach wenigen Minuten erreichte ich die kleine Seitenstraße, in die ich wahrscheinlich bereits eine Million Mal abgebogen war. Die gesamte Gegend wurde vermutlich schon in heruntergekommenen Zustand erbaut, so wirkte es jedenfalls. Nur etwa jede zweite Straßenlaterne funktionierte, und um die wenigen Abfalleimer herum verteilt lagen Plastikbeutel mit dem Müll der Bewohner der umliegenden Häuser. Diese rekrutierten sich zu etwa gleichen Teilen aus Zigeunern, Punkern und irgendwelchen Rumänen und Ungarn, die man hier zusammengepfercht hatte, damit sie das Kindergeld für nicht existente Kinder kassieren und dem örtlichen Paten in Bukarest, Budapest oder hier überweisen konnten.

Die Straße, in der ich mich nun befand, tat sich allerdings dadurch hervor, dass in ihr das Wort Service schon immer großgeschrieben wurde. Begonnen hatte es mit dem Babystrich, der weit über die Stadtgrenzen hinaus Berühmtheit erlangt hatte. Als man die Minderjährigen schließlich vertrieben hatte, kamen die Junkies und mit ihnen die Dealer. Die Straße entwickelte sich schnell zu einem bekannten Hotspot für Drogen aller Art.

Als dann ein neuer Bürgermeister gewählt wurde und dieser zeigen wollte, was für ein harter Kerl er war, verscheuchten die Bullen hier jeden einzelnen Drogenhändler. Die ließen sich anstandslos vertreiben und machten so Platz für den ganz normalen Straßenstrich.

Normal in dem Sinne, dass man es nicht mit zahnlosen, verdreckten Junkienutten zu tun hatte. Nein, es waren Junkienutten, die aber etwas auf sich gaben und auch noch duschten. Abteilung ›Gutes günstig‹.

Unser aktueller Bürgermeister hatte wohl andere Dinge zu tun, denn man ließ die Frauen hier nahezu unbehelligt gewähren, sodass ich mich schnell zu einem Stammkunden entwickeln konnte, ohne mich mit der Polizei oder dem Ordnungsamt herumschlagen zu müssen. Zeit also, das aktuelle Angebot zu begutachten. Ich schaltete einen Gang herunter und passierte langsam die Auslage.

Die meisten der Frauen kannte ich bereits, zumindest vom Sehen her, weswegen sie mich nicht interessierten. Nach einigen Sekunden blieb mein Blick aber an einer kleinen Brünetten hängen, die ich noch nicht kannte. Sie trug ein bauchfreies Top, über das sich quer der Riemen ihrer kleinen Handtasche spannte.

Unter ihrem Minirock trug sie eine billige Netzstrumpfhose in einem seltsamen Gelbton, dazu weiße Stiefeletten, wie man sie aus Filmen kannte, die 1980 in New York spielten.

Nein, sie war weder schön noch sexy, aber mir gefiel, wie einsam und verloren sie wirkte. Ich hielt an und fuhr das Fenster der Beifahrertür hinunter.

Wie auf Kommando trat das Mädchen an das Auto und schob ihren Kopf in den Wagen. Sie war vielleicht Anfang, Mitte zwanzig, hatte sich aber für Straßenstrichverhältnisse gut gehalten. Wahrscheinlich war sie noch nicht allzu lange abhängig.

Ihr glasiger Blick und ihr nervöses Herumgekaue auf ihrer Unterlippe ließ jedoch ahnen, dass ihr letzter Schuss schon einige Zeit zurücklag. Wunderbar, ich konnte mich also auf entspannte Verhandlungen freuen.

»Hallo«, lachte ich freundlich. »Nicht viel los heute Abend, was?«

»Hm, na ja, geht so.«

»Tja, was will man machen. Liegt vielleicht an der Tageszeit. Oder am Tag selbst. Ist ja noch ein bisschen hin bis zum Wochenende. Kommen auch wieder bessere Zeiten, sage ich immer.«

»Ja, kann schon sein«, sagte das Mädchen und zog etwas Rotz die Nase hoch.

Sie trat bereits ungeduldig von einem Bein aufs andere.

»Wie viel soll denn ein kleines Nümmerchen im Auto kosten?«, fragte ich.

»Zwanzig.«

»Zwanzig? Euro?«, fragte ich. »Hui, das ist aber teuer«, sagte ich dann und wedelte dramatisch mit der Hand.

Die Kleine zuckte nur mit den Schultern und sah mich an. Vermutlich sollte mir dieser Blick so etwas wie Entschlossenheit vorgaukeln.

»Also mehr als einen flotten Zehner wollte ich ja eigentlich nicht investieren.«

»Das kannst du direkt vergessen. Zwanzig oder fahr weiter.«

Ich lächelte gütig und beugte mich ein Stück vor.

»Pass mal auf, Mäuschen. Entweder gebe ich dir einen Zehner oder ich fahre noch ein paar Mal um den Block, bis du deinen Affen kriegst und ich dich für ein Päckchen Ibuprofen vögeln kann.«

Die Kleine blickte mich mit versteinertem Gesichtsausdruck an. Dann öffnete sie wortlos die Wagentür und stieg ein.

»Hurensohn«, murmelte sie dabei leise.

»Ich weiß«, lachte ich und gab Gas.

Wie üblich fuhr ich zu einem Parkplatz, der mit dem Auto keine zwei Minuten weit entfernt lag. Vor einigen Monaten war dies noch der Parkplatz eines größeren Elektrohandels gewesen, jetzt aber hatte er keine Verwendung mehr für den Parkraum, was sicher auch mit dem Bankrott des Unternehmens zusammenhing. Irgendwer hatte nach der Schließung des Ladens halbherzig irgendwelche Zäune errichtet, die jedoch keinem Eindringling standhielten.

Wenn man Platz benötigt, dann nimmt man ihn sich früher oder später einfach, und da der örtliche Straßenstrich anscheinend den größten Bedarf hatte, konnte man die Dame seines Herzens hierher kutschieren, damit sie im gemütlichen Licht verdreckter Straßenlaternen ihr Werk verrichten konnte. Ich fand das ungemein praktisch.

Langsam fuhr ich auf den Parkplatz auf und stellte fest, dass es bereits einige Fahrzeuge nebst Insassen hierher verschlagen hatte, und von der eleganten Limousine bis zum Kleinwagen war wieder einmal alles vertreten.

Ich steuerte meinen Wagen an die Backsteinwand des verlassenen Gebäudes und parkte.

Die Hure rutschte im Sitz herum und sah mich abwartend an.

»So, dann steig mal aus«, sagte ich und deutete mit dem Kinn in ihre Richtung.

»Was? Warum? Du kannst mich auch hier drin ficken.«

»Da hast du natürlich recht. Und dennoch: Raus mit dir, verdammt noch mal.«

Das Mädchen maulte etwas Unverständliches, machte aber schließlich doch keinerlei Anstalten, sich aus dem Wagen zu bewegen. Ich stieg ebenfalls aus. Auf dem Parkplatz zog ich meine Stiefel, sowie Hose und Unterhose aus und warf alles auf den Fahrersitz. Dann ging ich um den Wagen herum und setzte mich breitbeinig auf den Rand des Beifahrersitzes. Die Lichtverhältnisse waren wirklich nicht gut, aber den ungläubigen Blick der Frau hätte man mit Händen greifen können.

»Was soll das jetzt werden?«, fragte sie nach einer Sekunde.

»Ich hab’s mir überlegt«, antwortete ich. »Blas mir einen. Ich hab keine Lust zum Vögeln.«

»Aber der Boden ist steinhart und versifft.«

»Ist mir scheißegal. Mach hin.«

Die Hure hockte sich vor mir auf den Asphalt, und nachdem sie eine halbwegs bequeme Position zwischen meinen Knien gefunden hatte, begann sie damit, an meinem Schwanz herumzufummeln. Zuerst ein bisschen lieblos, aber als sie ihn schließlich im Mund hatte, gewann ihre berufliche Routine die Oberhand über ihre Abneigung. Ich hielt mich am Rahmen des Autos fest, um stabiler zu sitzen.

Dabei schaute ich in den Sternenhimmel, der, obwohl sich einige der Wolken bereits aufgelöst hatten, noch immer keine Romantik verströmen wollte. Der Kopf der Frau wippte nun gleichmäßig vor und zurück, gelegentlich war ein Schmatzen zu hören. Ich schaute wieder aufwärts. Das All war so gigantisch groß, und auch wenn die Erde gemessen daran eher winzig und unbedeutend war, so war auch dieser Planet nicht zu unterschätzen und eigentlich voller Möglichkeiten. Aber welche davon boten sich mir?

Ich war 35 Jahre alt und hatte eigentlich noch mein ganzes Leben vor mir. Das wollte ich ganz sicher nicht in einem heruntergekommenen Sexshop verbringen. Ganz abgesehen davon würde es diese Bude in einigen Monaten oder Jahren sowieso nicht mehr geben. Aber was sollte ich tun? Ich hatte einen Schulabschluss, sogar einen ganz guten, aber weder eine Ausbildung noch sonst irgendetwas, dass mich zumindest auf dem Papier zu irgendeiner besonderen Tätigkeit qualifizierte. Und selbst wenn ich so einen Wisch hätte, bedeutete das noch gar nichts.

Ich gehörte nicht unbedingt zu den anpassungsfreudigsten Menschen, weswegen es meiner Umwelt meist sehr schwerfiel, sich mit mir anzufreunden. Es nützte nichts: So lange die Welt größtenteils von Vollidioten und Arschlöchern bevölkert wurde, war es für mich ziemlich schwierig, einen angemessenen Platz auf ihr zu finden. Aber was nicht war, konnte ja noch werden. Meine Zeit würde schon noch kommen.

Die Nutte unter mir schnaufte nun deutlich hörbar. Mein Schwanz steckte noch immer in ihrem Mund, und ihre Hand massierte mich nun schneller.

Ich schloss die Augen und versuchte, nicht weiter an meine aktuelle Lebenssituation zu denken, was mir irgendwann auch gelang. Auch mein Puls ging nun schneller, und schließlich griff ich der Frau ins Haar und hielt so ihren Kopf fest, während ich mich in ihren Mund ergoss. Sie versuchte kurz, ihren Kopf wegzudrehen, aber ich ließ sie nicht los, sodass sie sich schließlich mit der Situation abfand. Nach wenigen Sekunden ließ ich sie los.

Sie nutzte die Gelegenheit, um mein Sperma laut fluchend auf den Asphalt zu spucken, während sie versuchte, wieder auf die Füße zu kommen.

»Fein, fein«, sagte ich und rutschte etwas weiter nach hinten auf den Sitz.

»Du Arschloch hättest wenigstens was sagen können. Das kostet eigentlich extra.«

»Halt dein dummes Maul«, sagte ich zu der Frau, die ein wenig aufgebracht schien.

Ich nahm mir die Hose vom Fahrersitz und fummelte mein Portemonnaie heraus. Aus dem Münzfach nahm ich fünf Zwei-Euro-Münzen und hielt sie der Frau entgegen. Die öffnete die Hand und nahm das Geld, nur um sekundenlang ungläubig darauf zu starren.

»Aber nicht für Rauschgift ausgeben«, sagte ich in ermahnendem Ton.

Die Hure blickte mich mit eiskaltem Blick an und spuckte noch einmal aus. Dann drehte sie sich demonstrativ herum und verschwand mit wenigen Schritten in der Nacht. Ich zog mich wieder an und schloss die Beifahrertür, bevor ich hinter dem Steuer Platz nahm. Mein Blick fiel auf die kleinen, rot aufflackernden Lichter in manchen der Autos um mich herum. Die Zigarette danach oder davor. Vielleicht auch dabei. Wahrscheinlich würden sich auch die anderen Jungs, die gleich nach Hause fuhren, kein Stück besser fühlen als vor ihrem kleinen Ausflug hierher. Genau so wenig wie ich. Mein Leben war irgendwie sehr eintönig.

Ich startete den Wagen und fuhr los.

Mittwoch, 08. Oktober

 

Nach einem traumlosen Schlaf erwachte ich irgendwann gegen Vormittag auf meiner Couch. Ich hatte mir gestern, oder besser gesagt heute Nacht, einfach die Stiefel von den Füßen gezogen, mich auf das Sofa gelegt und im Fernsehen irgendeinen Müllfilm angesehen, vor dem ich dann nach wenigen Minuten bereits eingeschlafen war.

Ich richtete mich auf und streckte mich ausgiebig, wobei mir auffiel, dass ich leichte Kopfschmerzen hatte. Überhaupt fühlte ich mich unausgeruht und verkatert, als hätte ich die ganze Nacht gezecht, dabei hatte ich nicht einen Tropfen Alkohol getrunken. Aus der Küche holte ich mir einen Kaffee, griff mir mein Handy und las desinteressiert die Nachrichten. Während ich geschlafen hatte, waren rund um die Welt Menschen belogen, betrogen, verprügelt, vergewaltigt und ermordet worden. Dazu Naturkatastrophen, Korruption, Börse, Wetter, Sport. Alles wie immer. Ich legte das Gerät aus der Hand und sah mich im Raum um, den ich zwar als Wohnzimmer bezeichnete, ihn aber mehr als Multifunktionsraum nutzte. Ich lebte hier, ich schlief hier, ich aß hier.

Die Küche diente nur dem Zweck, Besteck und Geschirr zu beherbergen und sich an sporadischen Besuchen meinerseits zu erfreuen.

Dem Schlafzimmer erging es ähnlich. Dort befanden sich zwar ein Bett und ein Kleiderschrank, aber beide Möbel nutzte ich nur sehr selten. Dementsprechend sah mein Wohnzimmer auch aus. Überall verteilt lagen Kleidungsstücke und irgendwelcher Krempel herum, den ich abgestellt und anschließend vergessen hatte.

Man konnte sagen, dass die Wohnung meine Persönlichkeit recht gut repräsentierte: charmant, ein bisschen chaotisch, aber mit jeder Menge ungenutztem Potential.

Im Laden musste ich erst in etwa zwei Stunden sein, also hatte ich noch Zeit für ein Frühstück. Ich leerte meine Tasse und ging in die Diele, um mir die Schuhe anzuziehen. Anschließend verließ ich die Wohnung und ging im Treppenhaus zu Fuß die beiden Etagen abwärts bis ins Erdgeschoss.

Dort angekommen sah ich durch die Glasscheibe, dass der Postbote draußen gerade dabei war, einige der Schreiben in die Briefkästen einzusortieren. Ich öffnete den meinen und nahm die beiden Umschläge in Empfang, die mir entgegengerutscht waren. Der erste Brief war tatsächlich für mich und enthielt irgendeinen Quatsch von meiner Bank.

Der zweite Brief war an einen Martin Koch adressiert, der womöglich einer meiner Nachbarn war, was ich aber bei diesem Bunker mit seinen 30 Mietparteien unmöglich sagen konnte. Ich riss die Tür auf und stand vor einem kleinen, dürren Männlein, das mich augenblicklich breit angrinste.

»Guten Tag.«

»Guten Tag am Arsch«, sagte ich und hielt dem Mann die beiden Briefumschläge ins Gesicht. »Kannst du das lesen? Für wen sind die Briefe?«

Der Typ kniff kurz die Augen zusammen und las.

»Ein Brief geht an Marco Haas, der andere an Martin Koch.«

»Entzückend. Und was machen die Dinger in ein und demselben Briefkasten? Soweit ich weiß, habe ich keinen Mitbewohner.«

Der Postbote lächelte verlegen.

»Das muss ein Irrtum sein, entschuldigen Sie.«

Ich lächelte und klopfte dem Mann auf die Schulter.

»Ach was, gar kein Problem. Wir sind doch alle nur Menschen.«

Ich machte einen Schritt vorwärts und trat gegen das klapprige, grüne Postfahrrad, das keinen halben Meter entfernt neben uns stand. Das Fahrrad kippte taumelnd seitwärts, hielt sich einen Moment in Schräglage und fiel schließlich um. Die Briefe, die sich in den großen Taschen vor dem Lenker und am Gepäckträger befanden, breiteten sich wie Fächer auf dem Bürgersteig aus.

»So, da hast du eine kleine Sortierübung. Keine Bange, lesen ist nicht erforderlich.«

Der Postbote blickte entsetzt auf das Chaos, das sich vor ihm aufgetan hatte. Die Zornesröte schoss ihm augenblicklich ins Gesicht, und der Mann ballte die Fäuste, als er wieder zu mir sah. Im ersten Moment glaubte ich wirklich, dass er den Mumm haben würde, um tatsächlich auszuholen.

»Na komm, komm«, lachte ich.

Der Mann entspannte sich sofort wieder.

»Ich … ich werde Sie anzeigen!«

Was für ein Waschlappen. Ich wand mich ohne ein weiteres Wort ab und überquerte die Straße. Ich war bereits einige Meter entfernt, als ich den Briefträger noch immer fluchen hörte. Als ich mich noch einmal zu ihm herumdrehte, war er auf den Knien und sammelte die verstreuten Briefe ein. Ich konnte es nicht fassen.

Natürlich durfte man nicht zu viel von diesen Analphabeten erwarten, die sich für den Mindestlohn abstrampelten, um bei Wind und Wetter Post zu verteilen, die niemand mehr brauchte, da der wirklich wichtige Kram ohnehin per E-Mail verschickt wurde. Aber ich hatte angenommen, dass wenigstens so viel Würde und Stolz in diesem Typen steckte, dass er mehr herausbrachte, als eine kleine angedrohte Anzeige wegen … wegen was? Umschubsen eines Fahrrades? Lächerlich.

Ich erreichte die kleine Bäckerei und besorgte mir dort zwei belegte Brötchen, mit denen ich mich wieder auf den Rückweg nach Hause machte. Vor dem Haus angekommen sah ich, dass der Postbote inzwischen seinen Krempel zusammengeklaubt hatte und zwei Häuser weitergezogen war. In der Wohnung machte ich mir noch eine Tasse Kaffee, mit der ich schließlich mein Frühstück herunterspülte. Als ich den Vorhang beiseitezog und das Fenster öffnete, um zumindest ein wenig frische Luft hineinzulassen, blickte ich in die mir gegenüberliegende Wohnung auf der anderen Seite der schmalen Nebenstraße. Die Wohnung war zurzeit leer, da das Paar, das dort lebte, sich auf der Arbeit befand, wie ich vermutete. Was genau die beiden machten, wusste ich nicht, aber sie führten offensichtlich das, was man ein normales Leben nannte.

Morgens verließen sie das Haus und kehrten in aller Regel am Nachmittag zurück. Manchmal gab es auch freie Tage oder welche, an denen sie bereits nach wenigen Stunden wieder zu Hause waren. Dann saßen beide auf dem Sofa, aßen in der Küche zu Abend und sahen anschließend gemeinsam auf dem Sofa kuschelnd fern. Sehr idyllisch, wenn es nicht so widerlich eintönig und spießig wäre. Mein eigenes Leben, das mehr dem einer Fledermaus glich, war zwar nicht wesentlich aufregender, aber zumindest durfte ich mich rühmen, kein Anhänger der spießigen, deutschen Mittelschicht zu sein.

Ich legte mich zurück aufs Sofa. Minutenlang wälzte ich mich hin und her, konnte aber nicht in den Schlaf finden. Schließlich setzte ich mich genervt wieder auf und sah auf die Uhr: Im Sexshop musste ich erst in einer knappen Stunde sein. Wenn ich jetzt losfuhr, war ich etwas zu früh dran. Ich beschloss, mich trotzdem auf den Weg zu machen, denn weder konnte ich schlafen noch hatte ich Lust, mir irgendwelche Dokumentationen im Fernsehen anzusehen.

Im Flur zog ich mir Schuhe und Jacke an und verließ die Wohnung.

 

»Tag, Hasi«, begrüßte mich Rainer freundlich, als ich den Laden betrat. »Bist heute aber wieder früh dran.«