Warum, Frankenfish? - Christoph Straßer - E-Book

Warum, Frankenfish? E-Book

Christoph Strasser

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Beschreibung

Warum, Frankenfish?? ist wieder da! Wäre dieser Roman ein Film, man hätte längst ein Buch daraus gemacht! Größer als Ben Hur, futuristischer als Star Trek und witziger als Love Story hat dieser Roman alles, was einen preisverdächtigen Streifen ausmacht: eine halbwegs schöne Frau, keinen Sex und einen Helden, der eigentlich nur seine Ruhe und Hartz IV haben möchte. Doch stattdessen muss er in seinen alten Job und in die kleine Videothek zurückkehren. Und damit fangen die Probleme an, denn Benny's World of Movies, eine riesige Videotheken-Kette, hat eine Filiale in unmittelbarer Nachbarschaft eröffnet. Und was mit gesundem Konkurrenzdenken und Sticheleien beginnt, gerät bald völlig außer Kontrolle, denn: Es kann nur einen geben!

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Warum, Frankenfish? 2

NEMESIS

Christoph Straßer

Roman

– Anti-Pop –

1. Auflage Juli 2011

Titelbild: Ulrike Beck

www.ulrikebeck.com

©opyright 2011 by Christoph Straßer

Lektorat: Franziska Köhler

Satz: nimatypografik

ISBN: 978-3-939239-97-0

Alle Rechte vorbehalten. Ein Nachdruck oder

eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher

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EPISODE II

NEMESIS

Ein Jahr später.

Unser tapferer Held hatte sich der Horde von Kunden mutig entgegengeworfen, und das in einer nicht enden wollenden 14-Stunden-Schicht. Entgegen der eigenen Erwartung hatte er diesen grässlichen Tag überlebt und konnte – zumindest physisch – unbeschadet den Heimweg antreten.

Und auch wenn alles in ihm schrie und ihn anflehte, es nicht zu tun, ging er am folgenden Tag wieder in die kleine Videothek am Rande der Stadt und jeglicher Vernunft, um dort seinen Dienst zu tun.

Und das Schicksal schien es gut mit ihm zu meinen. Bereits kurze Zeit nach den furchtbaren Ereignissen erreichte unseren Helden die Nachricht vom Feuertod des verhassten Arbeitsplatzes. Verwunderung und Glücksgefühle

durchströmten seinen ermatteten Körper und

seine weinende Seele, und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte er sich frei.

Doch während noch die Endorphine in seinem Körper tanzten, zogen erneut dunkle Wolken am Horizont auf. Das Arbeitsamt, das nichts von seiner finsteren Macht eingebüßt hatte, wollte unter allen Umständen verhindern, dass unser Held, seines Philosophiemagisters zum Trotz, einen Beruf ergriff, der ihn glücklich machte und ausreichend Geld verdienen ließ.

Und so tat das Amt, was es am besten konnte

und wofür es von jeder denkenden Kreatur unserer Galaxis am meisten gefürchtet wurde: Es schrieb einen Brief. Einen Brief, der die Welt unseres Helden erneut ins Wanken brachte und ihn glauben ließ, dass es unmöglich schlimmer für ihn kommen könnte.

Noch ahnte er nicht, wie falsch er mit dieser Einschätzung lag ...

Prolog

Zitternd halte ich den Brief in Händen, den ich zwar bereits zum dritten Mal gelesen habe, dessen Inhalt sich aber nicht bis in mein Bewusstsein wagt. Oder vielmehr: Der Inhalt erhält keinen Zutritt zu meinem Bewusstsein. Aber irgendwann, nach Minuten, kapituliert mein Innerstes schließlich und gestattet dem Schreiben uneingeschränkten Zugang zu meiner Wahrnehmung.

Ich schüttle den Kopf.

Nein, das kann unmöglich wahr sein, denke ich und lese den Brief vom Arbeitsamt erneut.

Deswegen freuen wir uns, Ihnen mitteilen zu können, dass Ihr vorheriger Arbeitgeber großes Interesse daran hat, Ihr Arbeitsverhältnis fortzusetzen.

Dem folgt die übliche Belehrung über die Konsequenzen meiner eventuellen Weigerung, noch einmal in dieser gottverdammten Videothek zu arbeiten.

Ich vergesse, den Briefkasten wieder zu schließen, und schlurfe mit hängenden Schultern die Stufen hinauf zu meiner Wohnung. Den Brief halte ich dabei in der Hand wie ein kleines Mädchen seinen Teddy.

Im Wohnzimmer lasse ich mich auf die Couch sinken und seufze laut.

Das kann doch nicht wahr sein, denke ich.

Die Videothek war abgebrannt, vor noch nicht einmal einem Jahr. Die konnten dieses Monster doch unmöglich wieder aufgebaut haben! Unmöglich!

Ich schlage die Hände vors Gesicht und die Erinnerung an den schönsten Tag meines bisherigen Lebens drängt in mein Bewusstsein.

Ich hatte im Bett gelegen und verzweifelt an die Decke gestarrt, als das Telefon geklingelt hatte.

Ich hatte abgenommen und die Zentrale war dran gewesen. Es hätte einen Kurzschluss gegeben, und die Filiale, in der Malte und ich gearbeitet hatten, wäre abgebrannt. Vollständig. Leider.

Ich hatte die Nachricht stumm aufgenommen, da es mir unangebracht erschienen war, am Telefon freudig oder gar euphorisch zu klingen, was ich sprechenderweise auf keinen Fall hätte verhindern können.

Das wenige Tage darauf folgende Schreiben meines Arbeitgebers, in dem stand, dass er mich nicht weiterbeschäftigen könne, hatte ich lächelnd und achselzuckend zur Kenntnis genommen und mich einfach wieder arbeitslos gemeldet.

Doch jetzt war der Traum vorbei. Der Traum, vielleicht doch irgendwann in meinem studierten Beruf arbeiten zu können. Der Traum, nie wieder eine DVD in Händen halten zu müssen.

Ich nehme die Hände vom Gesicht und kann quasi augenblicklich alles wieder riechen: den kalten Zigarettenrauch, die Chips, das Popcorn, den billigen Teppich, den heiß laufenden DVD-Player.

Gott!

Es muss Gott sein!

Kein anderes Wesen in diesem kalten und schwarzen Universum hätte die Muße und die Möglichkeit, mich derart zu verhöhnen und zu bestrafen. Wofür auch immer.

Oder der Teufel?

Könnte es der Teufel sein?

Möglicherweise habe ich früher, ich meine in einem anderen Leben, einen Pakt mit ihm geschlossen. Ein Pakt, aus dem ich mich mit okkulten Kräften oder schwarzer Magie zu winden versucht habe. Und der Teufel hat mich dennoch erwischt und schickt mich nun auf eine qualvolle und nicht enden wollende Odyssee, um mir seine Macht zu demonstrieren und mir vor Augen zu führen, dass ein Handel mit Mephisto gilt. Immer.

Wie inAngel Heart.

Möglich wäre es doch.

Zumindest kann ich es momentan nicht ausschließen.

Ich blicke durch ein Fenster nach draußen. Es regnet nicht. Warum auch. Ich bin nicht in New Orleans und treffe mich auch nicht mit Robert De Niro.

Aber auch ohne verregnete Straßen in tristem Grau in Grau, steigt in mir Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit auf. Und die Erkenntnis, dass sich nichts ändern wird. Ich bin hier gefangen in einem Leben, dem ich mich bereits entronnen glaubte.

Aber ich kann nicht entrinnen. Niemals. Das wird mir schlagartig bewusst, es wird mir zur Gewissheit.

Ich bin ein Gefangener in dieser Welt. Ebenso gut kann ich versuchen, nicht mehr zu atmen oder zu essen. Und auch wenn es mir eine Zeit lang gelänge, wüsste ich doch immer, dass dieser Zustand des Triumphs eben ein zeitlich begrenzter ist. Zwangsläufig.

Niemand überlistet den Teufel.

Ich springe vom Sofa auf und presse mir die Fäuste auf die Schläfen.

«NEEEEEEIIIIIIIIINNNNNN!!!!!», schreie ich und sinke auf die Knie.

Ein Tag ohne Blut ist wie ein Tag ohne Sonnenschein.

Ich schlucke und sehe mich noch einmal um; in der Straße hat sich nichts verändert, seit ich das letzte Mal hier gewesen bin.

Die kleine Videothek ist tatsächlich wieder vollständig aufgebaut worden, und bei der Gelegenheit hatte man die Schaufenster vergrößert und das Firmenlogo prangte nun in doppelter Größe über dem Eingang.

Ich krame den Schlüssel aus der Hosentasche und schließe auf.

Es ist jetzt kurz nach acht Uhr morgens. Vorhin habe ich in der Zentrale meinen Arbeitsvertrag unterschrieben und bin gebeten worden, doch zwei Stunden früher im Laden zu sein, da ich noch die CD mit den Kundendaten einspielen und die Fenster dekorieren müsse.

Malte hatte kein Interesse gezeigt, wieder hier zu arbeiten, hatte man mir mitgeteilt. Offenbar hatte er sein Studium abgebrochen, da man ihm eine Vollzeitstelle in einer Behindertenwerkstatt angeboten hatte. Soweit ich weiß, wollte er nach seinem Sonderpädagogik-Studium sowieso in dieser Richtung tätig werden.

Schlau von ihm, nicht wieder hier anzufangen, denke ich. Auch wenn sein aktueller Job sich von diesem hier höchstwahrscheinlich nicht gravierend unterscheidet, wird er vermutlich zumindest besser bezahlt.

«Machen Sie jetzt auf?», quiekt eine Stimme hinter mir und lässt mich hochfahren.

Ich drehe mich um und sehe einen kleinen Jungen, der zu mir aufschaut.

«Nein», antworte ich. «Erst um zehn.»

«Wann ist zehn?», fragt der Kleine und kratzt sich mit seinen schwarz geränderten Fingernägeln einen Pickel im Gesicht auf.

Ich presse angewidert die Lippen aufeinander.

«In ... in zwei Stunden», sage ich und schiebe die Tür auf.

«Kann ich nicht jetzt schon mal gucken? Dann können Sie mir das festhalten und meine Mutter kommt mir das leihen. Dann ist das noch nicht weg.»

«Wir haben heute den ersten Tag wieder auf. Es ist noch alles da, wenn du gleich kommst. Versprochen.»

«Woher wissen Sie das?»

«Ich weiß es», sage ich und will den Laden betreten.

«Woher wissen Sie das?», hält mich der Junge auf.

«Ich arbeite hier. Ich weiß alles.»

«Wie viel ist fünf Milliarden mal siebzehneinhalb?»

«Was?», frage ich und drehe mich noch einmal um.

Der Bengel bricht in schallendes, helles Gelächter aus.

«Sie wissen überhaupt nicht alles. Hahahahahahaha ...»

Ohne den Jungen aus den Augen zu lassen, quetsche ich mich mitsamt meinem Rucksack durch den schmalen Türspalt und drehe den Schlüssel von innen zweimal im Schloss herum.

Hinter mir gackert noch immer der Rotzlöffel und presst seine fettige Nase gegen die Scheibe.

Ich versuche, die diabolische Fratze zu ignorieren, schalte die Lichter an und fahre den Computer hoch.

Nichts hatte sich hier verändert. Theke und Regale sind noch immer, oder besser, wieder an ihrem alten Platz. Telefon, Fax, Computer und all die anderen Gerätschaften sind gegen modernere Versionen ausgetauscht worden, die sich jedoch nicht groß von ihren Vorgängern unterscheiden.

Auch hat man wieder einen billigen DVD-Player an einen Verstärker angeschlossen, um den Laden mit Musik beschallen zu können.

Ich krame in den Schubladen und Fächern in der Nähe des Gerätes, kann aber nirgendwo eine CD entdecken.

Großartig, denke ich. Wenn die Hirnis von der Zentrale nicht schon eine Scheibe eingelegt haben, darf ich den Tag in aller Stille verbringen.

Ich schalte den Player ein und höre tatsächlich das piepsende Geräusch einer CD, die eingelesen wird. Ich öffne die Lade und das Gerät spuckt die Scheibe aus.

Kracher-Hits der 80er Jahre!!!

Wunderbar. Der Soundtrack meines ersten Arbeitstages würde also aus vor langer Zeit zu Recht vergessener Pop-Hits bestehen.

Ich schlendere in den Pornokeller, der ebenfalls renoviert worden ist, aber dennoch so muffig riecht wie eh und je.

In der Abstellkammer entdecke ich, dass sogar eine neue Trittleiter angeschafft wurde. Ich nehme sie heraus, klappe sie auf und greife mir eine Rolle Klebeband aus einer Schublade. Aus meinem Rucksack ziehe ich das kleine Kissen, das ich von zuhause mitgebracht habe. Nach einer etwa zehnminütigen Bastelei ist es befestigt.

«Kinder, kommt schnell», seufze ich, «Papa ist wieder zuhause.»

***

Mit einem schleifenden Geräusch springt die CD aus dem Laufwerk, und der Bildschirm zeigt die Meldung, dass alle Kundendaten vollständig übertragen wurden.

Ich werfe einen Blick auf die billige Micky-Maus-Wanduhr: kurz vor neun.

Draußen vor den Schaufenstern tummeln sich bereits Leute, die es nicht abwarten können, bis ich die Videothek aufschließe.

Ich stelle fest, dass einige von ihnen gar nicht unsympathisch wirken, aber was nützt mir das. Sobald sie hier über die Schwelle treten, verwandeln sie sich in Kunden. Und dieser Gedanke lässt mich frösteln.

Normale Menschen wollen freundlich behandelt werden. Kunden wollen hofiert werden.

Normale Menschen diskutieren und schätzen die Meinung anderer Menschen. Kunden haben immer recht.

Normale Menschen kümmern sich um ihre Mitmenschen. Kunden interessieren sich nur für sich selbst.

Ich fühle mich wie der letzte Überlebende einer Kleinstadt, der sich in einer alten Hütte verschanzt hat, während sich draußen bereits eine Horde Zombies versammelt, die ihm «Gehirn, Gehirn» heulend nach dem Leben trachtet.

Ich versuche, mich auf etwas anderes zu konzentrieren, und schlendere die Regale entlang. Es ist schon einige Zeit her, dass ich eine Videothek betreten habe. Auch privat habe ich diese Geschäfte gemieden.

Ich komme an einem Eckregal vorbei, das wie alle anderen Regale an der exakt selben Stelle steht, wo es sich früher auch befunden hat.

Ich rüttle ein wenig daran und erinnere mich lächelnd, dass seinerzeit der Fußboden an dieser Stelle etwas uneben war, so dass einem ständig die Filmcover ...

Etwas Schweres kracht mir hart auf den Schädel. Ich sehe Sterne und gehe stöhnend zu Boden.

Nach kurzer Bewusstlosigkeit komme ich wieder zu mir und sehe, wie mich ein wuchtiges Kunstharz-Monster mit der AufschriftSilent Hill – Willkommen in der Höllezähnefletschend anstarrt.

Noch immer zittrig hebe ich die Figur auf und stelle sie zurück auf das Regal, schiebe sie aber so weit nach hinten, dass sie nicht wieder herunterfallen kann.

Ich wanke zurück hinter die Theke und setze mich auf die Trittleiter. Meine Hand ertastet eine riesige Beule unter meinem Haar.

«Scheiße», maule ich und massiere meine Schläfen, die beinahe hörbar pochen.

Der Boden ist also noch immer nicht gerade, so viel weiß ich jetzt zumindest.

Ich greife mir meinen Schlüsselbund und gehe zur Tür.

Bis ich öffnen muss, habe ich noch Zeit, so dass ich mir etwas zu essen holen kann. Außerdem wird mir ein kleiner Spaziergang sicher gut tun.

Ich habe die Tür noch nicht ganz geöffnet, als mir schon die ersten Kunden entgegenströmen.

«Machen Sie jetzt auf?»

«Kann ich schon rein?»

«Nehmen Sie auch die Filme aus anderen Filialen zurück?»

«Hast du das neue GTA da?»

«Wie viel Kaution nehmt ihr für ’ne Wii?»

Von allen Seiten prasseln Fragen auf mich ein, die meine Kopfschmerzen nur verschlimmern.

Ich nicke beschwichtigend und ziehe die Tür hinter mir zu.

«Bitte», sage ich. «Ich komme gleich wieder. Wahrscheinlich. Und dann mache ich um zehn auf.»

«Auf meiner Uhr ist schon gleich halb zehn.»

«Auf meiner auch.»

«Sonst macht ihr doch immer um neun auf. Ich muss zur Arbeit, wie stellt ihr euch das vor?»

«Ich bin gleich wieder da. Ich schwöre», sage ich und gehe zwei Schritte zum Nachbargebäude.

Als die Haustür sich hinter mir schließt, höre ich, wie Ruhe in die Meute einkehrt. Anscheinend hat man sich damit abgefunden, dass es noch nicht zehn Uhr ist.

Im Hausflur sehe ich schon die Toilette am Ende des Ganges. Das kleine Bad, bestehend aus Toilette und Waschbecken, ist noch immer neben den Stufen zu finden.

Wieso auch nicht, denke ich. Das Feuer hat nur die Videothek zerstört, nicht das Nachbarhaus. Also gab es auch keinen Grund, dort etwas zu verändern oder gar zu modernisieren. Ich schließe die Toilettentür ab, damit sich keine ungebetenen Nachbarn einfinden, bevor ich das Gebäude wieder verlasse.

Ich atme durch und überquere die Straße. Auf der anderen Seite gibt es noch immer den Backshop.

Ich trete ein, und die Verkäuferin sitzt wie eh und je schief und gelangweilt auf einem Hocker und starrt auf den Boden. Die einzige Veränderung, die ich an ihr feststellen kann, ist ein schmales Piercing durch die Unterlippe. Aus dem kleinen Küchenradio, das auf einer Arbeitsplatte steht, quäkt irgendein Mist von Bon Jovi.

Es dauert einige Sekunden, bis die junge Frau mich wahrnimmt. Dann grüßt sie mit einem leisen «Morgen», ohne mich jedoch dabei anzusehen.

In den letzten Monaten ist es mit ihr anscheinend weiter bergab gegangen.

Sie wird niemals hier rauskommen und das scheint sie zu wissen.

Ich lade mir zwei Muffins auf ein Plastiktablett und gehe damit an die Kasse.

«Zweivierzig», flüstert sie, ohne auf mein Tablett zu sehen.

Schlimm, denke ich.

Wenn es so weit ist, dass man die unterschiedlichsten Backwaren bereits an ihrer Aura erkennt, sollte man wirklich ernsthaft über einen Jobwechsel nachdenken.

Ich zahle, stopfe die Muffins in eine Tüte und verlasse diesen trostlosen Ort.

Als ich auf den Bürgersteig trete, drehen sich mir von der gegenüberliegenden Straßenseite aus synchron etwa fünfzehn Gesichter zu.

«Um zehn!», rufe ich.

«Auf meiner Uhr ist schon gleich Viertel vor zehn!», ruft irgendwer zurück.

Ich gehe in die andere Richtung und verschwinde hinter einer Hausecke.

Ziellos spaziere ich durch die Straßen, bis ich einen kleinen Park erreiche.

Ich hocke mich auf eine Bank und knabbere lustlos an einem der beiden Muffins herum.

Meine Kopfschmerzen lassen langsam nach, was mich beruhigt. Eine Gehirnerschütterung kann ich also ausschließen.

Ich sehe kurz auf meine Uhr, die mir zeigt, dass es jetzt bereits kurz vor zehn Uhr ist.

Um meine Füße versammeln sich langsam Tauben in der Hoffnung, etwas von meinem Gebäck abzubekommen.

Ich werfe ihnen einige Bröckchen zu, und die Vögel picken gierig alles auf.

Die haben’s gut, denke ich.Sitzen einfach nur rum und warten, dass man ihnen was zu futtern gibt.

Ich nehme den zweiten Muffin aus der Tüte. Er ist mit Schokolade überzogen, was mich wieder ein wenig freundlicher stimmt. Vielleicht haben die ganzen Frauenzeitschriften ja recht und Schokolade ist gut für die Laune.

Und, na ja, warum sehe ich eigentlich so schwarz? Ich habe wieder einen Job, werde also wieder mehr Geld verdienen. Zudem werde ich ja in sieben Stunden von einem Kollegen abgelöst. Es ist ja nicht so, dass ich von nun an den ganzen Tag in der Videothek verbringen muss.

Vielleicht bin ich einfach zu pessimistisch. So schlecht hat der Tag doch gar nicht begonnen, denke ich.

Ich will gerade in den Stimmungsaufheller-Muffin beißen, als eine weiß-grüne Pampe drauffällt. Dicke Spritzer schießen mir in die Augen, die sofort anfangen, höllisch zu brennen.

Ich schreie auf, lasse den Muffin fallen und drücke mir die Handballen ins Gesicht.

«Oh Gott, meine Augen!», schreie ich und stolpere blind zwischen den Tauben umher.

Je hektischer ich mich bewege, desto lauter wird das Gurren der Vögel. Offenbar wollen sie nicht wegfliegen, solange da irgendwo noch mein Frühstück liegt.

Wasser, ich brauche irgendwoher Wasser, um mir die Augen auszuspülen!

Habe ich hier nicht irgendwo einen kleinen Springbrunnen gesehen?

Ich taste mich vorwärts und öffne hin und wieder ein Auge, mit dem ich unter Schmerzen wie durch einen Schleier kurz den Weg erkennen kann.

Endlich schlägt eines meiner Knie an den Betonrand des Brunnens. Ich ignoriere den Schmerz, setze mich und schöpfe mir Wasser ins Gesicht. Es dauert eine Ewigkeit, bis ich wieder sehen kann.

«Oh Gott», stöhne ich und blinzle noch einige Male.

Langsam humple ich zur Parkbank zurück und sehe, wie sich die Tauben über den Muffin hermachen, den ein riesiger Klecks Vogelkot ziert.

Das kann doch nicht wahr sein! Wie wahrscheinlich ist denn so was?

«Ihr verdammten Scheißviecher habt mir auf den Muffin geschissen!», schreie ich und trete wild nach den Tieren. «Ich werde euch alle töten! Ich werde euch töten!»

Ich trample wie wild um mich, ohne auch nur einen der Vögel zu treffen.

Schwer atmend stehe ich schließlich vor der Bank, umringt von Passanten, die mich kopfschüttelnd beobachten.

«Die ... die haben mir auf den Muffin geschissen», japse ich.

«Komm weg hier», sagt eine junge Frau und zieht ihre Tochter hinter sich her.

Auch die anderen Leute ziehen sich nun langsam zurück.

Ich lasse mich auf die Bank fallen und atme durch.

«Die haben mir auf den Muffin geschissen», sage ich leise und sehe auf die Uhr.

Fünf Minuten nach zehn.

Ich springe auf und eile so schnell mein Knie es zulässt zurück zur Videothek, wo mich die Kunden bereits ungeduldig erwarten.

«Na endlich», werde ich begrüßt.

«Was ist los? Haben Sie geweint?», fragt eine Frau.

«Stimmt. Der hat ganz verheulte Augen.»

«Vielleicht war der noch schnell kiffen. Man kennt ja das Videotheken-Volk ...»

Ich schiebe mich durch die Menge und schließe hektisch die Tür auf.

«Wurde aber auch Zeit», höre ich jemanden hinter mir. «Auf meiner Uhr ist gleich kurz vor halb elf.»

Kaum bin ich mit Müh und Not hinter die Theke gehumpelt, hat sich davor schon die erste Schlange gebildet.

«Bitteschön?», begrüße ich eine junge Frau, die mich durch eine schwarze, eckige Brille mürrisch ansieht.

«Gucken Sie erst mal in Ihren Computer, ob ich hier überhaupt noch registriert bin», fordert sie mich herrisch auf. «Ich war nämlich schon lange nicht mehr hier.»

Ich lächle.

«Sie sind noch registriert. Die Videothek war nämlich auch schon lange nicht mehr hier. Sie haben also beide nichts verpasst.»

«Wie auch immer», antwortet die Frau. «Ich möchte demnächst an der Universität ein Referat über Jane Austen halten. Und dafür brauche ich den FilmPride & Prejudice. Da gibt es eine sehr gute Verfilmung der BBC. Das ist eine britische Fernsehanstalt.»

«Was Sie nicht sagen», seufze ich und rolle innerlich mit den Augen.

«Ja. Haben Sie die da?»

«Ich seh mal nach.»

Ich atme kurz durch und lege das erste Mal seit Monaten meine Hände auf die Tastatur des Firmencomputers.

Eine unheilige Ausstrahlung geht von ihr aus. Ich fühle mich, als sei ich kurz davor, einen alten Indianerfriedhof zu schänden. Ich weiß, dass furchtbares Unheil über mich kommen wird, wenn ich dieses Ding berühre.

Aber es lässt sich leider nicht vermeiden.

Ich tippe den Filmtitel ein. Noch bevor ich der Frau antworten kann, zischt sie mich an.

«Das schreibt sich Priede und Prejudike. Mit C.»

«Danke», sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln.

Der Rechner zeigt mir an, dass wir lediglich die neuere Verfilmung im Bestand haben.

«Tut mir leid», sage ich. «Wir haben nur die Version mit Keira Knightley. Nicht die der BBC. Ich könnte aber auchGeliebte Janeanbieten. Mit Anne Hathaway als Jane Austen.»

«Anne Hathaway? Wer ist das denn?»

«Eine amerikanische Schauspielerin. Kennt man aus ... keine Ahnung.Plötzlich Prinzessin.»

«Nie gehört.»

«Is so ’n Fotzenfilm», ruft ein junger Typ von irgendwoher.

Die Frau ignoriert den Zwischenruf und sieht mich ernst an.

«So ein Plunder nützt mir nichts. Haben Sie nicht verstanden, dass ich den für die Universität brauche? Die Universität!»

«Doch, schon», antworte ich. «AberStolz & Vorurteilführen wir nur in der erwähnten Fassung.»

«Was für ein komischer Laden ist denn das hier, wo man nicht mal die gängigsten Filme bekommt. Das Beste wird sein, sie streichen mich aus Ihrer Kartei.»

«Sind Sie sicher?», lächle ich. «Der junge Mann hat recht.Plötzlich Prinzessinkönnte Ihnen gefallen.»

«Ich hab doch schon gesagt, was ich will. Und dieser Prinzessinnen-Müll wird mich kaum durch das Seminar bringen.»

«Vermutlich nicht.»

«Also dann: Löschen Sie mich bitte aus Ihrem Computer. Eine Videothek, in der ich nicht die Filme bekomme, die ich benötige, nützt mir nichts.»

«Okay», sage ich, rufe die Kundendaten auf, drücke die Löschentaste und bestätigte den Vorgang.

«Fertig», sage ich.

«Und?»

«Und was?»

«Bekomme ich da keine Bestätigung drüber?»

«Das war die Bestätigung.»

«Was?»

«Fertig.»

«Wie, fertig?»

«Fertig. Fertig war meine Bestätigung.»

Die Frau schnaubt durch die Nase und schüttelt den Kopf.

«Nein, ich will eine schriftliche Bestätigung darüber, dass Sie meine Daten gelöscht haben.»

«So was haben wir nicht.»

«Das kann ja wohl nicht Ihr Ernst sein! Und wer garantiert mir jetzt, dass Sie meine Daten nicht an Dritte weitergeben, die mich dann mit Werbemitteilungen bombardieren?»

«Äh ... Wir haben doch gar keine Daten von Ihnen. Außer Ihrer Adresse.»

«Und glauben Sie, dass die nichts wert ist?»

Die Frau wohnt in der Nähe des Hauptbahnhofes. Eine ziemlich finstere Gegend, der es ganz sicher nicht schadete, wenn man sie bombardierte.

Trotzdem, jede weitere Diskussion hat hier keinen Sinn.

Ich nehme mir einen Zettel und schreibe mit Kugelschreiber darauf:Ich schwöre, dass ich die Kundendaten von Frau Ute Fernau aus dem Videothekencomputer gelöscht habe.

Ich unterschreibe, loche den Zettel und schiebe ihn ihr über die Theke hin.

«Hier. Für Ihre Unterlagen», sage ich freundlich.

«Vielen Dank.»

Sie faltet das Papier und steckt es in ihre Handtasche.

«Schönen Tag noch», verabschiedet sie sich und geht mit großen Schritten zur Tür.

Ich atme auf und sehe mich um.

Einige Leute sind zielstrebig in den Pornokeller verschwunden, so dass momentan nur eine Handvoll Kunden in Sichtweite sind.

Das Faxgerät piept kurz, beginnt zu rattern und spuckt ein Blatt Papier aus.

Ein Listenvordruck. Die Zentrale hätte gerne, dass ich den Wisch hier aushänge, so dass die Kunden ihre E-Mail-Adressen eintragen können, falls sie unseren Newsletter wünschen. Zudem wird das Personal aufgefordert, die Kunden «aktiv darauf aufmerksam zu machen».

«Aha», sage ich und lege das Papier und einen Kugelschreiber an den Rand der Theke.

Sollen die Leute sich doch eintragen, wenn sie wollen. Darauf ansprechen werde ich sie sicher nicht.

Die Tür springt auf und Malte betritt den Laden.

An der Hand führt er einen Mann, der schätzungsweise doppelt so alt ist wie er selbst.

Dieser trägt kurz geschorene Haare und hat eine seiner Hände beinahe bis zum Gelenk im Mund.

«Hi», begrüßt mich mein Ex-Kollege. «Hab gehört, der Schuppen hat wieder geöffnet.»

«Ja, ja. Und man hat mich sofort wieder eingestellt. Toll, oder?»

«Hm. Wenn du meinst.»

Malte sieht sich um und zuckt mit den Schultern.

«Hat sich ja eigentlich nichts verändert. Ist nur ein bisschen sauberer.»

«Ich bin sicher, dass das bloß eine Frage von Stunden ist, bis das hier wieder so aussieht, wie du’s gewohnt bist.»

«Wahrscheinlich. Und? Wer ist jetzt deine neue Aushilfe?»

«Keine Ahnung», antworte ich. «Soweit ich weiß, heißt der Ivo und kommt aus ’ner anderen Filiale hierher. Lern den nachher erst kennen, wenn der mich um fünf ablöst.»

Malte nimmt seinem Begleiter den Kugelschreiber aus der Hand, den der sich vom Tresen genommen hat, und legt ihn zurück an seinen Platz.

«Hallo», grüße ich, als der Typ mich ansieht.

«Bushido!», schreit er zurück.

Wie auch die Kunden in der Videothek zucke ich zusammen und sehe den Kerl erschrocken an.

«Ist gut, Ronny», sagt Malte ruhig und klopft dem Mann vor die Brust.

«Was ... Was war das denn jetzt?», frage ich.

Malte zündet sich unbeeindruckt eine Zigarette an.

«Das ist Ronny. Er gehört zur Behindertenwerkstatt, in der ich jetzt arbeite.»

«Ach so. Ich hab mich zu Tode erschrocken», sage ich und lasse mich auf die Trittleiter sinken.

«Er is halt Bushido-Fan.»

«Das kommt vermutlich wegen der Behinderung», lache ich.

Malte sieht mich ernst an.

«Was soll das denn heißen?»

«Gar nix», antworte ich.

«Machst du dich über Behinderte lustig?»

Jetzt blicke ich ihn mit großen Augen an.

«Überhaupt nicht, wie kommst du darauf? Das war nur ein Scherz. Ich meinte damit ...»

«Ich hab deinen tollen Scherz schon verstanden. Und ich find das nicht lustig, Ronny zu verarschen.»

Ich stehe nun wieder auf und schüttle hektisch den Kopf.

«Ich hab Ronny nicht verarscht. Ich hab doch nur gesagt ...»

«Arschfotze!», kreischt Ronny und wirft mit dem Kuli nach mir.

Das Ding streift zum Glück nur mein rechtes Ohr und prallt am Regal hinter mir ab.

«Was soll denn das?», frage ich Malte vorsichtig, um Ronny nicht zu provozieren.

«Was glaubst du, wie viel Spott der arme Junge schon ertragen musste? Hm? Meinst du, der findet das lustig, hier jetzt auch noch als Spasti ausgelacht zu werden?»

«Das hab ich doch gar nicht gesagt.»

Malte verschränkt die Arme vor der Brust.

«Nein, natürlich nicht. Wolltest ihn nur darauf hinweisen, dass er ’ne Behinderung hat. Falls er’s vergessen haben sollte, oder?»

«Ich hab doch nur ... Ich meine, wegen Bushido. Ein kleiner Witz. Mehr war’s doch gar nicht.»

«Bushido!», schreit Ronny wieder und kichert.

«Ja, bist ’n richtiger Komiker. Frag mich, was du überhaupt noch hier machst. Solltest auf Tournee sein mit dem Malte-und-seine-Spastis-Programm.»

«Aber ich hab doch gar nichts gegen deine Spastis», sage ich hilflos.

Malte sieht mich ernst an und schnauft hörbar laut.

«Du bist echt ’n Arschloch. Weißt du das? Statt froh zu sein, dass du gesund bist, nennst du Ronny ’nen Spasti.»

Ein Pärchen wirft mir strenge Blicke zu, ein älterer Mann schüttelt nur mitleidig den Kopf.

«Ich hab Ronny nicht Spasti genannt!»

«Langsam ist aber gut. Lassen Sie doch den armen Kerl in Ruhe», fordert mich ein Mann aus einer der hinteren Ecken aus auf.

«Aber wirklich», schaltet sich die Frau ein, die zu dem Paar gehört.

Ihr Mann nimmt sie an der Hand.

«Komm, Schatz. Wir gehen woanders hin», sagt er dann und wirft mir einen strafenden Blick zu.

«Nein, aber ... So war das nicht», rufe ich ihnen nach, aber die beiden haben die Videothek bereits verlassen.

Ich blicke wieder zu Malte.

«Bist du nur gekommen, um mich zu quälen? Was willst du hier?»

«Eigentlich wollte ich für Ronny und seine Freunde ’nen Film leihen. Aber wenn du mich jetzt so fragst, möchte ich, dass du dich bei ihm entschuldigst für deine Spasti-Sprüche.»

«Entschuldigen? Ich hab doch gar nichts gemacht.»

«Fällt dir das so schwer? Einfach mal ’nen Fehler einzusehen?»

«Ich habe doch überhaupt nichts gemacht, verdammt noch mal!»

«Jetzt entschuldigen Sie sich doch endlich. Der Mongo merkt das doch gar nicht, ob Sie’s ernst meinen», fordert mich eine Kundin auf.

Einen Moment lang sehe ich mich Hilfe suchend um, ernte aber nur fragende Blicke.

Ich gebe es auf und reiche Ronny die Hand.

«Ist ja gut», sage ich. «Tut mir leid, Ronny.»

«Ghettobitch!!!», schreit er und gibt mir eine Ohrfeige, die mich mit voller Wucht erwischt.

Ich taumle einige Schritte und stolpere in einen Denzel Washington-Pappaufsteller, der mit mir gemeinsam zu Boden geht.

Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich gerade Malte und Ronny den Laden verlassen.

Über mir steht ein Mann, der verächtlich zu mir heruntersieht.

«Au ...», stöhne ich.

«Mitleid können Sie von mir nicht erwarten.»

«Ich weiß.»

«Und die Obama-Figur haben Sie jetzt auch noch kaputtgemacht.»

Es gibt immer einen noch größeren Fisch.

Mein Schädel brummt etwas weniger als noch vor einigen Minuten, allerdings fühle ich mich noch immer, als hätte King Kong draufgestanden, während er mit Elefanten jonglierte.

Ich drücke mir ein letztes Mal die Colaflasche, die bereits warm zu werden beginnt, auf die Stirn und stelle sie dann wieder zurück in den Kühlschrank.

Zum Glück bin ich gerade allein im Laden, so dass mir niemand zusätzlich auf den Keks gehen kann.

Da bemerke ich, dass es im Laden unangenehm säuerlich riecht. Anscheinend hat einer der Kunden vorhin hier eine Duftmarke in Form von Alkoholausdünstungen gesetzt. Ich gehe zur Tür und öffne sie weit.

«Das stinkt ja hier wie in einer scheiß Kneipe, verdammte Alkis», maule ich und trete den kleinen Holzkeil, der als Türstopper dient, unter der Türkante fest und gehe wieder zurück an meinen Platz.

Ich atme durch und sehe, wie hinter einem der Regale plötzlich ein Kunde auftaucht.

Keine Ahnung, wo der jetzt herkommt.

In einer Hand hält er eine Plastiktüte, die dem Geräusch nach mit Bierflaschen gefüllt ist, mit der anderen lässt er kurz vor dem Ausgang ein leeres Wodkafläschchen in einen Mülleimer fallen.

«Schön, dass hier wieder auf ist», sagt er leise und wirft mir einen scheuen Blick zu.

Dann verlässt er die Videothek.

Für immer, wie ich vermute.

«Natürlich ...», sage ich und lasse den Kopf auf die Theke sinken.

Herr Mai, Alkoholiker und Stammkunde der ersten Stunde.

Schamesrot setze ich mich wieder auf meinen improvisierten Hocker.

Ich sehe aus einem der Schaufenster, und mein Blick fällt auf Metin, der gerade an der Videothek vorbeispaziert.

Er bleibt stehen, tritt einen Schritt zurück und sieht dann zu mir herüber.

Sein Gesicht strahlt förmlich, als er mich sieht.

Metin springt in den Laden und lacht mir entgegen.

«Mann, schön, dass du wieder da bist. Wann habt ihr denn aufgemacht?»

Ich reiche Metin die Hand und muss selbst ebenfalls lächeln.

«Heute ist der erste Tag. Schön, dich zu sehen.»

«Lustig. Hätte nicht gedacht, dass ihr den Laden wieder aufmacht. Ein Jahr ist ’ne lange Zeit. Gerade in der Branche.»

«Was meinst du?», frage ich und nehme wieder Platz.

«Na ja», meint Metin und wedelt mit einigen DVD-Hüllen. «Du bist nicht mehr alleine in der Gegend, wenn du weißt, was ich meine.»

«Wie?», frage ich erstaunt. «Hat hier noch ein Wahnsinniger eine Videothek eröffnet?»

Metin nickt.

«Benny’s World of Moviessind jetzt auch hier. Die haben sich gefreut, dass der Laden hier abgefackelt ist. Keine zwei Monate später haben die hier aufgemacht.»

«Is ja ’n Ding. Und das lohnt sich?»

«Denke schon. Man kann euch aber ... na ja ... schwer vergleichen.»

«Was soll das denn heißen?», will ich wissen.

Metin lächelt verlegen.

«Wenn du Zeit hast, komm doch eben mit. Dann zeig ich’s dir.»

«Ich kann den Laden nicht abschließen und einfach gehen.»

«Dauert nur fünf Minuten.»

«Nein, echt nicht.»

«Komm. Wird dir gefallen.»

«Ich hasse Videotheken. Und die anderer Leute erst recht.»

«Dann bist du im falschen Job.»

«Gibst du mir das schriftlich fürs Amt?»

Metin lacht laut auf.

«Jetzt mach schon», sagt er dann.

Ich rolle mit den Augen, ziehe ein weißes Blatt Papier aus einer Schublade, schreibeBin in 5 Minuten zurückdrauf und hänge den Zettel an die Tür.

Ich schließe den Laden von außen ab und folge Metin in eine Seitenstraße.

Eine Sekunde lang überkommt mich ein Gefühl der Freiheit, das sich aber schnell wieder in den gewohnten Kloß im Bauch verwandelt, als mir klar wird, dass ich nicht nach Hause gehe.

Nach zwei Minuten erreichen Metin und ich dieBenny’s-Filiale.

Mit großen Augen bleibe ich davor stehen.