Hassmord - J. J. Preyer - E-Book

Hassmord E-Book

J. J. Preyer

4,6

Beschreibung

Norbert Schlader, der pensionierte Magistratsdirektor und dessen Geliebte werden in seinem Wochenendhaus erschossen. Christian Wolf und Chefinspektor Viktor Grimm verdächtigen anfangs den betrogenen Ehemann der Ermordeten. Doch die Ermittlungen geraten ins Stocken, als Wolf lebensgefährlich erkrankt und nur knapp überlebt. Sein Denken und Fühlen verändern sich durch diesen Einschnitt in sein Leben. Wolf sieht von da an die Welt und vor allem den Fall mit völlig neuen Augen ...

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J. J. Preyer

Hassmord

Psychologischer Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2015 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Mirjam Hecht

E-Book: Benjamin Arnold

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © XK / Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4638-2

KAPITEL 1

Die Gesunden und die Kranken haben ungleiche Gedanken.

Dieser Spruch stimmte. Belinda Schwarz war seit der Operation ein anderer Mensch geworden, obwohl diese nur ihren Körper betroffen hatte. Um einigermaßen im Gleichgewicht zu bleiben, benötigte sie einen besänftigenden Serotonin-Wiederaufnahmehemmer am Abend, verbunden mit einem leichten Neuroleptikum sowie einen anregenden Serotonin-Wiederaufnahmehemmer am Morgen.

Diese Medikation, die sie sich als Apothekerin selbst verordnet hatte, verursachte relativ geringe Nebenwirkungen, von der leichten Übelkeit am Morgen abgesehen. Sie konnte unter dem Einfluss der Tabletten ungehindert Auto fahren, musste aber mit dem Konsum von Alkohol vorsichtig sein.

Die relativ geringe Dosierung jedoch hatte den Nachteil, dass die Medikamente unter Stress nicht ausreichend halfen. In aufregenden Situationen musste sie die Dosis erhöhen.

Belinda Schwarz kannte den Grund für ihre innere Unruhe an diesem Abend nicht. Vielleicht stand ein Wetterumschwung bevor. Sie war extrem wetterempfindlich, seitdem man aus ihrer linken Brust einen Tumor entfernt hatte. Die Ärzte meinten, sie sei geheilt, werde aber noch einige Zeit unter den Nachwirkungen der Operation und der anschließenden Bestrahlungen zu leiden haben.

Dass sich aber ihr ansonsten stabiles Wesen verändern würde, hatte sie nicht erwartet. Sie war ängstlich geworden, nahm äußere Reize stärker wahr, ließ sich von diesen so sehr beunruhigen, dass sie manches Mal sogar in Panik geriet.

Erst Selbstversuche mit verschiedenen Medikamenten hatten ihr das Leben nach der Krankheit erleichtert.

Dabei musste sie froh sein, dass man den Tumor rechtzeitig entdeckt hatte.

Ihr Leben hatte sich in dem knappen Jahr seit der Operation radikal verändert. Sie hatte sich von ihrem Mann getrennt, war in das Wochenendhaus am Ende des Trattenbachtals, eines Nebentals des Ennstals zwischen Ternberg und Losenstein, gezogen, um die Ruhe dieser heilen Landschaft auf sich wirken zu lassen.

Dennoch war sie schon, als sie von der Arbeit nach Hause gekommen war, beunruhigt gewesen. Irgendetwas war anders an diesem Abend, stimmte nicht, befand sich nicht im Lot.

Sie versuchte, sich zu beruhigen, indem sie sich auf die Gartenbank hinter dem Haus setzte. Es roch nach frischem Heu, die Vögel sangen. Im Haus der Schladers brannte Licht. Der ehemalige Steyrer Magistratsdirektor kam selten während der Woche hierher, obwohl er in der Pension Zeit dafür hätte.

Egal. Es kümmerte sie nicht, was der Mann tat oder ließ. Sie mochte ihn nicht. Beunruhigte sie seine ungewohnte Anwesenheit? Sie wusste es nicht, kehrte in das Haus zurück, nahm eine stärkere Dosis der beruhigenden Medikamente und studierte die Morgenzeitung, für deren Lektüre sie noch keine Zeit gefunden hatte. Der Postbote brachte sie erst gegen Mittag – zu einem Zeitpunkt, an dem sie längst nicht mehr zu Hause war. Andererseits musste sie froh sein, dass sie die Post nicht irgendwo im Tal abholen musste. Ein Umstand, den sie dem Steyrer Magistratsdirektor zu verdanken hatte, der sich dafür eingesetzt hatte, dass die Post ins Haus geliefert wurde. Ein dynamischer, sehr auf seinen Vorteil bedachter Mensch.

Die Tabletten halfen Belinda, sich zu entspannen, sie gähnte des Öfteren und zog sich gegen zehn Uhr in das im ersten Stock gelegene Schlafzimmer zurück, dessen Fenster sie auch des Nachts offen lassen konnte.

Sie musste schon eine Zeit lang geschlafen haben, als sie durch einen Knall geweckt wurde. Beunruhigt setzte sie sich im Bett auf und hörte drei weitere Schüsse.

Kurz darauf wurde beim Haus des Magistratsdirektors ein Auto gestartet, das ohne Licht die Straße nach unten fuhr.

Belinda Schwarz schlüpfte in ihren Schlafrock und begab sich in das Erdgeschoss des Blockhauses, von wo sie die Straße beobachtete, die bei ihr vorbeiführte.

Das Fahrzeug war extrem langsam unterwegs, wohl, um nicht vom Weg abzukommen. Gleich nach ihrem Haus, vor der engen Kurve, schaltete der Fahrer kurz das Licht ein, um sich zu orientieren.

Sie konnte das Kennzeichen des Wagens erkennen und notierte es auf dem Rand ihrer Zeitung. SR 754 BA. Ein Wagen mit Steyrer Zulassung, vermutlich ein Mercedes.

Belinda Schwarz fand den Umstand, dass Schüsse gefallen waren und dass der Wagen ohne Beleuchtung ins Tal fuhr, beunruhigend und dachte daran, die Polizei zu rufen.

Andererseits musste sie vorsichtig sein, gerade in ihrem Beruf. Sie durfte sich den labilen Zustand ihrer Psyche nicht anmerken lassen. Eine Apothekerin musste Stabilität und Verlässlichkeit verkörpern. Die Kunden würden ausbleiben, wenn sie ahnten, wie es wirklich um sie stand.

Sie entschloss sich, selbst herauszufinden, ob im Haus der Schladers alles in Ordnung war.

Belinda Schwarz kleidete sich an, griff zu ihrer Taschenlampe und marschierte den geschotterten Weg nach oben, zum letzten Haus im Tal, in dem noch immer Licht brannte.

Sie schwitzte, obwohl es ziemlich abgekühlt hatte, als sie am Garten der Schladers ankam. Die Gartentür stand offen. Belinda ging zur Haustür, klopfte ohne Erfolg und bewegte sich zu einem der beleuchteten Fenster.

Durch die zerbrochene Scheibe konnte sie in das Innere schauen. In diesem Moment fuhr ein stechender Schmerz wie ein Blitz durch ihren Oberkörper. Als ob sie selbst erschossen worden wäre. Ihre Beine gaben nach, sie ließ sich nach unten gleiten, bis sie auf den Steinen an der Holzwand saß. Dort drückte sie beide Hände schützend auf ihre linke Brust.

Im Haus lagen zwei Menschen auf dem Boden. Ob tot oder verletzt, wusste sie nicht.

Als der Schmerz nachließ, erhob sie sich und ging zurück zu ihrem Haus. Laufen konnte sie nicht. Sie zitterte vor Anstrengung.

Im Haus holte sie einen Sessel aus der Küche und platzierte ihn vor dem Festnetztelefon im Flur. Sie atmete tief durch und probte den Text ihres Anrufs: »Im Haus Trattenbach 136 ist ein Unglück geschehen. Zwei Menschen liegen auf dem Boden, vermutlich erschossen.«

Noch war ihre Stimme ohne Ton, noch konnte sie den Notruf nicht tätigen. Sie versuchte, regelmäßig zu atmen, um sich zu beruhigen.

Sie probierte es ein weiteres Mal: »Ein Mann und eine Frau liegen reglos auf dem Boden des Nachbarhauses. Die beiden sind nur dürftig bekleidet. Sie sind einem Schussattentat zum Opfer gefallen.«

Das festzustellen, war Aufgabe der Polizei. Sie musste nur sagen: »Im Haus des Steyrer Magistratsdirektors sind heute Abend – nein – heute Nacht Schüsse gefallen. Zwei Menschen sind verletzt oder tot.«

Sie konnte nicht länger zuwarten, sie musste anrufen, auch wenn ihre Stimme unsicher war.

Belinda Schwarz wählte 133, die Notrufnummer der Polizei.

Der Mann auf dem heißen Felsen war froh über die leichte Brise, die von den Felswänden, die den Schwarzen See im Tavignanotal säumten, herunterwehte.

Im Juni den ganzen Tag in der Sonne Korsikas zu liegen, konnte anstrengend werden, wenn auch das Süßwasser erfrischende Abkühlung bot. Die Kiefern an den steinigen Ufern der besonders schönen und tiefen Gumpe warfen kaum Schatten.

Christian Wolf ließ die heiße Sonne auf seine Haut brennen, hin und wieder las er in einem Kriminalroman, dann wieder legte er ihn beiseite und schlief. Wenn ihm zu heiß wurde, sprang er in den Fluss und schwamm einige Runden.

Doch länger als zwei Stunden hielt er es nicht aus, es zog ihn zurück zu seinem Wohnmobil, das er in Corte, der alten Stadt am Zusammenfluss des Tavignano und der Restonica, geparkt hatte.

Er hatte seine fahrbare Unterkunft auf einem Parkplatz mit Blick auf die Zitadelle abgestellt, die auf einem Felssporn über der Stadt und ihren engen Gassen thronte.

Christian Wolf fand den Kontrast von unverfälschter Natur und malerischer Altstadt reizvoll, beinahe paradiesisch, und doch fühlte er sich hier und auf der gesamten Insel nicht heimisch.

Immer wieder dachte er an seine Heimatstadt, an Steyr in Österreich, die er kurz nach seiner Pensionierung angeödet hinter sich gelassen hatte, um zunächst den Winter auf Mallorca zu verbringen.

Steyr war zwar eine langweilige Stadt, doch die dortigen Sommer hatten etwas Besonderes. Im Juli und August, also den Monaten, in denen die Steyrer irgendwo auf Urlaub waren, lag himmlische Ruhe über der Stadt und dem umgebenden Land. Und es war nicht so heiß, oft regnete es, und man konnte in der Nacht gut schlafen. Im Gegensatz zu hier und zu seinem an sich komfortablen Wohnmobil, das jedoch keine Klimaanlage hatte und dessen Inneres auch des Nachts stickig heiß blieb, denn die Fenster wollte er aus Sicherheitsgründen nicht öffnen.

Als Wolf den Wagen erreichte, trank er ein Bier aus dem Kühlschrank und legte sich auf das Bett, um etwas auszuruhen. Schlafen konnte er seit ein paar Nächten kaum mehr, dennoch schreckte er auf, als sich der Signal­ton seines Handys meldete.

»Hier ist Viktor. Wie geht es dir?«, meldete sich sein alter Freund, der Chefinspektor der Steyrer Polizei, Viktor Grimm.

»An sich gut, danke. Und du? Wie geht es dir?«

»Ebenso. Bis auf den Grund, warum ich dich anrufe.«

»Ich höre …«

»Mach es mir nicht so schwer, Chris!«

»Inwiefern schwer?«

»Du interessierst dich nicht wirklich dafür, was ich dir sagen will.«

»Sag es, dann weiß ich, ob es mich interessiert«, gab sich Christian Wolf zurückhaltend, obwohl seine Neugier geweckt war.

Viktor Grimm, der Leiter der Sicherheits- und kriminalpolizeilichen Abteilung des Stadtpolizeikommandos Steyr, würde ihn nur in einer sehr wichtigen Angelegenheit anrufen. Er wusste, dass Wolf weit von Steyr entfernt war und nicht persönlich eingreifen konnte.

»Also«, begann Grimm in der bedächtigen Art, die dem 59 Jahre alten, korpulenten Mann eigen war, »wir haben einen brisanten Fall hier in Steyr, das heißt, eigentlich in Trattenbach. Zwei Menschen wurden in einem Wochenendhaus erschossen. Eine Nachbarin beobachtete einen Wagen, der unbeleuchtet ins Tal fuhr.«

»So etwas soll vorkommen. Sei froh, dass es dich nicht betrifft, immerhin liegt Trattenbach mindestens eine halbe Autostunde von Steyr entfernt.«

»So einfach ist es leider nicht. Einer der Toten ist Steyrer. Ein prominenter Mann.«

»Welche prominente Steyrer gibt es schon außer dir?«

»Dich und einige andere«, konterte Grimm. »Im konkreten Fall handelt es sich um Doktor Norbert Schlader, den ehemaligen Magistratsdirektor.«

»Ich kenne, oder besser gesagt, kannte ihn. Nun verstehe ich dein Problem. Bei Schlader lässt sich die Zahl der Täter nicht eingrenzen, weil letztlich jeder Steyrer dafür infrage kommt. Und hat nicht Steyr an die 50.000 Einwohner …«

»Zu hoch gegriffen. Im Moment unter 40.000.«

»Trotzdem.«

»Du kannst dir vorstellen, wie heikel der Fall ist. Schlader ist nicht allein ums Leben gekommen. An seiner Seite starb, kaum bekleidet, die Frau des jetzigen Magistratsdirektors, des Nachfolgers von Schla…«

»Ich verstehe.«

»Ich weiß«, ließ Grimm nicht locker, »es ist eine unverschämte Bitte, aber ich spreche sie dennoch aus: Ich bitte dich, lieber Chris, heimzukommen und mir, wie in alten Zeiten, bei der Lösung dieses Falles zur Seite zu stehen. Allein schaffe ich es nicht. Und ein Versagen würde dazu führen, dass man mich zwangspensioniert.«

»Was ja auch etwas für sich hätte«, bemerkte Wolf. »Du könntest mich auf meinen Reisen begleiten.«

»Ich bin kein reisefreudiger Mensch«, wehrte Grimm ab. »Und ich liebe meinen Beruf. Das heißt, wenn er nicht so fordernd ist wie gerade jetzt.«

»Ich werde es mir überlegen.«

»Das heißt …«

»Das heißt, dass ich mir Bedenkzeit nehme und dich am Abend zurückrufe.«

»Ich hoffe sehr, du entscheidest in meinem Sinn.«

»Wir werden sehen.«

Wolf war froh über diese Gelegenheit zur Heimkehr nach Steyr und der Mordfall Schlader hatte sein Interesse geweckt. Auch Wolf hatte Begegnungen mit dem Mann gehabt, die durchaus nicht angenehm gewesen waren. Schlader war eine dunkle Figur gewesen, die fast überall mitgemischt hatte, wo es Intrigen und zumindest fragwürdige Geschäfte in der Heimatstadt gegeben hatte. Sogar am Sturz eines beliebten Bürgermeisters war der ehemalige Magistratsdirektor beteiligt gewesen.

Wolf hatte sich schon entschieden. Er würde nach Steyr zurückkehren und den Fall mit Grimm lösen. Zusammen waren sie ein nahezu unschlagbares Team. Der schweigsame Wolf mit seiner wölfischen Spürnase, wie Grimm das formulierte, mit seinem vorsichtigen Umgang mit Informationen und Grimm mit dem Auge für Details, die er eifrig sammelte, aber nicht gewichten konnte.

Sie würden es wieder einmal schaffen, wie kompliziert auch immer die Ermittlungen sich gestalten würden.

Aber er wollte Grimm nicht den Eindruck vermitteln, dass er den Anruf beinahe herbeigesehnt hatte und beschloss, in Ruhe durch die Altstadt zu flanieren und sich einen Kaffee zu gönnen, am besten mit Gâteaux Corse, jenen süßen Keksen, die ebenfalls an die Heimat erinnerten.

Wolf überlegte, während er an einem Tischchen im Freien saß und noch einen milchig weißen Pastis genoss, wie lange er wohl für die Rückfahrt brauchen würde. Er würde die Fähre von Calvi nach Vado Ligure in Italien nehmen, dann nach Norden, Richtung Genua, fahren. Ab Alessandria würde er sich nach Osten, in Richtung Verona, wenden, in Südtirol eine Rast einlegen, übernachten und dann über den Brenner, Innsbruck und Salzburg nach Steyr fahren. Also zwei, drei Tage. Das Wohnmobil war nicht besonders schnell.

Als er die Rechnung für seine Konsumation zahlte, nahm er sich noch eine Flasche Pastis mit ins Wohnmobil, nicht als Souvenir, sondern als Desinfektionsmittel. Er hatte eine Wunde am rechten Knie, die etwas schmerzte. Er musste sich im Gestrüpp der Macchien an einem Dorn verletzt haben.

Nachdem er die entzündete Stelle mit dem Anisschnaps gereinigt hatte, rief er Grimm an und teilte ihm mit, dass er in drei Tagen in Steyr eintreffen werde.

Am nächsten Morgen begab er sich auf die etwa 1100 Kilometer lange Strecke.

Wolf hatte eine schlaflose Nacht hinter sich, nicht nur wegen der Hitze. Das Knie schmerzte noch immer und der Tod Schladers bewegte ihn. Jemand hatte es tatsächlich geschafft, den scheinbar Unantastbaren für immer zu Fall zu bringen. Wolf hatte in seinen Jahren als Journalist für die Tagespost keine Chance gehabt. Immer wenn er gut recherchiertes Material gegen den korrupten Mann in Händen gehalten hatte, waren ihm eben diese gebunden worden, durch einen Anruf der Tochter des Herausgebers, die ihm mitgeteilt hatte, die Veröffentlichung des Artikels sei nicht opportun. Nicht opportun! Die alte Wut ließ Wolf die Hände zu Fäusten ballen.

Nachdenklich trank er seinen Frühstückskaffee.

Schlader hatte doch tatsächlich ein ausgedehntes Industriegelände im Steyrer Stadtteil Tabor billigst aufgekauft, weil nur er gewusst hatte, dass es zu haben war und wollte es für teures Geld an seinen Dienstgeber, die Stadtgemeinde, weiterverkaufen. Der damalige Bürgermeister, ein allseits beliebter Mann, sprach sich dagegen aus. Die Fläche, die direkt an das Altenheim grenzte und dringend zu dessen Erweiterung gebraucht wurde, lag ein Jahr brach, bis es Schlader gelang, das Stadtoberhaupt durch Intrigen in der Beamtenschaft zu Fall zu bringen. Sein Nachfolger kaufte das Grundstück von Schlader.

Und Wolf durfte über diesen Coup des Magistratsdirektors, der damit seinen Dienstgeber und die Steuerzahler geschädigt hatte, nicht berichten, auf Wunsch von Linz.

Aber nun war es jemandem gelungen, diesen Mann unschädlich zu machen, und Grimm wollte, dass er ihm half, den Mutigen, Erfolgreichen zur Strecke zu bringen.

Wolf überlegte. Hatte er zu früh zugesagt, seinen Freund bei den Ermittlungen zu unterstützen? Immerhin hatte der Täter oder die Täterin eine längst fällige Aufgabe erledigt.

Nein, das stimmte nicht, fand Wolf und startete das Wohnmobil. Erstens brannte er geradezu darauf, Schladers Mörder kennenzulernen und er wollte endlich all die Schweinereien, die der Mann Steyr und seinen Bewohnern angetan hatte, aufklären und darüber schreiben. Entweder in der Zeitung, für die er früher gearbeitet hatte, oder in einem Buch, das er im Notfall im Selbstverlag herausbringen würde.

Wolf war klar, dass Mord kein gangbarer Weg war, dass man einen Mordfall aufklären müsse und dennoch … sein Wunsch nach Rache bewegte ihn so sehr, dass er viel zu schnell unterwegs war. Er mahnte sich zu Geduld und fuhr langsamer.

Die Überfahrt mit der Fähre vom französischen Korsika nach Italien bot ihm Gelegenheit, etwas Abstand zu den stürmischen Gefühlen zu finden.

Auf der Weiterfahrt war er so tief in Gedanken, dass er die Landschaft kaum beachtete, die entlang der Autobahn nicht besonders attraktiv war.

Am frühen Nachmittag entschloss er sich, in Voghera in der Poebene haltzumachen. Er wollte ein Hotelzimmer nehmen, um endlich wieder richtig duschen und gut schlafen zu können. Da er nichts Passendes fand, fuhr er weiter nach Salice Terme. Das dortige Parkhotel bot geräumige Zimmer um 45 Euro, mit Frühstück.

Grimm stellte sich unter die Dusche, dann schlüpfte er ins Bett und erwachte gegen 16 Uhr. Er entschloss sich zu einem Spaziergang in dem weitläufigen Kurpark, der angeblich 20 Hektar umfasste. Jedenfalls glich er in seinem üppigen Wachstum einem botanischen Garten und bot genügend Schutz gegen die Sonnenhitze.

Wolf setzte sich auf eine Parkbank unter einer mächtigen Pinie und beobachtete, wie die Kurgäste die Kieswege entlangflanierten. Seine Gedanken bewegten sich zurück zu Grimms Ermittlungen, er schloss die Augen und stellte sich vor, in Steyr zu sein. Im Steyr seiner Fantasie schien die Sommersonne vom wolkenlosen Himmel. Es war heiß, aber frischer als hier. Die Flüsse Enns und Steyr brachten mit dem klaren Wasser auch kühle Luft aus den Bergen. Die Menschen in Steyr waren nicht so elegant gekleidet wie die wohlhabenden Italiener in dieser Kurstadt, auch der Haarstil der Frauen ließ zu wünschen übrig. Viele der Steyrerinnen trugen ihr Haar so streng und kurz wie Terrier, die eben dem Hundefriseur zum Opfer gefallen waren.

Wolf schmunzelte bei dieser Vorstellung, dann konzentrierte er sich auf das Mordopfer und auf einen möglichen Täter.

Wieder spürte er die aufgestaute Wut gegen Schlader als Unruhe in sich. Wie so oft, wenn er wütend war, fiel ihm sein jüngerer Bruder Klaus ein. Er erinnerte sich daran, wie dieser ihm in der Kindheit nach einer Auseinandersetzung einen Stein an den Kopf geworfen hatte und er hatte das Rabenaas, wie er Klaus damals geschimpft hatte, versohlt. Die Mutter hatte nicht eingegriffen, jedoch dem Vater am Abend von dem Vorfall berichtet – außerdem war die Beule auf Christian Wolfs Stirn nicht zu übersehen gewesen. Jedenfalls hatte der Vater seine Söhne zum Gespräch gebeten und ihnen weitere Streitereien verboten. Alle Einwände vonseiten Christians hatte er mit einem strengen Nie wieder unterbrochen. Und weil der Vater so ernst gewesen war und auch die Mutter ihn nicht unterstützt hatte, hatte sich Christian Wolf entschlossen, dem Wunsch, nein, dem Befehl des Vaters nachzukommen.

Als ihm der Bruder jedoch am nächsten Tag erneut einen Stein nachgeworfen und ihn am Hinterkopf getroffen hatte, hatte er regelrecht durchgedreht.

Aber das war lange her und er hatte seither gelernt, sich zu beherrschen. Während es in seinem Inneren tobte, blieb er nach außen hin unbewegt.

Dieses Gefühl der äußeren Starre hatte sich in den letzten zwei, drei Jahren verstärkt, sodass Wolf fürchtete, wie sein Vater an Parkinson zu erkranken. Er erinnerte sich an dessen angespannten Körper, der scheinbar zum Sprung auf einen Gegner ansetzte. Eine Andeutung von Aggression, die er sich jedoch nicht gestattete. Er hatte damals immer wieder die Körperhaltung seines Vaters eingenommen, seine kleinen schlurfenden Schritte, das Maskenhafte seines Gesichtsausdruckes nachgeahmt, um zu begreifen, wie sich der Vater fühlen mochte.

Und nun, in der Erinnerung an Norbert Schlader, spürte er wieder dieses Gefühl der Hilflosigkeit.

Als sich Wolf von der Parkbank erhob, hatte er Probleme beim Gehen. Sein rechtes Knie schmerzte.

Im Hotel wusch er die entzündete Stelle und betupfte sie mit einem Papiertaschentuch, das er in Pastis getränkt hatte. 45 Prozent Alkoholgehalt las er auf der Flasche. Das sollte reichen.

Um sich von dem unbehaglichen Gefühl abzulenken, das ihn während seines Aufenthaltes im Kurpark überfallen hatte, startete er sein Notebook, checkte die letzten Nachrichten deutscher und österreichischer Zeitungen, dann gab er auf der Seite des Suchdienstes Google den Namen Norbert Schlader ein und fand einen einzigen Eintrag, der auf den Online-Auftritt der Tagespost verwies, und zwar auf einen Artikel, den sein Nachfolger verfasst hatte. Joachim Waidinger, der Lebensgefährte von Wolfs Tochter, der als Redakteur in der Steyrer Lokalredaktion der Tagespost arbeitete.

Wolf las den an sich gut geschriebenen, doch sehr harmlosen Text, der der komplexen Persönlichkeit des ehemaligen Magistratsdirektors in keiner Weise gerecht wurde. Waidinger hatte sich entweder von dem Mann einlullen lassen oder wollte jeden kritischen Ton vermeiden. Oder beides. Denn auch Waidinger wusste von den problematischen Seiten dieses Mannes.

ZEIT FÜR WESENTLICHES

Dr. Norbert Schlader, der jahrzehntelang die Geschicke Steyrs an der Spitze der Stadtverwaltung geprägt hat, befindet sich seit einem Jahr im Ruhestand. Zeit also, den Mann zu befragen, wie ihm der Wechsel von seiner beruflich anspruchsvollen und anstrengenden Tätigkeit in den sogenannten Ruhestand gelungen ist.

Aus diesem Grund stattet die Tagespost dem ehemaligen Magistratsdirektor der Stadt Steyr einen Besuch in seinem Zweithaus im Trattenbachtal ab, zu dem nur eine schmale Straße führt, die vor dem Domizil endet. Ein Platz, der Geborgenheit und Ruhe verspricht. Und die Möglichkeit zu musizieren, denn Norbert Schlader kann nun endlich wieder dem Hobby seiner Studentenjahre nachgehen, dem Trompetenspiel. Aus Rücksicht auf die umliegenden Häuser hält der sympathische Pensionist die Fenster geschlossen, wenn er sein Blechblasinstrument an die Lippen setzt und zu improvisieren beginnt. Dr. Schlader bewahrt auch in der Wahl seiner Melodien die Eigenständigkeit, die sein berufliches Leben ausgezeichnet hat. Er unterwirft sich keinen äußeren Beschränkungen, wie sie das Spiel nach vorgegebenen Tönen und Rhythmen verlangen würde.

Frei wie seine musikalischen Übungen gestaltet Dr. Schlader auch sein übriges Leben im Ferienhaus, das er jedoch immer wieder verlässt, um sich in Steyr seiner Familie und seinen zahlreichen Freunden zu widmen.

Fragt man den früheren Magistratsdirektor nach dem stärksten Eindruck seiner beruflichen Tätigkeit, erwähnt der sonnengebräunte Zweiundsechzigjährige mit dem vollen weißen Haar die Errichtung eines neuen Einkaufszentrums auf dem Steyrer Tabor, die Fertigstellung des Alten- und Pflegeheims auf der Ennsleiten sowie eine Verbesserung der komplexen Verkehrssituation Steyrs.

Seinem Nachfolger im Amt des Magistratsdirektors wünscht er allen erdenklichen Erfolg und langen Atem, den man in dieser Position wie beim Spiel auf der Trompete unbedingt braucht.

Zu seinen Zukunftsplänen befragt, gibt sich der agile Mann bescheiden. Er wünscht sich nichts als Ruhe in seinem Ferienhaus in einer wunderschönen Landschaft.

Wolf fand, dass sich Waidinger ganz gut geschlagen hatte mit diesem Artikel, zu dem er vermutlich von der Tochter des Herausgebers animiert worden war. Nur das Wort sympathisch in Verbindung mit Schlader schien ihm absolut deplatziert zu sein. Sympathisch war dieses groß und alt gewordene Kind mit seinem brav gescheitelten Haar wirklich nicht gewesen. Schlader war ihm als böser, boshafter, viel zu groß gewachsener Zwerg erschienen.

Bei diesen Gedanken presste Wolf die Zähne so fest aufeinander, dass es schmerzte. Als er sich dessen bewusst wurde, fiel ihm sein nächtliches Zähneknirschen in der Kindheit, in den Wochen vor der Geburt seines Bruders Klaus ein. Die Mutter hatte darüber in einem ihrer Romane geschrieben.

Das Wohnmobil ließ sich am nächsten Morgen nur schwer starten. Wolf hatte den Eindruck, dass es die Rückfahrt nach Steyr hinauszögern, dass es im Süden verweilen wolle, wenn schon nicht auf Korsika, so wenigstens in Italien.

Bis zur Autobahn lief der Motor wieder rund. Doch als Wolf sich auf der E70 Richtung Piacenza befand, setzte der Motor gänzlich aus. Er konnte das Fahrzeug nur mehr auf den Pannenstreifen rollen lassen, schaltete das Warnlicht ein, stellte ein Pannendreieck auf und schlüpfte in die orangefarbene Warnweste. Dann stellte er sich hinter das Wohnmobil, wo er sich einigermaßen sicher fühlte und wählte 800 116 800, die Nummer des ACI, des italienischen Automobilclubs.

Etwa 20 Minuten später traf das gelbe Einsatzfahrzeug des Soccorso Stradale ein.

Wolf, der sich zur Not auf Italienisch verständigen konnte, begrüßte den jungen Fahrer, der nach Zigaretten und Morgenkaffee roch, mit den Worten: »Buon giorno. Ho problemi con il motore del mio camper.«

Daraufhin ergoss sich ein Schwall italienischer Worte über ihn, die er bedächtig nickend entgegennahm, um dann die Motorhaube seines Hymer Cars zu entriegeln.

Der ACI-Mann bat Wolf, den Motor zu starten, der dann tatsächlich nach einigem Orgeln ansprang, aber kurz darauf wieder abstarb.

Der Servicemann erwähnte etwas von eingeschränkter Kompression und einem verklebten Kolbenring. Er begab sich zurück zu seinem Einsatzfahrzeug und entnahm ihm eine Flasche mit Motorreiniger, die er in den Dieseltank entleerte.

Nun sprang der Motor schon leichter an. Der ACI-Mann empfahl, ihn einige Zeit laufen zu lassen. »Für die Heimreise wird das genügen. Aber dann bringen Sie das Fahrzeug in die Werkstatt.«

Den nächsten Halt legte Wolf nach dreieinhalb Stunden in Südtirol ein, wo er auf der Brennerautobahn die Ausfahrt Auer nahm. Dort fuhr er die Staatsstraße 48 in Richtung Fleims- und Fassatal entlang bis zum Zentrum von Pozza di Fassa. Schließlich steuerte er den Campingplatz Vidor an, der einen guten Ausblick auf die beinahe schneefreien Dolomiten bot.

Der Platz, obwohl sehr gut belegt, war angenehm ruhig und Wolf hatte die Absicht, nach kurzer Rast im Bett seines Fahrzeuges eine Wanderung über die blühenden Almwiesen zu unternehmen.

Doch daraus wurde nichts. Er war so erschöpft, dass er augenblicklich einschlief.

Im Traum fand er sich mit seinem Freund Grimm in einer der Sandsteinhöhlen in der Steyrer Lauberleiten. Grimm und er waren sehr jung. Neben ihnen saß ein weiterer Junge, der etwas älter als sie sein musste, so an die vierzehn, fünfzehn Jahre, schätzte Wolf. Sie rauchten und ließen eine Flasche Schnaps kreisen. Der Zigarettenrauch und der Alkohol brannten im Mund. Grimm verschwand wankend. Wolf hörte ihn in der Ferne erbrechen. Auch ihm war übel geworden.

Der ältere Junge nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche, blähte die Wangen und sprühte die Flüssigkeit in die Luft. Mit der Zigarette, die er daran hielt, entzündete er den Alkohol, sodass eine bläuliche Flamme die Höhle erhellte.

Das Gesicht des dritten Jungen veränderte sich zum Maul eines bösen Hundes, aus dessen Lefzen Speichel troff. Die Gesichtshaut spannte sich, wurde rot, dann bläulich, eine Ader zeichnete sich auf der Stirn ab. Wolf erwartete, dass das Ungeheuer, als das ihm der fremde Junge nun erschien, jeden Augenblick der Schlag treffen würde, doch dann entwich dem Mund ein Feuerstrahl, der ihm und Grimm die Haare versengte. Der ältere Junge sprang auf, riss den vor Schreck starren Grimm an sich und lief mit ihm aus der Höhle.

Wolf blieb sitzen und wartete, ohne zu wissen, wo­rauf. Doch, natürlich. Er wartete auf Grimms Rückkehr.

Dann musste er eingeschlafen sein, jedenfalls weckte ihn das Weinen seines Freundes. Grimm saß an seiner Seite und weinte hoch und durchdringend wie ein kleines Kind.

Wolf wusste, dass der fremde Junge Grimm wehgetan hatte und eine tiefe Wut erfasste ihn. Wut auf den Jungen und auf sich selbst, weil er Viktor nicht beigestanden war.

Er verließ die Höhle und rannte zu seinem Wohnmobil, das er auf dem Weg zur Höhle geparkt hatte. Der Motor sprang erst nach einiger Zeit an und drohte abzusterben, doch Wolf gab Vollgas, raste den engen Weg entlang, bis er den fremden Jungen sah. Er trat mit voller Wucht auf das Gaspedal, das Wohnmobil sprang nach vorn, auf den flüchtenden Jungen zu, erfasste ihn mit einem dumpfen Schlag und überrollte ihn.

Wolf fühlte sich frei und glücklich, atmete tief durch und schrie und heulte vor wilder Lust.

Dann stieg er aus und betrachtete das Wesen, das seinem Freund Böses angetan hatte. Der leblose Körper war der eines jungen Mannes, doch das Gesicht war alt und böse. Es trug die Züge von Norbert Schlader.

KAPITEL 2

Wolf erwachte, als es schon dunkel war. Seine Armbanduhr zeigte halb zwölf. Er war noch immer müde, sein Kopf, nein, sein ganzer Körper schmerzte, die Haut fühlte sich an, als ob sie verbrüht worden wäre. Ein Sonnenbrand oder der Beginn einer Grippe? Nein, Wolf war seit Jahren nicht mehr krank gewesen, von der Schlaflosigkeit vor einem Jahr abgesehen. Er stellte zur Sicherheit den Wecker auf fünf Uhr und versuchte, sich zu entspannen.

Um fünf war er noch immer müde, doch er stand auf, frühstückte, bezahlte an der Ausfahrt des Campingplatzes und fuhr los.

Als er am frühen Nachmittag, von Kremsmünster her kommend, die westliche Stadtgrenze von Steyr erreichte, konnte er sich an keine Details der Fahrt erinnern. Der Motor hatte gut durchgehalten. Grenzkontrollen am Brenner gab es nicht mehr. Innsbruck? Er musste an Innsbruck und Salzburg vorbeigefahren sein, hatte das aber vergessen. Dafür war er nun hellwach und aufnahmebereit. Er freute sich, wieder zu Hause zu sein. Er fuhr die Sierninger Straße entlang, rechts floss die Steyr, links stand das Landeskrankenhaus. An der Ampel musste er halten. Dann kam die Privatschule St. Anna zur Rechten. In der sogenannten Seifentruhe gab es ausnahmsweise keinen Stau. Viele Einwohner waren schon auf Urlaub. Touristen kamen höchstens einen Tag in das an sich attraktive Steyr, dessen Stadtteile auf verschiedenen Ebenen auf Sandsteinterrassen lagen. Die Altstadt zwischen den Flüssen Enns und Steyr ganz unten, das Schloss, in dem die Polizeidienststelle seines Freundes Grimm untergebracht war, etwas höher und auf gleichem Niveau wie Ennsdorf und Steyrdorf. Bedeutend höher und vor dem Hochwasser völlig sicher waren die Ennsleiten und der Tabor positioniert.

Wolf passierte die Ennser Straße auf dem Tabor, mit dem gleichnamigen Großkaufhaus, und überlegte, ob er den Campingplatz in Münichholz oder das Haus seiner Tochter im Stadtteil Schlüsselhof ansteuern sollte. Er entschied sich für die Ufergasse, obwohl weder Lotte noch ihr Lebensgefährte zu Hause waren. Sie arbeiteten. Lotte, die bei der Lebenshilfe beschäftigt war, absolvierte gerade eine Ausbildung als Spieltherapeutin in Linz, wie sie Wolf am Telefon verraten hatte, Joachim Waidinger arbeitete in der Redaktion der Tagespost.

Wolf wollte in dem Haus, in dem er mit seinen Eltern und dem Bruder gelebt hatte, etwas zur Ruhe kommen, bevor er die Tochter und Waidinger wiedersah.

Am Ennser Knoten nahm er die rechte Fahrspur den Posthofberg hinunter. Vor der Ennsbrücke bog er wieder rechts ab, dann links, und schon war er auf derselben Höhe wie der Fluss Enns, der nun auch das Wasser der Steyr mit sich führte. Dies war die einzige Zufahrt zum Stadtteil Schlüsselhof, einer der ruhigsten Gegenden der Stadt.

Als er am Sportplatz vorbeifuhr, erinnerte er sich, dass dieser früher Rennbahn geheißen hatte und dass, als er ein ganz kleines Kind gewesen war, hier die Jahrmärkte und Zirkusse ihre Buden und Zelte aufgeschlagen hatten, ein Umstand, der ihn fasziniert hatte.

Der Platz war nun ausgestorben, auch die Tennisplätze waren leer. Es war zu heiß zum Spielen an diesem sonnigen Tag im Juni.

Etwas weiter vorne, bei dem alten Bauernhaus, der dem Schlüsselhof den Namen gegeben hatte und später Bauhof genannt worden war, lag der Badeplatz der Kindheit am dort mit Schotter, aber auch feinem Sand bedeckten Ufer der Enns.

Wolf hielt an und ging einige Schritte hinunter zum Fluss. Dabei wankte er wie ein Betrunkener. Es war höchste Zeit, aus dem Wohnmobil herauszukommen und sich zu bewegen.

Im feinen Ufersand lagen Halbnackte und Nackte. Einige lasen im Schatten der Weiden, die im Wasser gekühlten Bierflaschen in Reichweite.

Zwei neugierige kleine Hunde eilten auf Wolf zu, der den Blick auf die Nackten vermied, um nicht als Voyeur verdächtigt zu werden. Er blickte hinüber auf die Felswand des Stadtteils Münichholz am anderen Ufer.

Der würzige Geruch eines Lagerfeuers, an dem Männer Fleisch grillten, stieg ihm in die Nase.

Wolf fühlte sich an die Gumpen auf Korsika erinnert, die er vor drei Tagen hinter sich gelassen hatte, und er beschloss, seinen Urlaub hier, am Ufer der Enns, fortzusetzen.

Dann fuhr er die enge Röselfeldstraße entlang bis zur Gürtlerstraße, die schließlich in die Ufergasse mündete, in der das Haus stand, in dem Wolfs Familie in späteren Jahren gewohnt hatte. Ein renoviertes, einstöckiges Siedlungshaus mit Mansarden, hinter einem alten Holzzaun, den noch sein Vater und er errichtet hatten. Rechts neben der Straße, vor dem Hang zum Fluss, parkte er das Wohnmobil und schaute über den Zaun in den Garten.

Da öffnete sich die Eingangstür zum Haus und ein ihm völlig unbekannter junger Mann kam ihm lächelnd entgegen. Er wirkte mit seinem dunklen Haar und Teint, den fast schwarzen Augen und leuchtend weißen Zähnen wie ein Korse.

»Hallo! Ich bin Fidi«, begrüßte er Wolf, der noch immer nicht wusste, mit wem er es zu tun hatte.

In der Küche, bei einigen belegten Broten, die Lotte vorbereitet hatte und einer Flasche Bier, die Fidi mit ihm teilte, erfuhr er, dass der junge Mann eigentlich Gottfried Gonodis hieß und der Sohn von Waidingers Schwester Ursula war. Sein Vater, ein Grieche, war mit einem griechischen Restaurant in Mödling gescheitert und Richtung Heimat entschwunden.

»Ich komme zum Ärger meiner Mutter ganz nach Iordánis, meinem Vater, auch was das Scheitern betrifft. Darum bin ich hier in Steyr.«

Bevor Wolf nach dem tieferen Sinn dieser Aussage fragen konnte, setzte Fidi, der etwas streng roch, wie Wolf fand, zu einer wortreichen Erklärung an, die er mit heftigen Gesten unterstützte. Wolf fühlte sich an einen arglosen jungen Hund erinnert, der sein sorgenfreies Leben genoss.

»Ich bin am Gymnasium gescheitert«, erklärte Fidi. »In Mödling. Und jetzt muss ich die Matura am Abendgymnasium nachholen, in Linz. Onkel Joachim soll sicherstellen, dass das gelingt.«

»Ich verstehe«, sagte Wolf.

»Aber du brauchst keine Angst zu haben, das Gästezimmer ist frei. Du kannst dort wohnen. Sie haben mich in die Mansarden gesteckt, wo es zurzeit mörderisch heiß ist. Ich schlafe in der Gartenhütte. Dort habe ich auch mein Büro eingerichtet. Du weißt schon, zum Lernen und zur Arbeit am Notebook. Wenn du Lust hast, zeige ich es dir.«

Wolf hatte Lust, er wollte in die frische Luft, in den Garten, den Lotte und Waidinger zwar mähten, aber nicht besonders pflegten. Sie hatten offenbar wegen ihrer Berufstätigkeit wenig Zeit dafür.

In der Gartenhütte, die Wolf von den Tagen seiner eigenen Jugend her kannte, standen eine gepolsterte Eckbank, ein Tisch, der mit einem Wachstuch mit Rosenmuster abgedeckt war, zwei Sessel und ein alter Schrank mit Unterhaltungsromanen. Auf dem Boden lag ein Fleckerlteppich. Zur Beleuchtung am Abend dienten eine elektrische Lampe und ein Windlicht.

Vom Tisch leuchtete das Display von Fidis Notebook, auf dem sich merkwürdige Wesen tummelten. Eine Hyäne mit Fledermausflügeln schwebte über einer felsigen Landschaft, durch die ein Tiger auf den Scheren eines Hummers humpelte.

Als Fidi Wolfs überraschten Blick bemerkte, begann er sofort mit Erklärungen: »Impossible Creatures