Mörderseele - J. J. Preyer - E-Book

Mörderseele E-Book

J. J. Preyer

4,8

Beschreibung

Ein Taxifahrer und seine Frau kommen bei einem Brandanschlag im österreichischen Alpenvorland ums Leben. Der Journalist Christian Wolf folgt der Spur des gefährlichen Täters. Je tiefer Wolf in ungelöste Rätsel der Familiengeschichte des Mörders eindringt, desto stärker empfindet er Mitgefühl mit dem Unbekannten. Die geringe innere Distanz zum Täter erweist sich als Gefahr, doch letztlich als einzige Möglichkeit, ihn zu überführen.

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J. J. Preyer

Mörderseele

Ein musikalisch-literarischer Psychothriller

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / E.Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Jens Klingebiel – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4364-0

1

Die Stunde der Vergeltung ist gekommen. Die mich zerstören wollten, werden hinweggefegt vom Feuersturm, der den Makel meiner Herkunft löscht, mit der Vergangenheit bricht, den Weg in die Zukunft bahnt.

Der nach Alkohol und Zigaretten riechende Mann hatte beim Einsteigen noch einige bemühte Scherze gemacht, die Frau sagte gar nichts, dann verstummte auch er.

Heuberger hielt vor einem Haus in der Carlonestraße. Der Fahrgast, der neben ihm saß, suchte umständlich nach der Brieftasche, bis seine Frau im Fond des weißen Mercedes die Bezahlung übernahm. Sie gab dem Taxilenker ein großzügiges Trinkgeld.

Die Fahrt zurück nach Steyr führte durch fast leere Straßen. Nur zwei andere Fahrzeuge begegneten ihm. Dennoch hielt sich Heuberger diszipliniert an das Tempolimit, so wie er auch das Rauch- und Alkoholverbot während der Arbeit strikt befolgte. Er wollte nichts riskieren. Seine Frau und er waren auf sein Einkommen als Taxifahrer angewiesen, obwohl Gerlinde zweimal pro Woche in einer Tankstelle aushalf.

Heuberger freute sich auf den Augenblick, in dem er in das warme Bett zu seiner Frau schlüpfen konnte. Zuvor würde er sich wie immer am Ende eines Arbeitstages eine Zigarette anstecken und ein Bier aus dem Keller holen.

Der Wagen war sauber, innen wie außen. Er konnte morgen um sechs ohne Verzögerung losfahren.

Heuberger passierte die Filialen von Billa und Spar. Die Lichter der Geschäfte waren durch den Nebel kaum zu sehen. Vor der Tierklinik auf der linken Straßenseite stand ein Wagen mit laufendem Motor. Die Kreuzung zum Tunnel auf den Tabor war ungeregelt, die Ampel ausgeschaltet.

Heuberger parkte das Taxi in der Ahornallee der Industriestraße, wo das Mietshaus stand, in dessen Erdgeschoss er und Gerlinde eine preiswerte Wohnung hatten.

Sobald er den Wagen verlassen hatte, griff er nach Zigarettenschachtel und Feuerzeug. Der Rauch mischte sich mit dem Nebel.

Bevor er sein Kellerabteil aufsuchte, umrundete er noch das Haus. Er wollte sichergehen. Seine Frau hatte behauptet, IHN in den letzten Wochen immer wieder in der Nähe gesehen zu haben. Heuberger glaubte es nicht. ER wusste nichts, konnte nichts wissen. Gerlinde hatte nicht wirklich Ruhe gefunden in den Jahren, die seither vergangen waren. Es war eine harte Entscheidung gewesen, damals. Aber was sonst hätten sie tun sollen?

Natürlich keine Spur von IHM. Wie Heuberger es erwartet hatte. Nichts. Kein Mensch war um diese Zeit noch unterwegs.

Der Mann schleicht prüfend um den Bau. Er scheint zu ahnen, dass er sterben wird. Sie haben den Instinkt von Ratten und werden wie diese vernichtet. Jetzt schlüpft er in das Haus, mit der Zigarette im Mund. Sobald er im Keller ist, setzt er das Gas in Brand.

Ich muss Augen und Ohren schützen.

Heuberger drückte auf den Lichtschalter zum Keller. Dort roch es anders als sonst. Wahrscheinlich vermoderten irgendwo Kartoffeln oder eine der Katzen hatte ein Eichhörnchen vom Friedhof in den Keller geschleppt.

Er sog noch einmal an seiner Zigarette, bevor er das Abteil aufschloss.

In diesem Moment wurde es hell. Gleißend hell und heiß. Heuberger war klar, dass sich seine Frau nicht getäuscht hatte, dass der Moment der Abrechnung gekommen war. Weder die Hitze des Feuersturms noch die Gewalt der Druckwelle, die ihn gegen die Kellerwand schleuderte, überraschten ihn.

Die Explosion des Hauses Industriestraße 5 war so heftig, dass Christian Wolf, dessen Bungalow zwei Kilometer davon entfernt lag, erwachte. Er spürte die Erschütterung seines Blockhauses und hörte den Knall, der sich zweimal wiederholte.

Wolf wusste, dass es sich dabei nicht um Böllerschüsse handelte, wie sie in den Nächten vor Hochzeiten in den Randgemeinden der Stadt üblich waren. Es waren auch keine Feuerwerkskörper, mit denen Geburtstage gefeiert wurden. Die Detonation war weitaus heftiger.

Obwohl ihn das Geschehen aus beruflichen Gründen interessieren sollte, entschied der 58-jährige Journalist, im Bett zu bleiben. Die aktuelle Zeitung würde in ein, zwei Stunden ausgeliefert werden und bis zum nächsten Redaktionsschluss am Montagabend hatte er einen ganzen Tag Zeit.

Er langte nach der Packung Ohropax auf seinem Nachttisch, knetete die rosaroten Wachskugeln und verschloss damit die Gehörgänge. Er wollte seine Ruhe haben. Die Sirene, die Folgetonhörner von Rettung, Feuerwehr und Polizei vernahm er nur mehr gedämpft.

Als das Handy läutete, das er als Wecker auf den Nachttisch gelegt hatte, las er den Namen Viktor vom grünlich leuchtenden Display. Chefinspektor Viktor Grimm von der Steyrer Polizei.

Der Journalist befreite sein linkes Ohr vom Lärmschutz und drückte die Empfangstaste.

»Gasexplosion. Mehrere Tote und Verletzte«, meldete sich der Leiter der sicherheits- und kriminalpolizeilichen Abteilung des Stadtpolizeikommandos.

Wolf wälzte sich aus dem Bett und begab sich in das Wohnzimmer, von dessen Fenster er die Stadt überblickte, das Handy an sein linkes Ohr gedrückt. Durch den Oktobernebel war der orangerote Schein eines Feuers zu erkennen.

»Steyr-Werke?«, fragte er seinen Freund.

»Ein Wohnhaus in der Industriestraße«, lautete die Antwort des Polizisten. »Ich kann dir Fotos zukommen lassen.«

»Ich komme«, sagte Wolf, ging zurück ins Schlafzimmer und schlüpfte in die Kleidungsstücke, die er sorgfältig auf einen Stuhl neben dem Doppelbett gelegt hatte.

Bevor er das Haus verließ, kontrollierte er sein Aussehen im Flurspiegel. Eine Strähne seines grau gewordenen, noch vollen Haares versuchte er mit dem Metallkamm zu bändigen, den er der rechten Tasche seiner Daunenjacke entnahm. Als das nichts half, begab er sich ins Bad, wo er den Kamm befeuchtete. Er ließ das Wasser einige Zeit laufen, dann trank er aus dem Zahnputzbecher, der nach Pfefferminz schmeckte.

Der Fahrersitz seines Toyota Prius, den er vor dem Haus geparkt hatte, war unangenehm kalt.

Acht Minuten später bog er in die Industriestraße ein. Veit Murauer von der Feuerwehr winkte ihn durch. Brandgeruch drang ins Innere des Wagens.

»Nicht einmal in der Nacht hat man seine Ruhe«, begrüßte ihn sein Freund Grimm.

»Ist schon gut«, wehrte Wolf ab. »Mir ist es lieber, ich kümmere mich selbst darum, bevor es andere tun.«

»Darum habe ich dich verständigt. In alter Freundschaft.«

»In alter Freundschaft«, wiederholte Wolf.

Der Sinn der Worte war ihm fremd. Fremd wie die flackernden Signalleuchten der Einsatzfahrzeuge. Er nahm bunte Lichter, Geräusche und Stimmen wahr, blieb jedoch von alldem unberührt. Wolf fühlte sich an einen der Sonntagabendkrimis im Fernsehen erinnert, die ihn allesamt langweilten.

»Die Fotos, die du mir versprochen hast?«, fragte Wolf.

Grimm drückte ihm eine Speicherkarte in die Hand. »Von Huemer von der Feuerwehr.«

»Wir werden uns durch eine Spende erkenntlich zeigen«, sagte Wolf.

»Alles klar.«

Der Journalist musste sich zwingen, die üblichen Fragen nach Toten und Verletzten zu stellen.

Grimm führte ihn zu Bernadette Riedler, der jungen Notärztin.

»Zehn Frauen und Männer, denen wir nicht mehr helfen konnten. Erdrückt, erstickt, verbrannt«, erklärte die Ärztin. »Eine Frau in Lebensgefahr. Wir haben ihren Zustand so weit stabilisiert, dass man sie ins Krankenhaus bringen kann. Vier weitere Bewohner des Hauses hatten Glück, wenn man von so etwas überhaupt sprechen kann. Sie sind nur leicht verletzt, haben aber alles verloren. Das Haus ist teilweise ein Trümmerhaufen.«

Wolf hatte sich Notizen gemacht und dankte der Medizinerin.

»Ich hätte gern Huemer selbst gesprochen«, wandte er sich an seinen Freund.

»Auch das lässt sich machen«, antwortete dieser.

Oberbrandrat Emil Huemer empfing Meldungen über ein Funkgerät.

»Feuer unter Kontrolle?«, erkundigte sich Wolf.

»Die Gasleitung ist stillgelegt«, berichtete der Mann.

»Ursache?«

»Noch unbekannt. Möglicherweise ein undichtes Rohr. Ein Problem, das in den älteren Häusern immer wieder auftritt. Allerdings nicht mit diesen Auswirkungen. Die Installationen stammen aus einer Zeit, in der es noch Stadtgas gab. Erdgas enthält wesentlich weniger Flüssigkeit und trocknet die Hanfdichtungen aus. Meistens merken es die Bewohner am Geruch, bevor etwas passiert.«

»Dieses Mal war es anders«, stellte Wolf fest.

»Aber du schreibst nicht darüber. Wir wissen noch nichts Definitives und wollen die Leute von den Stadtwerken nicht gegen uns aufbringen.«

»In Ordnung«, sagte Wolf. »Du informierst mich über das Ergebnis.«

»Natürlich«, meinte der Feuerwehrmann.

»Wann?«

»Donnerstag, Freitag. Sobald wir es wissen.«

»Besten Dank für die Fotos. Wir werden uns erkenntlich zeigen.«

Die üblichen Sätze, das gewohnte Spiel, dachte Wolf.

Und dennoch, er war froh, selbst hierhergekommen zu sein. Waidinger wäre fehl am Platz. Waidinger würde rasch zu voreiligen Schlüssen kommen und diese dann ungefiltert in die Zeitung bringen wollen.

Man musste wissen, wie man an Informationen herankam, diese dann aber sorgfältig behandeln. Wie ein Arzt seine Patienten. Das Wort Ethik fiel dem Journalisten ein. Er schüttelte widerwillig den Kopf. Nein, das war ein zu hochtrabender Begriff für das Sammeln und Verwerten von Informationen.

»Ein Hausbewohner ist auf Urlaub«, unterbrach der füllige Chefinspektor den Gedankengang seines Freundes.

»Das heißt?«, fragte Wolf.

»Das heißt, dass es einen ersten Verdächtigen gibt.«

»Du vermutest einen Anschlag. Huemer ist der Ansicht, dass eine undichte Rohrverbindung die Explosionsursache sein könnte.«

»In Steyr gibt es viele alte Häuser, in denen die Gasrohre nicht ausgetauscht wurden. Es ist noch nirgends zu einer Explosion gekommen.«

»Und warum sollte der Urlauber sein Zuhause in die Luft sprengen?«, fragte Wolf.

»Das werden wir herausfinden. Und du hilfst mir dabei.«

»Ich wüsste nicht, wie ich dir dabei helfen kann.«

»So wie immer. Wir sind ein eingespieltes Team.«

»Vergiss es. Wahrscheinlich ein neurotischer Feuerwehrmann, der sich beim Löschen besonders hervortun will«, brummte Wolf.

»Siehst du, auch du beginnst mit Überlegungen«, zeigte sich Grimm erfreut und warf seinem Freund aus gemeinsamen Schultagen einen hoffnungsvollen Blick zu.

»Ich muss jetzt fahren«, entschuldigte sich der Journalist.

»Das hat Zeit. Es ist mir wichtig, dich bei der Befragung der Hausparteien dabei zu haben«, hielt ihn Grimm zurück.

Wolf schwieg. Es hatte Situationen gegeben, in denen er froh gewesen war, von Grimm ins Vertrauen gezogen zu werden. Jetzt musste er sich dazu überwinden, ihn zu begleiten.

»Ein Ehepaar, das wir für diese Nacht im Minichmayr unterbringen. Zumindest sie scheint einiges zu wissen über die restlichen Bewohner des Hauses. Steig ein!«

»Ich fahre selbst. Ich muss anschließend in die Redaktion.«

Der Nachtportier des Minichmayr, des Hotels, von dessen verglaster Veranda man auf den Zusammenfluss der Steyr und der Enns blickt, führte den Chefinspektor, den ihn begleitenden Journalisten sowie das alte Paar in einen kleinen Raum, wo er sie mit Getränken versorgte.

»Zu essen gibt es leider nichts mehr. Die Küche ist geschlossen.«

Grimm bedankte sich bei dem Mann und nahm einen kräftigen Schluck aus dem Bierglas. Wolf trank mit Soda versetzten Apfelsaft. Er war es gewohnt, bei der Arbeit auf Alkohol und Zigaretten zu verzichten. Beides hatte er sich nach den ersten Jahren in seinem Beruf abgewöhnt. Aus gutem Grund. Er kannte einige Presseleute mit Alkoholproblemen. Und nach dem Krebstod zweier Frauen aus seinem engsten Umkreis rührte er keine Zigarette mehr an.

Die alte Frau beantwortete Grimms Fragen mit dissonanter Stimme. Ihren winzigen Kopf, den viel zu dunkel gefärbtes Haar krönte, bewegte sie dabei ruckartig vor und zurück. Der Mann saß reglos neben ihr.

Wolf machte Notizen.

Die Aufführung einer Laientruppe mit ihm als einzigem Zuschauer, überlegte der Journalist. Dialog Grimm – komische Alte. Der Mann Statist. Grimm, in der Rolle des verständnisvollen Polizisten, ließ die aufgewühlte Frau drauflosplappern. Behutsam lenkte er das Gespräch von ihrer persönlichen Betroffenheit, ihren Sorgen, was mit der Wohnung passieren würde, ob das Sparbuch zu retten war und der neue Fernseher, zu den übrigen Bewohnern des Hauses.

Die Frau hatte kaum ein Gesicht, nur Knopfaugen und eine schnabelartige Nase. Der faltige Hals verstärkte den Eindruck einer gackernden Truthenne. Ihr Mann war nichts als ein alt gewordenes Kind, das folgsam an der Seite der zur Mutter gewandelten Partnerin saß, die für ihn dachte und sprach.

Grimm spulte Standardsätze ab. Nur selten gab es Neues.

Die üblichen Mieter abgewohnter Häuser. Ausländer und körperlich behinderte Menschen im Erdgeschoss, junge Ehepaare, die sich noch keine teuren Wohnungen leisten konnten, in den Stockwerken darüber. Einige ältere Menschen, die seit Ewigkeiten dort wohnten, denen das Treppensteigen zunehmend Schwierigkeiten bereitete, sie es nicht mehr schafften und ins Altersheim mussten.

Die junge Frau im zweiten Stock, geschieden, ein Kind, bekam immer wieder Herrenbesuch, die Frau des Taxifahrers im Erdgeschoss grüßte nie, weil sie sich einbildete, etwas Besseres zu sein.

»Arragant. Zu arragant zum Grüßen«, sagte die Alte.

Ihr Mann nickte.

»Ein brisantes Gemisch, das zu Auseinandersetzungen führen muss«, stellte Grimm fest, nachdem sich die beiden Alten in das Hotelzimmer zurückgezogen hatten.

Wolf schwieg, und Grimm übernahm auch dessen Rolle im Gespräch: »Zu Auseinandersetzungen ja, aber nicht zu Mordanschlägen. Es wird kaum jemanden geben, der sich selbst in die Luft sprengt, um dem ungeliebten Nachbarn zu schaden.« Der Polizist blickte seinen Freund forschend an, dann setzte er seinen Monolog fort: »Und doch. Ich glaube nicht an ein technisches Gebrechen. Mein Instinkt sagt mir, dass mehr dahinter steckt.«

»Dein Instinkt«, wiederholte Wolf.

»Was sagt deine berühmte Spürnase?«, wagte der Polizist den Vorstoß.

»Sie sagt, dass ich fahren will. Komm, wir gehen«, ließ ihn Wolf auflaufen.

In der Empfangshalle des Hotels bewegte sich ein hagerer Mann im dunklen Mantel an den beiden vorbei, Richtung Aufzug. Er grüßte.

»Ein Krankenbesuch, Doktor?«, fragte Grimm.

Jetzt erst erkannte Wolf seinen Hausarzt.

»Nicht mehr. Jetzt geht es ins Bett«, antwortete der hagere Mann.

»Du wohnst hier?«, fragte Wolf überrascht.

»Es hat sich als praktikabel erwiesen«, lautete die Antwort, dann verschwand der Arzt im Lift.

»Deine Spürnase, was sagt sie?«, kehrte Grimm zum Gesprächsthema zurück.

»Sie riecht nichts, weil es in diesem Fall nichts zu riechen gibt«, stellte der Journalist fest. »Ich muss mich wiederholen: eine Gasexplosion mit bedauerlichen Folgen für die Mieter eines alten Hauses. Entweder ein technisches Gebrechen oder ein wild gewordener Feuerwehrmann.«

»Du kannst mich nicht täuschen, Christian«, stellte der Polizist fest. »Deine Augen zeigen das alte Leuchten, du hast eine Spur aufgenommen und wirst nicht lockerlassen, bis wir den Fall gelöst haben.«

»Mach dir keine Hoffnungen. Der Wolf ist alt und müde geworden. Und er ist nicht einmal imstande, den verschwundenen eigenen Vater zu finden.«

»Auch das wird dir gelingen, eines Tages« sagte Grimm, dann wiederholte er: »Mich täuschst du nicht.«

Der Journalist hatte tatsächlich einen Verdacht, dem er unbedingt nachgehen, über den er jedoch im Augenblick nicht reden wollte, so brisant fand er den Gedanken. Grimm hatte richtig erkannt, dass Wolfs anfängliche Gleichgültigkeit verschwunden war.

Müde, alt, überlegte Wolf, als er über die Ennsbrücke Richtung Redaktion fuhr. Sein Vater war kurz vor der Pensionierung als Beamter des städtischen Fürsorgeamtes an Parkinson erkrankt, der Schüttellähmung, die unerwünschte Bewegung in seinen in Disziplin erstarrten Körper gebracht hatte. Vor zwei Jahren war er buchstäblich spurlos verschwunden. Man vermutete Selbstmord. Wolfs Mutter hatte ihn nur um Monate überlebt.

Zeit auch für Wolf zu gehen? Beruflich ja. Der Nachfolger arbeitete seit zwei Jahren an seiner Seite. Waidinger, der auf sein Straucheln wartete, um an seine Stelle zu treten. Waidinger, kurz nach dessen Auftauchen die Schwierigkeiten mit den Eltern begonnen hatten.

Leben wollte Wolf noch. Auch wenn das Kribbeln und Jucken in den Fingern und Zehen, das Zittern der Hände ein Zeichen dafür war, dass auch ihm die allmähliche Lähmung des Körpers drohte.

Noch war es nicht so weit. Noch funktionierte sein Körper. Er konnte seiner Arbeit wie immer nachgehen. Wenn auch die Welt um ihn herum erstarrte, an Farbe, Leben, Geruch und Ton verlor.

Was wusste er noch vom heutigen Abend? Anruf von Grimm, Konzentration auf das Geschwätz der Alten, Herausfiltern brauchbarer Information. Und sonst? Kein Gefühl, kein Mitgefühl. Die Menschen im Haus waren und blieben ihm fremd.

Und doch war da etwas. Er spürte mit einem Mal Interesse an den Hintergründen des Unglücks.

Weil er sich vorstellen konnte, selbst ein Haus in die Luft zu sprengen? Nein, so weit wollte er nicht gehen. Obwohl ihm sein eigenes Haus, das Blockhaus mit dem viel zu großen Garten, zur Last geworden war, seitdem seine Frau tot, seine Tochter ausgezogen war.

Und die berühmte Spürnase, von der der dicke Grimm gesprochen hatte. Nichts als Bluff. Disziplin, geduldiges Sammeln von Information, nichts verraten, bis man Gewissheit hatte. Keine haltlosen Anschuldigungen auf dem Weg zum Ziel. Schweigen bis zum Schluss. Das war das Geheimnis. Erfahrung nach unvermeidlichen Fehlern am Anfang seiner Berufslaufbahn, als er sich mehrmals eine blutige Nase geholt hatte und ihn sein Schwiegervater, bei dessen Wochenblatt er zu arbeiten begonnen hatte, gegen diejenigen verteidigen musste, die er fälschlicherweise beschuldigt hatte.

Die Villa im Park an der Stelzhamerstraße, in der die Redaktionsräume der Tagespost untergebracht waren, lag im Dunkeln. Er stellte den Wagen ab und betrat das hallenartige Büro im Erdgeschoss, das er sich mit Waidinger teilte. Die Luft im Büro war muffig und kalt. Die Heizung wurde über Nacht abgestellt. Wolf behielt die Jacke an, als er sich an seinen Schreibtisch setzte. Während der Computer hochfuhr, setzte Wolf die Kaffeemaschine in Gang.

Meine Seele ist frei, mein Körper braucht noch Zeit zur Gesundung. Noch brennt die Haut wie das Feuer, in dem die Feinde krepierten, doch auch das wird sich legen. Ihr Tod steht am Beginn meines Lebens.

Zuerst der Beamte, der mit seinem Wissen nicht he­rausrückte, jetzt die eigentlichen Täter. Eines hatte sich logisch aus dem anderen ergeben, in dem Ausmaß, in dem mein Wissen gewachsen war.

»Du warst fort?«

»Ich konnte nicht schlafen.«

»Es muss etwas explodiert sein. Hast du es auch gehört? Ein fürchterlicher Krach, dann Feuerwehrsirenen.«

»Ich bin davon aufgewacht und war auf der Straße. Das Jucken ist unerträglich. Ich nehme ein Bad.«

»Du bist ganz rot. Geh zu Dr. Schuller, er soll dir wieder Cortison verordnen.«

Wer, was, wann, wo. Um das Warum hatte er sich als Journalist der Lokalredaktion nicht zu kümmern. Ein Großteil der Arbeit bestand aus Filtern. Wolf war nicht Auf-, sondern Zudecker, zumindest ein diskreter Schweiger. Das Aufdecken beschränkte sich auf die inoffizielle Zusammenarbeit mit Grimm.

Wolf las den Text durch, korrigierte einige Wortwiederholungen und prüfte ihn mit dem Rechtschreibprogramm, dann schob er die Speicherkarte mit den Fotos in den PC und wählte ein Bild aus, das den zerstörten Teil des Mietshauses zeigte. Er bearbeitete es elektronisch und speicherte es.

Als er den Text noch einmal halblaut durchging, entdeckte er einige stilistische Unebenheiten.

Er entschloss sich, das Material noch nicht an die Linzer Redaktion zu senden, sondern am Nachmittag letzte Meldungen einzubauen. Redaktionsschluss war um 17:30 Uhr. Er musste auch Waidinger eine Chance geben, weitere Recherchen beizusteuern. Der Mann sollte sich nicht ausgeschlossen fühlen.

Waidinger, der smarte Journalist. Ein wendiger, eigentlich schöner Mensch mit zwei großen Fehlern: Er hatte keinen Charakter und er litt an einer Art Krätze, das heißt, er kratzte ständig an seinen entzündete Unterarmen und Handrücken.

Nahm Waidinger Drogen? Oder war es eine gewöhnliche Allergie? Eigentlich traute ihm Wolf alles zu. Nicht nur, dass er seinen Posten anstrebte und in Linz gegen ihn intrigierte. Wolf hätte es ohne Weiteres geglaubt, wenn ihm jemand erzählt hätte, dass Waidinger Kinderschänder oder Frauenmörder wäre. Der Umstand, dass Waidinger vierzehn Tage vor dem Verschwinden von Wolfs Vater aus Wien hierher übersiedelt war, machte ihn nicht sympathischer, obwohl er dafür wirklich nichts konnte. Aber sonst …

Gut, dass er wusste, wie vorsichtig man Vermutungen behandeln musste, besonders, wenn man nichts in der Hand hatte. Andererseits … umso lustvoller war es, etwas zu suchen und letztlich zu finden.

War da nicht etwas mit dem Haus in der Industriestraße gewesen, in letzter Zeit? Wolfs Tochter, die eine Gruppe von behinderten Menschen in der Lebenshilfe betreute, hatte etwas erwähnt. Etwas von einer Schmiererei an der Hauswand.

Wäre es möglich, dass dieser Vorfall mit dem Anschlag zu tun hatte?

»Es war dieser verrückte Reich«, stellte Joachim Waidinger fest, als er wie immer zu spät in der Redaktion eintraf. Sieben Minuten nach acht.

Wolf blickte vorwurfsvoll auf seine Armbanduhr und schwieg zu Waidingers Aussage.

»Ich könnte ein Interview mit dem Augenzeugen machen, der Peter Reich beobachtete, als er die Hauswand beschmierte. Wenn der Mann noch lebt.«

»Wie hieß er denn?«, erkundigte sich Wolf.

»Ein Rentner, der den ganzen Tag nichts anderes zu tun hat, als beim Fenster rauszuschauen. Glücklicherweise für unsere Arbeit.«

»Handelt es sich um einen Herrn Berger?«

»Ich glaube, ja«, entgegnete Waidinger.

»Der lebt noch. Grimm und ich haben mit ihm, das heißt, mit seiner Frau, gesprochen. Ich hab natürlich nichts dagegen, wenn Sie ihn erneut interviewen. Mit einem Artikel über Reich müssen wir aber vorsichtig sein.«

»Ich weiß, seine Eltern«, erwiderte Waidinger. »Die haben alles getan, dass der Herr Sohn nicht in die Zeitung kommt.«

»Und meine Tochter. Sie will die Entwicklung dieses Mannes, der sich endlich für andere Menschen zu interessieren beginnt, nicht stören lassen.«

»Ich weiß.«

»Reden Sie auf jeden Fall mit ihr.«

»Keine Sorge, Chef. Kein Wort, das ich schreibe, geht unkontrolliert nach Linz. Dafür sind Sie zuständig.«

»Es ist mir wichtig, dass unsere Arbeit sauber abläuft, dass sie den Menschen nutzt, dass nicht irgendeine vermeintliche Sensation jemandem schadet.«

»Ich habe kein Problem damit«, antwortete Waidinger und kratzte an seiner rechten Hand.

Sein Körper widerspricht dem, was er sagt, dachte Wolf. Er kratzt sich selbst, weil er mich kratzen will und sich das nicht traut. Ja, Chef, nein, Chef. Ein Fuchs, dieser Waidinger. Ein räudiger Fuchs.

Zu Mittag traf Wolf sich mit seiner Tochter im Restaurant der Sporthalle. Lotte liebte das Lokal, weil die Portionen groß waren. Lotte war hungrig wie eine Wölfin. Lotte kaute nicht, Lotte schlang.

Wolf war froh, dass der Gastgarten geöffnet war. Im Lokal wurde geraucht. Das störte ihn, seitdem er selbst damit aufgehört hatte. Die Herbstsonne schien warm auf das Glasgebäude, die Bäume der Kastanienallee verloren Blätter.

Wie ein Wolf, dachte er. Sie ist immer hungrig.

»Wie ein Fuchs«, meinte Lotte Wolf. »Er kommt mir wie ein Fuchs vor.«

»Wer?«

»Waidinger. Ein schlauer, wendiger Fuchs. Durchaus nicht unsympathisch. Er war heute Vormittag bei mir.«

Das Blitzen in Lottes Augen war ihm nicht entgangen.

»Und er schimpfte über mich.«

»Keineswegs. Er scheint dich zu mögen. Auf jeden Fall achtet er dich.«

»Wie ein Fuchs, sagtest du.«

»Fuchs und Wolf«, sagte Lotte mit vollem Mund. »Wie im Märchen.«

»Welches Märchen?«

»Das Märchen vom Fuchs und vom Wolf.«

»Erzähl!«

»Später.«

Lotte wollte in Ruhe die Reste des Cordon bleu verzehren. Erst als ihr Teller leer war, fand sie Zeit für die Geschichte: »Fuchs und Wolf. Der Fuchs, der Gerissene, der Wolf, getrieben und gefährdet durch seine Gier. Er frisst sich so voll, dass er den Hühnerstall nicht mehr verlassen kann, während der Fuchs …«

»Du meinst, ich bin gierig«, unterbrach sie Wolf.

Erschrocken blickte Lotte vom Dessert auf. »Nein. Ich wollte nur ganz allgemein …«

»Der gerissene Fuchs, der den alten Wolf dem Bauern ausliefert, damit der ihn totschlägt, weil er so gierig ist.«

»Ein Märchen«, meinte Lotte achselzuckend.

»Weisheiten des Volkes«, bemerkte ihr Vater.

»Okay. Ja, du bist gierig.«

Wolf enthielt sich eines Kommentars.

»Aber«, setzte die Tochter fort, »auf eine subtile Weise. Schau mich nicht so an! Ich weiß, ich bin zu dick.«

»Entschuldige, Lotte, aber das ist nicht das Thema.«

»Ich wollte dir nur erklären, wie dein, dein …«

»Wie mein Nachfolger auf meine Tochter wirkt.«

»Waidinger ist der Fuchs, ja. Punkt. Nichts weiter.«

»Und ich bin der gierige Wolf«, ließ er nicht locker.

»Du bist wie er. Du hortest Informationen und lässt nichts heraus, nichts durch.«

»Ich bin wie Waidinger.«

»Nein. Wie Reich.«

»Der Behinderte?«, fragte Wolf.

»Reich war ja der Grund für mein Treffen mit deinem Kollegen. Auch Reich ist süchtig nach Informationen, saugt sie auf wie ein Schwamm.«

»Und macht nichts draus. Hat dir das Waidinger über mich erzählt?«

»Du drängst mich in eine Richtung, die mir nicht behagt«, protestierte Lotte.

»Ist schon gut«, sagte Wolf.

In der Spiegelung der Glasfront sah er ein dickes Mädchen mit seinem Vater am Tisch sitzen. Er wurde wie sein Vater.

»Wie mein Vater«, sagte Wolf.

»Dein Vater war ein angenehmer Mensch«, meinte Lotte. Überrascht schaute er ihr ins Gesicht. Seine Tochter meinte das ernst. Sie hatte einen ähnlichen Beruf wie ihr Großvater gewählt, der in der Fürsorgeabteilung des Magistrats für soziale Belange zuständig gewesen war, nur war sie näher an den Menschen als der Großvater, der sich hauptsächlich mit Fällen und Akten beschäftigt hatte.

»Was hast du Waidinger erzählt?«, fragte er.

»Was ich auch dir schon gesagt habe.«

»Könntest du es bitte wiederholen?«

»Du hast es vergessen. Es hat dich nicht interessiert«, gab sich Lotte vorwurfsvoll.

»Es hatte keinen Bezug, als du es erwähntest. Daher bitte ich dich, es aufzufrischen.«

»Gut. Ich habe den Eindruck, dass sich Peter Reich menschlich weiterentwickelt, dass er seine Starrheit, seine Flucht in die Mathematik, ablegt, dass nicht nur der Computer für ihn wichtig ist, an dem er den ganzen Tag sitzt, sondern dass er sich Menschen zuwendet, mit allen Schwierigkeiten und Risiken, die das auch für einen sogenannten normalen Menschen hat.«

»Und das Bemalen der Wand des Hauses, das gestern explodierte?«

»Aus Liebe zu einer jungen Frau, die darin wohnt. Ich hoffe, sie lebt noch.«

»Was schrieb er an die Wand?«

»Eine Zahl.«

»Welche konkret?«

»129525.«

»Du hast dir das gemerkt«, sagte Wolf und übertrug die Ziffern in seinen Notizblock.

»Ich will herausfinden, was es bedeutet.«

»Möglicherweise gar nichts«, meinte Wolf.

»Das glaube ich nicht. Er ist sehr intelligent.«

»Eine Art Autist, hast du erzählt.«

»Peter Reich leidet am Savant-Syndrom. Er besitzt in Teilen seiner Persönlichkeit überragende geistige Fähigkeiten, in anderen Bereichen hat er Defizite. Deshalb ist er während des Tages bei uns.«

»Ist er gefährlich?«

»Ich schließe aus, dass er etwas mit der Explosion des Hauses zu tun haben könnte. Das entspricht nicht seiner momentanen Entwicklung«, wich Lotte Wolf aus.

»Das trifft sich mit meiner Sicht der Dinge.«

»Du hast einen anderen Verdacht?«, fragte Lotte Wolf ihren Vater.

Dieser nickte.

2

Wolf verfolgte die Nachrichten im Fernsehen, während Lena Konrad übte. Obwohl sie die Tür zum Musikzimmer geschlossen hatte, hörte er, dass sie sich die Sonate in a-Moll von Franz Schubert vorgenommen hatte, ein angeblich extrem schweres Stück, an dem die Musikschullehrerin bisher gescheitert war, wie sie ihm beim Abendessen gestanden hatte. Dann war sie schnell verschwunden, denn sie hatte mit ihren Nachbarn vereinbart, höchstens bis 20 Uhr zu üben.

Lena Konrad wohnte in einer Eigentumswohnung in der Nähe des Steyrer Vorortes Christkindl und musste beim Musizieren Rücksicht auf die übrigen Hausbewohner nehmen.

Sosehr er es versuchte, Wolf konnte sich nicht wirklich auf die Fernsehsendung konzentrieren. Das Cellospiel seiner Freundin lenkte ihn ab, insbesondere einige durchdringende Geräusche, die sich wie das Heulen eines wilden Tieres anhörten. Diese Töne erzeugten Bilder in ihm. Er sah das zerstörte Wohnhaus in der Industriestraße vor sich, sah Flammen, sah Menschen, die im Feuer starben. Er schaltete das Fernsehgerät ab, stand auf, ging im Zimmer hin und her, öffnete den Vorhang, öffnete das Fenster und sog die kühle, frische Luft in seine Lungen.

Wolf wunderte sich, dass seine biedere Freundin derart unheimliche Töne erzeugen konnte. So schlecht hatte Lena noch nie gespielt, dachte er und fragte sich, was die Ursache für den Missklang war.

Pünktlich um 20 Uhr erschien Lena in dem im Biedermeierstil eingerichteten Wohnzimmer, dessen Möbel noch von ihren Eltern stammten. Das TV-Gerät war in einem dunklen Schrank untergebracht, die Türen blieben während des Tages geschlossen, um den Gesamteindruck des mit einer dreiarmigen Lampe nur kärglich beleuchteten Raumes nicht zu stören.

Ein Museum.

Lena hatte aus ihrem Arbeitszimmer Rotwein und Kristallgläser mitgebracht. Wolf öffnete die Flasche, dann prosteten sie einander zu. Er holte noch Wasser aus der Küche, weil er Durst hatte, aber ein Zuviel an Alkohol vermeiden wollte.

Der Wein war gut.

Wolfs Freundin erklärte ihm, dass Schuberts Sonate so wahnsinnig schwer zu spielen sei, weil sie der Komponist ursprünglich für ein ganz anderes Instrument geschrieben habe. Der Arpeggione, wie Lena es nannte, vereinige die Eigenschaften von Gitarre und Streichinstrument, habe sich aber nicht durchgesetzt.

Wolf sprach sie auf das heulende Geräusch ihres Cellos an.

»Dass du das gehört hast als an sich unmusikalischer Mensch!«, wunderte sie sich. »Der Grund ist ein Baufehler meines Instruments, der beim Streichen bestimmter Töne auftritt. Ein kompliziertes Phänomen, das ich dir eigentlich nicht beschreiben kann.«

»Klingt wie das Heulen eines Tieres.«

Beleidigt blickte Lena ihren Freund an. So abfällig hatte er sich noch nie über ihr Spiel geäußert.

»Es heißt auch so«, meinte sie knapp.

»Heulendes Tier?«, fragte Wolf.

»Nein. Wolfston. Das Mitschwingen des Korpus mit gewissen Tönen.«

»Und das stört dich nicht?«

»Natürlich ist es ärgerlich, aber beim Üben stellt es kein Problem dar.«

»Und das ist bei jedem Cello der Fall?«, ließ Wolf nicht locker.

Etwas verärgert antwortete Lena Konrad: »Ich weiß nicht, woher dein plötzliches Interesse kommt. Nein, das tritt nicht bei jedem Cello auf. Es ist, wie gesagt, ein Baufehler, der sich leicht beheben lässt, durch ein Metallstück, das man über die Saiten spannt. Und bevor du noch mehr zu diesem Thema sagst: Ich habe diesen Wolftöter bereits bestellt.«

»Ein unheimlicher Ton, der bis in die Eingeweide dringt.«

»Könnten wir bitte das Thema wechseln?«

»In anderen Worten: Dein Musizieren hat mich bisher nie so aufgewühlt wie heute.«

»Das hängt wahrscheinlich auch mit dem Stück und dem Komponisten zusammen«, gab sich Lena versöhnlicher. »Ein Werk Schuberts, dem jede Lieblichkeit fehlt, das in seiner Kargheit beinahe an einen sinfonischen Satz Bruckners denken lässt, in seinem Kontrast von Dunkelheit und Licht, dumpfen und beweglicheren Elementen, ein Tanz am Rande des Abgrunds. Glück, das vom Tod bedroht ist.«

»Das hast du schön gesagt. Ich sah wieder den Brand des Wohnhauses vor mir.«

»Du musst dich jetzt nicht bei mir einschmeicheln.«

»Nein, gar nicht. Ich will nur die Wirkung beschreiben.«

»Gut. Endgültiger Themenwechsel. Was sagst du zum Wein?«

»Er ist wirklich gut.«

»Ein Cablot aus dem Mittelburgendland.«

»Ca…«

»Eine Mischung aus Cabernet und Merlot.«

»Gut, wirklich gut.«

Wolf hatte den Verdacht, dass Lena auch in seiner Abwesenheit trank. Das einzige Laster der Dreiundfünfzigjährigen.

Lena, ursprünglich eine Freundin von Wolfs verstorbener Frau, hatte immer schon etwas Altjüngferliches gehabt. Ein großes, etwas plumpes Mädchen, das brav an seinem Instrument übte, das zwischen ihren Beinen stand und für – so vermutete Wolf – anregende Vibration sorgte.

Er hatte sich gehütet, diesen Gedanken laut auszusprechen. Dafür war Lena viel zu zurückhaltend. Sie hätte nicht protestiert, wäre aber verletzt gewesen. Echt verletzt.

Mein Gott, dachte Wolf, die Frau war schwierig. Er passte nicht zu ihr. Sie wäre glücklicher ohne ihn. Der ideale Partner für sie wäre ein katholischer Priester, den Frauen zugetan, nach jedem Sündenfall erneut um Keuschheit ringend.

Denn für Sündenfälle war Lena überraschenderweise zu haben. Und das war wohl ein Hauptgrund, warum er die Beziehung zu ihr nicht beendet hatte. Er hatte sich daran gewöhnt, bei ihr, mit ihr, zu sündigen und die guten Speisen und Getränke zu genießen, für die sie als Umrahmung des mittlerweile nur mehr wöchentlichen Treffens sorgte. Er musste also vorsichtig sein, sie nicht zu sehr zu verärgern, sonst wurde nichts aus der Sünde. Andererseits ersparte er sich für sein Alter an sich unwürdige Verrenkungen, die letzten Endes weder ihm noch ihr wirklich Vergnügen bereiteten.

»Die Flasche müssen wir leeren«, stellte Lena fest.

Als es so weit war, als er Lenas Schlafzimmer aufsuchen wollte, das sie ihm zu Ehren sogar heizte, obwohl sie es selbst lieber kühl hatte in der Nacht, bat er sie, den Ton noch einmal zu spielen, den Wolfston, von dem er sich Anregung versprach.

Lena weigerte sich, sie fand das pervers, also war er zu keiner vom Üblichen abweichenden Leistung fähig. Ein Umstand, der letztlich weder ihn noch Lena wirklich störte.

Er hatte wie üblich funktioniert. Auf ihn war auch in dieser Hinsicht Verlass, aber er hatte weder Lena gespürt noch sich selbst. Er hatte an den Wolfston denken müssen. Das war etwas, das ihn berührte.

Ging es anderen Männern so wie ihm? Mussten sie etwas trinken, bevor sie sich den Frauen näherten, hatte sich das, was in sehr frühen Jahren der Mittelpunkt des Lebens gewesen zu sein schien, als großer Betrug erwiesen? Für ihn traf es zu.

Wäre es nicht interessant, darüber zu schreiben? Über den Betrug der Männer an sich selbst und den Frauen. Aber das gab keiner zu. Nur in Momenten der Trunkenheit ließ ein Mann derartiges verlauten, um schnell zu verstummen. Laientheater, das keinem gefällt, ohne wirkliches Können der Akteure. Wahre Kunst hingegen kann nicht lügen. Echte Künstler lügen nicht. Von Handwerkern abgesehen. Wolf war als Journalist Handwerker der Schreibzunft. Schubert war Künstler. Wolf redete sich ein, dass es nicht nur die heulende Resonanz des Instrumentes gewesen war, die ihn vorhin angerührt hatte, es könnten auch Lenas Hingabe an die Musik und Schubert selbst gewesen sein. Künstler verletzen und sind verletzlich. Wolf durfte Lena nicht verletzen.

Er dachte an seine Mutter, die Schriftstellerin, die mit ihren Romanen den Mann verletzt hatte. Und an Schubert, das dreizehnte Kind seiner Eltern. Wolf selbst war das erste Kind gewesen, Lena die dritte von drei Schwestern.

Es lebte noch etwas in seinem absterbenden Körper. Der Funke, der noch nicht erloschen war, war seine Fantasie. Oder konnte man das als Seele bezeichnen? Etwas Wildes, zu allem fähig, auch zu Zerstörung. Und Mord?

Aber nur, wenn er in die Enge getrieben wurde.

Trieb ihn denn jemand in die Enge? Nicht wirklich. Er war, ohne es zu bemerken, ins Abseits geraten. Nun spürte er Bewegung, die ihn beunruhigte.

Lenas Atem war tief und regelmäßig geworden. Sie schien zu schlafen. Oder täuschte sie das vor? War sie zu großer Täuschung überhaupt fähig?

Einerlei, er konnte sich nun in Fantasien verlieren, die keine Grenzen kannten. Aber war das nicht gefährlich? Sollte er sich nicht doch beschränken? Nein, diesmal nicht. Er ließ sich ein auf die Bilder und Töne, die in ihm hochstiegen, die seinen Körper mit einem Beben erfüllten. Der Wolfston wiederholte sich so eindringlich, dass er sich wunderte, dass ihn nicht auch Lena hörte und davon erwachte.

Ein hungriges, gefährliches Heulen, das in das Heulen der Feuersirenen überging, die den Brand im Wohnhaus gemeldet hatten.

Wolf sah eine dunkle Gestalt im Keller des Hauses und wusste nicht, ob er es selbst war oder ein anderer. Es handelte sich auf jeden Fall um jemanden, den er kannte. Waidinger, Reich? Er war sich nicht im Klaren. Jedenfalls ein Mann, der einen Akkubohrer gegen das Gasrohr hielt, das an der Kellerdecke angebracht war. Ein Metallrohr, um das er ein feuchtes Tuch gehüllt hatte, um vorzeitigen Funkenflug zu vermeiden. Er musste fest dagegen halten, bis der Bohrer endlich durch war. Rasch ließ er das Gerät in seiner Jacke verschwinden, auch das Tuch, dann eilte er nach oben, aus dem Haus hinaus, das nun vom Gas erfüllt auf den zündenden Funken wartete. Er musste dabei sein, wenn es geschah, durfte nichts versäumen, wollte aber einen Sicherheitsabstand halten, also suchte er das Tor zum Friedhof auf, in dessen Nische er ungesehen warten konnte.

Wolf durfte sich nicht in diese Gedanken verirren. Das war krank und gefährlich. Er verließ das Bett und kleidete sich an. Er war verwirrt.

Wolf fuhr zurück in sein Haus, öffnete eine Flasche Bier und trank sie in einem Zug leer.

Er versuchte sich abzulenken, wieder Boden unter den Füßen zu gewinnen.

Die Aufzeichnungen seiner Mutter fielen ihm ein, ein Manuskript, das sie nicht mehr veröffentlicht hatte. Wo bewahrte er es auf? Wolf fand ein verschnürtes Paket in einem Schrank im Gästezimmer.

Eines Tages würde er darin lesen. Aber jetzt wollte er schlafen. Er musste ausgeruht sein für die Arbeit am kommenden Tag. Er wollte sich den Einzelschicksalen der Bewohner des Hauses Industriestraße 5 widmen, Interviews machen.

Am Morgen erwachte er einigermaßen erfrischt und nahm sich vor, Lena gegen zehn Uhr anzurufen. Er wollte sie nicht vorzeitig wecken, sie stand erst spät auf. Ihre Arbeit in der Musikschule konzentrierte sich auf die Nachmittage.