Sherlock Holmes - Neue Fälle 02: Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge - J. J. Preyer - E-Book

Sherlock Holmes - Neue Fälle 02: Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge E-Book

J. J. Preyer

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  • Herausgeber: Blitz-Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Die Wahrheit über das finale Duell zwischen Sherlock Holmes und Professor Moriarty, bei dem die Statue eines Engels sowie der Schriftsteller Oscar Wilde eine nicht unerhebliche Rolle spielen, neben dem Meisterdetektiv, versteht sich. Die Printausgabe umfasst 224 Buchseiten.

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DIE NEUEN FÄLLE DES MEISTERDETEKTIVS SHERLOCK HOLMES

Sherlock Holmes und die Moriarty-Lüge

 

 

© 2012 by BLITZ-Verlag, Hurster Straße 2a, 51570 Windeck

Redaktion: Jörg Kaegelmann

Lektorat: Dr. Richard Werner

Fachberatung: Dr. Klaus-Peter Walter

Umschlaggestaltung und Illustration:

Mark Freier, München

eBook-Erstellung: Die eBook-Manufaktur

 

All rights reserved

 

Print ISBN: 978-3-89840-336-8 E-Book ISBN: 978-3-95719-201-1

www.BLITZ-Verlag.de

 

 

 

 

J. J. Preyer

SHERLOCK HOLMES

und die Moriarty-Lüge

 

Nach den Charakteren

Sherlock Holmes und Dr. John H. Watson

von Sir Arthur Conan Doyle

 

 

 

 

Der Autor

J. J. PREYER, geboren 1948 in Steyr, Österreich.

Ab dem 14. Lebensjahr literarische Veröffentlichungen. Studium Deutsch, Englisch in Wien. Lehrtätigkeit in der Jugend- und Erwachsenenbildung. 1976 Auslandsjahr in Swansea in Wales. 1982 Initiator des Marlen-Haushofer-Gedenkabends, der durch die Teilnahme des Wiener Kulturjournalisten Hans Weigel den Anstoß zur Wiederentdeckung der Autorin gab. Mitarbeit an der Kinderzeitschrift KLEX von Peter Michael Lingens.

1996 gründete J. J. Preyer den Oerindur Verlag, einen Verlag für lesbare Literatur und Krimis. Der Autor schreibt seit Jahresbeginn 2010 für die Romanserie JERRY COTTON im Bastei Verlag.

 

 

KAPITEL 1

Der Mann mit dem schweißnassen Gesicht schlief schlecht. Kaum schien er in einer Position Ruhe gefunden zu haben, wälzte er sich auf die andere Seite, wobei er zischende Laute von sich gab und von Zeit zu Zeit mit grollender Stimme unverständliche Wörter murmelte. Er träumte, und was er träumte, war unerfreulich.

Dr. Watson, denn um ihn handelte es sich bei dem Mann, lag allein in seinem Ehebett. In Fieberphantasien gefangen erlebte er in jener Nacht immer und immer wieder den Abschied von den wichtigsten Menschen in seinem Leben. Sowohl seine geliebte Frau Mary als auch sein Freund Sherlock Holmes entschwanden für immer. Er streckte die Hände aus, wollte sie zurückhalten, festhalten, sich an sie klammern, aber sie entfernten sich unaufhaltsam von ihm, stürzten mit Gewalt nach unten, wie die schäumenden Wasser der Reichenbach-Fälle, aus denen es kein Entrinnen gab.

Zunächst standen sie da wie Touristen, die das Naturspektakel bewunderten. Holmes hielt Marys linke Hand in seiner Rechten, freundschaftlich, beinahe liebevoll. Im nächsten Augenblick wurden sie von einer Woge des Gebirgsbaches erfasst und in den Abgrund gerissen.

Auch Watson spürte die eisige Kälte des Wassers, die Schmerzen im Oberkörper, am Herzen, auslöste. Es schüttelte ihn vor Kälte, obwohl ihm so unerträglich heiß war, dass er schwitzte.

Dann erwachte John Watson. Er hatte Fieber, musste das Hemd wechseln, das wie ein feuchtes Tuch an seinem glutheißen Körper klebte. Er durfte sich nicht gehen lassen, denn noch bestand Hoffnung. Hoffnung, dass seine Frau und sein Freund am Leben waren. Und wenn das so war, brauchten sie ihn. Er durfte nicht aufgeben, den beiden zuliebe.

Der Doktor erhob sich und wankte zum Wäscheschrank, dem er ein frisches Hemd entnahm, ging weiter zum Fenster, öffnete es, sog tief die frische Mailuft in die Lungen.

Es war still draußen. Die nächtliche Ruhe, die vom Regent's Park ausging, drang versöhnlich in die hohen Räume von Doktor Watsons Wohnung. Er begab sich wieder zu Bett und fand sich Minuten später in einem weiteren Traum, in dem ihn jemand anblickte.

Nein, diese Augen gehörten zu niemandem, den er kannte. Es handelte sich nicht um die hellen blauen Augen seiner Mary und nicht um Holmes' graue Augen, es waren glitzernde, kalte Augen, die ihn aus den Fluten des eisigen und doch so heißen Wassers anstarrten, die Augen eines Reptils, einer Schlange, die aus den Reichenbach-Fällen glitt, auf Watson zu, den ihr Blick gefangen hielt.

Ihr schmales Maul schien zu lächeln, auf schlaue, heimtückische Weise, ihre Zunge war blau und gespalten. Sie schien etwas zu sagen, aber Watson verstand sie nicht. Das Tosen der Fälle war zu laut, also kniete er nieder und näherte sein rechtes Ohr dem Schlangenhaupt.

»Du kannst einen von beiden retten«, zischte die Schlange, »indem du den anderen opferst.«

Nein. Niemals. Watson war sich klar, dass er weder Holmes für seine Frau noch Mary für den Detektiv opfern wollte.

»Dann sind sie beide tot«, sagte die Schlange.

»Sie leben nicht mehr. Ich weiß es«, stellte Watson fest.

»Du irrst«, ließ das Reptil nicht locker. »Sie haben sich verborgen und können wiederkehren, aber nur einer von ihnen.«

»Du lügst, deine Zunge ist gespalten.«

»Meine Zunge ist geformt wie bei allen Individuen meiner Art und ich spreche die Wahrheit. Die Entscheidung liegt bei dir.«

Watson verstummte. Er versuchte sich zu konzentrieren. Wer von beiden war ihm wichtiger? Mary, die er durch seinen Freund Holmes während einer seiner Fälle kennengelernt hatte, oder der Detektiv selbst? Er konnte sich nicht entscheiden. Wenn er versuchte, sich einen der beiden vorzustellen, sah er das Gesicht des anderen. Es gab keinen Unterschied zwischen ihnen, so sehr er sich auch bemühte, einen zu finden.

»Ich kann nicht. Es ist mir unmöglich. Ich muss auf beide verzichten«, sagte er zur Schlange.

»Es ist deine Wahl«, erwiderte diese und glitt in das Wasser zurück.

Als Watson erneut erwachte, schmerzte sein Kopf, er hatte Schüttelfrost und entschied sich, den Rest der Nacht sitzend in einem Lehnstuhl zu verbringen, um von weiteren Albträumen verschont zu bleiben. Am Morgen würde er einen Arztkollegen kommen lassen. Seine eigenen Versuche, das Fieber zu senken, waren gescheitert. Nicht einmal der sonst so wirksame Absud aus Weidenrinde hatte Wirkung gezeigt.

Bei seinen Patienten hätte Watson demzufolge auf seelische Gründe für die erhöhte Temperatur geschlossen, bei sich selbst vermutete er eine verborgene, geheimnisvolle Erkrankung, möglicherweise eine Vergiftung, da er sonst nicht zu solchen Gemütszuständen neigte. Er würde Doktor Solvay, einen Studienkollegen, heranziehen, um endlich wieder zur Ruhe zu kommen und von den qualvollen Phantasien und Träumen erlöst zu werden.

Wie würde sich Sherlock Holmes in einer solchen Situation verhalten, außer zu Kokain zu greifen? Diese Substanz war dem erfahrenen Mediziner zu gefährlich. Es hieß den Teufel mit Beelzebub auszutreiben.

Der Teufel. Die Schlange. Die Lüge. Erneut fand sich Watson in jenem Zustand des Halbschlafes, in dem ihn dunkle Bilder verfolgten.

Holmes würde seinen Verstand einsetzen, die Situation analysieren, Lösungen entwickeln.

»Mein lieber Watson«, würde er sagen, und allein die Erinnerung an diese Worte trieb dem Doktor Tränen in die Augen. »Mein lieber Watson. So verständlich auch die Verwirrung nach dem Verschwinden Ihrer geschätzten Frau ist ...«

»Vom Verlust Ihrer Person zu schweigen«, würde er selbst sagen.

»Danke, Watson. Sehr aufmerksam. Also, so verständlich Ihr beklagenswerter Zustand ist, er bedeutet keinen Fortschritt in der Sache selbst. Überlegen Sie. Gibt es Leichen? Nein. In beiden Fällen existiert kein objektiver Beweis für den Tod der betreffenden Person. Der methodisch vorgehende Denker fragt sich demnach, warum das so ist. Die Antwort: zwei merkwürdige Zufälle oder ein Plan dahinter. Und weil Sie wissen, was ich von Zufällen halte, suchen Sie nach dem Muster, dem Plan.«

»Aber ich weiß doch nicht ...«

»Und ob Sie es wissen, Watson. Sie müssen sich nur erinnern. Wie sind die letzten Minuten vor dem Verschwinden der geschätzten Mary Watson verlaufen, in welchem Zustand war sie? Ahnte sie etwas?«

»Wir waren in Meiringen, in der Schweiz.«

»Mit Mary?«, fragte Holmes, boshaft lächelnd.

»Sie und ich«, ließ sich Watson nicht beirren. »4. Mai 1891, Meiringen in der Schweiz. Eine Tour in die Berge, nach Rosenlaui, um die Reichenbach-Fälle zu besichtigen. Ein fürwahr beeindruckender Anblick. Das durch die Schneeschmelze angeschwollene Gewässer stürzte in einen Abgrund, von dem die Gischt nach oben rollte wie Rauch aus einem brennenden Gebäude.«

»Sie lassen sich schon wieder von Ihrer Phantasie mitreißen, Watson«, würde Holmes sagen. »Bleiben Sie bei den Fakten!«

»Aber das sind doch die Fakten«, würde er protestieren.

»Das sind Details, die Ihnen nicht weiterhelfen. Denken Sie an den Ausgangspunkt, folgen Sie der Linie und Sie werden das Ziel erreichen.«

»Reichenbach-Fälle«, wiederholte der Doktor. »Ein Diener brachte uns die Nachricht, dass im Hotel ein Arzt benötigt werde. Blutsturz einer englischen Lady, die an Schwindsucht litt. Ich eilte ins Hotel. Das war es.«

»Nein, es gab noch mehr«, widersprach Watson seinem Freund.

»Das war der Augenblick, in dem ich Sherlock Holmes zum letzten Mal sah.«

»Richtig. Bleiben Sie präzise!«

»Im Hotel wusste man nichts von dem Diener, auch existierte keine kranke englische Lady. Alles eine Lüge, um uns zu trennen und Sie zu verderben.«

»Und warum waren wir dort?«

»Weil, weil ...«

»Wegen Professor Moriarty, vor dem wir uns in Sicherheit brachten, nach mehreren Anschlägen hier in London.«

»Ja. So muss es gewesen sein.«

»Zweifel, Watson?«

»Nein, keine Zweifel.«

Watson erinnerte sich der letzten schriftlichen Worte, die sein Freund in einem silbernen Zigarettenetui auf drei Seiten seines Notizbuches hinterlassen hatte: Lassen Sie bitte Mrs. Watson grüßen, hieß es am Ende dieser Aufzeichnungen.

Und nun war auch Mrs. Watson verschwunden, auf eine ganz ähnliche Weise.

»Details, mein lieber Watson! Nur Exaktheit kann weiterhelfen. War Mrs. Watson irgendwie anders in letzter Zeit, besorgter, scheu?«

»Sie war noch liebevoller, noch wärmer als am Anfang. Die Beziehung zwischen uns hatte sich vertieft. Manches Mal schaute sie mich unendlich traurig an. Und auch das muss gesagt werden, auch wenn es nichts zur Sache beiträgt. Mary wurde schöner mit jedem Tag, ihr Ausdruck nahm an Kraft zu, obwohl ihr Körper der eines zarten und zerbrechlichen Wesens blieb. Ihre hellen blauen Augen erinnerten mich an das Schmelzwasser von Gebirgsbächen im Frühjahr, ihre Lippen waren heiß und weich, ihr Haar ...«

»Und der letzte Tag?«, würde Holmes ihn unterbrechen.

»Ganz einfach. Es war der siebente Februar, ein Donnerstag. Wir frühstückten gemeinsam, ich ging in die Praxis hinunter. Als ich gegen zwölf Uhr dreißig nach oben kam, war die Wohnung leer. Kein Brief, nichts.«

»Fehlte etwas aus der Wohnung?«

»Ihr Wintermantel. Sonst nichts.«

»Schuhe?«

»Ja.«

»Das heißt, sie war ausgegangen und nicht zurückgekehrt.« »Man sah sie in eine Droschke steigen. Schwarz, mit geschlossenen Vorhängen. Schwarze Rappen.« »Moriarty.« »Das heißt ...« »Nein, heißt es nicht. Ich bin sicher, Ihre Frau ist noch am Leben und Sie werden sie wiedersehen.«

 

Die geistige Anstrengung, die, wenn auch nur imaginierte, Begegnung mit Sherlock Holmes hatte den Doktor so erschöpft, dass er noch im Sessel in einen bleiernen Schlaf fiel, aus dem er am Morgen benommen, mit Gliederschmerzen, erwachte.

Er bat Mrs. Remington, die für ihn das Haus in Ordnung hielt, nach Dr. Solvay zu senden. Der Mann hatte zwar schwedische Vorfahren, war aber ein guter Diagnostiker.

 

Watson musste nach dem Frühstück, das er bis auf eine Tasse Tee ohne Milch kaum angerührt hatte, wieder eingeschlafen sein, jedenfalls weckte ihn von der Tür her die Stimme eines Mannes, die ihm bekannt vorkam, nur konnte er sie vorerst nicht einordnen. »Fieber, jenes interessante Phänomen, dessen Name sich vom lateinischen ferveo, brennen, ableitet, ist ein Körperzustand, der durch erhöhte Temperatur gekennzeichnet ist. Fieber begleitet viele Krankheiten und muss als Symptom und nicht als Ursache betrachtet werden. Fieber ...«

»Wenn es nicht völlig unmöglich wäre, so handelt es sich um meinen alten Freund Holmes. Aber es ist wohl nur ein weiterer Fiebertraum«, erwiderte Watson matt.

»Dabei habe ich mir so viel Mühe gegeben, meine Stimme der eines Arztes mit schwedischen Wurzeln anzugleichen. Das Fachwissen entstammt der Encyclopaedia Britannica.«

Nun zeigte sich der hochgewachsene, fast dürr zu nennende Mann, der an die vierzig Jahre alt sein mochte, dem im Krankenbett liegenden Watson, indem er den Schlafraum betrat. Es handelte sich dabei um ein Zimmer, das dem in der Baker Street auf verblüffende Weise glich, mit einem allerdings wesentlich breiteren Bett in der Mitte, zu dessen linker und rechter Seite je ein Tischchen mit einer Kerze stand. Das Fenster zum Park lag am Kopfende, sodass der Schlafende nicht von der Helligkeit des Morgens gestört wurde. Ein großer Kleiderschrank und ein offener Kamin in der Ecke rechts vom Eingang ergänzten die Einrichtung. Wie in der Baker Street war auch dieses Gemach mit einem Grammophon ausgestattet.

Die Hand der tüchtigen und liebenden Frau zeigte sich in der Auswahl der Textilien des Bettes und der Vorhangstoffe und vermutlich auch der Bilder an den tapezierten Wänden, die Szenen indischer Landschaften zeigten, jenem Land, in dem Mary Morstan ihre Kindheit verbracht hatte.

»Bleiben Sie liegen, guter Doktor. Sie sind krank«, sagte Holmes.

»Aber ... wie ...«, stammelte Watson.

»Ich lebe, ja, und ich dachte, ich zeige mich meinem Freund, in der Hoffnung, dass dies zu seiner Gesundung beitrage und wir gemeinsam nach seiner verschwundenen Frau suchen können.«

»Holmes, Mary«, murmelte der Doktor. Sein Gesicht glühte.

»Haben Sie es schon mit Chinarinde versucht? Ich habe einen Auszug davon mitgebracht. Nehmen Sie davon!« Der Detektiv reichte seinem Freund ein braunes Fläschchen. »Zehn Tropfen. Nicht mehr und nicht weniger.«

Watson mischte die Tinktur mit Wasser.

»Vorsicht, bitter«, warnte Holmes, aber Watson hatte das Glas schon geleert.

»Sie mit Ihren ...«

»Drogen wollten Sie sagen, nicht wahr, Doktor?«, meinte Holmes noch, aber da war Watson schon in einen tiefen Schlaf gesunken.

Holmes betrachtete noch einige Minuten das erschöpfte Gesicht des fünf Jahre älteren Freundes, der trotz seines noch immer athletischen Aussehens zunehmend zur Korpulenz neigte, dann erhob er sich, um die Haushälterin zu bitten, eine Geflügelsuppe zu kochen. Damit wollte er zur Gesundung des Mannes beitragen, dessen Erkrankung in Holmes' Augen jedoch im Wesentlichen auf die seelische Erschütterung durch den Verlust seiner Frau zurückzuführen war. Aber das machte nichts. Jede Form der Zuwendung würde die Genesung des armen Mannes fördern. Und irgendwie hatte auch Holmes in diesen vier Jahren seinen Gefährten vermisst.

Er unterhielt sich inzwischen mit Linda Remington, der Haushälterin, mit den vom Schrubben und Waschen roten, kräftigen Händen, bei einer Tasse Tee in der Küche des weißen, im Regency-Stil erbauten Hauses nahe der Paddington Station.

»Ein Jammer. Der Doktor ist nicht mehr er selbst, seitdem die gnädige Frau ...«

»Ich kenne Mary Watson von einem gemeinsamen Fall her.«

»Sie sind auch Arzt?«, fragte die Frau.

»Nein, etwas Ähnliches«, meinte der Detektiv und lenkte das Interesse der etwas überrascht blickenden Mrs. Remington auf ein anderes Thema. »Sie haben doch sicherlich Beobachtungen gemacht, das plötzliche Verschwinden Ihrer Dienstgeberin betreffend.«

»Furchtbar, eine Tragödie«, klagte die robuste Frau und suchte nach einem Taschentuch, das sie tatsächlich in ihrer dunklen, weiß getupften Schürze fand, aber schnell wegsteckte, weil es nicht mehr sauber war. »Sie war immer stiller geworden, bevor sie verschwand, und sie sah ihren Mann mit solcher Sehnsucht an. Bei den beiden handelte es sich um wahre Liebe, da kann man sagen, was man will. Echte und wahre Liebe, auch vonseiten des Doktors, was ja bei Männern eher selten ist.«

Holmes ließ sie reden, in der Hoffnung, in der Vielzahl der Worte das eine oder andere Brauchbare zu finden.

»Ich kam gerade vom Metzger und vom Bäcker zurück. Sie müssen wissen, ich kaufe jeden Donnerstag für das kommende Wochenende ein, denn der Doktor und die gnädige Frau haben immer wieder Gäste, und dieses Mal bekam ich etwas besonders Leckeres. Sie müssen wissen ...«

»Da sahen Sie etwas Überraschendes, nicht wahr, Mrs. Remington, als Sie vom Einkauf zurückkamen?«

»Ja, aber wieso wissen Sie das?«

»Instinkt, Mrs. Remington. Erfahrung und Beobachtung.«

»Sie verwirren mich.«

»Das liegt nicht in meiner Absicht.«

»Also ...«

»Also?«

»Also, da sah ich sie. Sie wirkte so traurig, als sie in diese schwarze Kutsche stieg. Die Szene erinnerte mich an ein Begräbnis. Alles schwarz. Die Pferde, die Droschke, die Männer an ihrer Seite.« »Zwei Männer begleiteten sie«, stellte Holmes fest. Die Frau verbesserte ihn. »Eigentlich drei Männer oder vier. Da war ja noch der Kutscher.« »Drei Männer, die sie zur Droschke brachten.« »Zwei stützten sie, einer ging hinter ihr her. Sie wirkte so traurig.« »Aber sie ging selbst, sie war nicht ohnmächtig.« »Jetzt, wo Sie es sagen. Sie wurde mehr getragen, als dass sie selbst ging. Aber sie hatte ihren Mantel an.« »Und Sie haben all das ihrem Mann erzählt?« »Meinem Mann? Nein, den geht das nichts an, der ...« »Nein, ich meinte den Mann von Mrs. Watson. Den Doktor.«

»Natürlich nicht. Ich wollte ihn nicht weiter beunruhigen und ich möchte die Stellung nicht verlieren.« »Warum befürchten Sie das?«, fragte Holmes freundlich.

»Ich habe nachgedacht in den letzten Wochen, und da habe ich mich schon gefragt, ob die gnädige Frau nicht entführt worden ist und ich das hätte verhindern können, indem ich geschrien hätte. Der Doktor war in seiner Praxis, ich hätte ihn alarmieren können. Aber Sie müssen wissen, als einfache Frau denkt man sich, dass die Herrschaften, für die man tätig ist, selbst alles besser wüssten, dass alles, was geschieht, auch so geschehen soll.«

»Jetzt aber haben Sie Zweifel«, stellte der Detektiv fest.

»Ich glaube ... ich war sehr dumm damals.«

»Seien Sie nicht zu streng mit sich selbst, Mrs. Remington. Sie sind eine gute Beobachterin, und Sie haben mir mit Ihren Hinweisen weitergeholfen. Eine Frage noch. Seit wann arbeiten Sie für die Watsons?«

»Seit Januar diesen Jahres. Ich bekam die Stelle auf Empfehlung meiner Vorgängerin, die sich um ihren kranken Mann kümmern muss.«

»Die kranken Männer«, murmelte Holmes. Etwas lauter fügte er hinzu: »Sie entschuldigen? Ich werde wieder nach dem Doktor sehen.«

Holmes leerte die Teetasse und verließ mit einer leichten Verbeugung die geräumige Küche. »Vergessen Sie nicht die Hühnersuppe. Sie wird den Doktor kräftigen«, sagte er noch.

 

»Erzählen Sie, was in Meiringen geschah, nachdem Sie mir die letzte Nachricht zukommen ließen«, bat Doktor Watson, dessen Augen schon viel klarer wirkten. »Was war der Grund für Ihr Verschwinden, das ich für endgültig hielt?«

»Der Grund hieß Moriarty. Mein Ziel war es, ihn und die Menschen, die ihn umgaben, endgültig auszuschalten.«

»Und das ist Ihnen gelungen?«

»Hören Sie zu! Ich erzähle Ihnen eine Geschichte.«

»Wie heißt sie?«, fragte Watson.

»Ist das nicht egal?«

»Ich gehe immer von einem Titel aus, wenn ich mit einem Roman beginne.«

»Tja, wie nennen wir sie?« Sherlock Holmes tat so, als ob er nachdächte, hob dann resigniert beide Schultern und stellte fest: »Es fällt mir nichts ein. Sie müssen vorerst mit der Erzählung vorlieb nehmen. Vielleicht ergibt sich später ein geeigneter Titel. Sie helfen mir doch dabei, mein lieber Watson?«

»Ich weiß, dass Vorsicht geboten ist, sobald Sie mich als Ihren lieben Watson bezeichnen.«

»So sarkastisch? Es scheint Ihnen ja wieder einigermaßen gut zu gehen.«

»Also los!«

»Sehr wohl. Ich beginne.«

Sherlock Holmes' Blick war in die Ferne gerichtet, zurück in eine Vergangenheit, an der sein Freund keinen Anteil gehabt hatte, denn der Detektiv hatte alles, was unmittelbar mit seinem Erzfeind, Professor Moriarty, zu tun gehabt hatte, von ihm ferngehalten. Ja, Watson hatte ihn nie persönlich getroffen.

»Wie sah er aus? Beschreiben Sie ihn mir!«

Unwillig kehrte Holmes aus den Tiefen der Vergangenheit in die Gegenwart des Krankenzimmers und des immer lebhafter werdenden Doktors zurück.

»Den Verlauf meines Berichtes müssen Sie mir überlassen«, meinte er knapp, dann fuhr er versöhnlicher fort: »Frühjahr 1891. Moriarty hatte mich aufgesucht und gewarnt. Ich müsse die Verfolgung seiner Person und seiner Organisation unverzüglich einstellen, sonst würde mir Vernichtung drohen. Ich ließ mich nicht einschüchtern, obwohl ich mir des Ernstes der Lage bewusst war. Ich hatte ein Ziel vor Augen, und dieses wollte ich erreichen. Aber zu welchem Preis, Watson. Zu welchem Preis!«

»Was ist geschehen?«

»Das wissen Sie selbst am besten.«

»Mary.«

Holmes nickte ernst. »Wie gefährlich Moriarty ist, spürte ich am eigenen Leib, kurz nach dem so unerfreulich verlaufenen Gespräch mit ihm.«

»Erzählen Sie, Holmes!«, bat Watson, der es sichtlich genoss, vom sicheren Bett aus unheimliche Begebenheiten der Vergangenheit zu erfahren. Wieder einmal erinnerte der Doktor Holmes an einen groß und dick gewordenen Jungen.

»Es gab mehrere Attacken. Die Erste auf dem Weg zur Oxford Street. Eine Droschke, die von zwei Pferden gezogen wurde ...«

»Wie bei Mary.«

»Das Fuhrwerk raste auf mich zu. Ein Sprung auf den Gehsteig in letzter Sekunde rettete mich. Genau dort ereilte mich der zweite Anschlag mit einem Dachziegel, der mich um wenige Zoll verfehlte, ganz abgesehen von einem Angriff mit einem Knüppel und dem Feuer in der Baker Street.«

»Feuer in der Baker Street?«

»Beruhigen Sie sich, Watson. Der Schaden war gering, alles ist noch so, wie es war.«

»Und das war der Professor?«

»Nicht er persönlich. Seine Mitläufer. Er war der Kopf, der Rest der Schlange existiert noch.«

»Das heißt, Sie konnten Moriarty zu Fall bringen.«

»Gedulden Sie sich, Watson. Alles der Reihe nach.«

»Beschreiben Sie den Mann, Holmes. Wie sah er aus, was waren seine Pläne?«

»Seine Art zu sprechen kann man als beinahe sanft bezeichnen. Er äußerte die heftigsten Drohungen im ruhigen Ton dessen, der die Macht besitzt, seine Anliegen durchzusetzen. Von der Statur her war Moriarty groß, mager, seine breite, stark gewölbte Stirn ließ auf einen überragenden Geist schließen, die Augen lagen tief in den Höhlen. Ein perfekt rasierter, bleicher, asketisch aussehender Mensch mit der leicht nach vorne gebeugten Haltung des Studierenden, des Professors. In der linken Hand hielt er meist seinen Rechenschieber, mit der Rechten notierte er Zahlen in steiler Handschrift.«

»Wobei eine gewisse Ähnlichkeit mit Ihnen nicht zu leugnen ist.«

»Sie haben ihn auch gesehen, mein lieber Watson? Ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie die Rolle des Erzählers übernehmen«, sagte Holmes mit schneidender Stimme.

»Ihrer Erzählung nach ...«

Holmes unterbrach Watson ungeduldig. »Der Mann hatte etwas Schlangenartiges in seinem Wesen. Wie er mit seiner bläulichen Zunge prüfend über die Lippen fuhr, wie er ... Sie wollen doch nicht behaupten, ich hätte etwas von einem Reptil.«

»Aber nein. Bestimmt nicht«, versicherte Watson und versuchte den Detektiv durch eine Frage auf andere Gedanken zu bringen. »Und sein Wesen? Wie soll ich sagen, sein Charakter. Was für ein Mensch war er? Privat und beruflich.«

»Ich kannte ihn nicht privat. Aber ich konnte herausfinden, dass er ein Genie war. Ein mathematisches Genie. Schon in jungen Jahren verfasste er eine Abhandlung über das binomische Theorem.«

»Was immer das sein mag.«

»Mein lieber Watson. Ich schätze es nicht, wenn Sie Unwissenheit in Spott kleiden. Ich versichere Ihnen, dass es niemanden gibt, und ich betone das, niemanden außer Moriarty, der zu derart tief gehenden Überlegungen fähig ist.«

»Sie verteidigen ihn, als ob es um Sie selbst ginge.«

»Er ist etwas Besonderes. Ein Napoleon des Verbrechens, der Kopf einer großen Organisation, die hinter jedem bedeutenden Verbrechen in unserem Land steckt, das in den letzten Jahren begangen wurde.«

»Ein Mann, der Ihnen ebenbürtig ist.«

»So ist es.«

»Den Sie besiegt haben. In der Schweiz, an den Reichenbach-Fällen, wo wir uns das letzte Mal vor Ihrer Wiederkehr sahen.«

Der Detektiv schwieg.

»Eine Erzählung davon könnte etwa mit folgenden Worten beginnen«, überlegte der Doktor, die Wangen vor Aufregung gerötet. »Als Holmes den tödlichen Entschluss in den grauen Augen des Professors las ...«

»Sie kennen seine Augenfarbe?«

»Meine Vorstellungskraft. Aber machen Sie weiter, Holmes! Schildern Sie den Verlauf der Ereignisse doch selbst!«

»Ich werde mich bemühen, Ihrem schriftstellerischen Talent einigermaßen zu entsprechen. Der berühmte Autor John Watson würde es vermutlich so formulieren: Der große Detektiv bat den großen Kriminellen um einen kurzen Aufschub des dramatischen Geschehens, das in einem Duell zweier ebenbürtiger Männer münden, ja enden, sollte. Im Zweikampf zwischen Sherlock Holmes und Professor James Moriarty an den Reichenbach-Fällen zu Meiringen in der Schweiz. Es kam zu einem Handgemenge am Abgrund. Da aber besann sich der berühmte Detektiv seiner Fähigkeiten. Holmes wandte einen Griff an, den er von Baritsu, jener japanischen Kampfsportart her kannte, die ihm schon mehrmals in seiner Laufbahn das Leben gerettet hatte. So war es auch dieses Mal. Holmes konnte sich von der tödlichen Umklammerung des Professors frei machen, Moriarty griff ins Leere, schlug mit einem schrecklichen Schrei wild und hilflos um sich und stürzte den Wasserfall hinunter. Nach einem langen Fall, in dem sich der noch lebende Professor mehrmals um die eigene Achse drehte, schlug der Körper gegen einen Felsvorsprung, von wo er in das Wasser katapultiert wurde.«

»Recht eindrucksvoll, aber ich weiß nicht, warum Sie mich belügen, Holmes. Ist es, weil Sie in meiner momentanen Lage Mitleid mit mir haben, oder gibt es einen anderen Grund für die Moriarty-Lüge?«

»Was sagen Sie da, Watson! Wie kommen Sie dazu, mich der Lüge zu bezichtigen!«, protestierte der Detektiv. Sein Gesicht war bleich geworden, seine schmalen, langgliedrigen Hände zitterten leicht.

 

 

KAPITEL 2

»Ich wende die Methoden, die Sie mir beigebracht haben, nun zum ersten Mal gegen Sie an, Holmes. Und Sie müssen zugeben, dass Ihre Erzählung glaubwürdig wäre, würde sie aus meiner Feder stammen. Sein letzter Fall oder so.«

»Sparen Sie sich Ihren bösartigen Zynismus, Doktor. So kenne ich Sie nicht und so will ich Sie auch nicht kennen.«

»Entschuldigen Sie, Holmes. Mein Verlust, die Erkrankung, das macht bitter. Aber Sie müssen zugeben, dass Ihre Beschreibung des Professors als Ihnen ebenbürtig, als bedeutenden Mathematiker, als Napoleon des Verbrechens, in Widerspruch steht zu den konkreten Taten dieses Mannes, der Sie mit Pferdedroschken, Ziegelsteinen und einem Brand Ihrer Wohnung ausschalten will.

---ENDE DER LESEPROBE---