Hat keine Flügel, kann aber fliegen - Amili Targownik - E-Book

Hat keine Flügel, kann aber fliegen E-Book

Amili Targownik

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Beschreibung

Behindert, na und? Eine wahre Geschichte über das, was möglich ist, wenn man sich nicht unterkriegen lässt

»Als Kind glaubte ich, dass alle Menschen behindert geboren werden. Dass ich zu meinem 18. Geburtstag die Lizenz zum Gehen bekommen und normal erwachsen werden würde.« Amili kam mit zerebraler Kinderlähmung zur Welt und sitzt seit ihrer Geburt im Rollstuhl. Als ihre kleine Schwester zu laufen beginnt, hört sie auf zu sprechen. Eineinhalb Jahre lang schweigt sie. Erfindet sich ihre eigene Welt, fiktive Freunde, flüchtet sich ins Träumen. In der deutschen Schule traut man ihr nichts zu. Doch sie hat einen starken Willen. Von der Förderschule wechselt sie auf eine amerikanische Highschool. Und schließlich an die Uni. Ihre Botschaft lautet: Alles ist möglich, man darf nur nicht aufgeben. Hier erzählt sie ihre Geschichte, berührend, poetisch und mit Humor.

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Behindert, na und? Eine wahre Geschichte über das, was möglich ist, wenn man sich nicht unterkriegen lässt

»Als Kind glaubte ich, dass alle Menschen behindert geboren werden. Dass ich zu meinem 18. Geburtstag die Lizenz zum Gehen bekommen und normal erwachsen werden würde.« Amili kam mit zerebraler Kinderlähmung zur Welt und sitzt von klein auf im Rollstuhl. Als ihre jüngere Schwester zu laufen beginnt, hört sie auf zu sprechen. Eineinhalb Jahre lang schweigt sie. Erfindet sich ihre eigene Welt, fiktive Freunde, flüchtet sich ins Träumen. In der deutschen Schule traut man ihr nichts zu. Doch sie hat einen starken Willen. Von der Förderschule wechselt sie auf eine amerikanische Highschool. Und schließlich an die Uni. Ihre Botschaft lautet: Alles ist möglich, man darf nur nicht aufgeben. Hier erzählt sie ihre Geschichte, berührend, poetisch und mit Humor.

Amili Targownik, geboren 1995 in Tel Aviv, kam mit einer Hirnschädigung (Zerebralparese) auf die Welt. Ihre Kindheit verbrachte sie in Deutschland, mit vielen Therapien und Schulschwierigkeiten. In der 10. Klasse wechselte sie an eine Schule in den USA, wo sie ihr Abitur machte und begann, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben. Heute studiert Amili Sozialwissenschaften in Tel Aviv. Sie spricht vier Sprachen und lebt in Israel und München.

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Amili Targownik

Hat keine

Flügel,

kann aber

fliegen

Meine Geschichte

Aus dem Englischen von Sophia Lindsey

Für meine Eltern,

die mir dabei geholfen haben, aus einem Gedanken

eine Wirklichkeit werden zu lassen.

Für Annabel und Carmen,

die mir Mamãe für so lange Zeit

ausgeliehen haben.

Dieses Buch wäre ohne die Unterstützung

meiner Familie nicht zustande gekommen.

Ihr habt nie an mir gezweifelt

und nie aufgegeben, auch wenn ich

es schon getan hatte.

Inhalt

Vorab

Leben

Hände

Fernsehen

Anders

Schmetterling

Ein neues Zuhause

Lizenz zum Gehen

Annabel

Leicht wie eine Feder

Leicht wie eine Feder II

Das Mädchen, das schweigt

Annabel II

Der Traum

Die gefangene Stimme

Drei Frauen

Big Mac

IQ

Freunde kommen und gehen

Der Segen

Erste Liebe

Erste Male

Cappuccinomädchen

Es war einmal ein Elefant

Ganz weit weg

Blackout

Freunde kommen und gehen II

Das Abenteuer kann beginnen

Stürmische Tage

Große, gute Geister

Das Mädchen, das schweigt II

Lizenz zum Glücklichsein

Vorab

Als Kind dachte ich, dass alle Menschen behindert geboren werden und mit achtzehn die Lizenz zum Gehen erhalten.

Doch wenige Monate, nachdem meine Schwester zur Welt gekommen war, brach für mich eine zusammen. Ich musste zusehen, wie sie krabbelte. Wie sie lief. Und ich musste einsehen, dass ich mich geirrt hatte. Die Lizenz zum Gehen existierte nur in meiner Fantasie.

Ich war so wütend, dass ich aufhörte zu sprechen. Ich würde so lange schweigen, bis mir jemand erklärte, was das alles sollte. Warum konnte meine Schwester gehen – und ich, die Ältere, konnte nicht mal alleine aufstehen?

Das Schweigen machte mich einsam. Die Einsamkeit machte mich traurig. Ich wäre gerne von zuhause weggelaufen, doch ich kam ja nicht mal ohne Hilfe aus dem Bett. Also erfand ich eine Traumwelt zu meiner Wirklichkeit.

In diesem Buch erzähle ich meine Geschichte. Ich nehme den Leser mit in meine beiden Welten; in die, in der ich das Mädchen mit Behinderung bin, aber auch in die andere, in der ich mich frei bewegen, ja sogar fliegen kann.

Lange hatte ich das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Lehrer und Außenstehende hatten mich das immer wieder glauben lassen. Ich dachte, an ein bestimmtes Schicksal gefesselt zu sein, aus dem es keinen Ausweg gibt. Doch es gab sehr wohl einen.

Heute bin ich vierundzwanzig Jahre alt und schreibe diese Zeilen in meinem Zimmer in Tel Aviv, wo ich Sozialwissenschaften studiere. Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als hier zu sitzen und endlich sagen zu können, dass ich mein Leben voll und ganz auskoste.

Hätte ich nicht so viele Hürden überwinden müssen, gäbe es heute dieses Buch nicht. Ich habe meine Geschichte aufgeschrieben, um zu verhindern, dass es anderen so geht wie mir. Denn jeder hat eine Stärke, auch wenn man sie nicht mit bloßem Auge sieht.

Tel Aviv, im Frühjahr 2020

Leben

Ich versuchte mich umzudrehen, doch ich hatte keine Kraft mehr. Ich war zu schwach. Seit Tagen hatte ich nichts mehr gegessen. Ich musste hier raus, ganz egal wie, war mir sicher, dass ich es keine Sekunde länger hier drinnen aushalten würde. Es war unglaublich heiß, wie in einem Backofen. Ich bekam keine Luft. Es war dunkel und eng. Ich konnte mich kaum noch bewegen.

»Mama, hol mich hier raus«, flehte ich. Aber sie reagierte nicht. Sie stand am Herd und war gerade dabei, getrocknete Bohnen in einen Topf zu schütten. Als das Wasser kochte, goss sie es in die Spüle und füllte frisches nach, »um Blähungen zu vermeiden«, wie sie immer sagte. Dann gab sie das Fleisch mitsamt den Knochen hinzu, außerdem einen halben Kohl, den Saft einer halben Zitrone, drei Knoblauchzehen, einen Teelöffel Salz, drei Lorbeerblätter und eine Prise Pfeffer. Die geheime Zutat aber war Zeit; dreieinhalb Stunden, in denen der Eintopf langsam vor sich hin köchelte. Dabei verströmte er einen köstlichen Geruch, der mich nur noch hungriger machte und mich an die gähnende Leere in meinem Magen erinnerte.

»Mama, bitte!«, versuchte ich es ein zweites Mal. »Ich habe Hunger, ich bin müde, ich kriege keine Luft. Ich kann mich nicht bewegen. MAMA, ICHERSTICKE!«

Doch sie bekam meine Hilferufe gar nicht mit. Während der Bohneneintopf auf dem Herd blubberte, dachte sie an ihre Kindheit, als ihre eigene Mutter genau wie sie in der Küche gestanden und das gleiche Gericht zubereitet hatte. Sie dachte an den lauen Wind São Paulos, an die Sonne, die warm durch das offene Fenster hereinschien.

Dann setzte sie sich auf das Sofa im Wohnzimmer und wartete. Im Flur tickte die Uhr, laut und fordernd. In ungefähr einer Stunde würde Papa von der Arbeit nach Hause kommen. Mama war im achten Monat schwanger und konnte zurzeit nicht arbeiten. Selbst die allerkleinste Bewegung kostete sie Unmengen von Kraft. Sie war sehr schlank, wodurch ihr runder Bauch geradezu lächerlich groß aussah. Beim Gehen musste sie sich zurücklehnen, um nicht vornüberzukippen. Die schwere Kugel zog sie wortwörtlich runter. Sie legte die Hand darauf.

»Endlich! Sie hat mich gehört!«, dachte ich und schmiegte meinen Kopf hoffnungsvoll in die Wölbung.

»Seltsam«, murmelte Mama, »das Baby bewegt sich in letzter Zeit immer weniger.«

Natürlich war sie regelmäßig beim Arzt gewesen, doch der hatte ihr jedes Mal versichert, dass alles in bester Ordnung sei. Auch mein Vater behauptete, sie mache sich viel zu viele Sorgen.

»Es ist ganz normal, dass sich Babys nicht so viel bewegen, wie wir das gerne hätten«, wiederholte er ständig. Um sie zu beruhigen, sang er ihr immer wieder dasselbe Lied vor: »Don’t worry, be happy!«

Es klang ja ganz schön, aber langsam ging er mir damit echt auf die Nerven.

»Nein, Mama! Das ist überhaupt nicht normal! Du machst dir zu Recht Sorgen!« Ich gab nicht auf. »Hör nicht auf die anderen, nicht mal auf Papa! Hör auf dein Gefühl. Hör auf mich! FAHRENDLICHINSKRANKENHAUSUNDHOLMICHHIERRAUS! SOFORT!«

Als Papa nach Hause kam, war er bester Laune: »Freust du dich schon auf deine Party?«

»Glaubst du wirklich, dass die Feier unter diesen Umständen eine gute Idee ist?« Mama klang leicht verärgert.

»Unter welchen Umständen denn?«

»Ich kann doch nicht einfach meinen Dreißigsten feiern und so tun, als wenn nichts wäre, obwohl sich das Baby seit Tagen kaum bewegt hat!«

In nur drei Tagen war ein großes Fest geplant, zu dem sie all ihre Freunde eingeladen hatten. Für Papa stand fest, dass sie die Party unmöglich so kurzfristig absagen konnten. Das hätte mehr Aufwand bedeutet, als sie einfach durchzuziehen. Er versuchte, Mama zu beruhigen.

»Paula, dem Baby geht es gut. Wie oft muss ich dir noch sagen, dass das ganz normal ist? Wie oft muss der Arzt betonen, dass alles in Ordnung ist?«

Auch Ärzte liegen manchmal daneben, dachte ich.

»Du musst doch irgendwem vertrauen!«

»Genau, Mama!«, schrie ich. »Vertrau deinem Bauchgefühl!«

»Denk dran, was der Arzt gesagt hat«, fuhr Papa fort. »Wenn sie sich nicht bewegt, bleib ganz ruhig und iss ein wenig Schokolade.«

Er reichte ihr ein Stück.

Schokolade!, dachte ich, ich will keine Schokolade, ich will hier raus!

Ich nahm all meine Kraft zusammen und schaffte es, Mama einen schwachen Tritt in den Bauch zu verpassen. Auch wenn ich mir dabei fast den Zeh gebrochen hätte.

»LASSMICHHIERRAUS!«

Papa legte die Hand auf Mamas Bauch. »Siehst du? Sie bewegt sich. Kein Grund zur Sorge.«

Die Nacht darauf war kaum zu ertragen. Jede Bewegung war mühsamer als die davor. Trotzdem versuchte ich alles, um Mamas Aufmerksamkeit zu bekommen. Doch es führte zu nichts. Sie schlief, während ich um Hilfe schrie. Mit jeder Minute lockerte sich der Griff, mit dem ich mich ans Leben klammerte. Ich war kurz davor aufzugeben.

Papa ging früh zur Arbeit, und Mama bekam Besuch von ihrer Freundin Michal, die angeboten hatte, bei den Vorbereitungen für die Party zu helfen. Die beiden kannten sich noch aus der Zeit, als sie zusammen im Kibbuz gearbeitet hatten.

»Wie geht es dir eigentlich, Paula?«, fragte Michal, als sie eine Kaffeepause auf der Veranda einlegten. Mama seufzte.

»Ehrlich gesagt, nicht so gut. Ich weiß, dass ich eigentlich glücklich sein und mich auf mein Baby freuen sollte, aber ich hab viel zu viel Angst.«

»Wovor hast du denn Angst?«

Mama erzählte ihr, was los war.

»An deiner Stelle würde ich gleich ins Krankenhaus fahren. Egal, was die anderen sagen. Ich komme auch mit.«

Mama zögerte, war im Grunde aber froh über das Angebot. Doch zuerst wollte sie mit Papa sprechen.

Mein Vater war Journalist und mit seinem Kamerateam im Zentrum von Tel Aviv unterwegs, wo sie nach einem Selbstmordattentat Aufnahmen von den Überresten einer Bushaltestelle machten. Noch am selben Abend würden die Bilder auf der ganzen Welt in den Nachrichten zu sehen sein. Sein neues Diensthandy klingelte in dem Moment, als er am Schauplatz der Katastrophe eintraf. Er benutzte es ungern für private Anrufe und war nicht gerade begeistert, als er die Nummer auf dem Display sah. Er nahm sofort ab.

»Paula, bitte nicht jetzt.«

»Ich fahr ins Krankenhaus. Ich muss einfach wissen, was los ist.«

»Was? Ich versteh dich ganz schlecht. Ist irgendwas passiert?«

»Ich will ins Krankenhaus fahren und mich untersuchen lassen.«

Doch mein Vater war immer noch fest davon überzeugt, dass es mir gut ging und Mamas Ängste unbegründet waren. Außerdem sorgte er sich wegen der Terroranschläge, die es in letzter Zeit in Tel Aviv gegeben hatte, und wollte sie lieber selbst ins Krankenhaus fahren. Wir mussten uns gedulden.

Drei endlos lange Stunden vergingen, bevor ich Papa an der Tür hörte. Ich bekam fast keine Luft mehr, aber ich gab nicht auf und feuerte meine Eltern in Gedanken an. Schneller. Wir haben nicht mehr viel Zeit.

»Vielleicht sollte ich was zum Wechseln mitnehmen, falls ich heute entbinden muss.«

»Entbinden? Du hast doch noch einen ganzen Monat!«

»Nein, hat sie nicht!«, schrie ich so laut, wie ich nur konnte.

Sie packte ein paar Klamotten ein und musste auch noch ins Bad, dann waren wir endlich auf dem Weg ins Krankenhaus. Im Kriechtempo bewegten wir uns durch die Straßen von Tel Aviv, und ich hörte die Autos quäkend miteinander schimpfen.

Als wir ankamen, war später Nachmittag, und Mamas Arzt war schon nach Hause gegangen. Die Nachtschicht hatte gerade angefangen, und im Wartezimmer saßen etliche schwangere Frauen, die lautstark danach verlangten, als Nächste drangenommen zu werden. Es war so voll, dass Mama stehen musste. Ich hörte, wie die anderen Babys auf ihre Mütter einredeten. Sie alle wollten raus, doch keines von ihnen hatte so wenig Zeit wie ich.

»Worauf wartest du, Mama? Ich ersticke! Bitte, Mama …« Ich konnte nicht mehr klar denken. Ich bewegte mich überhaupt nicht mehr. Ich war unendlich müde. Gerade wollte ich in einen tiefen Schlaf fallen, als ich eine unbekannte Stimme hörte.

»Also, Frau Targownik, was fehlt Ihnen?«

Der Arzt hatte den Satz kaum zu Ende gesprochen, als Mama ihm auch schon ins Wort fiel und erzählte, was los war. Er wirkte überhaupt nicht überrascht. Das sei typisch für junge Frauen, die zum ersten Mal Mutter werden. Sie machten viel Aufheben um nichts. Er schickte uns nach oben, um meine Herztöne abhören zu lassen. Danach sollten meine Eltern mit dem Diagramm wieder nach unten kommen.

Es war so viel los, dass sich vor dem Aufzug eine Traube von Menschen gebildet hatte. Weil meine Mutter keine Geduld mehr hatte und dabei wohl vergaß, dass sie hochschwanger war, nahm sie kurzerhand die Treppe. Bei jeder Stufe stießen ihre Beine gegen ihren Bauch, sodass ich mal auf die eine und mal auf die andere Seite geschubst wurde. Nicht gerade hilfreich, wenn man damit beschäftigt ist, am Leben zu bleiben. Als sie es endlich bis nach oben geschafft hatte, wurde Mama an eine Maschine angeschlossen. Ich hörte mein eigenes Herz laut schlagen. Es war ein komisches Gefühl.

»Irgendwas stimmt da nicht«, sagte die Krankenschwester. »Ich glaube, Sie gehen besser noch mal zum Doktor zurück.«

Zuerst dachte Mama, das Gerät sei kaputt.

»Warum soll ich denn wieder zum Doktor? Es muss doch ein anderes geben, das funktioniert.«

Doch als der Arzt sie wieder hereinrief und das Diagramm betrachtete, sagte auch er meinen Eltern, dass man die Herztöne noch mal messen müsse. Nun begann auch Papa, sich Sorgen zu machen.

»Vielleicht ist doch nicht das Gerät das Problem.«

Diesmal nahmen sie den Aufzug. Die ganze Prozedur begann von vorn. Der Arzt hielt die beiden Diagramme nebeneinander.

»Notkaiserschnitt! Sofort!«

Wer bin ich?

Ich bin!

Aber noch nicht auf der Welt.

Ich will hier raus.

Ich will atmen.

Ich brauche Sauerstoff.

Ich brauche Nahrung.

Ich versuche mich umzudrehen.

Aber ich schaffe es nicht!

Ich will leben.

Ich will Eltern, die mich lieben.

Ich brauche Eltern, die mich beschützen.

Ich will meinen Vater sehen.

Ich will meine Mutter sehen.

Ich will, dass sie mich hört.

Warum antwortet sie denn nicht?

Mama, ich will nicht sterben!

Hände

Mama lag auf dem Rücken. Ihr Herz schlug immer langsamer, als wäre sie kurz davor einzuschlafen.

»Nein, Mama, du darfst jetzt nicht schlafen!« Ich bekam es mit der Angst zu tun. »Du musst mich hier rausholen! Wie kannst du mir das nur antun?«

Von einer Sekunde auf die andere fiel sie in einen tiefen, festen Schlaf, wie ich es noch nie erlebt hatte. Meine Panik wurde immer größer. Hatte sie mich im Stich gelassen? Starb sie etwa?

Grelles Licht blendete mich, und ich kniff die Augen zusammen.

Wenn Mama jetzt stirbt, dann sterbe ich auch.

Da packten mich zwei große Hände und zogen mich in Richtung des Lichts.

»Mama?«

Hier draußen war es sehr kalt. Ein anderes Paar Hände fasste mich an den Füßen, sodass ich kopfüber in der Luft baumelte. Das war alles andere als bequem. Da tauchte eine weitere Hand auf, steckte mir einen Schlauch in die Nase und zog ihn wieder heraus. Dies war schon ein sonderbarer Ort. Er wurde von lauter Händen bewohnt. Ich wusste, dass sie Menschen gehören mussten, doch ich konnte sie kaum erkennen. Das Licht war zu hell, und da waren so viele Geräusche. Geräusche, an die ich nicht gewöhnt war. Dann kam eine Hand auf die Idee, mir einen Klaps auf den Po zu geben. Ich begann zu weinen und zuckte zusammen, als ein lauter Schrei aus meiner Kehle drang.

»Mama! Wo bist du?«

Sie antwortete mir immer noch nicht, doch ich konnte sie im Bett liegen sehen. Eine Maske bedeckte ihr Gesicht, und ihre Augen waren geschlossen, als wäre sie tot. War das normal? War sie wirklich tot? Mein Blick wanderte zu der Nadel in ihrem Arm, die mit einer verkehrt herum aufgehängten Wasserflasche verbunden war. Eine Klammer an ihrem Finger führte zu einer Maschine, die eigenartige Piepstöne von sich gab und lauter Zickzacklinien malte. Schlief sie vielleicht bloß? Ich wünschte, sie würde aufwachen, doch bevor ich irgendetwas tun konnte, wurde ich in ein warmes Tuch gewickelt und weggetragen.

Sie steckten mich in einen Glaskasten. Darin waren Hunderte von Schläuchen und Drähten und so viele Kissen und Decken, dass ich fast darin versank. Der Kasten stand auf einem Tisch mit Rollen.

Ich wurde in ein Zimmer geschoben, das einen langen, komplizierten Namen hatte. Die Buchstaben reihten sich aneinander wie die unzähligen Wassertropfen, die durch einen meiner Schläuche flossen: Neugeborenen-Intensivstation. Hier waren lauter Babys in Glaskästen, die genau wie ich nicht ganz wie geplant oder zu früh auf die Welt gekommen waren. Dabei war es doch eigentlich genau umgekehrt: Noch ein bisschen länger, und es wäre zu spät gewesen.

Große, in Blau gekleidete Gestalten ließen uns nicht aus den Augen. Sie wuselten durcheinander und schoben Kästen hinein und hinaus.

»He, du! Wo bringen sie dich hin?«, fragte ich.

»Zu meinen Eltern natürlich«, antwortete das Baby. Na klar! Ich wusste doch, dass irgendetwas fehlte. Wo waren meine Eltern? Mama lag nebenan, so viel wusste ich schon mal. Ich sehnte mich danach, sie wiederzusehen.

Da hörte ich eine vertraute Stimme: »Entschuldigung, kann mir jemand sagen, wo meine Frau ist?«

Das war doch … Papa! Doch er klang ganz anders als vorher. Seine Stimme war nicht so ruhig und warm wie sonst. Sie war voller Fragezeichen, als wäre er wütend und ängstlich zugleich.

»Ich habe seit einer Stunde nichts mehr von meiner Frau gehört! Ich muss wissen, wie es ihr geht!«

Doch je mehr er es versuchte, desto weniger schienen die Menschen auf ihn zu achten. Die Station war überfüllt.

»Papa, hier bin ich!«

Er musterte jedes einzelne Baby und versuchte, mich unter ihnen zu entdecken.

»Hier!«

Doch wir waren in unseren Tüchern und unter den Schläuchen und Kabeln kaum zu erkennen, sodass wir für ihn wahrscheinlich alle gleich aussahen. Als er mich nicht finden konnte, wurde er nur noch nervöser.

»Ich will jetzt sofort wissen, wo meine Frau ist! Sie hatte einen Notkaiserschnitt. WOISTMEINEFRAU? Versuchen Sie, etwas vor mir zu verheimlichen? Und wo ist meine Tochter?«

»Hier, Papa! Ich bin hier!«

Er war kurz davor, die Beherrschung zu verlieren. Da packte ihn ein schielender Pfleger am Arm.

»Verlassen Sie bitte den Raum.«

Meine Mutter war in der Zwischenzeit in einen anderen Raum verlegt worden, in dem noch weitere Frauen aus der Narkose erwachten. Wenig später wurde auch ich aus der Intensivstation in das Zimmer gebracht, das bereits aus allen Nähten platzte.

Als Mama die Augen öffnete, war ich froh, dass sie zumindest nicht ganz tot war. Aber sehr lebendig wirkte sie auch nicht gerade.

»Ich glaube, ich muss mich übergeben …«

»Einen Moment, Frau Targownik, ich hole schnell eine Schale … Ich bin sofort bei Ihnen.«

»Hier ist die Kleine!«, sagte die Kinderkrankenschwester und rollte meinen Kasten so nah wie möglich an Mamas Bett heran. Doch die andere Schwester beschwerte sich darüber, dass er im Weg stand, und schob ihn wieder beiseite. In dem Moment betrat ein von oben bis unten in Blau gekleideter Mann das Zimmer. Er sah mich aus braunen Augen an, und obwohl der Mundschutz die untere Hälfte seines Gesichts verdeckte, war ich mir sicher, dass er lächelte. »Willkommen auf der Welt, Amili!«

Als ich seine Stimme hörte, wusste ich: Es war mein wunderbarer Papa, der sich mittlerweile beruhigt hatte und in den Aufwachraum gelassen worden war. Hallo, Papa, dachte ich und hoffte, dass er mich hören konnte.

»Schau mal, Paula, Amili ist hier! Ist das nicht das schönste Geburtstagsgeschenk, das man sich wünschen kann?«

Aber Mama bekam überhaupt nichts mit. Als ich den Kopf zur Seite wandte, konnte ich sie im Bett liegen sehen. Ihre Augen waren geschlossen, und sie war immer noch blass. Doch mit ihren dunkelbraunen Locken und dem schmalen Gesicht sah sie wunderschön aus. Heute war der 18. Oktober 1995, und in ein paar Tagen würde sie dreißig Jahre alt sein. Ich wünschte, sie würde mich ansehen, doch sie tat es nicht.

Dann wurde mir klar, dass es ganz egal war, wann sie ihre Augen öffnete. Ich war glücklich, weil ich wusste, dass ich zu diesen beiden Menschen gehörte. Ich konnte es kaum erwarten, endlich mit ihnen nach Hause zu gehen. Nur Mama, Papa und ich. Drei Teile eines Ganzen.

Fernsehen

Als ich zwei Kilo wog, durfte ich nach Hause. Mehr als zwei Wochen hatte ich nun in Gesellschaft all dieser seltsamen Menschen verbracht, während Mama zu Hause sein musste, weil im Krankenhaus der Platz nicht reichte. Sie waren alle nett zu mir, benahmen sich aber doch sehr sonderbar, zum Beispiel, als sie einen Fernseher in die Intensivstation rollten, der sogar die schreienden Babys übertönte! Je mehr wir weinten, desto höher stellten sie die Lautstärke. Eigentlich hatte ich nichts gegen den schwarzen Kasten. Aber ich war doch sehr erleichtert, als endlich Mama auftauchte. Auf einmal wurde mir klar, wie sehr ich sie vermisst hatte! Ganz langsam und vorsichtig kam sie auf mich zu und verkündete mir, dass wir heute nach Hause gehen würden.

Guten Abend. Erlauben Sie mir zu sagen, dass auch ich sehr bewegt bin. Ich möchte jedem Einzelnen danken, der heute hierhergekommen ist, um für Frieden zu demonstrieren und gegen Gewalt. Diese Regierung … hat sich entschieden, dem Frieden eine Chance zu geben.

Während Mama mit dem Arzt sprach, wurde ich das Gefühl nicht los, dass an diesem Tag etwas sehr Bedeutsames passierte. Die Schwestern waren voll und ganz auf den Fernseher fixiert.

Einem Frieden, der die meisten Probleme Israels lösen wird. Ich war siebenundzwanzig Jahre lang ein Mann des Militärs; ich habe Kriege geführt, solange es keine Chance auf den Frieden gab. Heute glaube ich fest daran, dass es diese Chance für Frieden gibt … Ich bedanke mich beim Präsidenten von Ägypten, dem König von Jordanien und dem König von Marokko … Ohne Partner für den Frieden kann es keinen Frieden geben.

Ich hatte zwar keine Ahnung, was Yitzhak Rabin eigentlich sagen wollte, doch seine Worte klangen ernster und feierlicher als alles, was ich in den ersten zwei Wochen meines Lebens gehört hatte. Die Schwestern und Ärzte auf der Intensivstation waren offenbar sehr bewegt von Yitzhak Rabins Rede. Noch mehr Menschen betraten die Bühne, und zusammen mit ihnen sang er das »Lied für den Frieden«. Er traf keinen einzigen Ton. Ein paar der Schwestern hatten Tränen in den Augen, was bei dem schlechten Gesang wirklich kein Wunder war. Ich aber war sehr glücklich! Nach einem holprigen Start schien mein Schicksal eine Wende genommen zu haben. Im Gegensatz zu Yitzhak Rabin konnte Papa sehr gut singen, und für mich ging es endlich nach Hause.

Weil Mama nach der OP nicht Auto fahren durfte, nahmen wir ein Taxi. Die Luft hier draußen war angenehm, etwas wärmer als im Krankenhaus, und vor allem konnte ich sie ohne Mühe ein- und ausatmen. Als Mama ein Taxi erwischt hatte, warnte sie der Fahrer, dass in der Innenstadt wegen der Friedensdemonstrationen kein Durchkommen sei.

Die Welt war voller Menschen. Bunte Menschen, die Fahnen schwenkten und ausgelassen waren, und dunkelgrüne Menschen, die viel ernster dreinblickten. Sie passten gar nicht alle auf die Gehsteige und spazierten deshalb mitten auf der Straße. Nach fünfzehn Minuten musste unser Taxi anhalten.

Wir stiegen aus dem Auto, und Mama sah sich ratlos um. Sie entdeckte eine Telefonzelle, doch dann wurde ihr klar, dass sie überhaupt kein Kleingeld dabeihatte. Als sie einen Mann um Hilfe fragte, drückte er ihr sofort ein paar Münzen in die Hand und wehrte ab, als Mama sie ihm in Scheinen zurückzahlen wollte.

»Ein Geschenk für Sie und Ihr Baby!«, sagte er. »Wie alt ist er?«

»Zwei Wochen. Und es ist eine Sie!«

»Was für eine wunderbare Zeit, um auf die Welt zu kommen! Glückwunsch!« Er lief mit wehender Fahne davon, während Mama versuchte, Papa zu erreichen.

Doch Papa ging nicht ans Telefon.

»Er ist bestimmt irgendwo da in der Menge.«

Sie hielt nach ihm Ausschau, obwohl sie wusste, dass sie ihn unter so vielen Leuten niemals entdecken würde. Dann setzte sie sich sehr langsam in Bewegung, ihre Tasche auf dem einen und mich auf dem anderen Arm, in die entgegengesetzte Richtung des Menschenzugs. Immer wieder blieb sie stehen, um Luft zu holen. Jedes Mal flüsterte sie mir zu, dass wir bald zu Hause seien.

Obwohl es sehr laut war und um mich herum so viel passierte, war ich kurz davor einzuschlafen. Doch gerade als mir die Augen zufallen wollten, hörte ich ein lautes Brummen. Mehrere Autos kamen angefahren und versuchten, sich ihren Weg durch die Menge zu bahnen. Dann setzte ein unheimliches Heulen ein, das abwechselnd hoch und wieder tief wurde. Ich fing an zu weinen, und Mama machte keine Pausen mehr. Sie lief so schnell sie konnte, bis wir endlich zu Hause waren.

Mama wiegte mich in ihren Armen, um mich zu beruhigen, und legte mich dann ins Bett. Sie rief Papa auf dem Handy an, um ihm die guten Nachrichten zu überbringen.

»Hallo, Dani, wir sind gerade zu Hause angekommen! Ihr geht es gut!«

»Alleine? Bitte geh auf keinen Fall nach draußen! Etwas Furchtbares ist passiert«, antwortete er. »Es tut mir leid, aber ich kann gerade nicht nach Hause kommen. Mach den Fernseher an … «

Er war sehr angespannt. Als Mama den Fernseher einschaltete, erfuhr sie, dass Yitzhak Rabin, der Mann, der vorhin noch so ernst und feierlich zu den Leuten gesprochen hatte, vor nur ein paar Minuten erschossen worden war.

Sie war entsetzt. Draußen und im Fernsehen erklang wieder das durchdringende Jaulen von vorhin. Mama war so besorgt um mich, dass sie mich hochhob und an sich drückte, bis ich fast keine Luft bekam. Ich spürte ihre Angst, als wäre es meine eigene, auch wenn ich sie mir nicht erklären konnte. Der Mann aus dem Fernseher, der Mann mit den großen Worten, war tot. Erschossen.

Es war der 4. November 1995. Die »wunderbare Zeit, auf die Welt zu kommen« erschien meiner Mutter auf einmal nicht mehr ganz so wunderbar.

Anders

Nach dem Mord an Yitzhak Rabin trauerte ganz Israel. Später stellte sich heraus, dass der Attentäter ein jüdischer Student war, der den Friedensprozess ablehnte. Das machte es nur noch schlimmer. Niemand wollte wahrhaben, dass ein Jude den Premierminister getötet haben sollte. Doch obwohl die politische Lage angespannt war, konnten meine Eltern und ich uns nicht beschweren. Wir waren eine glückliche Familie, und mir fehlte es an nichts: Ich hatte eine Mama, einen Papa, ein Dach über dem Kopf, ein gemütliches Bett, genügend zu essen, und obendrein wurde ich überall hingetragen.

Seit fast zehn Monaten war ich nun schon nicht mehr im Krankenhaus. Meine Tage verbrachte ich auf einer weichen Decke auf dem Fußboden. Über meinem Kopf hatte Mama einen Bogen aufgestellt, an dem sonderbare Dinge baumelten: ein Stern, ein Ring, eine kleine Glocke, ein Würfel und ein Spiegel. Ich hätte gerne gewusst, was es mit diesen Gegenständen auf sich hatte, aber das blieb mir ein Rätsel. Doch ich bemerkte sehr wohl, dass Mama jedes Mal lächelte, wenn ich versuchte, einen davon zu fassen zu bekommen. Dabei war das völlig aussichtslos. Sie hingen viel zu weit oben. Aber ich sah Mama gerne lächeln, und wann immer sie in meine Richtung sah, streckte ich die Arme aus, so weit wie ich konnte. Den Rest der Zeit aß ich warmen Brei, sabberte, pinkelte und kackte. Außerdem schlief ich viel. Ich war rundum zufrieden.

Doch nach einer Weile lächelte Mama immer seltener, wenn ich vergeblich nach dem Stern zu greifen versuchte. Langweilte ich sie etwa? Auch wenn Papa von der Arbeit nach Hause kam und mir beim Spielen zusah, wirkte er eher verärgert. Ich musste dringend einen neuen Trick lernen!

An einem dieser Tage luden meine Eltern ihre Freunde Sigal und Avi zum Essen ein. Ihre Tochter Yael war nur etwa eine Woche nach mir auf die Welt gekommen. Den Erwachsenen musste ohne uns Babys sehr langweilig sein, denn sie redeten über nichts anderes. Ständig verglichen sie, was wir schon konnten oder noch nicht konnten. Yael und ich wurden auf den Fußboden gelegt, und ich fragte sie, wie sie es fand, nicht mehr im Bauch ihrer Mutter zu sein.

»Total gut! Aber manchmal vermisse ich es schon. Und du?«

»Super! Hier draußen geht es mir viel besser. Hier habe ich alles, was ich da drinnen nicht hatte, Luft und Essen zum Beispiel!«

Ich wollte wissen, ob auch sie manchmal versuchte, ihre Eltern zum Lächeln zu bringen, indem sie nach Sachen griff, die sie nie im Leben erreichen konnte.

Yael sah verwirrt aus. »Was für eine komische Idee … Darüber hab ich noch nie nachgedacht. Aber weißt du, was ich hier draußen hab, was es dort drinnen nicht gab? Platz!«

Ich verstand nicht, was sie damit meinte.

»Hier kann ich mich viel freier bewegen. Und wenn mir nach einer besseren Aussicht ist, setze ich mich einfach hin!«

Sie stützte sich auf beide Hände ab, zog die Beine an, und schon saß sie aufrecht. Ich war fasziniert. Diesen Trick musste ich unbedingt ausprobieren. Aber wie machte sie das nur? Wie schaffte sie es, das Gleichgewicht zu halten und sich gleichzeitig so schnell zu bewegen?

»Komm schon, versuch’s mal. Es ist ganz leicht und macht richtig Spaß«, ermunterte mich Yael.

Ich versuchte die Arme auszustrecken und mich aufzurichten. Der linke Arm gehorchte sofort, und ich konnte mich mit gespreizten Fingern auf dem Boden abstützen, sodass die ganze Hand flach auflag. Doch der rechte Arm sträubte sich. Es fühlte sich an, als wüsste er nicht, wo er die Kraft dafür hernehmen sollte, weil die sich an der ganz falschen Stelle meines Körpers befand. Als hätte er seinen eigenen Kopf und gehörte gar nicht zu mir. Wann immer ich etwas von ihm wollte, machte er das genaue Gegenteil. Wenn ich versuchte, die rechte Hand zu öffnen, schloss sie sich nur noch mehr. Sie verkrampfte sich so fest zur Faust, dass sich die Fingernägel in meine Handflächen bohrten. Ich wollte sie entspannen, aber das machte es nur noch schlimmer. Also gab ich auf und konzentrierte mich stattdessen wieder auf den Arm. Ich konnte ihn zwar strecken, doch es war unmöglich, mich darauf abzustützen. Er zeigte immer nur in eine Richtung, weg von meinem Körper. Meine Hand war immer noch zur Faust geballt und das Handgelenk nach innen verdreht. Langsam fing sie an wehzutun. Als ich den Arm beugen wollte, gab mein Ellbogen einfach nicht nach. Er war vollkommen steif. Frustriert wandte ich mich meinen Beinen zu. Doch selbst, als ich Arm und Hand keine Aufmerksamkeit mehr schenkte, machten sie keine Anstalten, sich in irgendeiner Weise zu entspannen. Wie sollte ich denn meinen Körper benutzen, wenn er nicht machte, was ich wollte?

Yael war völlig verdutzt. »Was ist denn los? Das ist doch nicht so schwer! Mach einfach die Hände auf und stemm dich hoch!«

Ich aber beschloss, meine Hand ihren Launen zu überlassen und meinen Beinen eine zweite Chance zu geben. Das rechte Knie konnte ich beugen, doch gerade als ich das Gleiche mit dem linken versuchte, passierte etwas äußerst Eigenartiges. Mein Kopf, der bisher nach links geschaut hatte, drehte sich plötzlich ohne Grund nach rechts, während ich noch mit dem Knie beschäftigt war. Gleichzeitig streckte sich mein rechtes Bein ganz von selbst wieder aus. Ich versuchte es noch ein paar Mal, doch als es einfach nicht klappen wollte, gab ich auf.

Yael sah mich aus großen Augen an. »Komm schon, zieh dich einfach hoch!«

Langsam fing sie an zu nerven.

Unsere Eltern plauderten in der Zwischenzeit fröhlich weiter. Immer wieder warfen sie uns kurze Blicke zu, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war. Natürlich verstanden sie kein Wort von unserem Gebrabbel. Sie ahnten ja nicht mal, dass wir überhaupt eine Unterhaltung führten.

»Sigal«, setzte Mama an, »seit wann kann Yael sich denn hinsetzen? Das habe ich noch nie gesehen.«

»Seit einer Woche! Wir sind so stolz auf sie. Ist das nicht toll?«

»Natürlich, es ist wunderbar!«

Mama lächelte. Dann sah sie mich an. Ich schaute zurück. Es war wie damals, als ich noch in ihrem Bauch war. Noch immer bestand diese Verbindung zwischen uns. Als sich unsere Blicke trafen, konnte ich hören, was sie dachte.

»Komm schon, du schaffst das! Yael ist eine Woche jünger als du … Du kannst das auch.«

Äußerlich wirkte sie glücklich, doch ich wusste, dass sie tief drinnen unglücklich war. Sie war traurig, weil ich keine Fortschritte machte, während sich die anderen Babys immer weiterentwickelten. Warum setzte ich mich bloß nicht hin? Manchmal versuchte sie, mir dabei zu helfen, aber wenn sie losließ, plumpste ich jedes Mal wieder zu Boden.

Papa musste in dieser Zeit sehr viel arbeiten und kam erst spätabends nach Hause, sodass Mama mit ihren Gedanken alleine war. Sie verbrachte ganze Tage damit, mich zu beobachten und zu grübeln.

Seit dem Attentat auf Rabin schien sich plötzlich die ganze Welt für die großen Veränderungen im kleinen Israel zu interessieren, und weil immer wieder etwas Neues passierte, verließen sich die Menschen ganz auf ihren Fernseher. Sobald eine Zeitung gedruckt worden war, waren die Nachrichten darin schon überholt. Die Wissbegierde der Zuschauer war so groß, dass Papa das Studio kaum verließ.

Mama aber interessierte sich nicht dafür, was in der Welt da draußen los war. Sie schaltete den Fernseher aus und zog den Stecker.

Eines Abends kam Papa nach Hause, und sie erzählte ihm, dass sie beim Spazierengehen anderen Müttern begegnet war. »Als ich mich auf die Bank gesetzt habe, hat mich eine von ihnen angesprochen. Sie hat aufgezählt, was ihr Sohn schon alles kann, und mich gefragt, ob Amili auch schon so weit ist. Ich habe bloß den Kopf geschüttelt, und als sie mich gefragt hat, warum, habe ich gesagt …«

Mama war den Tränen nahe.

»Was hast du ihr gesagt?« Papa sah besorgt aus.

»Ich habe bloß gesagt: Amili ist eben ein bisschen langsam.«

Dann fing sie an zu weinen. Papa umarmte sie.

»Ich will mich nicht mehr mit unseren Freunden treffen. Ich will allein sein!«

»Okay.«

»Allein mit euch beiden. Ich brauche dich bei mir.« Sie sah meinen Vater an.

»Willst du hier weg?«, fragte er. Sie nickte nur.

Es ist nicht schwer, in Israel allein zu sein. Wofür sonst gibt es die Wüste?