Hätte Hemingway doch bloß Fußball gespielt - Bernd Huck - E-Book

Hätte Hemingway doch bloß Fußball gespielt E-Book

Bernd Huck

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Beschreibung

Fußball ist das große Theater unserer Zeit. Ein Kosmos aus Träumen und Albträumen, aus Heldenlegenden und menschlichen Abgründen.

 Geschichten von Feelgood bis Drama. Nicht nur für Fußballfans!
 
Was geschieht jenseits der 90 Minuten? Was bewegt die Menschen, die dieses Spiel zu dem machen, was es ist? Und warum hat sich Hemingway nicht dafür interessiert?

Diese Sammlung von Fußballstories erkundet die verborgenen Räume des Fußballs – die Orte, wo sich Mythos und Realität vermischen, wo Leidenschaft in Obsession umschlägt und wo die wahren Geschichten warten. 

Eine Welt, in der menschliche Größe und menschliches Versagen nur einen Elfmeter oder ein Foul voneinander entfernt liegen.




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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Bernd Huck

Hätte Hemingway doch bloß Fußball gespielt

Hätte Hemingway doch bloß Fußball gespielt

Geschichten aus der wundervollen Welt des Fußballs

von

Bernd Huck

Texte: © 2025 by Bernd HuckUmschlaggestaltung: © 2025 by BK MarketingBernd Huckc/o Becker & Huck GmbHAntonio-Segni-Str. 444263 DortmundHerstellung: epubli – ein Service der epubli GmbHKöpenicker Straße 154a10997 BerlinKontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:[email protected]

Inhaltsverzeichnis:

 

 

Koma

Finaler Wille – 1

Kleiner Sieg – 2

Katharsis in two words

Zeit

Mein Leben als Erbprinz in Florenz

Twenty-two seconds

Religion

Der Torwart und sein Parasympathikus

Der mit dem Wind tanzt – eine mögliche Zukunft

Hätte Hemingway doch bloß Fußball gespielt

Elfmeter

Herakles, kein Fußballgott?

Ein Mann sieht rot

Atemflüsterer

Der Philosoph des runden Leders

Fußball kämpfen und leben

Warum ist der Ball rund?

Koma

Wissen Sie, ich hatte mir fest vorgenommen, dass dieses Wochenende ein ganz besonderes in meinem Leben werden sollte. Aber schon nach dem Aufstehen am Samstagmorgen ging etwas schief, denn zum ersten Mal seit 24 Jahren hatte ich verschlafen. Beim letzten Mal, als mein Wecker ausfiel, war ich elf Jahre alt. Seitdem stelle ich mir jeden Abend zwei Wecker: ein batteriebetriebenes Uhrenradio und einen mechanischen Glockenwecker mit zwei großen, kupferfarbenen Glocken, die aussehen wie ein in der Mitte durchgeschnittener Fußball.

Die beiden Wecker hätten mich um 8:30 Uhr wecken sollen, und vermutlich hatten sie dies auch, aber ich muss wohl beide ausgeschaltet haben, weil ich sehr müde war, wirklich sehr müde. Vielleicht hatte ich sie auch gar nicht gestellt. Es war jedenfalls schon 11:17 Uhr, als ich mein Zimmer verließ, um ins Badezimmer zu gehen, das am anderen Ende der Wohnung lag. Als ich an der Küche vorbeihuschen wollte, hörte ich meine Mutter sagen: „Du hast mich vergessen!“, mit dieser selbstmitleidigen, vorwurfsvollen und vor allem verbitterten Stimme, die mich jedes Mal wahnsinnig machte und die ich zunehmend hasste.

„Nein, habe ich nicht. Ich habe verschlafen“, murmelte ich, ohne stehen zu bleiben, und ging ins Bad, ohne eine Ahnung zu haben, was ich diesmal vergessen haben sollte. Ich hörte noch das enttäuschte, tiefe Seufzen meiner Mutter, bevor ich die Tür schloss. Normalerweise zog mich das noch mehr runter und trieb mich an, was immer anstand, schnell zu erledigen, um ihren Wünschen gerecht zu werden.

Doch heute ließ ich mir Zeit. Denn ab heute würde sich einiges verändern. Eigentlich alles. Ich hatte mir vor einiger Zeit eine kleine, gemütliche Wohnung angesehen und den Zuschlag erhalten, am anderen Ende der Stadt in einer ruhigen Gegend gelegen und mit meinem Finanzbuchhaltergehalt gut bezahlbar, zwei Zimmer, eine helle Küche mit einem Balkon und ein renoviertes Bad. Ich hatte den Mietvertrag bereits unterschrieben, heute holte der Vormieter seine letzten Brocken aus der Wohnung. Gleich morgen früh könnte ich den Schlüssel beim Vermieter abholen und einziehen, erstmal nur mit dem Nötigsten, mit zwei Koffern voll Wäsche und einer Luftmatratze, denn ich hatte noch keine geeigneten Möbel. Aus meinem Zimmer wollte ich nichts mitnehmen. Aber ich musste endlich die Wohngemeinschaft mit meiner Mutter verlassen, um besser atmen zu können.

Meine Mutter war irgendwann mal, so glaube ich, eine ganz zufriedene Frau. Sie hatte über 30 Jahre für dieselbe Firma gearbeitet und an einer Kunststoffspritzmaschine verschiedene Teile für Kraftfahrzeuge hergestellt. Dabei musste sie kleine Metallplättchen in die Maschine stecken, die dann das flüssig gewordene Kunststoffgranulat in die Formen spritzte und beide Werkstoffe miteinander verband. Das machte sie nach ihren Erzählungen sogar gerne. Außerdem war sie schlau genug, die Akkordzahlen auf einem erträglichen Niveau zu halten. Sie hatte sogar etwas Verschmitztes, wenn sie davon erzählte, dass sie extra langsam arbeitete, wenn der Stopper vor der Maschine stand. Dann lachte sie sogar. Aber seit ihr Mann, mein Vater, bei einem Autounfall vor dreißig Jahren – ich war fünf – so schwer verletzt wurde, dass er vier Jahre und acht Monate im Koma lag, bevor er starb, hatte sich ihr Wesen verändert. Anfangs hatte sie meinen Vater gut versorgt und gepflegt, wenn sie ihn im Krankenhaus besuchte. Sie hatte mit ihm geredet und ihn sorgfältig eingecremt, hatte seine Hand gehalten. Manchmal sang sie ihm sogar etwas vor. Sie war eine miserable Sängerin, es klang immerhin liebevoll. Nach einigen Wochen wurde ihr Verhalten jedoch immer weniger liebevoll. Es fing erst kaum merklich an, dass sie ihn mit ruhigen Worten beschimpfte, dann zwickte sie ihn, es wurde immer hässlicher, später quälte sie ihn regelrecht, weil sie ihm nicht verzeihen konnte, dass er im Koma lag und sich weigerte, wieder aufzuwachen. Sie besuchte ihn jeden Tag. Sie können sich nur schwer vorstellen, wie verzweifelt sie war und wie grausam sie wurde, bis ihr Mann eines Tages starb. Ich war mir nie sicher, ob ihr Verhalten ihn nicht am Ende umgebracht hatte.

Seitdem wohnen wir im zweiten Stock eines Mietshauses in einer geräumigen Wohnung, die aber schon seit Jahren zu klein für uns beide ist.

Ich wollte meiner Mutter eigentlich vor dem Spiel alles über meine Auszugspläne gesagt haben, dann hätte sie sich an den Gedanken, demnächst alleine zu wohnen, gewöhnen können, bis ich zurückkam. Ich hätte dann noch einen schwierigen Abend mit ihr verbringen müssen, hätte mir ihr Gejammer und Gezeter anhören müssen, ihre Tränen ertragen und damit leben müssen, ein undankbarer Sohn zu sein und natürlich ein Sargnagel, hätte versucht, sie zu trösten und ihr zu erklären, dass ich nun mit 35 allein leben wollte. So unangenehm dieser Abend werden würde, ich freute mich trotzdem darauf.

Ich hatte selten so entspannt meine Morgentoilette erledigt.

Jetzt musste ich zusehen, rechtzeitig zum Spiel zu kommen. Ich plante um und würde ihr nun erst nach dem Spiel alles erklären, in Kauf nehmend, dass mich dann die volle Wucht ihrer Reaktion treffen würde, ohne dass ich mich dem entziehen konnte. Ich zog mich an, packte schon mal meine Sporttasche und ging in die Küche, um ein spätes, schnelles Frühstück zu nehmen. Dort saß sie auf einem Stuhl am Küchentisch.

„Was ist denn bloß los mit dir?“, fragte sie. „Wieso schläfst du so furchtbar lang?“

„Keine Ahnung.“

„Aber das musst du doch wissen!“

„Mutter, ich weiß es aber nicht. Ich war sehr müde.“

„Du wolltest doch heute das Altpapier wegbringen“, sagte sie.

Das war’s also, was ich vergessen hatte. „Nein, du wolltest, dass ich das tue. Außerdem ist die Kiste nicht mal halb voll“, antwortete ich. Wir sammelten unser Altpapier in einer Plastikbox.

„Aber voll wird die Kiste so schwer“, jammerte sie.

„Wenn ich sie wegbringe, kann dir das auch egal sein. Ich muss jetzt los. Bis später, ich bringe das Papier nach dem Spiel zum Container“, antwortete ich und merkte, dass mir ihre Nörgelei heute nicht besonders viel ausmachte und die Möglichkeit, das Altpapier zum Container zu bringen, eine gute Fluchtoption war. Ab morgen würde ich meine Ruhe genießen. Ich verließ die Wohnung gegen 12:00 Uhr und machte mich auf den Weg zu einem Sportplatz im Norden der Stadt. Ich kannte den Weg gut, war bereits ein paar Mal dort, so dass ich das Navi nicht einschalten musste. Es sah so aus, als würde ich es pünktlich schaffen, aber ich sagte mir: Selbst wenn ich zu spät komme, fangen sie ohne mich nicht an.

Denn ich bin der Schiedsrichter.

In der Kreisliga B geht zumindest vor dem Spiel alles etwas entspannter zu. Als ich ankam, gab mir ein Betreuer der Heimmannschaft den Schlüssel zur Schiedsrichterkabine. Ich zog mich um und ging in das Vereinsheim, wo sie in einem Nebenraum einen Computer aufgestellt hatten, ein älteres Schätzchen. Die beiden Mannschaften hatten ihre Aufstellungen freigegeben und alles gut ausgefüllt. Im DFB-net muss alles mit rechten Dingen zugehen, sonst werden Strafen verhängt, eine gute Einnahmequelle für die Verbände. Im Amateurfußball wird alles sanktioniert, auch falsche oder fehlende Einträge im DFB-net. Ich hatte mich schon öfter gefragt, was mit dem Geld passiert, das an jedem Spieltag von den Vereinen abkassiert wurde, denn da kamen an jedem Wochenende bestimmt einige Tausend Euro zusammen.

Ich ging auf den Platz und begann, bei der Heimmannschaft die Pässe zu kontrollieren. Zwei Spieler trugen auffällige Halsketten, die sie natürlich nicht tragen durften. Ich wies darauf hin. Widerwillig nahmen sie den Halsschmuck ab und gaben ihn ihrem Betreuer. Bei weiteren zwei Spielern fehlte das Passfoto. Am achten Spieltag der Saison ist das nur schwer zu verstehen. Normalerweise würde ich das im Spielbericht vermerken, das würde dann pro Bild fünf Euro Strafe kosten. Heute schien mir das nicht so wichtig zu sein, die Stimmung war wegen der Halsketten ohnehin schon etwas angespannt.

Ich wünschte ein gutes Spiel und ging rüber auf die andere Platzhälfte, zur Auswärtsmannschaft. Dort hatten gleich mehrere Spieler ein weißes Tape um ihre roten Stutzen gewickelt, um die Schienbeinschoner zu fixieren. Das war nicht erlaubt. Das Tape hätte rot sein müssen, also in Stutzenfarbe, aber auch das war mir heute nicht so wichtig. Ich wies darauf hin und empfahl, diese Vorgabe beim nächsten Mal zu berücksichtigen, und wünschte auch hier ein gutes Spiel. Dann holte ich die Kapitäne zur Platzwahl.

Ich führte genau Buch: Es war mein 227. Spiel im Seniorenbereich. Das hätten Sie nicht gedacht, oder? Ich war schon seit 18 Jahren Schiedsrichter. Dreimal hatte ich ein Bezirksligaspiel pfeifen dürfen, normalerweise leitete ich die Spiele der Kreisligen A bis C. Ich habe schon viel erlebt und hatte eigentlich von Jahr zu Jahr weniger Spaß beim Schiedsrichtern, jedenfalls gefühlt in den letzten fünf Jahren, weshalb ich schon länger mit dem Gedanken spielte, damit aufzuhören. Auch wenn mein Verein damit nicht glücklich sein würde. Schiedsrichter sind gesucht, und jeder Verein braucht welche, weil sonst, Sie ahnen es schon, eine Strafe fällig wird.

Angefangen hatte ich meine Karriere als Spieler in der B-Jugend. Ich war 15, als ich mich anmeldete. Bis ich 17 war, hatte ich genau 131 Minuten gespielt. Also gut zwei Stunden in zwei Jahren. Der Trainer stand eher auf diese athletischen Typen, die schnell laufen konnten, und konnte mit mir als eher technisch versiertem Spieler, für den ich mich zumindest selber hielt, nichts anfangen. Eines Tages hatten mich Leute aus dem Jugendvorstand angesprochen und gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, Spiele als Schiedsrichter zu leiten. Ich fand das damals ganz spannend, jedenfalls attraktiver, als nur auf der Bank zu sitzen, was vor allem im Winter unangenehm war. Ich fühlte mich auch etwas gebauchpinselt, weil sie mich regelrecht umgarnten. Also begann ich, nach einem kurzen Lehrgang Jugendspiele zu pfeifen, und wurde Schiedsrichter.

Ich ging zum Mittelpunkt und pfiff in meine Fox40, die gute alte Schiedsrichterpfeife mit dem durchdringenden Ton. Ich benutzte von Beginn meiner Schiedsrichterzeit an die Fox40 Royal in Schwarz, mit der ich 129,2 Dezibel laut pfeifen konnte, lauter als eine Vuvuzela. Die beiden Spielführer kamen zu mir, ich zeigte den beiden die Münze, mit der ich die Platzwahl durchführte, eigentlich einen Plastikchip mit zwei Farben. Früher hatte ich eine echte 2-Euro-Münze benutzt. Nachdem ich aber zum zweiten Mal während eines Spiels die Münze verloren hatte, war ich auf den Chip umgestiegen. Die Mannschaften blieben so stehen – sie wechseln im Kreisligabereich so gut wie nie die Seiten – und die Gastmannschaft hatte Anstoß.

Nun stellen Sie sich bitte kein hochklassiges Fußballspiel vor, denn wir reden von der Kreisliga B. Da ist nicht jeder Spieler in der Lage, richtig zu laufen. Es gibt sogar welche, die man instinktiv zum Orthopäden schicken möchte. Schnell sind die wenigsten. Für viele ist der Ball ein UFO und Zweikämpfe werden eher ziemlich ungeschickt geführt. So musste ich nach knapp zehn Minuten einen Freistoß für die Gastmannschaft pfeifen, etwa 25 Meter vor dem Tor, weil ein Stürmer der Gäste plump umgetreten wurde. Am liebsten hätte ich es nicht gepfiffen, aber es war nun mal ein klares Foulspiel. Denn ich wusste, was nun passieren würde, denn es gehört in der Kreisliga offenbar zum guten Ton, jede Entscheidung eines Schiedsrichters zu bemäkeln. Lediglich die Intensität der Proteste variiert. Aber gut, damit kann ich leben.

Also bauten sich auch diesmal ein paar Spieler vor mir auf und erklärten mir, wie falsch meine Entscheidung gewesen sei, das Umtreten eines Stürmers mit einem Freistoß zu ahnden. Das ist halb so wild, müssen Sie wissen, das gehört dazu. Ein anderes Phänomen in der Kreisliga ist, dass es in jeder Mannschaft mindestens einen „Freistoßspezialisten“ gibt, der aus jeder beliebigen Lage direkt aufs Tor schießen wird. Das Ergebnis ist in den meisten Fällen, dass der Ball weit über das Tor fliegt. Der Schütze enttäuschte mich nicht und drosch den Ball weit über die Latte ins Toraus. Ich entschied auf Abstoß, woraufhin der Schütze mich leicht schubste und einen Eckball forderte. Zwei weitere Spieler kamen ebenfalls hinzu und forderten ebenfalls einen Eckball. Ich war sicher, dass der Ball von niemandem abgefälscht wurde, sondern nur wegen der erbärmlichen Schusstechnik weit über das Tor flog. Ich gab dem Schützen Gelb und ermahnte die beiden anderen, die sich trollten.

Das Spiel wogte auf die übliche Kreisligaweise hin und her, mit vielen Zufällen, mit noch mehr technischen Unzulänglichkeiten und vor allem mit viel Schreierei auf beiden Seiten. Selbst dann, wenn ein Spieler den Ball eindeutig ins Seitenaus schoss, reklamierte er üblicherweise den Einwurf für sich, was ich nie verstanden habe.

Etwa in der Mitte der ersten Halbzeit wurde die Stimmung aggressiver, vor allem, weil die jeweiligen Betreuer immer lauter wurden und die Spieler damit immer weiter aufheizten. In der 33. Minute musste ich auf Elfmeter entscheiden. Ein Spieler der Gastmannschaft spielte den Ball im eigenen Strafraum eindeutig mit der Hand. Die Regel verlangte nun, dass ich ihm die Gelbe Karte zeigen musste, was ich auch tat. Dummerweise handelte es sich um den reklamierenden Freistoßschützen. Der hatte ja schon Gelb erhalten, also verwies ich ihn mit Gelb-Rot des Feldes. Glauben Sie bloß nicht, dass jeder Spieler einfach freiwillig vom Platz geht, wenn er Rot gesehen hat. Meistens stehen noch einige Mitspieler parat und sorgen für ein nerviges Stakkato an Beschimpfungen und Beleidigungen, bevor der vom Platz Verwiesene diesen auch wirklich verlässt.

Ich zeigte zwei weiteren Spielern der Gäste die Gelbe Karte wegen wüster Beleidigungen („Du Penner“, und besonders schön: „Du bist doch gekauft“, haha, wer sollte mich denn bei so einem Spiel kaufen?), bevor der Freistoßspezialist den Platz verließ. Eigentlich hätte er jetzt direkt in die Kabine gehen müssen, laut Regelwerk. Machte er natürlich nicht. Aber ich ließ ihn noch ein wenig an der Auswechselbank herumpöbeln und kümmerte mich um den fälligen Elfmeter. Ich wies den Torwart an, auf der Linie zu bleiben, und erklärte dem Kapitän der Heimmannschaft, dass ich den Elfmeter per Pfiff freigeben würde.

Haben Sie schon mal bei einem Elfmeter genau hingesehen? Wahrscheinlich haben Sie darauf geachtet, ob der Torwart den Ball hält oder der Ball im Tor landet. Als Schiedsrichter müssen Sie den Torwart, den Schützen, den Ball und alle anderen Mitspieler im Blick haben, um sämtliche mögliche Regelverstöße zu erkennen. Hätten Schiedsrichter Augen wie Heuschreckenkrebse, die auf beweglichen Stielen sitzen und sich unabhängig voneinander in verschiedene Richtungen bewegen lassen, wäre das bestimmt hilfreich. Ich postierte meine unvollkommenen humanoiden Augen seitlich vom Schützen, pfiff und schaute erst zum Schützen, dann zur Strafraumgrenze, die von einer Horde Spieler der Gastmannschaft überlaufen wurde, bevor der Ball gespielt wurde. Dann hatte der Gast-Torwart mit einer spektakulären Parade den gar nicht so schlechten Schuss gehalten. Ich pfiff, regeltechnisch korrekt, erneut und zeigte wieder auf den Punkt: Wiederholung.

Sie können sich vorstellen, dass die Gastmannschaft nun Verrat und Betrug witterte: erst der Platzverweis und dann das. Sie teilten mir ihren Verdacht auf meine Bestechlichkeit eindrucksvoll mit und schubsten mich ein wenig durch den Strafraum. Ein Spieler nannte mich ein „saublödes Arschloch“, weshalb ich ihm glatt Rot zeigte. Ein weiterer formulierte die Frage „Ey Alter, hast du Scheiße im Kopf?“, aber mehr im Tonfall einer Feststellung: „Ey Alter, hast du Scheiße im Kopf.“

Ich zeigte ihm dafür Gelb und stellte beim Notieren der Karte fest, dass dies auch für ihn die zweite Gelbe war. Also schob ich die Rote hinterher. Ich riet den Gästespielern, sich von nun an in Zurückhaltung zu üben, da sie bereits drei Spieler verloren hatten und mindestens zu siebt sein müssten, damit das Spiel nicht abgepfiffen werden muss. Ich zuckte auch mal beschwichtigend mit den Achseln, denn ich hatte mir die Regeln schließlich nicht ausgedacht.

Dann spürte ich die raue Innenfläche eines Torwarthandschuhs an meinem Hals. Der Gästekeeper fühlte seine Glanztat, den Elfer zu halten, offensichtlich nicht hinreichend gewürdigt. Er beschimpfte mich, da bin ich sicher, allerdings in einer mir gänzlich unbekannten Sprache. Inhaltlich hätte ich auf ein ziemlich tiefes Niveau getippt. Plötzlich spürte ich, dass der zweite Handschuh ebenfalls an meinen Hals fasste und mich zusammen mit der ersten Hand anfing zu würgen, was mich in leichte Panik versetzte, weil ich fürchtete, von einem wildgewordenen Kreisligatorwart erdrosselt zu werden. Ich wischte die Handschuhe von meinem Hals und ging einen Schritt zurück, um weiter frei atmen zu können.

Ich traf sofort eine weitere Entscheidung. Natürlich! Ich hielt es aus Prinzip für nicht hinnehmbar, dass am Schiedsrichter herumgewürgt wird. Aber glauben Sie mir, wenn ich gewusst hätte, dass es für lange Zeit oder vielleicht für immer meine letzte freie Entscheidung sein sollte, hätte ich sie nicht getroffen. Ich hatte nämlich entschieden, auch den Torwart vom Platz zu stellen.

Das nächste, was ich spürte, war ein Schlag von der Seite in mein Gesicht, etwas unterhalb der rechten Schläfe. Ein zweiter Schlag traf mich am Kinn. Ich sank zu Boden. Dann spürte ich Tritte am Körper und am Kopf, bevor ich bewusstlos wurde. Als ich wieder eine Art Bewusstsein erlangte, befand ich mich offensichtlich in einem Krankenwagen. Ich konnte mich selber dort liegen sehen, aber nicht sprechen. Ich hörte viele Geräusche, konnte mich aber nicht bewegen. Dann hörte ich, wie jemand sagte: „Ich hoffe, der kommt wieder.“

Ich muss Ihnen leider sagen, dass ich nicht alles mitbekam, was gesprochen wurde, weil ich nun immer mal wieder wegsackte, ich weiß nicht, für wie lange. Dann hörte ich wieder Stimmen, sehr klar, denn es war ansonsten absolut still. Ich kannte eine der Stimmen sehr gut. Es war meine Mutter.

„Wird er wieder aufwachen?“, fragte sie.

„Kann sein, kann schon morgen sein, könnte aber auch etliche Wochen und im schlimmsten Fall Jahre dauern, wir wissen es nicht“, antwortete die zweite Stimme. „Ihr Sohn liegt im Koma.“

„Ich werde mich um ihn kümmern, so wie bei meinem Mann“, sagte meine Mutter, und ihre Stimme klang für ihre Verhältnisse viel weniger verbittert als sonst, fast schon ein ganz klein wenig heiter.

Ich bitte Sie inständig: Sollten meine Gedanken irgendwie zu Ihnen übertragen werden, wenn Sie in einem Krankenhaus einen 35-jährigen Kreisliga-Schiedsrichter im Koma liegen sehen, der von seiner Mutter gepflegt wird – retten Sie mich.

Finaler Wille – 1

 

Er spürte den Ball wie eine Extremität, die zu ihm gehörte wie seine Finger oder sein linkes Ohr. Er klebte wie selbstverständlich an seinem Fuß, als er in hohem Tempo die Mittellinie überquerte und auf das Tor des Gegners zulief, in das er den Ball, der nur ihm so gehorchte, befördern musste.

Er wusste, dass sie dieses eine Tor dringend brauchen würden und dass er es sein würde, dem es gelingen würde, dass nur er es sein konnte, der es schießen würde, nur er, denn die anderen waren müde, allesamt, sie hatten nicht mehr genug Kraft nach so vielen Spielen, nach dieser langen Saison, als dass sie jetzt, in den letzten zehn Minuten der gesamten Spielzeit die Energie haben würden, nein, den Willen zeigen könnten, um dieses eine, entscheidende Tor zu erzwingen, sie hatten keine Wut mehr, auf niemanden, nicht einmal auf sich selbst, weil sie zu schwach waren, dieses Spiel zu gewinnen, nur dieses eine noch, aber er, der den Ball am Fuß fühlte, ohne hinzusehen, er würde es schaffen, er besaß die Willensstärke, seinem Körper das letzte abzuverlangen, die Residualvolumen der Lunge zu nutzen, obwohl da niemand war, der ihn mit einer Pistole bedrohte, oder mit einem Messer, niemand, der nach seinem Leben trachtete, und doch rannte er, als ginge es um die letzten Minuten seines Daseins.