Hauke Haiens Tod - Robert Habeck - E-Book
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Robert Habeck

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Beschreibung

Eine nächtliche Sturmflut an der Nordseeküste, der eine Familie zum Opfer fällt. Eine Überlebende, die herausfinden will, warum ihre Eltern wirklich sterben mussten. Und ein Dorf, das darüber nicht reden will … Bei einer Jahrhundertsturmflut an der friesischen Nordseeküste bricht der Deich. Unter den Todesopfern ist Hauke Haien, der Erbauer des Deichs, seine Frau – und scheinbar auch ihre vierjährige Tochter Wienke. Iven Johns, der Knecht der Familie, setzt sich nach Hamburg ab und beginnt ein neues Leben. Doch fünfzehn Jahre später taucht plötzlich Wienke auf bei ihm. Sie will von ihm wissen, was wirklich in jener Sturmnacht passiert ist. Warum mussten ihre Eltern sterben? Wie hat Iven ihr Leben gerettet? Und warum hat er es geheim gehalten? Iven beschließt, mit Wienke zu dem Ort hinter dem Deich zu fahren und Licht ins Dunkel der Todesnacht zu bringen. Doch die Dorfbewohner mauern: Niemand will über die Vergangenheit sprechen. Und dann wird Wienke bedroht – die eigentlich nicht mehr leben dürfte … »Hauke Haiens Tod« von Robert Habeck und Andrea Paluch wurde von Andreas Prochaska für die ARD verfilmt und wird am Samstag, den 27. April 2024 um 20:15 Uhr im Ersten zu sehen sein. In den Hauptrollen spielen Detlev Buck (»Herr Lehmann«), Anton Spieker (»Das Boot«), Franziska Weisz (»Tatort«) und Sascha Alexander Geršak (»Die Toten von Marnow«).

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Seitenzahl: 257

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Robert Habeck / Andrea Paluch

Hauke Haiens Tod

Roman

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Robert Habeck / Andrea Paluch

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Robert Habeck / Andrea Paluch

Andrea Paluch, geboren 1970, lebt und arbeitet als Schriftstellerin in Flensburg.

Robert Habeck, geboren 1969, arbeitete als Schriftsteller und veröffentlichte zahlreiche Bücher, bevor er Politiker wurde.

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Über dieses Buch

Bei einer Jahrhundertsturmflut an der friesischen Nordseeküste bricht der Deich. Unter den Todesopfern ist Hauke Haien, der Erbauer des Deichs, seine Frau – und scheinbar auch ihre vierjährige Tochter Wienke. Iven Johns, der Knecht der Familie, setzt sich nach Hamburg ab und beginnt ein neues Leben.

Doch fünfzehn Jahre später taucht plötzlich Wienke auf bei ihm. Sie will von ihm wissen, was wirklich in jener Sturmnacht passiert ist. Warum mussten ihre Eltern sterben? Wie hat Iven ihr Leben gerettet? Und warum hat er es geheim gehalten? Iven beschließt, mit Wienke zu dem Ort hinter dem Deich zu fahren und Lichts ins Dunkel der Todesnacht zu bringen. Doch die Dorfbewohner mauern: Niemand will über die Vergangenheit sprechen. Und dann wird Wienke bedroht – die eigentlich nicht mehr leben dürfte …

Inhaltsverzeichnis

Förderhinweis

Motto

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

58. Kapitel

59. Kapitel

60. Kapitel

61. Kapitel

62. Kapitel

63. Kapitel

64. Kapitel

65. Kapitel

66. Kapitel

Dieser Roman wurde von September bis Dezember 1999 im Brecht-Haus, Svendborg, fertig gestellt.

Wir, in unserm Alter, wollen wissen,

Dass der Weg nun wieder rückwärts führt. –

Glücklich, wer den freien Drang noch spürt,

Das Getrunkne über Bord zu pissen.

Joachim Ringelnatz, Kopf hoch, mein Freund!

1

Seit drei Tagen saß der Hamster neben dem Laufrad. Er hockte in den Sägespänen und blinzelte nicht einmal, als sie ihn aus dem Käfig nahm. Sein Körper schmiegte sich warm in ihre Hand. Sie fühlte seinen Herzschlag durch das dünne Fell. Die nasse Nase stupste gegen ihre Lippen, als sie ihn küsste. Dann schloss sie ihre Finger um seinen Hals und drückte zu. Die Barthaare begannen zu zittern. Sie hielt den Körper fest, sodass er nicht zappeln konnte. Sein Genick brach mit dem Klack eines Pfennigabsatzes auf Fliesen.

Der erste Schnitt öffnete die Bauchdecke. Warm quoll das Blut über ihre Hand ins Waschbecken. Mit dem Zeigefinger entfernte sie die Innereien. Dann band sie die kleinen Krallenhände der Hinterbeine zusammen und hängte den toten Hamster am Handtuchhalter auf. Mit einem Rasiermesser trennte sie das Fell von dem Muskel der Schenkel und zog es mit kurzen ruckartigen Bewegungen über die Ohren. Sie schabte die wenigen Fettflecken ab, spannte die Haut mit Reißzwecken und hängte sie ins offene Fenster. Den blutigen Fötus steckte sie zusammen mit den Innereien in eine Plastiktüte und warf sie in den Müll.

2

Als Iven Johns im Morgengrauen nach Hause kam, lag Iris bereits im Bett und las. Iven hatte ihr vor drei Wochen einen Wohnungsschlüssel gegeben. Davor musste sie im Treppenhaus warten, bis Iven Feierabend hatte.

Die Leselampe stand neben Iris auf der Matratze. Iven schälte sich aus dem zu engen Smoking und massierte sich den Abdruck, den der Gummizug seiner Socken auf der Haut hinterlassen hatte. Iris schob das aufgeklappte Buch unter das Bett.

Als sie miteinander schliefen, verbrannte sich Iven an der heißen Glühbirne die Haut über dem Steiß. Die Lampe krachte auf den Fußboden. Er fluchte und rollte zur Seite. Iris tätschelte seine Pobacken.

»Es riecht nach Schmorbraten.« Sie drehte sich zur Wand und schlief ein.

Als Iven aufwachte, brannte die Leselampe noch immer. Unter seiner Haut wuchs eine blutige Brandblase.

Er hörte die Dusche im Kabuff neben der Kochnische rauschen. Dann verstummte das Wassergeräusch, die Tür ging auf und die nasse Iris tropfte zu dem Stuhl, über dem ihre Wäsche hing. Eine dampfende Schwade schwappte mit ihr in den kleinen Raum und machte die Luft schwer und stickig. Iven sog den Wasserdampf tief durch die Nase ein und atmete den Geschmack sauberer Haut wieder aus.

Iris wusch sich immer mit Kernseife. Jedes Jahr schenkte Iven ihr zum Geburtstag ein teures parfümiertes Duschgel. Sie sagte ihm nie, dass sie die Duftkonzentrate nicht mochte. Deshalb kaufte er ihr seit elf Jahren regelmäßig andere Sorten und war doch froh, dass sie nicht benutzt wurden.

Er sah zu, wie Iris sich anzog. Entweder beachtete sie ihn absichtlich nicht oder sie nahm an, dass er noch schlief. Sie blickte nie zu ihm herüber. So oft hatte er schon beobachtet, wie sie ihre Strümpfe über die Knie streifte und sich die Haare aus der Stirn pustete, wenn sie sich aufrichtete, wie sie das Top nahm und flüssig über die gestreckten Arme gleiten ließ, dass jede ihrer Bewegungen ihm vertraut war.

Iven wartete jedoch vergeblich auf das Klicken der ins Schloss fallenden Tür. Stattdessen hörte er ihre Schritte wieder näher kommen. Schnell schloss er die Augen. Iris sprach ihn an.

»Iven. Da ist jemand für dich.«

Iven machte die Augen nicht auf und überlegte, was sie wohl meinen könnte. Schließlich fiel die Tür doch ins Schloss, lauter als sonst. Iven hörte jemanden atmen. Er öffnete die Augen. Iris war weg. Eine Fremde stand vor dem Bett. Sie war um die zwanzig, hager, hatte strohblonde Haare, die zu einem Dutt zusammengefasst waren, und trug einen alten Ledermantel mit Pelzbesatz, obwohl diese Maitage ungewöhnlich warm waren. Auch ihre Schuhe waren pelzbesetzt. Sie bewegte sich nicht und starrte ihn unentwegt an, während Iven sie aus seinem Bett heraus musterte. Möwenaugen, die auf ihn geheftet waren. Solange Iven still lag, schlossen sich die Lider nicht ein einziges Mal. Erst als Ivens Brandblase zu jucken anfing und er sich aufsetzte, blinzelte sie.

»Guten Morgen, Vater.«

3

Eine Silbermöwe setzte sich vor Iven auf einen morschen Holzpflock, an dem in Zwanzig-Zentimeter-Abständen drei neue Stromdrähte mit Krampen angenagelt waren.

Iven nestelte an seinem Hosenschlitz. Im Windschatten des Deiches war es so still, dass er den Zaun summen hörte. Die Möwe starrte ihn aus ihren schwarzen Augen an. Ihr Blick folgte ihm, als Iven den Sandstreifen neben dem Plattenweg am Passat vorbei ging. Eine schmale Treppe aus Waschbeton führte auf die Deichkrone.

Im öligen Morgenlicht schwamm das Meer. Das Wasser lief auf und gelbgraue Wellen leckten bereits am Vorland. Die Lahnungen waren bereits überspült.

An der Wassergrenze trotzten vereinzelte Strandnelken dem Saum der Flut. Es verhieß angeblich Unglück, wenn der Seewermut zu früh blühte. Der Deichschatten reichte bis zu den letzten nicht überschwemmten Pfahlreihen und Reisigpolstern. Die Luft war klamm und die Nordsee still wie zerlassenes Blei.

Die Möwe, die ihm beim Pinkeln zugesehen hatte, stand nun reglos über ihm. Iven bückte sich und warf einen Stein nach ihr, der sie um einiges verfehlte. Er war aus der Übung.

4

Die Brandblase nässte. Iven stockte nur kurz, als die Fremde ihn Vater nannte. Der Abstand zwischen dieser Anrede und Ivens noch trägem Morgenhirn war zu groß, als dass er ihn überwinden konnte. Ächzend stemmte er sich aus dem Bett, um die Frau hinauszuwerfen.

Mit einer Hand hielt er sich das Kissen vor die Lenden und konnte sie so bloß mit seiner Linken packen. Ihr Oberarm war sehnig und muskulös. Obwohl sie mager und zerbrechlich wirkte, befreite sie sich mit einer ruckartigen Drehung und trat einen Schritt zurück.

»Warum hast du mich ins Heim gebracht?«

Verblüfft über die Kraft, mit der sie sich aus seinem Griff gewunden hatte, konnte er ihrer Frage nicht ausweichen.

»Wie heißt du?«

»Elisabeth Schmidt.«

Iven schluckte. Er hatte anfangs häufig an sie gedacht. Dann fing er an, sie zu vergessen. Zunächst mit schlechtem Gewissen, dann vergaß er auch das.

Jetzt war sie wieder da.

Er suchte in ihr das Mädchen von früher. Im demsigen Licht hinter den zugezogenen Gardinen schien ihr Gesicht fahl. Sie war auffällig hellhäutig, ihre Nase schmal, ein schräger Schatten über einem breiten Mund, dessen zusammengepresste Lippen fast weiß waren. Von ihrem Vater hatte sie die Farblosigkeit, das aschblonde Haar und die eisgrauen Augen, von ihrer Mutter die Form des Gesichtes geerbt, die hohe Stirn, die hervortretenden Wangenknochen, das kantige Kinn und die langen Finger.

Im Missverhältnis zwischen der zähen Robustheit und der schwindsüchtigen Schwächlichkeit erkannte er das empfindsame, verletzliche und doch spröde und abweisende Wesen des Kindes wieder.

Iven rechnete nach, wie lange es her war, dass er sie nach Hamburg gebracht hatte. Damals, als er mit dem schlafenden Kind im Auto gegen die Regenwände anfuhr, war sie vier gewesen. Zu jung, um sich an das zu erinnern, was sie zurückgelassen hatten. Sie konnte erst recht keine Erinnerung an ihn haben. Jetzt musste sie neunzehn Jahre alt sein. Wahrscheinlich wohnte sie schon längst nicht mehr im Waisenheim, sondern war in eine Irrenanstalt gesteckt worden.

»Ich bin nicht dein Vater. Verschwinde!«

Sie reagierte nicht, sondern stierte ihn nur unentwegt an. Er redete mit einer Verrückten.

 

Als Kind konnte sie Stunde um Stunde das Gleiche tun. Ganze Tage saß sie am Fenster der alten Trina Jans, ohne dass ihr langweilig wurde. Wenn sie redete, stellte sie merkwürdige Fragen. Sie wollte wissen, ob das Meer Beine hat und wieso die Flut schwarz ist.

Mit der alten Hebamme unterhielt sie sich in einer Sprache, die niemand verstand. Als Trina Jans schließlich starb, kam das Kind zu Iven und wollte wissen, wie sich der Tod anfühlt.

Iven fasste sie nicht wieder an. Er raffte seine Sachen vom Fußboden und begann, sich umständlich anzuziehen. Als er den Overall hochzog, rutschte sein T-Shirt in den Reißverschluss, der sich sofort in dem Stoff festbiss. Iven zerrte am Zipper. Plötzlich stand die Frau dicht vor ihm und hielt das T-Shirt fest, sodass er die Zähne aus dem Stoff drehen konnte.

»Mensch, hau ab, hab’ ich gesagt!«

Zwar ließ sie das T-Shirt los und ging wieder auf Abstand, aber sie blieb. Sie folgte Iven, als er die Treppe zum Auto hinunterging, und als er einstieg, kletterte sie auf den Beifahrersitz.

Während Iven arbeitete, saß sie auf dem Sockel mit den Zapfsäulen und schaute ihm zu, wie er einen Blechschaden lackierte. Ein einziges Mal stand sie auf. Iven sah sie in der Telefonzelle eine Nummer von einem Zettel abtippen.

Als seine Schicht an der Kasse begann, setzte sie sich auf einen Campingstuhl neben der Eistruhe. Die ganze Zeit sagte sie kein Wort, aß nichts, trank nichts, ging nicht aufs Klo. Ivens Kollege frotzelte. Aber Iven hatte sich schon mit der stillen Anwesenheit der Frau neben der Gefriertruhe abgefunden.

Auf einmal war sie weg. Die Autos stauten sich bis auf die Straße zurück und durch die Zapfsäulen zwängten sich gereizte Geschäftsleute. Ein paar Minuten lang war Iven abgelenkt. Als er wieder aufsah, war der Stuhl leer. »Wie lange noch?«

Er fuhr herum. Sie stand hinter ihm und zeigte mit dem ausgestreckten Arm auf die Uhr, die an der Wand hing.

»Bis neun.«

»Wie lange ist das?«

Jetzt hatte er den Salat. Sie konnte noch nicht einmal die Uhr lesen. Er zeigte ihr die Neun.

»Der große Zeiger muss noch dreimal im Kreis gehen.«

»Dreimal«, wiederholte sie tonlos und setzte sich wieder auf den Stuhl neben der Eistruhe.

Punkt neun stand sie auf und ging zum Auto. Wie selbstverständlich erwartete sie, dass er ihr die Beifahrertür aufschloss.

»Du bist echt ’ne Nervensäge.« Iven blickte in den noch immer dichten Verkehr, konnte sich aber nicht auf die Straße konzentrieren. Er hielt auf dem Standstreifen vor einer Wurstbude.

»Willst du was?«

Sie reagierte nicht.

»Dann nicht.«

Er kaufte eine Currywurst und ein alkoholfreies Bier. Dann setzte er sich wieder ins Auto. Sie sah die Wurst und fuhr sich mit der Zunge über die spröden Lippen.

»Darf Elisabeth die essen?«

»Erst willst du nichts, dann frisst du mir mein Abendbrot weg.«

Die Frau kramte in einer ihrer pelzigen Manteltaschen und drückte Iven einen unbenutzten Hundertmarkschein in die Hand.

»Was ist das?«

»Geld für die Wurst.«

Iven steckte ihr den Schein in die Tasche zurück, stieg aus und kaufte noch eine Wurst.

Sie saßen im Auto und die Pelle knackte beim Abbeißen. Die Frau kicherte. Ein Rinnsal Bratfett lief ihr über das Kinn. Iven musste grinsen.

 

Weiter draußen sah man jetzt einen Krabbenkutter, dessen Schleppnetze an den Kurrbäumen aussahen wie gebrochene Vogelflügel. Ein Pulk Möwen stob um das Boot. Aber der Wind raubte dem Bild das Kreischen.

Iven ging vom Deich hinunter zum Parkplatz.

Die Silbermöwe stand unbewegt in der Luft über ihm und lachte ihr raues Kwerr Kwäp.

5

Am Ortsausgang passierte er das Schild der Seehundaufzuchtstation. Iven fuhr durch Büsum zurück auf die Landstraße. Er nahm den Weg über Wesselburen und das Katinger Watt, um hinter Tönning auf die B 5 zu kommen.

Jetzt ärgerte er sich, dass er zum Pinkeln extra an den Deich gefahren war. Der ganze Umweg für eine hämische Möwe. Er schnaubte durch die Nasenlöcher, schluckte seinen bitteren Speichel hinunter und trat das Gaspedal durch.

Rechts und links zogen Äcker vorbei. Schlammreihen, die einmal zu Kohlfeldern werden sollten, Bohnen, die gerade gelegt worden waren, Raps, der noch nicht gelb war. Abseits der Straße erhoben sich trotzig die wuchtigen Reethäupter der Haubarge, deren Heuvorrat nun aufgebraucht war. Das Vieh war bereits auf der Weide. Auf dem Turbinenhäuschen des Eidersperrwerks hatte ein Weißstorchpärchen sein Nest gebaut. Der Tunnel schluckte den seitlichen Seewind.

Über Iven hing eine beleuchtete Betondecke, unter ihm gurgelte die gedrosselte Flut durch die Dammkammern ins Land.

 

Vor vier Jahren hatte Iris ihn gefragt, ob sie ihm etwas bedeute. Es war das erste Mal, dass sie ihn so etwas fragte, und es war Iven klar, dass Iris auf eine innige Antwort hoffte. Es war Ostersonntag. Die Sonne war über dem Hochhaus auf der anderen Straßenseite festgenagelt.

Iven brummte Zustimmung.

Es entstand eine Pause. Iris wartete auf mehr. Aber ihm fiel nichts ein. Er stand auf und erschlug eine Mücke. Enttäuscht schaute sie den fingerkuppengroßen Blutfleck an der Wand an.

»Ich habe süßes Blut.« Iris kratzte ihren Nasenflügel. Während sich die Mücken genüsslich an ihr gütlich taten, verschmähten sie den Stich in Ivens Fleisch. Sie ließen ihn in Ruhe, weil der Geruch von Benzin und Schwermetall seinen Poren entströmte. Wenn Iven schwitzte und sich mit der Zunge über die Bartstoppeln fuhr, schmeckte er nicht Salz, sondern Eisen.

Später an jenem Ostersonntag vor vier Jahren fuhren sie nach einem schweigsamen Frühstück ins Wildgehege nach Harburg. Ein Hirsch kam an den Maschendrahtzaun und Iris fütterte ihn mit Eicheln, die sie für sechs Mark am Parkplatz gekauft hatte.

»Du bist der einzige Mensch in meinem Leben.« Iven versuchte es noch einmal und die weiße Zunge des Hirsches leckte Iris’ Hand. Sie drehte sich nicht um und schüttete dem Hirsch den Rest der Tüte vor die Hufe.

»Ist schon gut, Iven. Ich hätte dich nicht fragen sollen. Lass uns zurückfahren.«

Iven war erlöst. Es gab eine Routine, die sich über die Jahre bewährt hatte. Wenn er nach Hause kam, war Iris schon da. Er ließ sie rein und sie schliefen miteinander. Morgens stand sie vor ihm auf und duschte, während er liegen blieb, bis die Tür ins Schloss fiel.

Es war ein zärtliches Türschließen, ein Klicken wie der Gutenachtkuss, den sie sich nie gaben, die Aufforderung, noch ein wenig zu dösen.

Sobald er allein war, stand er auf, zog sich an, fuhr zur Tankstelle und dachte nicht mehr an Iris, bis er sie abends wieder traf. Selten verbrachten sie einen Tag miteinander. Nur ein paar Mal hatten sie miteinander gefrühstückt.

Jener Sonntagsspaziergang durch das Hirschgehege und Iris’ sentimentale Frage störten das übliche Einvernehmen.

Auf der Fahrt entlang der Schafkoppeln in der flachen, morastigen Marschebene, die Fennen nur durch zugewachsene Siele getrennt, die vom Auto aus kaum auszumachen waren, kam ihm der Gedanke, dass Iris ihn liebte.

Das Land glich einer tiefgrünen, vom Morgenschatten gestriegelten Pfütze.

Er dachte an Ann Grethe.

6

Ann Grethe arbeitete bereits als Hausmädchen bei den Haiens, als er auf dem Hof anfing. Carsten kam gerade in sein zweites Lehrjahr. Er war ein schlaksiger Halbstarker mit Flaum zwischen den Aknepickeln. Schon am ersten Tag steckte er Iven, dass man vom Silo aus zusehen konnte, wie Ann Grethe sich abends auszog. Prompt wurde Iven am selben Abend von ihm ertappt.

»Ist besser, als immer nach Husum in den Puff zu müssen!« Carsten plusterte sich mächtig auf.

»Du hast ein großes Maul«, muffelte Iven.

Als Carsten nicht aufhörte zu grinsen, schubste Iven ihn. Carsten stürzte die Siloleiter hinunter. Als Iven nach ihm sehen wollte, ging das Licht an und Ann Grethe erschien im Fenster. Sie stützte beide Hände auf das Fensterbrett und blickte eine Weile in die Nacht. Iven wagte nicht, sich zu rühren, obwohl er wusste, dass sie ihn nicht sehen konnte. Dann fing sie an, sich auszuziehen. Vier Meter Luftlinie und eine einfach verglaste Scheibe lagen zwischen Iven und dem nackten Busen, der ihm den ganzen Sommer nicht aus dem Kopf gehen sollte. Carsten hatte recht. Nach Husum kamen nur die in Hamburg ausgedienten Huren.

 

Das Bild von Ann Grethes Busen, der langsam hinter einer honigfarbenen Gardine verschwindet, hatte sich in Ivens Hirn eingebrannt. Manchmal passierte es, dass er Ann Grethe sah, wenn er mit Iris schlief. Er hatte versucht, das Bild ihrer grünen Katzenaugen und ihrer blonden Haare abzuschütteln. Es gelang ihm jedoch nicht und schließlich hörte er auf, sich dagegen zu wehren. Bisweilen beschwor er die Vorstellung von Ann Grethe sogar mutwillig herauf. Das gab der Liebe mit Iris Schwung. Nach solchen Nächten schlief Iris manchmal auf seinem Arm.

Ann Grethe war anders als Iris. Vor allem mit Carsten redete sie von der Liebe wie ein Knecht.

»Wenn der Haien dir das Lehrjahr nicht anerkennt, dann halte ich dir die Stange.«

Zum Glück ging Hauke Haien die Sache mit seinem Lehrling geschickt an und Carsten bekam keine Gelegenheit herauszufinden, ob Ann Grethe einen Witz gemacht oder ihm etwas versprochen hatte. Haien zwang den patzigen Jungen, selbst zu kündigen, indem er ihm eine Stelle bei Ole Peters besorgte.

Für Iven war der Umgang mit Ann Grethe leichter, nachdem Carsten mit seinem Lästermaul nicht mehr auf dem Hof war. Carsten hatte immer einen lockeren Spruch parat und Iven traute ihm zu, dass er abgebrüht genug war, seine Prahlereien auch umzusetzen. Nachdem er weg war, konnte Iven auf seine Art Ann Grethes Witze und Neckereien erwidern. Denn obwohl sie mit Iven nicht wie mit Carsten flachsen konnte, provozierte sie auch ihn.

Er verliebte sich in sie. Und er stellte sich vor, dass er mit ihrem Körper das tat, was sie ihm am Tag spöttisch in Aussicht stellte.

Ohne Gefahr zu laufen, dass Carsten ihn erwischte, stieg Iven nun jeden Abend auf die Plattform des Silos. Ann Grethe wusste, dass er sie allabendlich belauerte, und ließ die Gardinen inzwischen offen. Schließlich war sich Iven sicher, dass sie ihn erwartete.

In einer Märznacht ging er, ohne anzuklopfen, in ihr Zimmer. Vor ihrem Bett überraschte ihn seine eigene Entschlusskraft und er wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Eine ganze Weile blieb er in der Dunkelheit stehen und lauschte auf das leise Luftholen der schlafenden Frau. So konnte es bleiben. Iven verharrte in der Lautlosigkeit, deren Metrum das stille Ein und Aus des Atems war. Er sog das Bild des ruhenden Körpers ein, den er von seinem Ausguck nur erahnen konnte.

Der Mond hing in dem kleinen Stück Himmel, das zwischen Ann Grethes Fenster und Ivens Hochsitz lag, und zerlief in milchigen Wolkenschlieren. Ivens Augen gewöhnten sich langsam an das diffuse Licht und erkannten die Schemen eines Kopfes im Kissen, den Faltenwurf der Decke über dem Leib. In Gedanken zog er Ann Grethe aus. Schließlich bückte er sich und küsste sie auf den Mund. Ihr Haar roch nach Silage. Als sie ihren Kopf wegdrehte, hielt er ihn mit beiden Händen fest. Ihre Schläfen pochten unter seinen Fingern. Ann Grethe wurde wach. Iven merkte, dass sie versuchte zu schreien, aber keine Luft unter seinem Kuss bekam. Er wollte ihr nicht wehtun, aber er wollte auch nicht, dass sie das ganze Haus zusammenkreischte. Deshalb hielt er sie weiter fest und küsste sie weiter. Sie strampelte und biss ihm schließlich in die Lippe. Ihr Biss war fest und die Lippe zerplatzte wie eine Kirsche. Iven spuckte Blut und ließ sie los. Ann Grethe hatte keinen Atem, um zu schreien. Ihr Mund stand offen und schnappte nach Luft. Er ging.

In der Kneipe ›Zum dicken Fritz‹ traf er Carsten und betrank sich mit ihm. Seine Lippe war aufgequollen. Das Bier lief am Mund vorbei auf sein Hemd.

»Auch Iven will mal ’ne dicke Lippe riskieren.« Carsten nannte ihn den ganzen Abend über Fischmaul. Iven blieb stumm und trank sein Bier mit der anderen Mundhälfte.

Beim Kotzen musste Carsten ihn stützen und auf dem Heimweg lief Iven zweimal in einen elektrischen Zaun. Über die Abkürzung durch die Marsch gelangten sie auf den Deich. Ole Peters, dem das Land gehörte, beweidete den Deichkamm. Er hatte ihn verdrahtet und den Strom auch bei leeren Koppeln nicht abgeschaltet.

Die Schläge machten Iven nicht nüchterner. Im Gegenteil. Die Spannung nahm Anlauf durch seinen Körper und warf sein Hirn dumpf gegen die Schädelwand. Iven prallte zurück und stürzte in ein schwarzes Loch. Als er benommen wieder zu Sinnen kam, sah er auf Jevershallig einen Schimmel. Der Gaul hatte ihm den Kopf zugewandt und glotzte ihn an. Sein Maul war aufgerissen wie Ann Grethes Mund nach dem Kuss. Iven zeigte zittrig auf den Klepper. Carsten lachte schallend. Er schlug vor rüberzurudern, um auf der Mähre zu reiten. Iven ließ ihn reden. Zu Hause stand er vor verschlossener Tür, weil er seinen Schlüssel irgendwo auf dem Deich verschludert hatte. Er schlief im Stall. Es war höllisch kalt.

Einen Tag später wusste das ganze Dorf, dass Iven im Suff einen Schimmel auf der Hallig gesehen hatte. Ann Grethe zog seit jener Nacht ihre Vorhänge wieder zu.

7

Im Nachtclub stand Iris schon hinter der Theke. Sie trug eine aufdringlich dekolletierte Bluse. Es war nicht viel los. Die Show sollte erst beginnen, wenn es voller geworden war. Im Hintergrund wimmerte leise Popmusik. Über die Tanzfläche huschten nur die weißen Lichtflocken der Silberkugel. Iven schob die absonderliche Frau auf einen Hocker an der Bar und befahl ihr, sich nicht vom Fleck zu rühren.

Er vermied jeden Blickkontakt mit Iris, die die ganze Zeit zu ihm und der Frau herübersah. Sie kassierte gerade, und bevor sie Iven ansprechen konnte, war er schon hinter der Bühne verschwunden.

Im Umkleideraum lungerten zwei Stripperinnen herum und rauchten. Iven schloss seinen Spind auf, um den grünen Monteur-Overall gegen einen schäbigen Smoking einzutauschen.

Die Hose kniff. Sie saß schon lange knapp, aber so eng wie heute war sie noch nie gewesen. Grimmig suchte er einen Gürtel, damit er den obersten Knopf offen lassen konnte. Er fand keinen und holte sich einen von Iris’ Strumpfhaltern, der den Vorteil hatte, dass er dehnbar war. Gerade als er ihn durch die Gürtelösen fädelte, tauchte der Slowake hinter der Spindtür auf. Iven erschrak.

»Kannst du nicht anklopfen?«

Der Slowake grinste breit. Ihm gehörte der Club. Er deutete auf Ivens Gürtel.

»Ich wusste nicht, dass du auf Fetische stehst.«

Iven knurrte etwas Unverständliches. Die Stripperinnen kicherten. Wenn der Slowake gute Laune hatte, konnte Iven ihn nicht ausstehen.

Er kannte seinen Chef von früher, als der Slowake eine kleine Autowerkstatt im Nachbarort besessen hatte. Iven brachte Haiens Jeep bei ihm zur Inspektion und an Elke Haiens Mustang gab es immer etwas zu basteln. Außerdem nutzte er die Werkstatt, um seine eigenen Autos weiterzuverkaufen, obwohl ihm das Ärger im Dorf eintrug. Einmal hatte es deswegen sogar eine Schlägerei gegeben. Kurz nachdem Iven den Schimmel gesehen hatte und seine Nerven blank lagen, hatte Carsten ihn als Kanakenfreund beschimpft. Iven hatte wieder getrunken. Drei Mann mussten ihn festhalten, als er mit einer Spaltaxt auf Carsten losging. In den darauffolgenden Wahlen bekam die NPD im Dorf dreiundzwanzig Prozent. Der Slowake ging nach Hamburg. Er bot Iven an, seine Werkstatt zu übernehmen, aber Iven wollte nicht. Er blieb auf dem Hof, weil er sich immer noch Hoffnungen auf Ann Grethe machte. Der Slowake fand keinen Käufer. Nach der Schlägerei wollte niemand mehr Autos von Iven. Ein alter Käfer rostete in der Werkstattgarage vor sich hin.

Als Iven nach der Sturmflut ohne Geld und ohne Job bei dem Slowaken aufkreuzte, hatte der schon den Nachtclub am Laufen. Ein alter Plan, auf den Iven ihn gebracht hatte, weil er sich immer über die Bordellpreise beklagt hatte. Der Slowake machte ihn zum Türsteher und Rausschmeißer.

»Was ist das für eine Braut?«

»Die gehört zu mir.«

»Das habe ich gesehen. Wer ist sie?«

»Niemand.«

»Niemand?«

»Die ist nichts für dich. Nicht für den Kundenverkehr.«

»Denkt sie das auch?«

»Was meinst du?«

»Wenn du sie für dich willst, würde ich mich beeilen. Sie hat nämlich schon den Ersten aufgerissen.«

Iven hastete in den Barraum zurück. Ein Mann in blauem Zweireiher hatte sich neben dem Mädchen breitgemacht und Iris servierte ihnen Piña colada. Iven stieß ihn beiseite und zog die Frau vom Hocker.

»Lass die Finger von der.«

Sie drehte sich zu ihm um.

»Warum ziehst du dich schwarz an?«

Iven musste einen Moment überlegen, um ihre Frage auf seinen Smoking zu beziehen.

»Warum trägst du diese komischen Felle?«

»Das sind Elisabeths Tiere.«

Kopfschüttelnd bezog Iven seinen Posten vor der Tür des Clubs. Die Frau folgte ihm. Sie stellte sich neben ihn und blickte die Reeperbahn hinunter.

»Hier ist es schön bunt.«

Iven ließ ein paar Kunden rein. Etwas weiter lehnte eine Hure mit einer Plüschboa um die nackten Schultern an einem zerschlagenen Zigarettenautomaten. Die Frau ging näher, legte den Kopf schief und sprach sie an.

»Schönes Fell.«

Die Hure reagierte nicht.

»Grün.«

Ohne die Zähne zu öffnen, knurrte die Prostituierte.

»Verschwinde. Ich mache es nicht bi.«

»Was machst du?«

Die Hure zog die Stirn kraus.

»Ich warte auf einen Mann.«

»Das tut Elisabeth auch.«

»Aber nicht hier. Hier hab ich mein Geschäft.«

»Was für ein Geschäft?«

Die Hure taxierte die wunderliche Frau vor ihr. Sie war blass, schmal und spindeldürr. Null Figur, dürftige Klamotten, keine Konkurrenz.

»Willst du mich verarschen? Bezahlte Liebe.«

Ein Mann, der wie Iven einen Smoking trug, fasste von hinten die grüne Boa und zog die Hure weg. Einfältig bummelte die Frau zu Iven zurück und setzte sich neben die Clubtür. Dort schlief sie ein.

Iven forderte durch die Gegensprechanlage Georg als Vertretung an. Der Slowake kam selbst, um herauszufinden, wer die Kleine war. Iven verweigerte ihm die Antwort erneut und trug die Schlafende in seine Wohnung direkt über dem Nachtclub. Sie war noch leichter, als er erwartet hatte. Auf einmal trug er keine Frau, sondern ein Kind. Als er sie auf sein Bett legte, fing sie an, im Schlaf zu reden.

»Vierzehn, zwei und drei mal sieben,

Wo ist nur mein Kind geblieben.

Vier, fünf, acht, drei, neun und zehn –

Ach, ich kann es nicht mehr sehen.«

Iven zog ihr den muffigen Mantel und die Schuhe aus. Er zögerte einen Moment, dann tastete er das Leder ab. In der Innentasche fand er ein Portemonnaie. Er klappte es auf. Hinter einem Klarsichtfenster steckte ein Behindertenausweis. Sie hieß Elisabeth Schmidt und lebte in einer betreuten Wohngruppe.

Vor ihm lag der magere, fröstelnde Körper. Die nackten Arme stachen aus einem ärmellosen T-Shirt. Sie kamen Iven außergewöhnlich lang vor. Ihre Nagelmonde waren tintenfleckig. Er zog die Bettdecke unter ihr weg und deckte sie damit zu.

Dann ging er zu Iris an die Bar.

»Ich kann heut nicht.«

»Wegen des Mädchens?«

»Ja.«

»Wer ist sie?«

»Erzähl ich dir später.«

8

Der Nachtclub des Slowaken unterschied sich nicht wesentlich von dem, den Iven manchmal in Husum besucht hatte. Die gleichen roten Tischlichter, das schummrige Ambiente, eine Tanzfläche, die gleichen Plüschkissen, die nach Staub rochen. Eine Bühne mit Laternenpfahl, an dem die Mädchen tanzten, wenn sie sich auszogen, Zimmer im Obergeschoss. Nur die Huren waren jünger als in Husum und trotzdem nicht teurer. Eines der Zimmer im zweiten Stock war seit fünfzehn Jahren Ivens Zuhause. Es hatte eine Kochnische, daneben eine Duschkabine und einen kleinen Flur, in dem sich alte Stoßdämpfer, ausrangierte Auspufftöpfe und Zylindersätze stapelten.

Das Zimmer genügte Ivens Ansprüchen. Er hatte sich an das späte Aufstehen gewöhnt und an das Nachhausekommen im Morgengrauen. Er lebte mit Iris, dem Benzingeruch seiner Haut und dem braunen, abgewetzten Teppich, der schon in der Wohnung lag, als er einzog. Er hatte sich nicht für den Teppich entschieden und er hatte sich Iris nicht ausgesucht. An Ivens vierunddreißigstem Geburtstag war sie einfach da gewesen, hatte auf der Treppe vor seiner Tür gesessen und gelesen. Er hatte ein wenig früher frei bekommen und war noch in der ›Muschel‹ gewesen, einer Kneipe am Hafen.

Seit jener Nacht war Iris immer wiedergekommen und hatte vor der Tür auf ihn gewartet. Er hatte schon damals den bitteren Kaffeegeschmack im Mund, nach dem sein Speichel im Anschluss an eine Nachtschicht vor dem Club schmeckte. Der taube Morgengeschmack war das Einzige, an das er sich nie gewöhnt hatte.

 

Die Kaffeebitternis stellte sich auch auf der B 5 hinter dem Sperrwerk pünktlich ein, obwohl Ivens Tagesablauf durcheinandergeraten war.

 

Vor drei Wochen hatte Iris sich eine üble Erkältung geholt, weil es im Flur zog wie Hechtsuppe. Am nächsten Tag ließ Iven einen Schlüssel für sie nachmachen.

»Ich brauche immer einen Tritt in den Arsch.«

 

In der Sturmflutnacht drückte Elke Haien ihm ihr Kind in den Arm.

»Pass gut auf sie auf.«

Der Orkan hatte die Strommasten schon früh am Abend umgeknickt und die Rücklichter des Mustangs, mit dem Elke zum Deich fuhr, glichen zwei glühenden Albinoaugen in der ansonsten lichtlosen Nacht. Gleich nachdem Elke den Hof verlassen hatte, brachte sich Ann Grethe in Sicherheit.

Das Dorf wurde evakuiert. Haien hatte Stina Jansen mit ihrem Sohn schon am Nachmittag in den Ort geschickt.

Ole Peters kam vom Deich zurück und organisierte die Räumung.