Sommergig - Robert Habeck - E-Book

Sommergig E-Book

Robert Habeck

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Beschreibung

Ein Roadtrip nach Kopenhagen Tom ist verliebt in Penny, die unnahbare Sängerin einer Schülerinnen-Rockband. Als die Mädchen zu einem Nachwuchsfestival nach Kopenhagen eingeladen werden und ihn als Fahrer aussuchen, ist Tom überglücklich. Es ist glühend heiß in Kopenhagen, Leute aus der ganzen Welt kommen zusammen, um zu tanzen und zu feiern. Aber dann herrscht Katerstimmung, denn nichts klappt so, wie die fünf es sich erträumt haben. Als schließlich ein syrischer Flüchtling ihre Hilfe braucht, kommt es zum Streit. Zu unterschiedlich sind ihre Vorstellungen von Freiheit und Idealen ...

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Robert Habeck / Andrea Paluch

Sommergig

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

TEIL I

1.

Pennys Pferdeschwanz wippte. Aus meiner Perspektive hätte man glauben können, dass sie abschrieb. Aber da Britt neben ihr saß, war das unwahrscheinlich. Britt hatte nicht viel Peilung. Schon gar nicht in Latein. Also beugte sich Penny nicht zu Britt, um von ihr abzuschreiben, sondern um sie abschreiben zu lassen. Es war die letzte Klausur vor den Ferien. Latein. Latein ist, wie jeder weiß, eine tote Sprache. Sie wird nur in der Gegenwart gehalten, indem sie wieder und wieder abgeschrieben wird. Sie wird nicht gesprochen, verändert, in den Mund genommen oder sonst was, sie wird nur kopiert. Abgeschrieben zu werden ist quasi das Wesen von Latein. Aber das nur am Rande. Jedenfalls wurde Britt nicht erwischt und abends nahm ich zum ersten Mal Gras mit zu Penny or Dime, aus dem wir Tee kochten, weil nur Ilayda rauchte.

Aber als wir die Klausuren zurückbekamen, stellte sich unser Lehrer, Herr Krüger, vor Britt und Penny auf und sagte: »Eure Klausuren sind identisch. Ihr habt beide nur einen Fehler. Und zwar den gleichen. Ich habe euch beiden eine sechs gegeben. Aber wenn ihr mir sagt, wer von euch beiden abgeschrieben hat, gebe ich euch eine zwei.«

Ich weiß gar nicht, ob Lehrer so was dürfen. Für mich klang das wie Erpressung. Für mich klang das wie Anstiftung zu einer Straftat. Davon mal ganz abgesehen, dass Britt total grotte ist in Latein und Penny, wie überall, Klassenbeste. Es war also völlig klar, wer von wem abgeschrieben hatte. Humorloser kann man wohl kaum sein, als das auch noch nachzufragen.

Penny meldete sich trotzdem.

»Ja?«, fragte Herr Krüger erwartungsfroh.

»Ich hab abgeschrieben«, sagte Penny.

Für einen Moment gefror die Luft im Klassenraum. Dann prustete die Klasse los vor Lachen. Nur Herr Krüger nicht. Er starrte Penny an, sich langsam seines Fehlers bewusst werdend.

»Bitte«, sagte Penny und hielt ihm ihr Heft hin.

»Bitte was?«, fragte Herr Krüger.

»Sie haben gesagt, wenn wir zugeben, wer abgeschrieben hat, kriegen wir eine zwei«, sagte Penny.

»Sie wissen genau …«, brauste er kurz auf. Dann holte er tief Luft und änderte die Note in Pennys Heft. Darauf hielt Penny ihm Britts Heft ebenfalls unter die Nase. Und er korrigierte auch ihre Note.

Ich kann nur ahnen, wie er sich dabei fühlte. Ich finde es ja total albern, wenn die Lehrer sich so aufspielen, als wären sie irgendwie ein anderer Schlag Mensch. Ich meine, sie sind auch hungrig und müde und machen Fehler und weinen abends in ihr Kissen wie wir alle. Was dieser Autoritäts-Quatsch soll, ist mir nie klar geworden. Es ist irgendwie was Deutsches, glaube ich. In den USA und überall sonst sind die Lehrer die Freunde ihrer Schüler. In Deutschland sind sie die Bestrafer. Und nur, weil sie sich diesen Schuh auch noch freiwillig anziehen, geht die ganze Nummer so oft schief.

* * *

Am Fenster vom Kursraum klebten Regentropfen wie Diamanten. Tränen, die die Sonne jetzt wegleckte. Irgendetwas ging gerade zu Ende, etwas anderes begann. Irgendwo musste das Licht ja herkommen. Klar, es kam von außen und von oben. Aber in diesem Moment schien es mir, als würden wir es ausstrahlen, als würden wir leuchten, in der Erwartung eines großen Feriensommers der Freiheit.

Penny war die beste Schülerin unserer Klasse. Und das war sie, obwohl sie nie auch nur einen Zacken für die Schule tat. Vermutlich gab es sonst niemanden, der so faul und gleichzeitig so gut war wie sie.

Das einzige, was Penny wirklich mit Ausdauer tat, war singen. Singen und Songs schreiben und mit ihrer Band proben. Ihre Band hieß Penny or Dime, unsere Schülerband. Genauer gesagt unsere Schülerinnenband. Penny war die Sängerin, Ilayda spielte Schlagzeug, Anna Gitarre und Britt, die gerade von Penny abgeschrieben hatte, spielte Bass.

Eine Mädchenband war eine coole Sache. Irgendwie waren alle Jungs in sie verknallt. Nicht unbedingt in die Mädchen, jedenfalls nicht in jede einzeln.

Ilayda zum Beispiel als Freundin zu haben wäre eher ein Alptraum gewesen. Ihre Familie kam aus der Türkei und etwas von der Härte des Lebens in Anatolien umgab sie wie andere Mädchen Parfum. Ilayda hatte vom Schlagzeugspielen muskulöse Oberarme wie ein Boxer. Nein, das stimmt nicht. Ihre Oberarme waren nicht dick und hatten nicht so einen aufgeblasenen, hormongetränkten Bizeps. Ihre Arme waren schlank, aber zäh, hart und fest. Alles an Ilayda war zäh, hart und fest. Aber wer wollte schon mit einem Mädchen zusammen sein, das stärker war als man selbst? Ilayda und ich, wir, naja, hassten uns nicht gerade, aber wir mochten uns nicht. Ich war der Meinung, jeder soll so glücklich werden, wie er will. Jeder soll so viel wie möglich ausprobieren. Jeder soll hungrig sein auf Abenteuer. Und da Hunger kein absoluter Zustand ist, sondern ein relatives Gefühl, weil er entsteht, wenn der Blutzuckerspiegel sinkt, wird man lebenshungriger, je mehr man probiert, erlebt, erfährt.

Ilayda war voller Regeln, Verbote, Neins. Sie kam aus einer muslimischen Familie und war dafür, dass man das Kopftuchtragen in Deutschland verbieten sollte, weil es die Frauen unterdrückt. Sie war für eine Kita-Pflicht für Kinder ab 3, um die Klassenunterschiede in Deutschland aufzuheben und in Gemeinschaftskunde stritt sie für ein Bußgeld für alle, die sich nicht impfen ließen. Sie konnte nicht fassen, warum es nicht schon längst eine Impfpflicht gab. Ich fragte sie, was sie wohl glaubte, warum die Wahlurne »Urne« hieß. Genau: Weil darin der freie Wille beerdigt wurde.

Schwänzen kam für Ilayda nicht in Frage, einen Probetermin der Band verpasste sie nie, und sie lehnte das kapitalistische System ab. Ich glaube nicht, dass wir in einem kapitalistischen System leben, eher in einem Mischmasch von irgendwas Unklarem. Und das finde ich eigentlich ganz gut. Ich finde Klassen bescheuert, aber Unterschiede sollte es so viele wie möglich geben. Jeder und jede sollte ein Kopftuch tragen dürfen und bei dem Wort Pflicht schalte ich auf Durchzug.

Das einzige, was mich mit Ilayda verband, weshalb ich wusste, wie sie war und dass in ihrem Zimmer Poster anatolischer Höhenzüge neben denen von Billi Eilish, Lady Gaga und Beyoncé hingen, war ihr Bruder Aikal, den alle im Jahrgang Eierkalle nannten. Mit ihm verstand ich mich, seit wir uns zufällig beim Joggen am Badesee getroffen hatten. Man kann sich einen Wolf reden über Freundschaft und Liebe und so. Aber was einen echt verbindet, ist nebeneinanderher zwei Stunden im strömenden Regen zu laufen, sich mit einem Nicken zu verabschieden und am nächsten Tag festzustellen, dass der Typ vom Regendauerlauf der Bruder der Schlagzeugerin ist.

Ich ging zu ihm, sagte: »Guter Lauf, gestern.«

Er sagte: »Stimmt.«

»Ich bin Tom«, sagte ich.

»Eierkalle«, sagte er. »Du bist der Neue, oder? Hat mir meine Schwester erzählt.«

Ich fragte mich, was sie ihm wohl erzählt hatte.

2.

Anna sah eher schön als gut aus. Fast etwas zu schön. Für mich jedenfalls. Beinah etwas süßlich. Sie war mehr ein Püppchen als ein Mädchen. Sie war siebzehn und trug noch immer rosa Socken. Sie schminkte sich nicht, weil ihr Gesicht auch ohne Schminke perfekt war. Ihre Augenbrauen sahen aus wie gezupft, waren es aber nicht. Sie machte einem anders Angst als Ilayda. Wenn man sich vorstellte, sie in den Arm zu nehmen oder zu küssen, dann mit einem Gefühl, als würde man Mutters gute Zuckerdose aus dem obersten Regal des Wohnzimmerschranks nehmen oder wie bei der Konfirmation, wenn man die Oblatenschale halten muss. Man hat Panik sie fallen zu lassen, weil sie dann zerbrechen und in 1.000 Stücke zerspringen würde oder eben 1.000 geweihte Kekse durch die Kirche kullern. Jedenfalls ging mir das so. Aber andererseits kannte ich einen Haufen Jungs, die scharf auf Anna waren. Und auf eine Art auch völlig zu Recht. Wenn Anna auf der Bühne mit Penny or Dime rockte, dann schien sie ihre eigene Zerbrechlichkeit zu vergessen. Dann flogen die Haare, die Füße, die Fetzen. Dann hatte man gleich Lust, auf den Oblaten Pogo zu tanzen. Ich jedenfalls. Und das ist vielleicht der Grund, aus dem ich mir verbot, mich in Anna zu verlieben. Wenn ich sie sah, kam in mir irgendwie die Lust auf, diese perfekte Fassade zu zerstören.

Vor Britt brauchte niemand Angst zu haben. Außer Britt vielleicht vor sich selbst. Ihr kennt diese typische Bassistenhaltung. Die Bühne explodiert, die Sängerin wirft sich ins Publikum, die Schlagzeugerin wirbelt hinter den Drums und die Gitarristin zerschlägt die Gitarre. Nur die Bassistin steht da wie eine Götze, zupft an den Saiten, den Kopf vorgebeugt, leicht im Takt wippend, vielleicht auch noch eine Zigarette im Mundwinkel und alles scheint an ihr vorbei zu gleiten, als ob sie nicht von dieser Welt wäre. Ich weiß nicht, ob das Instrument den Bassisten zu einer anderen Art Menschen macht, oder man Bass spielt, weil man zu einer anderen Art Menschen gehört. Jedenfalls war Britt Bassistin auch im übertragenen Sinn. Sie ließ die Wirklichkeit nicht an sich heran. Ihr passierten die unmöglichsten Dinge und sie hatte trotzdem gute Laune. Dass Britt sich am ersten Tag der Klassenfahrt den Arm brach, weil ausgerechnet in dem Moment, in dem sie auf den Sprungturm kletterte, das Seitengeländer von der Treppe abbrach, war sozusagen der erwartete Regelfall.

Außerdem schrieb Britt die ganze Zeit. Nicht Aufsätze oder Briefe oder vielleicht auch Gedichte. Nein, Britt schrieb über alles, was sie sah, fühlte, erlebte. Sie tippte immerzu auf ihrem Handy rum und wenn man sie fragte, was sie da schrieb, dann sagte sie »über mein Leben«. Tatsächlich erlebte sie ja genug. Aber irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass es gesund ist, alles was man erlebt aufzuschreiben. Das ist doch so, als würde man sich verdoppeln, als würde man sein Leben zweimal leben, einmal in echt, einmal in der Retorte. Vielleicht kann man sagen, es ist so, als würde man Bass spielen. Mein Eindruck war, dass man sich um Britt Sorgen machen musste.

Sie sah übrigens gar nicht schlecht aus. Ein bisschen zu gleichgültig sich selbst gegenüber für meinen Geschmack. Ich finde, Natürlichkeit ist in Modedingen kein Kriterium. Dass wir alle irgendwie mit einem Körper ausgestattet wurden, für den wir nichts können, rechtfertigt nicht, dass wir ihn einfach so hinnehmen, oder? Nicht, dass man sich aufbrezeln oder Bodybuilding treiben und Hormone in sich reinstopfen muss. Aber ein gewisses Maß an kritischer Selbstbeobachtung schadet niemandem. Mundgeruch, Achselschweiß, gelbe Zähne, dreckige Fingernägel, das kommt alles von alleine. Und das heißt auch, dass man es selbst verhindern muss. Und Britt sollte sich vielleicht ab und zu nicht nur als Figur in ihrem eigenen Text, sondern auch mal im Spiegel betrachten.

Soweit die Band.

Nein, etwas fehlt. Die Jungs. Ihre Freunde. Anna hatte einen Freund irgendwo. Sie schrieb ihm viel und war ihm treu, schätze ich. Britt war solo, vielleicht lesbisch. Meinten wenigstens einige, allen voran Eierkalle.

»Und deine Schwester?« wollte ich wissen.

Seit wir uns besser kannten, setzten wir uns manchmal nach dem Joggen in das flache Wasser des Sees, so dass unsere Hintern leicht unterspült wurden, und rauchten etwas. Wobei sich schwer sagen lässt, was das unglaublichere Gefühl war, nach dem Laufen einen Zug auf Lunge zu nehmen oder vom weichen Wasser den verschwitzten Hintern geleckt zu bekommen. Beides zusammen führte jedoch zu einer sensationellen Ganzheitserfahrung.

»Ich mein, sie hat all diese Frauenposter in ihrem Zimmer hängen und sie macht Kampfsport und so«, sagte ich.

Eierkalle dachte nach. Dann schüttelte er den Kopf, blies Rauch aus.

»Ist Kampfsport ein Kriterium für lesbisch sein? Wusste ich gar nicht«, sagte er.

»Ich auch nicht«, sagte ich. Das Nikotin und was sonst noch unsere Lungen teerte, ließ uns zittern.

»Eher hat sie so einen Jungfrau-Tick«, meinte Eierkalle.

Ich verstand, was er meinte. Es machte Sinn. »Vielleicht verachtet sie Gefühle oder sieht Sex als höhere Aufgabe oder Pflicht.«

»Vielleicht.«

»Wäre schade …«, sagte ich.

Eierkalle schaute mich schräg aus halb herunter gelassenen Lidern an.

»Bist du in Ilayda verliebt?«

Er sagte »verliebt«, nicht »verknallt« oder »willst du mit ihr schlafen« oder so.

Ich schüttelte den Kopf. Nein, nicht in Ilayda, nicht mit Ilayda …

Doch jetzt wurde die Sache kompliziert. Denn Penny hatte einen Freund. Und der hieß Eierkalle.

3.

Ich habe fünf Jahre in den USA gelebt. Mein Vater ist so eine Art Diplomat und wird dauernd versetzt und eben irgendwann auch mal nach New York, jedenfalls wenn er Glück hat. New York ist cool. Mehr muss ich vielleicht nicht sagen, sonst wird das hier ein Reiseführer. Und davon gibt es bestimmt schon eine Wagenladung voll. Obwohl ich vielleicht noch ein paar Geschichten beisteuern könnte. Geschichten, die in keinem Reiseführer stehen.

Ich kam jedenfalls völlig quer zu allen deutschen Schul-Versetzungsregeln zurück und vor die Wahl gestellt, ob ich mich gleich am Abitur versuchen oder erstmal wieder Deutsch lernen sollte, steckte mich mein Vater lieber in die Zwölfte. Für mich war das eine schwere Kränkung und die Vorstellung, mich mit dem Junggemüse abgeben zu müssen, bereitete mir richtig schlechte Laune. Ich kam aus Big Apple, ich fühlte mich cool bis in die gegelten Haarspitzen, ich hatte keinen Bock auf Jahrgang 12. Bis genau zu dem Moment, als die Schule begann.

Ich trottete an meinem ersten Schultag – es war April, ein Wetter wie jetzt, Regen und Sonne im Wechsel – zuerst zum Rektor, der mir einen Stundenplan in die Hand drückte, mir viel Glück wünschte und hoffte, dass ich mich auf seiner Schule wohl fühlen würde. Als wäre das ein beklopptes Animationshotel. Dann schickte er mich in Kursraum 2012.

Als ich vor dem Raum stand, war ich mir irgendwie sicher, dass gleich etwas total Wichtiges passieren würde – etwas, das alles verändern wird, so als hätte man es schon einmal erlebt.

Ich ging ohne anzuklopfen hinein in der Kampfhaltung, die man einnimmt, wenn Eltern einem erklären, man habe um elf zuhause zu sein. Vor mir, mitten im Raum, standen vier Mädchen und sangen »Hallelujah«. Hallelujah, dachte ich. Es war aber, wie ich später erfuhr, nicht irgendeine komische amerikanische Merry-Christmas-Schnulze, sondern die norwegische Version des Merry-Christmas-Songs von Leonhard Cohen, der zu den am meisten gecoverten Songs aller Zeiten gehört. Espen Lind, Kurt Nilsen und noch zwei andere Typen, deren Namen ich vergessen hab, hatten den Song irgendwann mal gecovert – und Penny or Dime coverten die Coverversion.

Ich bin nicht religiös, ich glaube, dass Gott ganz froh wäre, wenn die Menschen nicht an ihn glauben würden. Aber dieses Lied lässt einen doch wünschen, dass es mehr gibt auf der Welt als nur Schule, Geld und Klamotten. Das muss nicht gleich Gott sein. Vielleicht ist es eher sein eigenes Leben, dessen Widerhall man in diesem Lied hört.

Penny or Dime beendeten später alle ihre Konzerte mit diesem Hallelujah. Und genau das probten die vier hier das erste Mal. Ansonsten war der Kursraum leer.

Die Mädchen sangen einfach weiter, als wäre ich nicht da. Jedenfalls schien mir das so. Ich hatte natürlich keine Ahnung, wie sie zuvor gesungen hatten. Ich setzte mich in die letzte Reihe. Irgendwas musste sich der Rektor ja dabei gedacht haben, als er mich hierher geschickt hatte. Fast schien es, als hätten die Mädchen mich gar nicht bemerkt. Nur Ilayda, von der ich noch nicht wusste, dass sie Ilayda hieß, verfolgte mich aus den Augenwinkeln.

Und dann war das Lied zu Ende und ich klatschte. Das Lied klang, wie ich mir wünschte, dass mein Leben klingen sollte. Und meinem Leben wollte ich gern applaudieren.

* * *

Aber Penny, von der ich nicht wusste, dass sie Penny hieß, und die in Wahrheit auch gar nicht Penny heißt, zu der aber kein anderer Name besser passen könnte, fand das wohl nicht so sehr zum Klatschen (mein Leben vielleicht schon, aber ihren Gesang wohl nicht).

»Spinnst du oder was?«, fragte sie mich. Ich sah, wie ihre Augen zu schmalen Schlitzen wurden und ihr Mund zu einem geraden Strich. Eigentlich hat Penny sehr schön geschwungene Lippen, aber plötzlich waren sie gerade und verloren fast die Farbe. Ich sah aber auch, wie sich im Winkel ihrer Lippe eine kleine Lachfalte kräuselte. Das war zwar eher spöttisch als niedlich, aber es zeigte, dass Penny sehr wohl wusste, dass sie sich hier irgendwie komisch aufspielte. Jedenfalls zeigte sie, dass sie spielte. Und auf solch einer Ebene mit einem Mädchen zu reden, das ist das Beste, was einem passieren kann. Sich angiften und dabei einander immer näher kommen. Das war der Plan, mein Plan von dieser Sekunde an. Und ich war meinem Vater nicht mehr böse, dass er mich in die Zwölfte geschickt hatte.

»Das war wirklich klasse«, sagte ich, biederer, als ich sonst reden würde. Ich mein, wer sagt schon »klasse«, wenn etwas eigentlich fett, nice oder voll krass ist. Aber im Raum schwebte noch das letzte Hallelujah. Das veränderte einen.

Auf ein Lob jedoch muss man antworten oder man hat es angenommen. Und etwas annehmen, das schien diese Penny auf keinen Fall zu wollen.

»Dich hat keiner gefragt. Das ist hier nicht öffentlich«, giftete sie zurück.

Die Oberlippenwölbung bei Frauen heißt Armorbogen. Und das völlig zu Recht. Denn in der Sekunde, in der die Lippen wieder rot wurden und geschwungen, traf mich der Pfeil voll ins Herz, wenn ich das mal so auf Altgriechisch sagen darf.

»Klar, du hast gefragt, ob ich spinne«, antwortete ich.

Ich sah Britt und Anna grinsen. Penny musste es wohl auch gesehen haben, denn sie blickte die beiden böse an, woraufhin sie aufhörten zu grinsen.

Penny hatte so eine Art Pagenschnitt und die Haare mit Spangen zurückgesteckt. Ich konnte mich erinnern, dass Mädchen solche Spangen trugen, als ich vor 14 Jahren in Deutschland in den Kindergarten ging. Dass sie immer noch in Mode waren, ließ mich kurz daran zweifeln, ob ich älter geworden war. Oder ob Penny älter geworden war. Zu ihren Spangen trug sie an diesem Morgen ein grünes Hemd, das aussah wie ein Männerhemd, eine Jeans und über der Jeans einen Schottenrock, dazu schwarze Stiefel mit Schnallen. Total schräg. Aber irgendwie war sie das ja auch, schräg meine ich.

»Gehst du jetzt raus?«, fragte sie. Sie schien aus Fehlern nicht besonders viel zu lernen, denn je mehr man fragt, desto länger dauern Gespräche. Oder es ging ihr wie mir und sie wollte eigentlich gar nicht, dass das Gespräch zu Ende ging.

Ich sagte: »Nö« und legte die Füße auf den Tisch vor mir und war gespannt, was jetzt passieren würde. Entweder würde sie mich schlagen, oder sie würde gehen. Ich hätte Ersteres vorgezogen. Aber sie tat nichts von beidem, sie wandte sich um, klimperte ein wenig auf dem Klavier und dann sangen die vier noch einmal Hallelujah. Und ich klatschte wieder, denn es war wirklich großartig, vierstimmig und so. Und diesmal regte sich Penny nicht mehr auf, sondern ignorierte mich einfach. Alle vier ignorierten mich, jedenfalls äußerlich. Ich meinte aber zu spüren, dass sie anders sangen. Irgendwie intensiver. Vielleicht ein bisschen so, als würden sie mich vertreiben wollen durch ihren Gesang. Aber genau dadurch wurde er zu einem Lied für mich. Und als sie fertig waren und ich wieder klatschte, gehörte ich auf eine unklare Art irgendwie dazu.

Es gibt diese Fangirls, die immer ihren Stars hinterherreisen und auf alle Konzerte gehen. Vielleicht wurde ich in diesem Augenblick zu so was Ähnlichem – nur mit umgekehrtem Geschlechtsvorzeichen. Ein männlicher Groupie sozusagen. Jedenfalls war ich von diesem Moment an häufig bei ihren Proben dabei. Ich war auch da, als die Einladung zum Festival nach Kopenhagen kam. Das war der bisherige Höhepunkt in der kurzen, rockigen Karriere von Penny or Dime. Und es war der wirkliche Beginn dieser Geschichte.

4.

Drei Monate nach meinem Auftauchen im Leben von Penny or Dime fuhren wir nach Kopenhagen. Wir schliefen ein letztes Mal in unseren eigenen Betten. Das sage ich jetzt so. Aber ganz richtig ist es nicht: Eierkalle schlief zwar in seinem Bett (das war mein Erfolg), Ilayda jedoch nicht in ihrem.

Wir hatten abends die Instrumente in den Bus gepackt, drei verschwitzte Mädchen und ich. Ilayda war nicht dabei. Sie meldete sich erst nachts mit einer Nachricht bei Britt.

Nach nur vier Stunden Schlaf stand ich wieder auf.

»Dass du nichts trinkst, Tom«, hatte Anna gestern gesagt und die Drohung nicht vollendet. Ich hatte nichts getrunken. Eine andere Zeit hatte begonnen, ich spürte das.

Islamistische Selbstmord-Attentäter huren und saufen erst mal herum, bevor sie sich alle Körperhaare entfernen und gut riechend in den Tod gehen. Von mir aus könnten sie auch nackt in ihren eigenen Tod gehen, aber den Tod vieler Menschen herbeizuführen und gleichzeitig von Reinheit zu reden, das ist schon eine arg schräge Sicht auf die Welt.

Darüber dachte ich nach, als ich durch den frühen Morgen fuhr. Reinheit ist ein schlechter Ratgeber. Sie macht die Welt schlechter.

Mein Vater war extra aufgestanden und hatte mir einen Kaffee gekocht. Fand ich eine große Geste nach allem. Ich fuhr los, tankte noch einmal voll und holte zuerst Penny ab. Natürlich Penny, obwohl sie nicht am dichtesten von mir wohnte. Noch einmal zehn Minuten mit ihr allein, um die Dinge gerade zu rücken, die zwischen uns standen.

Sie schien nicht überrascht, dass ich sie zuerst abholte. Penny trug Hüftjeans und ein weißes Rippensweatshirt mit einem V-Halsausschnitt bis fast zum Ende ihres Brustbeins. Soweit ich sehen konnte, trug sie nichts drunter. Letztlich war sie achtlos angezogen. Zu achtlos für solch eine Reise, fand ich. Sie schmiss ihren Rucksack nach hinten auf die Ladefläche. Was Mädchen wohl einpacken, fragte ich mich. Ich mein, neben Unterwäsche, Bikini, Zahnbürste, Tampons … Packen sie die Dinge, die Jungs einpacken, nur auf eine weibliche Art ein, oder denken sie anders über solch eine Reise nach? Nicht praktisch, sondern ästhetisch, zum Beispiel? Nehmen sie mehr Garderobe mit oder Schuhe, die cool sind und nicht bequem? Oder sind das alles dumme Klischees? Und kann man so unterschiedliche Mädchen wie Ilayda und Anna zum Beispiel überhaupt über einen Kamm scheren?

Ich roch ganz schwach Pennys Shampoo, als sie sich neben mich setzte. Kein Parfüm, nur ein Hauch von Passionsfrucht oder anderer tropischer Verheißungen.

»Alles frisch?«, sagte ich.

Und da sagte sie, völlig unvermittelt: »Wenn du willst, dass das zwischen uns gut wird, dann hör einfach mit dem dummen Gequatsche auf.«

Ich ließ die Kupplung kommen. Die Haare ihres ausgefransten Ponies wippten beim Anfahren vor ihre Stirn.

»Ist Ilayda wieder zuhause?«, fragte ich.

»Keine Ahnung.«

Ich versuchte zu verstehen, was sie da gesagt hatte. »Das-zwischen-uns«. »Das-zwischen-uns« konnte alles Mögliche sein. Es konnte aber auch genau das sein, was ich dachte. Aber was konnte ich antworten, wenn sie sagte, ich solle nicht immer so viel quatschen? Doch sie redete weiter.

»Ich mein, dass du mich verfolgst und beobachtest, dass du dich versteckst und dich von Eierkalle zusammenschlagen lässt, ohne dich zu wehren und dass du überhaupt dabei bist, das ist total – ich weiß nicht –«

»Besonders?«, schlug ich vor.

»Merkwürdig«, sagte sie und grinste. »Aber dass du immer reden musst und dumme Sprüche machen und so …«

Ich sagte: »Wenn ich zu viel rede, dann solltest du dich jetzt mal hören.«

Sie nickte. Das sah ich nur am Baumeln ihrer Haare. Und dann, ohne Vorwarnung, beugte sie sich zu mir herüber und küsste mich. Sie küsste mich so schräg auf den Mund, da wo die Lippe zur Backe wird. Direkt neben der Stelle, wohin sie mich mit dem Mikro geschlagen hatte.