Haupt- und Nebenwirkungen - Gabriele Goettle - E-Book

Haupt- und Nebenwirkungen E-Book

Gabriele Goettle

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Beschreibung

Wir alle sind – auf Gedeih und Verderb – auf unser Gesundheits- und Sozialsystem angewiesen. Aber wer weiß schon genau, wie die Systeme funktionieren? Wie sie sich verändert haben? Wer begreift noch den Sinn und die Auswirkungen staatlicher Verordnungen, der »Reformen« der letzten Jahre? Ein Nachmittag bei Lobbycontrol in Berlin, ein Besuch bei dem Rentenexperten Otto Teufel, zu Gast bei einer renitenten Putzfrau – das öffnet den Blick für Zusammenhänge. Gabriele Goettle gelingt es, in ihren Reportagen sowohl die Haupt- wie auch die Nebenwirkungen der neoliberalen Sozial- und Wirtschaftspolitik kenntlich zu machen, die immer massiver in die Lebensumstände der Bürger eingreift. Wie massiv, begreift man mit diesem Buch. Intelligent, empathisch und mit gnadenloser Hellsicht leuchten Goettles Gespräche unsere Gegenwart und Zukunft aus. »So kann's einfach nicht weitergehen!«, sagt Susanne Neumann, Putzfrau aus Gelsenkirchen. Und wer dieses aufregende Buch gelesen hat, wird ihr aus vollem Herzen zustimmen.

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Seitenzahl: 322

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Gabriele Goettle

HAUPT- UNDNEBENWIRKUNGEN

ZUR KATASTROPHE DESGESUNDHEITS- UND SOZIALSYSTEMS

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

Die Gespräche wurden zusammenmit Elisabeth Kmöliger geführt

VON BÖCKEN, DIE GÄRTNERN

Ein Nachmittag bei Lobby-Control in Berlin

 

»Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle desdeutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren,Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und dieGesetze des Bundes wahren und verteidigen, meinePflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegenjedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.«(Amtseid, nach Art. 56 GG, für Bundespräsident,Bundeskanzler u. die Bundesminister)

TIMO LANGE, Politikwissenschaftler u. Leiter d. Berliner Büros von Lobby-Control. Er wurde 1982 in Berlin geboren. 2001 Abitur. 2009 macht er am Otto-Suhr-Institut d. Freien Universität zu Berlin sein Diplom als Politikwissenschaftler, er leitete während des Studiums schon für Lobby-Control Stadtführungen durch das Berliner Regierungsviertel u. veranstaltete freiberuflich Seminare und Workshops zu Themen wie Migrationspolitik, Rechtsextremismus, Rassismus und natürlich auch Lobbyismus. Ab Mai 2011 arbeitete er fest bei Lobby-Control in Köln, wo er sich vor allem mit d. Lobbyismus in Brüssel beschäftigte. Seit März 2012 ist er Leiter des Berliner Büros von Lobby-Control und hat seinen Schwerpunkt auf die Berliner Verhältnisse verlegt, auf Themen wie Lobbyregister, Parteienfinanzierung, Nebentätigkeiten von Abgeordneten und Interessenkonflikte. Nebenbei macht er politische Bildungsarbeit z.B über Asyl- und Migrationpolitik auf EU-Ebene. Timo Lange ist ledig, sein Vater ist Lehrer, seine Mutter ist Pflegerin in d. Geriatrie.

Die mächtigsten lobbyistischen Organisationen sind die Unternehmen, Verbände und diversen Zuarbeiter des Gesundheitssektors und der Pharmakonzerne, der Banken- und Versicherungswirtschaft, der Energie- und Atomwirtschaft, der Rüstungs-, Luftfahrt- und Automobilindustrie, der Landwirtschafts- und Lebensmittelindustrie u.a. Sie agieren im Verborgenen, nehmen systematisch Einfluss auf die Gesetzgebung, manipulieren die sogenannte öffentliche Meinungsbildung und betreiben mit großer Energie und hohem Geldeinsatz die marktgerechte Zurichtung unserer Gesellschaft, bis hinein in die sozial empfindlichsten Bereiche. Allein das Gesundheitsministerium wird von mehr als 400 Lobbygruppen »beraten«, die alle auf den 260 Milliarden schweren Gesundheitsmarkt aus sind. Und angesichts der Lobbyisten in Brüssel drängt sich mir die polemische Frage auf, ob es nicht konsequenter wäre, wenn schon die Finanzwirtschaft dem EU-Parlament bei der Regulierung der Finanzmärkte derart »nachhaltig« zur Hand geht, die Europapolitik gleich ganz zu privatisieren.

Lobby-Control ist ein 2005 gegründeter gemeinnütziger kleiner Verein in Köln, der sich mit erstaunlicher Energie und Resonanz den intransparenten Aktivitäten der verschiedenen Lobbygruppen in Deutschland und Europa widmet. Er klärt über Machtstrukturen und die erfolgreichen Einflussstrategien der Akteure auf, recherchiert, publiziert, organisiert Kampagnen und stellt Forderungen auf. Seine Mitarbeiter veranstalten erklärende Stadtführungen durchs Berliner Regierungsviertel, direkt vor die Haustüren diverser Lobbyakteure. Sie haben »LobbyPlanet« verfasst, einen sehr empfehlenswerten kommentierten Stadtführer durch den Berliner Lobbydschungel, und ebenso einen für das EU-Viertel in Brüssel. Und sie betreiben, für jeden frei verfügbar, »Lobbypedia« (www.lobbypedia.de), ein lobbykritisches Onlinelexikon. Lobby-Control ist unparteiisch, bezieht aber Partei dafür, dass das Wohl der Allgemeinheit vor den Profitinteressen Einzelner steht.

Die Berliner Dependance hat ihren Sitz am Schiffbauerdamm 15, direkt an der Spree, unweit vom Brecht-Theater auf der einen und dem Sitz des Bundestages auf der anderen Seite. Schräg gegenüber liegt der Bahnhof Friedrichstraße. Einige Schilder von NGOs und Firmen hängen am Eingangsportal des ehemaligen DDR-Ministeriums für Umweltschutz und Wasserwirtschaft. Heute ist jede staatstragende Strenge aus dem riesigen Plattenbaukomplex verschwunden, die Glastüren stehen offen, die Pförtnerloge ist leer und verstaubt, der Aufzug gesperrt. In einem winzigen Büro im ersten Stock, hinten hinaus nach Norden, mit Blick auf Gleise und Züge, sitzt Timo Lange an seinem überladenen Schreibtisch vor dem Rechner. Er begrüßt mich freundlich und räumt einen Klappstuhl frei.

Umstandslos beginnt er zu erzählen: »Ja, ist ein bisschen eng auf 12 Quadratmetern für zwei Personen und zwei Schreibtische, es geht aber. Dafür zahlen wir auch nur 240 Euro Warmmiete. Das Gebäude steht in Teilen leer, auch weil es vom Abriss bedroht ist. Das ganze Ufer hier am Schiffbauerdamm soll ›umgestaltet‹ werden. Es sind natürlich ganz hervorragende Grundstücke. Für uns wäre es sehr schade, weil, diese Lage, derart nah am Bundestag, so was bekommen wir nie wieder.«

Auf meine Frage, wie er zu Lobby-Control kam, sagt er: »Ich war immer ein politisch interessierter Mensch, während des Studiums und auch davor habe ich mich politisch engagiert – aber ich war nie in einer Partei. Die Veränderung der Gesellschaft, allgemein gesagt, als Ergebnis der Auseinandersetzung von verschiedenen Kräften, Kräfteverhältnissen, das hat mich immer beschäftigt. Das hat sich ja auch stark gewandelt seit der Zeit, in der ich aufgewachsen bin. Im Studium habe ich mir z.B. den Emissionshandel angeguckt, es ist ja sehr interessant, welche Akteure da wie ihre Interessen durchgesetzt haben. Oder auch im Bereich der internationalen Handelspolitik: Es geht praktisch immer um die Frage, welche Rolle spielt eigentlich der Staat, letztlich die Demokratie, vor diesem Hintergrund. Denn um die geht es! Und um die Frage, wie wollen wir eigentlich leben?! Ich hatte nach dem Studium Lust, statt zu promovieren, mich lieber konkret mit solchen Themen auseinanderzusetzen. Schon als Student habe ich nebenbei Führungen durchs Berliner Regierungsviertel gemacht für Lobby-Control, und es hat sich dann glücklich so ergeben, nach dem Studium, dass eine Stelle frei wurde in Köln. Und nach der Eröffnung des Berliner Büros 2012 bin ich dann hierher zurückgewechselt.

Es ist ein Wahnsinn, welche Bandbreite an ganz unterschiedlichen Organisationen, Unternehmen, Verbänden in einem sehr engen Umkreis um den Bundestag rum hier in Berlin-Mitte anzutreffen ist. Das zeigen wir bei unseren Führungen. Und bei unserer Arbeit insgesamt geht es genau darum, nämlich die Phänomene und Mechanismen aufzuzeigen und zu erklären, was ist eigentlich Lobbyismus? Wie funktioniert er, was folgt daraus, worin besteht das Problem? Was müssen wir daran ändern, damit sich nicht einseitig finanzstarke Interessen zum Leid der Allgemeinheit gegen schwächere Interessen durchsetzen können. Mit ›schwächeren Interessen‹ meine ich z.B. Patienteninteressen usw.

Es gibt nur einige wenige erfolgreiche und anhaltende Protestbewegungen, wie beispielsweise die Anti-AKW-Bewegung, die ihre Teilnehmer über einen langen Zeitraum mobilisieren konnte; ihr Fokus liegt im Wendland. In anderen Fragen, z.B. dem modernen Datenschutz und dem Urheberrecht im Netz, da gibt es mal einen großen Aufschrei. Es gehen deutschland- und europaweit sehr viele Menschen auf die Straße, wie bei den Protesten gegen Acta.« (Anti-Counterfeiting Trade Agreement. Das geplante multilaterale Anti-Produktpiraterie-Handelsabkommen konnte vorerst verhindert werden, es wurde 2012 aufgrund der massiven Proteste vom EU-Parlament nicht ratifiziert. Anm. G.G.) »Aber solche kritischen Bewegungen über einen längeren Zeitraum wirklich zu mobilisieren, das ist nicht leicht. Da sind die großen Konzerne natürlich im Vorteil, die können für zehn, zwanzig Jahre schauen, wie wirkt sich unsere Lobbystrategie eigentlich aus. Die brauchen die Straße nicht, sie haben andere Druckmittel. Sie haben einen privilegierten Zugang zu den Abgeordneten und versuchen durch verschiedene Strategien die Gesetzgebung zu ihrem Vorteil zu beeinflussen.

Es ergeben sich daraus zwei Hauptforderungen: 1. Eine Registrierungspflicht für Lobbyisten. In Washington – das wird Sie vielleicht überraschen – gibt es so was seit Längerem und es funktioniert weitgehend, denn es gibt Strafen für den, der sich der Pflicht entzieht. Es wird zwar der Einfluss der Lobbyisten nicht schwächer dadurch, das ist auch nicht das Ziel der Registrierungspflicht, aber die Kontrolle wird wesentlich besser. In Washington wurden 2011 über 3 Milliarden Dollar für Lobbyarbeit ausgegeben. Man kann als Öffentlichkeit sehen: Aha, Boeing hat 18 Millionen Euro für Lobbyarbeit im Rüstungsbereich ausgegeben. Da kann man dann auch auf einer anderen Grundlage über Lobbyismus diskutieren, fragen, wo floss das hin? Journalisten haben was in der Hand und können recherchieren. Gerade auch bei der Rüstungslobby wird deutlich, wie intransparent Lobbyismus in Deutschland ist. Es wäre wichtig und im öffentlichen Interesse, zu wissen, wer eigentlich im Hintergrund Lobbyarbeit etwa für Rüstungsexporte macht. 2011 durchsuchte die Stuttgarter Staatsanwaltschaft das Firmengelände von Heckler & Koch. Es bestand der Verdacht, dass mit verdeckten Parteispenden Genehmigungen für Waffenexporte nach Mexiko erkauft werden sollten. Das Ermittlungsverfahren läuft noch.

Grundsätzlich geht es im Rüstungsbereich zum einen um einen sogenannten Beschaffungs-Lobbyismus: Man möchte Aufträge bekommen. Zum anderen geht es um Exportgeschäfte und die allgemeine Regulierung von Waffen, z.B. durch internationale Abkommen wie dasjenige zum Verbot von Streubomben.« (Wie erfolgreich die deutsche Rüstungsindustrie ihre wirtschaftlichen Interessen durchsetzt, zeigt sich auch daran, dass bei Merkels Staatsbesuchen überall in der Welt Rüstungslobbyisten regelmäßig mit im Kanzlerinnen-Airbus sitzen. Anm. G.G.)

»Die 2. Forderung betrifft den ›Drehtüreffekt‹, man kann es auch ›Seitenwechsel‹ nennen, gemeint ist der Wechsel von Politikern aus der Politik in die Lobbytätigkeit.« (Vorgeführt in besonders schamloser Weise während und nach der Amtszeit des Kabinetts Schröder im Oktober 2005. Schröder und seine ehemaligen Bundesminister Schily, Clement, Fischer wurden hoch bezahlte Lobbyisten in Bereichen, die sie zum Teil schon vorher »bedient« haben. Anm. G.G.) Timo Lange spielt mit seinem Feuerzeug und sagt entschieden: »Diese ›Drehtür‹ zwischen Politik und Wirtschaft muss blockiert werden. Was wir fordern, ist eine Karenzzeit von drei Jahren. Wir sehen das auch an Karrieren wie der von Herrn Hennenhöfer, dem aktuellen Abteilungsleiter für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium. Diesen Job hatte er ja schon mal inne, von ’94 bis ’98, unter der damaligen Umweltministerin und heutigen Kanzlerin Merkel. In der Zwischenzeit hat er als Lobbyist für den AKW-Betreiber Viag – heute Eon – gearbeitet und er hat als Anwalt einer Kanzlei den Betreiber des Atommülllagers Asse beraten.« (Wobei er u.a. empfahl, dass die Bürgerinitiative über den Zustand der desolaten Anlage nicht informiert werden solle. Anm. G.G.) »Also ein Wechsel vom staatlichen Atomaufseher zum Atomlobbyisten, dann zum Atomberater und wieder zurück auf den Posten des staatlichen Atomaufsehers. Es ist eigentlich unglaublich! Der Atomlobbyist als Strahlenschützer, verantwortlich für die ›Sicherheit kerntechnischer Einrichtungen und nukleare Ver- und Entsorgung‹ in unserem Land.

Ein anderes Beispiel ist auch Frau Yzer, die derzeitige Berliner Senatorin für Wirtschaft, Technologie und Forschung. Zuvor war sie von 1997 bis 2011 Hauptgeschäftsführerin des Verbands forschender Arzneimittelhersteller, also in einem der mächtigsten Lobbyverbände. Noch früher war sie im Kanzleramt beschäftigt, und wenn ich mich nicht irre, war sie davor bei der Bayer AG.« (Von ’92 bis ’94 war die CDU-Politikerin parlamentarische Staatssekretärin bei der Bundesministerin für Frauen und Jugend, Angela Merkel, von ’94 bis ’97 diente sie dem Bundesminister für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Technologie, Rüttgers, als parlamentarische Staatssekretärin und war zuständig für »Energie und Umwelt, Luft- und Raumfahrt, Multimedia und Biotechnologie«. Danach wechselte sie zum vfa, dem Wirtschaftsverband der forschenden Pharmaindustrie. Seine Mitglieder, Bayer, Pfizer, Novartis, Roche u.a. beherrschen mehr als zwei Drittel des deutschen Arzneimittelmarkts. Seit September 2012 ist sie Senatorin für Wirtschaft, Technologie und Forschung. Anm. G.G.)

»Die Pharmalobby ist in Deutschland traditionell sehr stark, denn Medikamente sind im Vergleich zu anderen Ländern bei uns sehr teuer. Ehemalige Politikerinnen und Politiker sind bei der Wirtschaft natürlich die beliebtesten Lobbyisten. Manche kommen aber auch aus der PR-Ecke, aus dem Journalismus. Sie bezeichnen sich selbst nicht als Lobbyisten, viele sagen, sie sind Berater, Politikberater. Viele sind Juristen, Politologen, die eben ihre Karriere erst mal im Bundestag als Mitarbeiter von Abgeordneten oder auch im EU-Parlament begonnen haben. Das sind perfekte Voraussetzungen, um Lobbyist zu werden. Noch perfekter ist aber, wie gesagt, der ehemalige Politiker, denn er verfügt über ein Netzwerk von Beziehungen und eine Vielfalt von Informationen, die dem neuen Arbeitgeber natürlich einen großen und absolut einseitigen Vorteil verschaffen. Wenn er, durch eine weitere Drehung der Drehtür, wieder in die Politik zurückkehrt, kann das von großem Nachteil sein für die Bürger.

Was jedenfalls den Wechsel von der Politik in die Wirtschaft betrifft und die dreijährige Karenzzeit, die wir fordern, so kann man davon ausgehen, dass nach drei Jahren das Kontaktnetz nicht mehr ganz so aktuell und das Insiderwissen nicht mehr ganz so frisch ist, so dass die Attraktivität diesbezüglich stark abnimmt. Über den Umfang der lobbyistischen Aktivitäten können wir keine zuverlässigen Angaben machen. Es sind schätzungsweise 5.000 Lobbyisten hier in Berlin tätig, in Brüssel ist es ein Vielfaches, wir wissen es nicht genau. Es gibt eben nur die ›Verbändeliste‹ im Deutschen Bundestag – die gibt es schon seit 1972, das war damals im internationalen Vergleich sehr fortschrittlich, heute ist das vollkommen unzureichend. Verbände, die im Bundestag gehört werden wollen, müssen oder sollen sich da registrieren. Zwar sind die Verbände immer noch wichtige Lobbygruppen, aber wir haben heute die ganzen großen Unternehmen, die hier ihre eigenen Lobbybüros betreiben, wir haben Lobbyagenturen, die Lobbyarbeit als Dienstleistung verkaufen, und auch Anwaltskanzleien sind in diesem Bereich unterwegs. Sie alle stehen nicht in der Verbändeliste, gehen aber ein und aus im Bundestag. Alle haben einen Hausausweis. Er berechtigt, quasi nur durch Vorzeigen, zum freien Zutritt, ohne jede Körperkontrolle oder sonstige Wartezeit.«

Auf meine Frage nach dem Ausweis und der Vergabepraxis erklärt er: »Es gibt zwei Wege, einen solchen Hausausweis zu bekommen. Der eine Weg ist der transparente, der öffentliche, durch Eintrag in die Verbändeliste. Dann bekommt man maximal fünf solcher Ausweise, sie gelten ein Jahr. Ich kann Ihnen meinen mal zeigen.« Er sucht zwischen den Papieren und reicht mir dann einen kleinen grünen Ausweis mit Foto, Name, Datum und Clip zum Anhängen. Kein Chip, kein Code. Jeder kann ihn nachmachen auf einem Farbkopierer. Hier scheint sie nicht zu existieren, die viel bemühte terroristische Gefahr.

Timo Lange fährt fort: »Lobby-Control hat die Ausweise, um Gesprächstermine mit Abgeordneten wahrzunehmen. Man geht an die Pforte, hält den kurz hin und kann eintreten. Man muss nicht abgeholt und begleitet werden zum Büro des Abgeordneten. Kann sich direkt im Büro treffen. Der zweite Weg ist der intransparente. Da gibt es die Ausweise in beliebiger Zahl, aber nur dann, wenn der Sicherheitsbeauftragte der Fraktion dem zustimmt – in der Regel ist das der Parlamentarische Geschäftsführer. Früher reichten die Unterschriften von fünf Abgeordneten. Es gibt natürlich Unternehmen, die nicht öffentlich auftreten wollen und für die das keine Hürde ist. In Brüssel, wo die Ausgaben für Lobbyarbeit inzwischen die Milliardenmarke längst überschritten haben, sieht es letztlich auch nicht viel besser aus. Zwar wurde 2011 das ›Transparenzregister‹ eingeführt, aber das hat nicht zu wirklicher Transparenz geführt. Die Registrierung ist weiterhin freiwillig. Ein Vorteil gegenüber dem früheren Register der Interessenvertreter ist lediglich, dass die Registrierung der Lobbyakteure nun Voraussetzung für den Erhalt dauerhafter Hausausweise zum Betreten des Parlamentsgebäudes ist. Dies ist immerhin ein Anreiz, sich auch tatsächlich einzutragen. Es müssen Angaben gemacht werden über Auftraggeber, Lobbybudget und Lobbyziele.

Aber Einflussnahme funktioniert natürlich auch dort ohne Hausausweis. Es ist das Problem, dass alles sich fast immer an der Grenze der Legalität entlang bewegt. Lobbyismus ist nicht verboten. Dennoch scheuen viele Unternehmen die Veröffentlichung ihrer Interessen und entfalten ihre Aktivitäten lieber im Dunkeln. Deshalb fordern wir, dass die Mitglieder der EU-Kommission nach britischem Vorbild ihre Treffen mit Lobbyisten online veröffentlichen müssen.Transparenz ist auch ein Kontrollmechanismus, und den brauchen wir dringend. Wir werden übrigens demnächst eine neue Internetplattform starten, die die Lobbytransparenz in Brüssel deutlich erhöhen wird.

Ein anderes Problem ist, dass Politiker in vielen Fällen zugänglich oder auch selbst aktiv sind. Bei einem konkreten Fall, der uns gerade in der letzten Woche beschäftigt hat, geht es um den CDU-Gesundheitspolitiker Jens Spahn, von dem Ende letzten Jahres bekannt wurde, dass er 2006, zusammen mit zwei Freunden – dem Lobbyisten Max Müller und seinem eigenen Büroleiter Markus Jasper – eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts gegründet hat. Die wiederum hat eine Beratungsgesellschaft verwaltet, namens ›Politas‹, eine Lobbyagentur, die Kunden aus der Medizin- und Pharmabranche beraten haben soll. Genaueres weiß man nicht. Und Jens Spahn hat genau 25 Prozent der stimmberechtigten Anteile gehabt. Die Regeln des Bundestages sagen, dass eine Beteiligung bis 25 Prozent nicht meldepflichtig ist. Er musste also nichts offenlegen. Inzwischen ist die Firma aufgelöst. Aber damit ist der Fall nicht erledigt. So eine Nebentätigkeit ist natürlich hochgradig problematisch, bei einem Politiker, der auf diesem Gebiet politische Entscheidungen zu treffen hat.

Dieser Dritte im Bunde, Max Müller, ist übrigens ein anschauliches Beispiel für solche Interessenvertreter und ihre Vernetzung. Er hat einen relativ klassischen ›Lebenslauf‹, hat auch im politischen Bereich erst mal angefangen, war ja im Bundestag als Referent tätig. So gehen eben viele Lobbykarrieren los. Müller ist ›berufsmäßiger Lobbyist‹. Als solcher pflegte er viele Kontakte, u.a. zu DocMorris, und er war für den Pharmakonzern Celesio tätig.« Er blickt auf den Bildschirm. »Im vorigen Mai ist er zu den Rhön-Kliniken übergewechselt … ich seh grade, im Dezember ist er schon wieder raus. Bis 2008 jedenfalls war er Geschäftsführer der KPW-Gesellschaft für Kommunikation und Wirtschaft, einer Lobbyagentur.« (In deren Internetprofil steht: »Die Gesellschaft entwickelt Analysen, Strategien und Konzepte in den Bereichen Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Die Umsetzung erfolgt auf Bundes- und Landesebene – kommunal und international. Unsere Aufgabe ist es, Sie und die für Sie wichtigen Entscheidungsträger oder Öffentlichkeiten gezielt zu informieren mit dem richtigen Maß an Transparenz und Nachhaltigkeit.« Anm. G.G.)

Timo Lange schaut aus dem Fenster zu den Gleisen hinüber, wo elegant ein roter Zug dahingleitet, und sagt: »Wir haben allen dreien detaillierte Fragen gestellt und von keinem bisher eine Antwort erhalten. Aber wir wollen nicht lockerlassen, sondern erfahren, welche Beeinflussung lag hier möglicherweise vor. Das zu wissen ist das Recht der Bürger und Wähler. Es gibt für die Unternehmen viele Möglichkeiten der Einflussnahme, sie haben ihre Verbände, wo sie Mitglied sind, dann hat man eine ganze Reihe von Lobbydienstleistern, und es gibt z.B. den klassischen parlamentarischen Abend für Abgeordnete, mit Ansprachen und Häppchen am Buffet, Getränken. Politische Landschaftspflege nennt sich das. Journalisten werden zu Reisen eingeladen, Studien werden bei Denkfabriken in Auftrag gegeben, um die eigene Argumentation zu belegen, oder man gibt auch gern an Hochschulprofessoren ›Forschung‹ in Auftrag.

Gerade vor ein paar Tagen hat der Bundesverband der Deutschen Industrie zu einem großen Empfang geladen, einem ›Festlichen Abend‹ im Deutschen Historischen Museum. Alle von Rang und Namen waren da, Merkel sagte ein paar Worte, dann ist das offizielle Programm vorbei, und nun kommt das Eigentliche, es wird ›genetworked‹. Lobby-Control steht da nicht unbedingt auf der Gästeliste, wie Sie sich denken können.

Die Konzerne haben ihre eigenen Lobbybüros, da arbeiten so fünf bis zehn Leute in der Regel. Sie haben spezielle Aufgaben, viel davon ist Recherche und Monitoring, Informationsbeschaffung. Die Arbeit des Lobbyisten besteht natürlich auch darin, möglichst viel Einfluss zu nehmen auf Abgeordnete. Um das zu können, muss der Lobbyist erst mal erfahren, was ist überhaupt geplant. Und je früher er darüber Bescheid weiß, umso besser, umso gründlicher kann er eine Strategie entwickeln. Und zur strategischen Unternehmenskommunikation gehört übrigens auch blockieren, verzögern, verwässern, und sicherlich gehört auch dazu, zu versuchen, bestimmte Themen möglichst aus der medialen Debatte verschwinden zu lassen oder ganz herauszuhalten. Gerade in Krisensituationen ist das natürlich erwünscht.

Was das Budget betrifft, aus der Perspektive eines Unternehmens, das geht, je nach Größe, von 100.000 bis hin zu 10 Millionen im Jahr, nur für Lobbyarbeit. Büro Unter den Linden usw., ein großer Teil geht in die Gehälter. Ein richtig guter Fachmann mit guten Kontakten wird so ab 100.000 Euro im Jahr bekommen.« (Ein Bundestagsabgeordneter bekommt seit 1. Januar 2013 eine sogenannte Abgeordneten-Entschädigung von 8.252 Euro und eine Kostenpauschale von 4.023 Euro im Monat. Anm. G.G.)

Timo Lange lächelt und sagt: »Das ist ein bisschen mehr, als ich kriege. Ich bekomme 2.500 Euro im Monat, plus Reisekosten, wenn welche anfallen.« Ich frage nach dem Budget von Lobby-Control. »Das liegt so bei 300.000 im Jahr. Wir finanzieren uns ja nur über Spenden, Förderbeiträge, Geld von Stiftungen und dem Verkauf von ›LobbyPlanet‹ und Stadtführungen. Der finanzielle Unterschied ist natürlich sehr groß gegenüber denen, die wirtschaftliche Partikularinteressen vertreten. Aber es gibt viele kleine unabhängige Organisationen wie Lobby-Control, die mit wenig Geld versuchen, gemeinwohlorientierte Interessen gegenüber der Politik zu vertreten, und öffentlich auch wahrgenommen werden.

Ein weiteres großes Problem des Lobbyismus ist, dass Ministerien teilweise Gesetzentwürfe von Anwaltskanzleien erstellen lassen, wie es z.B. beim ›Finanzstabilisierungsgesetz‹ von 2008 der Fall war. Die haben ja auch Bankkunden. Besonders brisant war in diesem Fall, dass es Peer Steinbrück war, der denen als Bundesfinanzminister viel Geld zugeschanzt hat, indem er ihnen den Auftrag gab, und dass er später von dieser Kanzlei dann Geld für einen Vortrag bekommen hat. Ganz grundsätzlich: Gesetze sollen in den demokratischen Institutionen entstehen und nicht in internationalen Großkanzleien!« (Am Investment-Modernisierungsgesetz, das 2004 in Kraft trat, hat direkt im Finanzministerium eine Juristin vom Bundesverband der Investmentgesellschaften mitgearbeitet und ebenso ein Mitarbeiter der Deutschen Börse. Sie saßen dort in einem eigenen Büro, im Rahmen des »Personalaustauschprogramms« von Bundesinnenminister Schily. Die Folge war, dass u.a. die hoch spekulativen Hedgefonds, die es zuvor in Deutschland nicht gab, zugelassen wurden. Hier hat die Finanzbranche sich ihre eigenen Gesetze schreiben und eine »Deregulierung der Finanzmärkte« bewirken können. Anm. G.G.)

»Zum Schluss will ich noch mal auf die Hochschulen zurückkommen, wo Transparenz auch sehr wichtig wäre. Wer finanziert hier wen und was? Wie unabhängig ist eigentlich diese staatlich geförderte Institution der Forschung? Eine der Lobbystrategien besteht beispielsweise auch darin, dass man gute Kontakte zu Hochschulprofessoren pflegt, dass man bei Hochschulprofessoren Forschung in Auftrag gibt. Es gab ja den Fall, den Martin Kaul im Herbst 2011 in der taz mit aufdeckte. Da zeigt sich sehr anschaulich, wie so was vor sich geht. Das Deutsche Atomforum hatte 2008 bei einer Düsseldorfer Kommunikationsagentur eine Kampagne ›pro Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke‹ in Auftrag gegeben, sie sollte bis zur Bundestagswahl 2009 die öffentliche Meinung dementsprechend beeinflussen.« (Die Bundestagswahl gewann dann Schwarz-Gelb, und ein Jahr später stimmte die Mehrheit im Bundestag für die Laufzeitverlängerung. Erst Fukushima machte einen Strich durch die Rechnung. Anm. G.G.)

»Die Agentur hatte im Rahmen dieser Kampagne Herrn Professor Schwalbach von der Humboldt-Uni in Berlin eine Studie in Auftrag gegeben, sie hat den schönen Titel, ich muss ablesen: ›Gesellschaftsrendite der Kernenergienutzung in Deutschland. Eine Studie zum volkswirtschaftlichen, sozialen, gesellschaftlichen und ökologischen Nutzen der Kernenergie‹. Diese Studie sollte mit 135.000 Euro honoriert werden und sie sollte belegen, was für positive Auswirkungen der Einsatz von Atomkraftwerken für die gesamte Gesellschaft hat. Atomenergie ist für alle gut: für Wirtschaft, für die Umwelt, wahrscheinlich auch für die Kultur.«

Er lacht leise. »Die Studie wurde nie veröffentlicht. Über den Grund kann man nur spekulieren. Eine These ist, dass es zu offensichtlich ein Gefälligkeitsgutachten war. Er hat es nebenbei gemacht, über seine eigene Agentur, oder die seiner Frau. Lobby-Control und der Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler jedenfalls haben, nachdem das alles öffentlich wurde, zügige Aufklärung der Affäre gefordert. Aber die Universität schweigt zum Thema und zu Disziplinarmaßnahmen. Es scheint, als würden auch hier alle Beteiligten die Sache einfach aussitzen.«

Professor Joachim Schwalbach ist Betriebswirt und Management-Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin, einer seiner Schwerpunkte: »Der ehrbare Kaufmann«. Martin Kaul zitierte damals aus dem Abstract der Schwalbach-Studie, wo u.a. zu lesen ist: »Die Kernenergiewirtschaft ist als Innovations- und Bildungstreiber von großer Bedeutung für die deutsche Volkswirtschaft.« Der Professor hat 2011 übrigens ein weiteres Gefälligkeitsgutachten verfasst. Diesmal veröffentlicht, und zwar nach dem erfolgreichen Volksentscheid in Berlin für die Offenlegung aller Verträge und Nebenabsprachen zum Teilverkauf der Berliner Wasserbetriebe an die Energieriesen Veolia und RWE im Jahr 1999. Auftraggeber des Schwalbach-Gutachtens war die Industrie- und Handelskammer. Der Auftrag war, eine Rekommunalisierung der Berliner Wasserbetriebe als falsch und vollkommen unökonomisch darzustellen.

Es ist sehr zu befürchten, dass Lobby-Control die Arbeit nicht ausgehen wird angesichts der emsigen Lobbyisten. Auch die Banken sind nicht müßig. Auf 34 Seiten hat das Bundesfinanzministerium – als Antwort auf eine Anfrage der Linkspartei – die »Beziehungen von Geschäftsbanken und Investmentbanken zur Bundesregierung« aufgelistet. Das Ergebnis ist angesichts der kritischen Äußerungen der Bundesregierung zur Finanzindustrie überraschend: Kein anderes Geldhaus hat in dieser Legislaturperiode so viele Termine mit den Spitzen der Bundesregierung bekommen wie die Deutsche Bank und die US-Investmentbank Goldman Sachs.

Während ich hier schreibe, kommt die neueste Nachricht über die erfolgreiche Arbeit der Lobby der Pharmaindustrie: Ein Entwurf der EU-Kommission für eine neue Verordnung zur klinischen Prüfung von Arzneimitteln und deren Erprobung am Menschen sieht vor, die Beteiligung unabhängiger Ethikkommissionen bei der Zulassung der klinischen Tests abzuschaffen. Ebenso die derzeit verpflichtende Beteiligung einsichtsfähiger, aber noch minderjähriger Kinder am Einwilligungsverfahren.

ADVERT RETARD®

Gegen die Werbeschlacht der Pharmaindustrie

DR. MED. PETER TINNEMANN, Leiter des Bereichs Internationale Gesundheitswissenschaften am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Berliner Charité, Mitinitiator des pharmakritischen Seminars »Advert Retard®« für Medizinstudenten u. des Vereins CMI für eine zertifizierte medizinische Unabhängigkeit. Peter Tinnemann ist 1967 in Herne/Ruhrgebiet geboren, besuchte in Herne die Schule, machte 1987 Abitur. Ab 1989 studierte er Medizin u. schloss das Studium 1999 in Hamburg mit der Promotion ab. Anschließend Auslandsaufenthalte (innerhalb von 12 Jahren in 15 verschiedenen Ländern, u.a. 1996–2003 in Afrika für Ärzte ohne Grenzen). Von 2003–2006 Aufenthalt in England und Arbeit beim NHS (National Health Service) u. ab 2005 nebenher Studium in Cambridge, wo er 2007 seinen Master of Public Health machte. Ab 2007 Arbeit an der Charité und daneben, seit 2012, Arbeit im sozialpsychiatrischen Dienst beim Gesundheitsamt Berlin-Lichtenberg (im Rahmen einer Facharztausbildung). Peter Tinnemann ist geschieden u. hat 2 Töchter (von 2 Frauen), sein Vater war Elektrotechniker, die Mutter gelernte Schneiderin und Ikebana-Lehrerin.

Mehr als das Doppelte von dem, was sie für Forschung und Entwicklung ausgibt, steckt die Pharmaindustrie in ihre Werbung. Tag für Tag sprechen 15.000 Pharmavertreter mit ihren Musterkoffern und Werbepräsenten bei Ärzten und in Krankenhäusern vor. Pharmakonzerne finanzieren oder sponsern so gut wie alle relevanten ärztlichen Weiterbildungskongresse. An der Berliner Charité gibt es seit mehr als drei Jahren ein Seminar mit dem anzüglichen Namen »Advert Retard®«, was eine englisch-lateinische Wortschöpfung ist mit der Bedeutung einer gleichmäßigen und über längere Zeit ihre Wirkung entfaltenden Werbung. Und um die geht es. Dieses Seminar hat sich die Aufgabe gestellt, den Medizinstudenten zu vermitteln, dass es sich hier nicht um eine zu vernachlässigende Erscheinung des Arzneimittelmarktes handelt, sondern um eine gezielte und gut funktionierende Beeinflussung des ärztlichen Verhaltens, um korrumpierende Anreize, zugunsten der Verkaufsförderung von Produkten mit dem jeweiligen Markennamen. Die vielfältigen Marketingstrategien und Werbemethoden der Pharmaindustrie werden den Studenten vor Augen geführt und der sogenannte Interessenkonflikt der Ärzte analysiert.

Das Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie befindet sich in einem renovierten Altbau, keine 100 Meter entfernt vom Bettenturm der Charité. Herr Dr. Tinnemann bittet uns in einen kleinen Seminarraum und stellt uns seine Praktikantin vor, die zuhören möchte. Er bietet uns Wasser an und beginnt auf meine Frage, wie es zu seinem Seminar kam, mit dem Erzählen: »Das Thema Pharmaindustrie beschäftigt mich schon lange, eigentlich seit der Zeit, den sieben Jahren, in denen ich für ›Ärzte ohne Grenzen‹ in Afrika tätig gewesen bin. Die Organisation hat sich sehr dafür eingesetzt, dass HIV/Aids infizierte Menschen in Süd-Sahara mit anti-retroviralen Medikamenten behandelt werden können. Ich habe unterernährte Kinder gesehen, Kinder, die vom schmutzigen Wasser Durchfallerkrankungen hatten, und vor allem Kinder und Erwachsene, die mit HIV/Aids infiziert waren. Ich habe noch so eine Fotoreihe von einem kleinen Mädchen, sie war sieben Jahre alt, und sie ist ganz elend zugrunde gegangen, vor unseren Augen. Wir hatten nichts, um ihr zu helfen. Wir hatten grade mal Paracetamol für ihre Schmerzen. Damals bin ich als Mediziner unentwegt darüber gestolpert, dass es sehr viele Menschen gibt, kranke Menschen, die einfach keinen Zugang haben zu Medikamenten, weil die Medikamente exorbitant teuer sind. Sie können sich die nicht kaufen. Da fragt man sich dann, warum sind die eigentlich so teuer. Kann man was daran ändern? Geht es auch anders?

Dann habe ich zu einer späteren Zeit im englischen Gesundheitsdienst mehrere Jahre gearbeitet. Das Gesundheitssystem ist anders organisiert, als wir es kennen. Und es ist gut, auch wenn gern Anderes behauptet wird. Es ist staatlich, kostenlos für den Bürger und wird finanziert über die Steuern, was gerechter ist. Also das war damals, unter der Labour-Regierung, da hatten sie schon angefangen mit Privatisierung. Wie es heute genau aussieht, weiß ich nur von Kollegen. Aber ich muss ehrlich sagen, die Ärzte sind wesentlich besser ausgebildet. Wir, als Gesundheitsamt, waren u.a. auch verantwortlich dafür, dass die Patienten zuverlässig alle notwendigen Medikamente bekommen. Es gibt kein Krankenkassensystem, die Regierung verhandelt direkt mit der Pharmaindustrie und entscheidet in der Konsequenz, was Medikamente eigentlich kosten dürfen. Ich habe sozusagen verstanden, wie es funktioniert. Da gibt es Preisfestlegungen, die anders getroffen werden als bei uns, wo sie dem freien Markt überlassen sind. Die Verhandlungsmacht des Nationalen Gesundheitssystems ist natürlich auch eine ganz andere, als wenn hier in Deutschland jede Krankenkasse für sich mitverhandelt

Und als ich dann an die Charité kam und hier an diesem Institut begonnen habe, Medizinstudenten zu unterrichten in Epidemiologie und Sozialmedizin, da fiel mir auf, was hier alles fehlt, und dass man sich in Deutschland jahrzehntelang dagegen gewehrt hat, das überhaupt Sozialmedizin zu nennen, wie das in anderen Ländern üblich ist. Die Sozialhygiene bzw. Sozialmedizin entstand ja in Deutschland. Alfred Grotjahn (1869–1931) war der Begründer der Sozialhygiene, er hatte 1920 hier an der Charité den ersten sozial-hygienischen Lehrstuhl. (Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Grotjahn zugleich weitgehende rassehygienische und eugenische Vorstellungen in seinen Schriften äußerte. Anm. G.G.) Von ihm ist auch die Forderung: »Übernahme des gesamten Heil- und Gesundheitswesens in den Gemeinbetrieb unter Beseitigung jeglicher privatkapitalistischer Wirtschaftsform«. Die Nazis haben die Sozialhygiene dann missbraucht, sie haben sie über die Eugenik zur Rassenhygiene gemacht. Und nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich dann keiner mehr getraut zu sagen, ich kümmere mich um die Gesundheit der Bevölkerung.

In der DDR war das anders. Im Westen wurde gesagt, das macht der Staat nicht mehr, das wird sozusagen ins marktwirtschaftlich kapitalistische System eingetütet. Man hatte sich verabschiedet von Infektionskrankheiten, es ging nur noch um Krebs und Diabetes. Erst in den 80er Jahren hat man gemerkt, wir haben gar keine Experten mehr, und da hat man angefangen, junge Leute ins Ausland zu schicken, z.B. Karl Lauterbach, auf ein Regierungsstipendium zum Studium von ›Health Policy and Management‹ und der Epidemiologie an der Harvard School of Public Health in Boston. Diese Leute sollten die modernen Ideen von Public Health hier wieder reetablieren. Das Ganze war sehr befeuert durch HIV/Aids, in dem man wieder so was wie eine große Volksseuche befürchtet hat. Mit den Behandlungsmöglichkeiten hat sich dann aber das Interesse wieder verloren.

Es lag für mich nahe, mich an diesem Institut mit dem Thema Pharmaindustrie auseinanderzusetzen. Wir befassen uns mit den Auswirkungen der Globalisierung auf die Gesundheit von Menschen, da guckt man natürlich zuerst mal in die armen Länder. Aber ich stellte fest, auch in Deutschland gibt es viele Arme. Und da fragte ich mich, welche Verantwortung haben eigentlich Ärzte für arme Menschen? Die sollten sich positionieren. Was für eine Rolle spielt die Pharmaindustrie? Genau in dem Moment kamen Kollegen von der Organisation Health Action International – einer Dachorganisation vieler Organisationen, die sich kritisch auch mit der Pharmaindustrie auseinandersetzen – und die hatten ein Handbuch zusammengestellt, gemeinsam mit der WHO, zum Thema: verstehen und reagieren auf Werbung und Beeinflussungen der Pharmazeutischen Industrie. Sie kamen auf mich zu, weil ich mit Health-Action-International-Leuten mal zu tun hatte.

Da geht es um ein ganz zentrales Thema, nämlich darum, zu lernen, die Strategien erst mal zu erkennen und zu durchschauen, damit man ihnen dann auch widerstehen kann. Diese Herausforderung ist ja leider nicht Teil des medizinischen Curriculums. Mit dem Thema endlich mal an den Universitäten anzufangen, darüber Studierende der Medizin zu informieren, das war der Gedanke. Ich hab dann mal geschaut, wer befasst sich in Deutschland eigentlich generell mit dem Thema, habe einige eingeladen und gesagt, ich würde gern ein Seminar anbieten, würdet ihr da mitmachen, eure Expertise einbringen, wie könnten wir das umsetzen auf deutsche Verhältnisse? So haben wir angefangen vor dreieinhalb Jahren. Inzwischen ist es ein Wahlpflichtkurs. Das Format des Kurses nennt sich: Grundlagen des ärztlichen Denkens und Handelns. Es zielt speziell darauf ab, dass die jungen Medizinerinnen und Mediziner sich Gedanken über ihr zukünftiges Handeln machen. Es war erstaunlich, die jungen Studierenden haben sehr differenziert darauf reagiert. Anfangs haben wir Rollenspiele gemacht, die Studierenden sollten sich mal vorstellen, was würde ich fragen, wenn ich Arzt wäre, was würde ich sagen, wenn ich Pharmavertreter wäre?

Auch die Pharmaindustrie schult übrigens ihre Vertreter. Es gibt Lehrbücher der Meinungsmanipulation für Pharmavertreter. Unsere Rollenspiele sind zwar prima angekommen, aber auf so einem Level, da gibt’s zwar viel Interaktion, aber wenig Input. Es wurde auch gesagt, ist klar, ihr seid hier gegen Pharma, aber wir wollen keiner Gehirnwäsche unterzogen werden. Das war natürlich nicht unser Ziel, wir haben dann in den darauffolgenden Semestern die Anmerkungen der Studierenden ernst genommen und das Format zunehmend problemorientierter aufgestellt, interaktiver. Sie hatten z.B. vorgeschlagen, auch mal einen Pharmavertreter einzuladen, um auch die andere Seite zu hören. Das fand ich völlig legitim. Ich habe dann über mehrere Semester versucht, einen zu finden, der bereit gewesen wäre, aus seinem Arbeitsalltag zu berichten. Wir hatten dann auch ein paar Mal eine Zusage bekommen, aber alle haben in letzter Minute abgesagt. Dann haben wir uns entschieden, einen hervorragenden Kollegen zu bitten, Thomas Lindner, einen niedergelassenen Arzt, der sich vor Jahren entschieden hat, bei der ›Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte‹ mitzuarbeiten – sie nennt sich ›Mezis‹, eine Abkürzung für: ›Mein Essen zahl ich selbst‹. Er ist übrigens einer der Mitbegründer. Der kann den Studierenden einfach aus seiner Perspektive erzählen, aus langjähriger Erfahrung mit Pharmavertretern, warum er ihre Besuche eines Tages nicht mehr wollte. Er hat sich sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigt.

Das finde ich einen wesentlich spannenderen Ansatz, als wenn jetzt ein Pharmavertreter sich hinstellt und seine Tätigkeit schönredet. Wir haben hier sechzehn Veranstaltungstermine, also nicht viel Zeit, um eine ganz spezifische Seite der Medaille oder des Arztseins darzustellen. Viele Studenten gehen ja noch mit ziemlich idealistischen Vorstellungen vom Arztberuf und von sich selbst ins Studium. Wenn ich denen sage: Also wenn Sie mein Patient sind, dann erwarten Sie von Ihrem Arzt doch, dass es ihm um Ihre Krankheit geht, und ausschließlich um deren Behandlung. Dass Sie das richtige Medikament bekommen, in der richtigen Dosis, zum richtigen Zeitpunkt, und dass dieses Medikament einen vernünftigen Preis hat. Die Studenten verstehen die Frage nicht, weil sie das erst mal für selbstverständlich halten. Dass den Arzt auch andere Motive leiten könnten, dass es viele Verlockungen gibt und gut dotierte Nebentätigkeiten, ist nicht in ihrem Bewusstsein.

Desillusionierung ist zwar nicht unser Ziel, aber sie ist unvermeidlich. Wir sind in einer Welt angelangt, wo diejenigen, die die Medikamente herstellen, das ja nicht tun, weil sie die Interessen der Patienten im Vordergrund haben oder die der Ärzte. Sie haben andere Prioritäten, ihre Aktionäre sind ihnen wichtig, ihre Managergehälter, ihr Profit. Wir haben es im Gesundheitssystem immer mehr – und bei der Pharmaindustrie sowieso – mit den Renditeerwartungen der Aktionäre zu tun und da zählt eben nur: den Gewinn erhöhen, die Kosten reduzieren und verkaufen! Dass sich das Marketing der Pharmafirmen so stark auf die Ärzte konzentriert, liegt daran, dass die Konzerne hierzulande kaum Einfluss auf Patienten nehmen können. Werbung darf – im Gegensatz z.B. zu den USA – nur für nicht verschreibungspflichtige Präparate gemacht werden. Und deshalb eben geht es bei den Arzneiverschreibungen der Ärzte um riesige Summen.

Und was bedeutet das für Patienten und Ärzte?

Wie kann man sicherstellen, dass die Patienten genau die Therapie bekommen, die notwendig ist, also unter dem Gesichtspunkt: ›Rational medical Treatment‹?! Das ist nicht leicht zu vermitteln, denn es ist vergleichsweise nicht viel, was wir diesen mächtigen Interessen entgegensetzen können. Aber wir haben einen Anfang gemacht. Wir sehen es in den Seminaren, es scheint zu funktionieren. Anfangs, da waren die Studierenden schon etwas älter, konnten schon viel mitreden und hatten z.T. eine kritische Haltung gegenüber der Pharmaindustrie. In den letzten paar Semestern haben wir immer sehr junge Studierende gehabt, unter zwanzig, ganz frisch, ohne jede Idee. Vollkommen naiv, wenn man es negativ ausdrücken will. Andererseits, sie waren kaum vorbelastet, und ich habe immer den Eindruck, die Lernkurve von denen ist steil ansteigend, die machen richtig leidenschaftlich mit, das macht schon Spaß! Und ich freue mich, dass Transparency International/Deutschland jetzt auch regelmäßig einen Vertreter ins Seminar schickt, den Mediziner Wolfgang Wodarg. Transparenz ins Gesundheitssystem reinbringen, das ist immens wichtig!

Man ist als Arzt ja den Zudringlichkeiten und Manipulationen nicht hilflos ausgeliefert. ›Mezis‹ z.B. sagt – was ich einen hervorragenden Ansatz finde – bei diesem Bestechungssystem machen wir nicht mehr mit! Aber man muss sich auch fragen, wie kommt das eigentlich. Das System ist ja nicht gestern vom Himmel gefallen. Wir haben erlaubt, dass dieses System sich in unserem Gesundheitssystem breitmachen durfte. Ärzte, Politiker, Krankenkassen. Es wurde ihm Tür und Tor geöffnet. Der Arzt ist sozusagen die leichteste Beute, er muss sein Geld verdienen, seine Patienten behandeln, und er muss sich noch regelmäßig weiterbilden nebenbei. Die gesamte Medikamentenflut ist vollkommen unübersichtlich geworden. Da ist der Pharmavertreter gern behilflich, zeigt dem Arzt die neuesten Studien, fasst alles brillant zusammen, bringt vielleicht noch einen Auszug aus einer renommierten Fachzeitschrift mit, und schon hat sozusagen eine personalisierte Weiterbildung stattgefunden. Kostenlos. In kürzester Zeit hat der Arzt den Eindruck, er ist absolut up to date.

Aber was der Vertreter bringt und erzählt, ist natürlich mit einem Rattenschwanz von Interessen versehen, die Studien sind möglicherweise mitfinanziert worden von seinem Unternehmen, das dieses Medikament auf den Markt bringen möchte. In so einer Studie kann man ja viel manipulieren. Auch welche Berechnungen man anstellt ist entscheidend, ob’s ein absolutes Risiko oder ein relatives Risiko ist usw. Es ist wichtig zu zeigen, dass so was überhaupt existiert, dass Unternehmen Studien als ›wissenschaftlich‹ präsentieren, sie von hochkarätigen Autoren verfassen lassen und in wissenschaftlich hochkarätigen Zeitschriften präsentieren können, obwohl es sich in Wahrheit nur um Mauscheleien handelt. Das muss beendet werden, es muss Transparenz geschaffen werden. Vielleicht müssen wir auch darüber nachdenken, wir als Ärzte, uns nicht mehr alles vormachen und alles bezahlen zu lassen. Auch nicht die ärztliche Fortbildung. Dazu muss man wissen, Ärzte müssen eine kontinuierliche Fortbildung nachweisen in Form von Punkten. Die Fortbildungspflicht hat erfüllt, wer innerhalb von fünf Jahren 250 Fortbildungspunkte erworben hat. Die Zertifizierung der Fortbildungsveranstaltungen mit dem Recht zur Punktevergabe ist Sache der Ärztekammern. Auch die Pharmaindustrie lässt sich ihre Fortbildungsveranstaltungen zertifizieren, und viele Mediziner nutzen das Angebot und lassen sich ihre Fortbildung von ihr finanzieren.

Das ist der Punkt. Wir müssen einfach einen Unterschied machen zwischen Pharmaveranstaltungen und Fortbildung. Es gibt ja auch die Möglichkeit, dass Ärzte anderen Ärzten Fortbildung anbieten. Das ist so der Schritt, den wir jetzt gegangen sind. Der erste von einer größeren Reihe, indem wir unser Seminarthema auch für Kollegen angeboten haben. Ende Januar 2013 haben wir ein Wochenendseminar mit dem Titel ›Advert Retard® – Industrielle Interessen, ärztliche Berufspraxis & rationale Arzneimitteltherapie‹ für Ärztinnen und Ärzte veranstaltet. Es kamen fast vierzig! Wir haben ein etwas lockeres Motto gewählt: »Alle Ärztinnen und Ärzte sind durch die Pharmaindustrie beeinflusst – nur ich nicht!« Der Satz ist aus einer Studie, die hatte sich mal damit befasst. Ärzte wurden gefragt: Wer von euch glaubt, dass Ärzte beeinflusst sind durch die Pharmaindustrie? ALLE glauben das. Und wenn man aber fragt: Wer von EUCH ist beeinflusst? … ICH ja nicht! Das ist so der Einstieg ins Wochenendseminar gewesen.

Das Seminar bietet den Ärztinnen und Ärzten Vorträge zum Thema von verschiedenen sehr guten Experten, wie z.B. dem Pharmakologen Prof. Bruno Müller-Oerlinghausen, er war viele Jahre Vorstand der Arzneimittelkommission, ist seit 2011 Expertenbeirat für Arzneimittel von Stiftung Warentest. Und er ist auch in der Redaktion von Gute Pillen – Schlechte Pillen