Hautfreundin. Eine sexuelle Biografie - Doris Anselm - E-Book

Hautfreundin. Eine sexuelle Biografie E-Book

Doris Anselm

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Beschreibung

Gibt es noch schmutzige Worte? Hilft fesseln gegen Traurigkeit? Besitzt ein Mann mit einer schönen Stimme auch eine schöne Zungenspitze? Kann man zu zärtlich sein, wenn man bloß eine Affäre hat? Und gedeiht im Unanständigen vielleicht ein besonderer Anstand? - Sie ist eine Frau, die Sex mag und seltsame Fragen, ihre eigene Haut und die Haut ganz verschiedener Männer. Direkte Berührung ebenso wie den Salto ins Fantastische. Sie flirtet lieber unterwegs als online, weil sie den kleinen Rausch des ersten Schritts liebt. Ihr Blick auf Sex ist zugleich lustvoll und schräg, präzise und sanft. Die Männer, denen sie nah kommt, gehen ihr nah. Aber worauf steht sie eigentlich selbst? Und wie hat das angefangen? Nach und nach ergeben die Geschichten ihrer hautnahen Begegnungen eine Geschichte: die überraschend glückliche sexuelle Biografie einer freien Frau. So sinnlich erzählt, dass die Sprache selbst Feuer fängt.

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Das Buch

Gibt es noch schmutzige Worte? Hilft fesseln gegen Traurigkeit? Besitzt ein Mann mit einer schönen Stimme auch eine schöne Zungenspitze? Kann man zu zärtlich sein, wenn man bloß eine Affäre hat? Und gedeiht im Unanständigen vielleicht ein besonderer Anstand? – Sie ist eine Frau, die Sex mag und seltsame Fragen, ihre eigene Haut und die Haut ganz verschiedener Männer. Direkte Berührung ebenso wie den Salto ins Fantastische. Sie flirtet lieber unterwegs als online, weil sie den kleinen Rausch des ersten Schritts liebt. Ihr Blick auf Sex ist zugleich lustvoll und schräg, präzise und sanft. Die Männer, denen sie nah kommt, gehen ihr nah. Aber worauf steht sie eigentlich selbst? Und wie hat das angefangen? Nach und nach ergeben die Geschichten ihrer hautnahen Begegnungen eine Geschichte: die überraschend glückliche sexuelle Biografie einer freien Frau. So sinnlich erzählt, dass die Sprache selbst Feuer fängt.

Der Autor

Doris Anselm, 1981 in Buxtehude /Niedersachsen geboren, hat Kulturwissenschaften in Hildesheim studiert, anschließend volontiert und lebt in Berlin. Dort hat sie 10 Jahre lang als Radioreporterin gearbeitet. 2014 war sie Hauptpreisträgerin des Literaturwettbewerbs open mike.

Doris Anselm

Hautfreundin

Eine sexuelle Biografie

Roman

Luchterhand

Für euch Für alles, was ihr mir gegeben habtund für das, was ihr mir erspart habt

Das Wort

Der Anfang

Herr Neumann

Apfelringe

Sehr zufrieden

Die Glühbirne

Herr Neumann kommt

Audio

Report aus der Zukunft

Tantratext

Fünfzig Schatten, grau

Monte Verità

Hautfreundin

Das Wort

»Du sprichst es mit einer Art Leidenschaft, einer Art Dringlichkeit aus, denn du spürst, wenn du aufhören würdest, es auszusprechen, dann würde dich die Angst wieder überwältigen, und du würdest in dieses verlegene Flüstern zurückfallen.«

Eve Ensler

Seine Stimme klang wie das sachte Fauchen eines kleinen Gasbrenners. Wahrscheinlich berührte sein Mund das Mikrofon des Headsets, und vielleicht telefonierte er nicht im Sitzen, sondern im Liegen. Mit geschlossenen Augen. Er hätte sich mit dieser Stimme einem Raubtier nähern können, ohne dass es erschrak.

Zuerst sagte er ganz andere Wörter zu mir: Kundenservice und Auftragsbestätigung, Produktfehler, Gutschrift, Adressabgleich. Bevor wir überhaupt das erste Mal miteinander redeten, bat mich eine Computerstimme, Ja zu sagen. Ich sollte Ja sagen, wenn ich damit einverstanden sei, dass das Telefonat aufgezeichnet würde. Ich sagte Nein. Die Computerstimme sagte, sie habe mich nicht verstanden, und wiederholte die Frage. Diesmal schwieg ich. Sie fragte noch zwei Mal, aber ich kann ausdauernd schweigen. Nach dem dritten Mal sagte die Stimme, als sei nichts gewesen: »Ihr Gespräch wird, wie gewünscht, nicht aufgezeichnet.«

Dann knackte es in der Leitung und ein Freizeichen ertönte.

Mein Anruf hatte keinen vertraulichen Grund. Ich habe zum Beispiel nicht wegen des Wortes angerufen. Natürlich nicht. Wo könnte man da auch anrufen und sich beschweren? Nein, mir ist bloß die Vorstellung unbehaglich, dass Servicehotlines ihre Mitarbeiter überwachen – und mich ebenfalls. Früher musste man dann zu der Person am Telefon sagen, dass man keine Aufzeichnung wünschte. Ein seltsamer Gesprächsbeginn.

Das Freizeichen endete.

»Kundenservice?« Etwas Diskretes lag in seiner Stimme. Sie dunkelte das Zimmer ab, bis auf einen schmalen Lichtkegel um uns herum.

»Hallo«, sagte ich, so leise wie er, und dann, ganz überflüssig: »Ich habe der Gesprächsaufzeichnung widersprochen.«

»Gut.« Er machte eine Pause. Wahrscheinlich tat er aus Höflichkeit so, als ob er etwas eingab, aber die Pause klang wie Gut, dann sind wir ungestört. »Was kann ich denn für Sie tun?«

Ich hatte nicht wegen des Wortes angerufen, dabei gab es mit dem Wort eindeutig ein Problem. Im Grunde hatte es immer Probleme mit dem Wort gegeben. Als kleines Mädchen wusste ich schon, was es bezeichnete und dass ich so etwas besaß. Auch der Zweck war mir ungefähr bewusst, doch dabei ging es um eine ferne Zukunft, also machte ich mir keine weiteren Gedanken. Alles war gut. Mit der Sache stimmte alles. Nur mit dem Wort eben nicht. Das merkte ich zunächst nur an der seltsamen Art, wie es gesagt wurde. Bei uns zuhause trug es eine Betonung, als sei es das normalste Wort der Welt. Normaler als die anderen. Normaler als Ellbogen zum Beispiel. Oder Kühlschrank. Supernormal sozusagen. Doch unterwegs, beim Einkaufen, im Kindergarten, in der Öffentlichkeit also, fiel das Wort überhaupt nie. Das schien mir paradox. Wäre ich mutiger gewesen, hätte ich nachgefragt. Oder das Wort laut auf der Straße gesungen, um zu sehen, was dann passierte.

Endgültig suspekt wurde es mir, als ich von meiner Mutter erfuhr, dass sie regelmäßig zu einem Arzt ging, der nachprüfte, ob mit ihrem Wort alles in Ordnung war. Auch ich würde später dorthin gehen müssen, sagte sie. Mir kam es verdächtig vor, einen Arzt speziell dafür zu haben. Der einzige andere spezielle Arzt, zu dem man regelmäßig ging, war der Zahnarzt.

»Tut es weh?«, fragte ich.

»Nein«, sagte meine Mutter.

Sie hat alles richtig gemacht. Meine Eltern haben das meiste richtig gemacht. Sogar die Welt machte zu der Zeit vieles richtig. Offiziell und in der Sache gab es kein Problem mehr, und die weitere Entwicklung schien zügig zu verlaufen.

Aber das Wort hielt nicht mit.

Ich glaube, Wörter sind empfindlich. Man berührt sie beim Sprechen, und dabei nehmen sie die Absichten und Gefühle auf, mit denen man sie sagt. Sogar die Stimmung der anderen Wörter ringsum. Manche Ausdrücke, die häufig in der Zeitung stehen, Wörter für bestimmte Menschengruppen zum Beispiel, fangen irgendwann an, schlecht zu klingen. Dann ersetzt man das Wort durch ein angeblich besseres. Aber das hilft nicht, denn der wahre Grund für den schlechten Klang ist, dass das Wort etwas Schlechtes aufgesogen hat. Meistens ist es Hass. Und im gleichen Hass wird dann, ganz langsam, auch das neue Wort ertränkt.

Manchmal ist es aber auch Scham.

Ein Wort, das viel Scham aufgenommen hat, das hundert Jahre oder länger nur flüsternd gesagt wurde, mit niedergeschlagenen Augen, ohne Stolz, ohne Freude, kann sehr schwer sein. Es wird nicht ausgetauscht, weil offiziell ja alles in Ordnung ist mit ihm. Aber es fühlt sich anders an als andere Wörter. Nicht neutral, nicht ganz trocken. Vielleicht wird es nie wieder ein normales Wort wie Ellbogen oder Kühlschrank. Nie mehr.

Als kleines Mädchen verlangte man von mir, zu glauben, mein Wort sei etwas ganz Normales, und dabei erlebte ich überall, dass das nicht stimmte. Das muss mich so irritiert haben, dass ich auch später lieber andere Begriffe benutzte, oder Umschreibungen. Oder ich sagte gar nichts. Das ging erstaunlich gut. Es war fast nie nötig, das Wort auszusprechen. Ich hatte lange Beziehungen, Liebesbeziehungen, in denen es vielleicht dreimal fiel. Mein jeweiliger Freund schien das Wort nicht zu brauchen, und wenn ich es aussprach, kam ich mir immer vor, als täte ich es extra. In provozierender Absicht.

Als ich aufhörte, Männer zu lieben, und begann, mich wieder für sie zu interessieren, und vor allem, als ich begann, sie nur noch selbst anzusprechen, begann das Sprechen selbst, sich zu verändern. Die Sätze fühlten sich neu an; hinter ihnen schien immer noch etwas zu warten.

»Ich rufe wegen meines neuen Kühlschranks an«, sagte ich. »Er riecht komisch. Irgendwie … nach Weltraum.« Ich zögerte. Der Servicemitarbeiter würde mich sowieso unterbrechen. Er würde sagen, solch ein Geruch existiere nicht, ich sei zu empfindlich und bildete mir etwas ein. Bestenfalls würde er behaupten, der Geruch verfliege von allein (aber darauf hatte ich schon ein paar Wochen vergeblich gewartet). Er würde meine Beschwerde abschmettern, in subtil herablassendem Ton.

Aber er schwieg.

Ich fuhr etwas mutiger fort: »Alles, was ich hineinstelle, fängt auch an, nach Weltraum zu riechen. Besonders die Butter.«

Während ich mich bemühte, den Geruch genauer zu beschreiben, lauschte ich den Atemzügen meines Gesprächspartners. Sie gingen ruhig, als sei es ihm angenehm, mir zuzuhören. Oder, als sei ihm Zuhören generell angenehm. Einmal hörte ich ein Knarren und Rascheln in der Leitung. Er dreht sich auf die Seite, dachte ich, er macht es sich bequem.

Als ich fertig war, räusperte er sich und fragte in vertraulichem Ton: »Nasse Wäsche?« Die Zischlaute klangen wie Wasserspritzer auf heißem Metall.

»Wie bitte?« Ich schluckte, und bestimmt war auch dieser feuchte, persönliche Laut durch die Telefonleitung zu hören.

»Astronauten haben den Geruch beschrieben.« Er sog Luft durch die Nase und sprach fast schwärmerisch weiter. »Nasse Wäsche, Bremsbeläge oder eine frische Schweißnaht.« Das T am Ende sprach er sorgfältig, aber weich, und ich spürte, wie er seine Zungenspitze an den Gaumen legte und sie wieder löste. T. »So rochen die Anzüge nach den Weltraumspaziergängen. Beim Ausziehen.« Das letzte Wort war dunkler gefärbt als die anderen, schwer, aber gleichzeitig kam es mir vor, als ob es schwebte, in einer engen Astronautenkapsel, wo wir, um wichtige Arbeiten zu erledigen, unsere Knie und Ellbogen haarscharf aneinander vorbeibewegen mussten. Und die weicheren Körperteile erst recht. Das erinnerte mich an etwas, aber ich konnte mich immer schlechter konzentrieren.

Nasse Wäsche.

»Ja«, sagte ich und schlug die Beine übereinander. »Das … trifft es ganz gut.«

»In Ordnung«, raunte er.

Im Eingabesystem existierte keine Kategorie für geruchliche Mängel bei Kühlschränken. Er probierte herum und erläuterte mir jeden Arbeitsschritt, als erzählte er eine verschlungene Geschichte. Ich drückte mir das Telefon ans Ohr. Mit der anderen Hand versuchte ich, lautlos den obersten Knopf meiner Jeans zu öffnen. Ich schob die Hand hinein und streichelte mich durch den Stoff des Höschens, ganz leicht, die kribbelnde Schwerelosigkeit der Stimme aus dem Telefon nachbildend. Nur gelegentlich steuerte ich ein etwas gepresstes M-hm zu unserem Gespräch bei, oder die Bemerkung, diese oder jene Idee klinge doch gut. Sehr, sehr gut. Er sprach weiter, ganz in seinem Element, jemand, der etwas mit der Stimme machte, und zwar gern.

Als wir fertig waren, sagte er, der Kühlschrank werde ausgetauscht. Wir verabschiedeten uns zügig.

Der zweite Kühlschrank roch tatsächlich schwächer als der erste. Aber wenn man es genau nahm, spürte ich immer noch eine gewisse … Beeinträchtigung. Ich überlegte ein paar Tage lang, ob sie stark genug war, um noch einmal anzurufen. Dann rief ich sogar achtmal an, denn nach der Computerstimme meldeten sich jedes Mal andere Mitarbeiter, immer die falschen, und ich legte auf.

Beim neunten Mal nicht.

»Hallo«, sagte er, und ich hörte sein Lächeln. »Lassen Sie mich raten. Sie haben der Gesprächsaufzeichnung widersprochen?«

»Das Ersatzgerät ist kein guter … Ersatz.«

Er atmete. Ich atmete.

»Verstehe«, sagte er dann. »Telefonisch kann ich da natürlich nur schwer weiterhelfen.«

»Nein«, sagte ich. »Telefonisch nicht.«

Eine Pause entstand.

»Aber mir ist etwas aufgefallen.« Jetzt war seine Stimme wieder diskret, sie glitt um meinen Nacken und den Rücken hinab. »Wie Sie wissen, nimmt unser Unternehmen seine Verantwortung als Arbeitgeber sehr ernst. Daher hat es den telefonischen Kundenservice bisher nicht ins Ausland verlagert.« Wieder dieses T, und diese Zunge, die es genau platzierte. Ich hätte stundenlang zuhören können.

»Erzähl mir mehr.« Das rutschte mir so heraus, versehentlich, aber ich verzichtete mit voller Absicht auf eine Entschuldigung.

Eine Sekunde verging. Zwei. Drei. Vier.

»Fünf Minuten von deiner Lieferadresse«, sagte er.

Er sagte es ein bisschen kurzatmig, und vielleicht gab das den endgültigen Ausschlag. Seit einiger Zeit vertraute ich in diesen Dingen nur noch auf mein Bauchgefühl.

Ein paar Tage später öffnete ich die Tür.

Ich glaube, er fand mich ein bisschen zu groß, und ich fand ihn ein bisschen zu dünn, aber das waren bloß Aufschriften, so kam es mir vor, Aufschriften, die wir kurz überflogen und zur Kenntnis nahmen. Schließlich räusperte er sich, und an dem Räuspern erkannte ich ihn zweifelsfrei. Wir lächelten.

Als er den Arm hob und mir die Hand hinstreckte, machte der Stoff seiner grauen Windjacke ein sirrendes Geräusch. Feuergefährliches Material.

Sein Händedruck begann fest und wurde dann weicher, vieldeutig, und ich ließ meine Hand ebenfalls weich werden. Einige Sekunden lang hielten wir Händchen im Treppenhaus.

»Bevor du fragst: Nein«, sagte er. »Ich will keinen Blick auf den Kühlschrank werfen.« Seine Stimme besaß mehr Tiefen als am Telefon. Quecksilbrig schwer tropfte sie mir ins Ohr, und ich wusste genau, wo ich sie dringend spüren wollte.

Sanft zog ich ihn in die Wohnung, schob mehrere Finger tief in den Spalt zwischen seiner Windjacke und seiner Haut und flüsterte: »Nasse Wäsche?«

Ihn anzufassen, war doppelt aufregend, weil ich einerseits gar nichts über die typischen Temperaturen und Bewegungen seines Körpers wusste, seine Stimme mir aber vertraut vorkam. Sobald er schwieg, herrschte eine Art blinde Dunkelheit, wie bei Teenagern, die zum Fummeln das Licht ausschalteten. Aber meistens redete er leise gegen meinen Mund, und dann warf seine Stimme diesen schmalen Lichtkegel, als würden wir einträchtig in unserer Raumkapsel arbeiten.

Er besaß sehr kühle und sehr warme Stellen, vielleicht vom Fußweg durch die kalte Luft.

Auch im Bett sprach er weiter. Das störte mich nicht. Wenn er flüsterte, glitt der Klang zurück in die Nähe seiner Telefonstimme. Sorgsam und gedankenverloren zugleich erläuterte er mir, was er tat, was er tun könnte, was er gerne versuchen würde, wie sich das für ihn anfühlte. Dabei klang er so hingebungsvoll, dass ich oft lächeln musste.

Er sprach mit meinem Nacken, später mit dem weichen Stück Haut in der Mitte zwischen meinen Rippen. Die Abwärtsbewegung gefiel mir. Als ein sattes T an meiner Hüfte zerplatzte, fragte ich:

»Machst du es mir mit der Zunge?«

Er murmelte zustimmend, aber dann änderte er die Richtung. Vielleicht hatte er oben etwas zu sagen vergessen.

Ich stöhnte. »Du bringst mich um.«

Er nahm eine Brustwarze zwischen die Zähne und machte leise »Au, au«, als ob er mir soufflierte. Dann leckte er darüber und atmete gleichzeitig ein. Heißkalt. Ich zuckte zusammen.

»Wie bitte?«, fragte er höflich.

Um nicht seinen Kopf zu packen und nach unten zu drücken, krallte ich die Finger neben meinen Ohren ins Kissen. Er bewegte sich millimeterweise, und seine Lippen fühlten sich so heiß an, als hätten sie Sonnenbrand.

Endlich lag er zwischen meinen Beinen, ganz still.

Dann, als ob er überlegte, machte er einmal »Hm«. Dieser winzige Luftstoß muss es gewesen sein. Ich griff zu. Wenigstens griff ich statt seines Kopfes nur meine Knie. Ich zog sie so weit nach oben, wie es ging, und so weit auseinander, als spannte ich das wichtigste Transparent einer Demo auf, mit der zentralen Forderung, die sich aus allem, was zuvor geschehen war, ergab.

Keine Reaktion.

Einen Moment lang hob er den Blick, sah mir in die Augen, und ich konnte mich von außen sehen: ein aufgespanntes Verlangen. Er küsste die dünne Haut meines Schenkels. Die Muskeln darunter zitterten, weil es eine viel zu leichte Berührung war. Aus meiner Kehle drang ein Jammern. Dann senkte er den Blick zwischen meine Beine. Es war ein bohrender Blick, begleitet von tiefem Schweigen. Ich spürte beides in mir, hart und körperlos.

Ohne Vorwarnung leckte er einen langen, kräftigen Strich genau meine Mitte entlang. Seine Zunge traf die Nervenzellen dort in bereits völlig aufgebrachtem Zustand, und so erzeugte sie gleichzeitig Druck und Sog, Ziehen und Flattern, legte mir Eis auf die Haut und schmolz mich weg wie Butter.

Er musste dabei wieder angefangen haben zu reden, ich hörte nicht zu, aber die Vibration seiner Stimme lockte mich bis an diesen gläsernen Abhang, der zugleich ein Ort und eine Zeit ist. Dieser Moment kurz vor dem Höhepunkt, wenn Denken und Wahrnehmung ein letztes Mal zurückkehren und sich weiten, bevor sie klirrend einstürzen. Da hörte ich ihn.

Er sagte das Wort.

Das eigentliche, ursprüngliche Wort. Das Wort, das nicht in Ordnung war. Er sprach es zwischen meine Beine, in meinen Körper hinein, immer wieder. Er sprach das Wort mit dem Wort an, voller Genuss, als ob er es gar nicht oft genug und klar genug sagen konnte. Er betonte es prunkvoll, geradezu schwülstig.

Er sagte, dass er mein Wort so gern schmecke. Dass er daran saugen wolle, oh ja, ob er das dürfe, mein Wort richtig schön auslecken, bitte, und dass ich, nein, dass ich mich doch nicht wegdrehen solle, bitte nicht, dass er so auf mein Wort stehe, dass es so heiß sei, so schön, dass ich es ihm zeigen solle, das ganze Wort, weil es so gut sei, ja, dass ich es ihm geben solle, mein Wort, und meine Finger, oh ja, genau so. Dass ich mein Wort richtig weit auseinanderziehen solle, genau, und ob es mir gefalle, was er damit mache, dass ich ihm zeigen solle, was meinem Wort am besten gefiel, weil er das alles mit ihm machen wolle, alles, ob ich ihn verstehen würde, dass mein Wort so verdammt geil sei, so heiß und nass, mein Wort, und dass ich ganz ruhig bleiben solle, hey, ganz ruhig, er würde es meinem Wort schon richtig besorgen, er würde mein Wort ganz in den Mund nehmen, komplett, und zwar jetzt. Genau jetzt, weil es so gut schmecke, er würde mein Wort so rannehmen, wie ich es brauchte, und ja, ich solle ruhig für ihn kommen, genau so, genau jetzt, zu ihm, ja, gut so, gut.

Ein offenes Saugen, mit weit geöffnetem Mund, wie man die Lippen auf einen Apfel pressen würde vor dem Hineinbeißen, damit kein Saft überfloss, mein überfließendes, überflüssiges Wort, da war es, genau da.

Wahrscheinlich hätte er schon kurz danach wieder reden können, er konnte wahrscheinlich immer reden, aber er tat es nicht.

Also habe ich nach einer Weile angefangen, ihm von dem Wort zu erzählen. Die ganze Geschichte. Ich habe die Laute und Silben benutzt, viele Male. Ich versuchte zu beschreiben, wie das Wort für mich klang. Es klingt immer noch so. Jedenfalls, wenn ich es laut sage: derb und saftig, fett und rund. Anmaßend. Dreist. Als könne man es nicht leise sagen, sondern nur auf der Straße singen. Eigentlich macht es Spaß, es auszusprechen. Ein ungehorsames Wort.

»Danke«, sagte ich schließlich, und er tat, als ob er nicht wüsste, was ich meinte. Oder er schlief schon halb.

»Hier riecht es total nach Weltraum«, murmelte er bloß. Er strahlte eine immense Wärme ab, und ich rückte ein Stück von ihm weg. Nur so weit, dass ich nachdenken konnte. Irgendwo dort in der kühlen Luft hing eine Idee, die ich noch erwischen wollte, bevor ich ebenfalls einschlief.

Er hatte mir etwas zurückgegeben, also musste ich es verloren haben. Es musste vor langer Zeit in den Weltraum geweht sein, natürlich, weil man ja Raumkapseln nicht öffnen durfte, oder jedenfalls, wenn man sie zum ersten Mal öffnete, dann verlor man etwas, so hieß es doch immer … ich war zu müde. Also noch mal, von Anfang an, dachte ich und schnappte nach dem Gedanken, aber immer, wenn ich ihn beinahe zu fassen bekam, flog er davon, von Anfang an also noch mal, ich muss über das Anfangen nachdenken.

Der Anfang

Der Anfang besaß gefährliche Augen, ein verletzt-spöttisches Lächeln und eine orientierungslose Menge von rauchigem, schwarzem Haar. Ich wollte mich hineinstürzen, mit dem Gesicht voran. Wie eine Aschewolke zog dieses Haar durch meine gerade entstehende erotische Vorstellungswelt. Noch heute finde ich dort manchmal Rußpartikel, und manchmal mag ich noch heute, wie sie riechen.

Meine Eltern hassten ihn auf den ersten Blick. Glücklicherweise war es da schon zu spät. Er ist ein guter Anfang gewesen. Damals habe ich geglaubt, ich könnte auch ein gutes Ende von ihm erhoffen. Oder sogar ein Nicht-Ende, ein Weiter. Aber dafür hatte ihn das Leben gar nicht vorgesehen. Mein Leben jedenfalls, so denke ich inzwischen, hatte ihm genau die eine Sache aufgetragen: ein guter Anfang zu sein. Das hat er gemacht, unbewusst und selbstverständlich. Jede weitere Hoffnung überforderte ihn wie einen Boten, den man festhielt und bat, die Nachricht zu erklären, die er überbrachte. Weil er das nicht konnte, wurde er böse, wahrscheinlich auch auf sich selbst, er fing an zu lügen, und ziemlich bald riss er sich los.

Ich werde von ihm und mir nur den Anfang erzählen. Das ist schwierig genug. Die Geschichte hat für mich jahrelang immer wieder etwas anderes bedeutet.

Meine Erinnerung setzt gegen 5 Uhr 30 an einem Samstagmorgen ein, und zwar in einer S-Bahn, die über eine Brücke fährt. Unten ist Wasser. Die Morgensonne schiebt einen Strahl durchs Fenster, flach, wie eine Kanüle, die ihren Wirkstoff direkt unter die Haut spritzt.

Dieses heftige, irritierend neue Wollen.

Er sitzt neben mir, und er sagt, amüsiert: »Du kannst dich ruhig bei mir anlehnen.«

Das ist nicht wirklich der Anfang.

Zuvor, in der Nacht, müssen wir uns irgendwo kennengelernt haben. Laute Musik. Eine niedrige Decke, von der Kondenswasser tropft. Zwei Mitschülerinnen von mir, die irgendwo tanzen. Eine Menschenmenge, in der man sich genau richtig verlieren kann. Nie ganz, nie so, dass es Angst macht.

Ich tanze. Ich lächle.

Er muss auf seine typische Art zurückgelächelt haben, an mir vorbei, als ob er sagen wollte: Ich lass mich hier doch nicht für dumm verkaufen.

Diese Masse von Haaren.

Als ich klein war, spielte ein Mann in der Fußgängerzone Gitarre. Vor ihm ein Hut mit Münzen. In der Zeit danach träumte ich häufiger schlecht, und meine Mutter setzte sich an mein Bett und fragte: »Wieder der Mann mit den langen Haaren?«

Er tanzt allein.

Von der Decke tropft es auf seine Haare. Auf mich.

Ich tanze jetzt hinter ihm, dann sogar neben ihm, obwohl ich so nah bei ihm ganz mutlos werde und zu keinem direkten Blick fähig bin.

Aber er sagt etwas.

Ich muss ihn dann irgendwann gefragt haben, an der Bar, schreiend durch die Musik, wie alt er ist, und er muss gesagt haben, zweiunddreißig, und ich muss gedacht haben, oh.

Dieses Oh muss alles Mögliche bedeutet haben. Nicht nur, dass ich noch zur Schule gehe.

Wir sitzen in der S-Bahn, er, ich und meine zwei Freundinnen, wir haben alle ein Stück gleichen Wegs.

Du kannst dich ruhig bei mir anlehnen.

Er sagt das in einem sanft spöttischen Tonfall, als wüsste er Bescheid. Als hätte ich ja schon lange gebettelt. Und er sagt es sehr leise, zu leise für meine Freundinnen, die uns gegenübersitzen. Ich bin allein mit den Worten. Mein Körper saugt sie auf, wie er in der Nacht die Musik und das Tanzen und jede kleine Berührung aufgesogen hat, und jetzt ist alles da, alle nötigen Elemente, im exakt richtigen Mischungsverhältnis.

Ich habe zu der Zeit einen Freund, und ich habe seinen Namen vergessen. Nicht jetzt, beim Erzählen, sondern in dem Moment im Zug. Heute weiß ich, wie er hieß, und ich erinnere mich auch, dass wir genau zu der Zeit vorhatten, miteinander zu schlafen. Ein Plan wie das Abitur, oder wie eine erste Wanderung durch unwegsames Gelände. Wir sind bereits im Training, wir üben nach der Schule in sanften Hügeln und Tälern, die nach Butterblumen riechen, dem Weichspüler, den seine Mutter für die Bettwäsche benutzt. Das alles ist nervenaufreibend, und ich weiß meistens nicht, was genau mir so peinlich ist: er oder ich, sein oder mein Körper, etwas Technisches oder etwas Gefühlsmäßiges, diese ganze neue Topografie.

Du kannst dich ruhig bei mir anlehnen.

Ein fremdes Land.

Man kann mit jemandem hinfahren, der einen liebt, oder mit jemandem, der schon mal dort war.

Der Zug rattert über den Fluss, und die Brückenpfeiler zucken vorbei wie geheime Schnitte in einem Film, schmutzige Bilder, die jemand hineingeschmuggelt hat, kürzer als ein Blinzeln. So schnell vorbei, dass man sie nur bemerkt, wenn man schon ahnt, dass da etwas sein könnte, und dann ist man bereits mitschuldig, auch wenn man erschrickt.

Da ist etwas.

Mein Kopf berührt seine Schulter, meine Stirn seine Haare, und in der Sekunde kommt es mir vor, als ob ich ihn anfasse. Mit den Händen. Meine Schläfe betastet die Naht an seinem Kragen. Hält ihn dort fest. Sobald mir die Augen zufallen, übernimmt mein Geruchssinn. Rauch, Männerdeo, etwas Kalk, vielleicht von den Wänden einer Wohnung. Seiner Wohnung. Ich atme diese erwachsenen Gerüche ein, viel zu tief, viel zu schnell, mir wird schwindelig, und ich hebe mit letzter Kraft den Kopf und reiße die Augen auf.

Die Freundin wirft mir einen kühlen Blick zu. Sie mag meinen Freund.

Nein, ich weiß nicht, was das soll.

Dazu müsste ich erst wissen, was das ist. Allerdings ahne ich: Das ist nicht in Ordnung. Und das ist auch keine Frage von Sitzpositionen, wer neben wem, das findet gar nicht an offiziellen, äußerlichen Positionen oder Grenzen statt, sondern unter einer Falltür, von deren Existenz ich bis eben nichts wusste und für die ich trotzdem ganz allein verantwortlich bin. Ein Teil von mir schämt sich, und ein Teil von mir will genau so sitzen bleiben, an dieser Falltür, an dieser Schulter. Aus Protest. Ja. Gegen irgendetwas muss man doch auf diese Weise protestieren können.

Als ich aussteige, mit den Freundinnen, befindet sich in meiner Hosentasche ein Zettel. Zuhause werfe ich ihn hinter die Schulbücher.

Es ist Abiturzeit. Mein Freund und ich sehen uns seltener als sonst. Einmal treffen wir uns zufällig vor der Bäckerei. Beim Begrüßungskuss stoßen wir mit den Nasen zusammen, weil wir beide den Kopf zur selben Seite neigen. Dann passiert es noch einmal auf der anderen Seite. Wir lachen, aber ein drittes Mal versuchen wir es nicht.

Freitagabends hat niemand Zeit zum Weggehen. Ich schlafe schlecht ein, weil auf meinem glatten Kopfkissen, sobald ich die Augen schließe, eine Schulternaht erscheint, die sich heiß in meine Wange drückt. Das Kissen riecht ganz anders als ich. Oder als Butterblumen.

Du kannst dich ruhig bei mir anlehnen.

Wie unterschiedlich Sätze sind. Dieser hier fängt an zu wuchern und zu ranken, so intim, dass ich noch im Dunklen, allein, erröte, obwohl er gar nichts versprochen hat. Der Satz treibt grellrote, skrupellose Blüten: Ja, verdammt. Sie erschrecken mich. Bisher hat das, was ich wollte, und das, was mir richtig erschien, immer ganz gut zusammengepasst. Jetzt nicht mehr.

Und dann gibt es Sätze, die liegen im Überfluss herum, Massenartikel, Ramschware, nur scheinbar verschieden, damit ich endlich einen aussuche. Alles andere wäre gemein.

Ich tue es eine Woche später und mein Freund muss zuhören. Vor lauter Ungeduld, vor lauter Überdruss will ich am liebsten alle Sätze hintereinandersagen. Dann wäre garantiert der Passende dabei.

»Ich mag dich sehr / Aber es ist so / Es tut mir leid / Wir müssen Kontakt halten / Du bist mir wichtig / Es hat einfach nicht / Ich würde dich enttäuschen / Du bist viel zu gut für mich / Es tut mir …«

»Hast du einen Anderen?«

»Nein«, sage ich.

Gerade noch rechtzeitig, bevor es gelogen ist.

Am Sonntag darauf sitze ich wieder in der S-Bahn. Sie rattert über dieselbe Stahlbrücke. Diesmal verwischen die Pfeiler in der Mittagssonne. Nie werde ich wissen, wie sie wirklich aussehen, denke ich.

Nein, das kann nicht stimmen. Es muss eine andere Brücke gewesen sein. Wenn man auf der Karte nachsieht, dann wohnte er tatsächlich auf einer Insel. Nur über Brücken zu erreichen. In meiner Erinnerung ist es aber immer dieselbe Brücke. Etwas weiter flussaufwärts schwankte auf einer Boje im Wasser eine verwitterte Skulptur. Ein Mann. Er trug ein weißes Hemd und eine schwarze Hose, beides aufgemalt, und er sah mit starrem Blick nach vorn. Immer nur nach vorn. Ein Stück entfernt ragten Schilder für den Schiffsverkehr aus dem Fluss, und die Statue passte zu ihnen, als wäre auch sie ein Richtmaß, ein offizielles Muster für Starre und Einsamkeit.

»Wo willst du dich denn mit mir treffen?«, hat er am Telefon gefragt. Ich sehe ihn herausfordernd lächeln dabei. Ich weiß keinen Ort, denn ich kenne die Stadt nur vom Tanzen und Einkaufen, und die Orte dafür sind am Sonntagmittag geschlossen.

»Dann willst du wohl bei mir vorbeikommen«, sagt er.

Es ist heiß in der Bahn, und die Leute im Waggon verhalten sich still wie betäubte Tiere. Ich auch. Ich fühle mich seltsam allein. Eigentlich hatte ich Widerspruch erwartet, zum Beispiel von meiner Mutter.

»Ich fahre einen Freund besuchen, okay?«

»Bist du zum Abendbrot wieder hier? Oder geht ihr aus?«

Ich bin volljährig. Natürlich bin ich allein.

Von meinem T-Shirt, secondhand, blättert der Name einer mir völlig unbekannten, amerikanischen Uni. Der dunkelblaue Baumwollstoff ist zu dick und zu warm für das Wetter, aber angenehm fest.

Auf dem Weg von der Haltestelle zu seiner Wohnung begegnet mir kein einziger Mensch. Die Hitze hat alles abgetötet. Ich setze einen Fuß vor den anderen, immer auf meinen Schatten, der ganz klein ist, viel kleiner als ich. Mir läuft der Schweiß herunter. Ich spüre einen Tropfen auf der Brust, genau unter dem Steg des BHs. Die Gegend um mich herum ist gar keine richtige Wohngegend, mehr ein Geschäftsviertel.

Die Straße nimmt einen plötzlichen, scharfen Knick in den Schatten. Natürlich habe ich den Knick erwartet; ich bin ihn zuvor auf der Karte mit dem Finger entlanggefahren. Aber in meiner Erinnerung taucht er immer sehr abrupt auf.

Meine Augen brauchen einen Moment, um sich zu gewöhnen. Im Halbdunkel gehe ich weiter, bis am Ende der Straße tatsächlich ein paar Wohnhäuser auftauchen.

Er lässt den Türöffner summen, ohne zu fragen, wer da ist. Durchs Treppenhaus zieht angenehm kühle Luft. Steinstufen, ein glattes Geländer aus Kunststoff.

Zur Begrüßung sagt er nur meinen Namen, und es klingt anders, als jemals irgendwer meinen Namen ausgesprochen hat. Nicht fordernd, sondern so, als ob mein Name bereitliegt und auf mich wartet.

Dann sagt er doch noch »Hey«, aber gedehnt, als sei er beeindruckt, dass ich mich hergetraut habe.

»Hallo.« Soll ich ihn umarmen? Mich ihm an den Hals werfen.

Sein Blick ist aufmerksam.

Ich kann mich nicht rühren.

Schließlich streckt er die Hand aus, den Zeigefinger, tippt gegen meinen nackten linken Arm und fährt dann mit der Fingerkuppe über die Haut nach oben bis knapp unter den Ärmel des viel zu warmen T-Shirts.

Heute denke ich, er muss die Gänsehaut gesehen haben.

Sein Mundwinkel zuckt, er legt den Kopf schief und tritt zur Seite, um mich in die Wohnung zu lassen. Ich bin neidisch: Er kann die Tür seiner Wohnung öffnen, und er kann einfach so eine Berührung unternehmen, einfach die Hand ausstrecken, als wäre das ganz normal. Das kann man alles, wenn man 32 ist, denke ich, während die Tür ins Schloss fällt.

Da ist er, dicht vor mir. Für mich allein. Seine geöffneten Arme und sein Geruch, an den ich mich erinnere. Ich glaube, er trägt ein Hemd von gestern. Kaum Schweiß, aber auch kein Deo. Seife. Kaffee. Haut, die immer blass bleiben wird, auch im Hochsommer, zumindest in meiner Erinnerung. Das Hemd hängt über der Hose. Als ich die Arme um ihn lege und mein Gesicht, endlich, in seine rauchigen Haare, ist so viel von ihm so nah, dass der Flur schwankt.

Es dauert eine Weile, bis ich meine Hände wiederfinde. Eine liegt auf seiner Hüfte. Jeans.

Er bewegt sich gar nicht.

Ich schiebe die Finger etwas nach oben. Mein Daumen streift Haut. Schnell ziehe ich die Hand weg, aber in dem Moment schnaubt er leise. Vielleicht lacht er mich aus. Ich will keinen Fehler machen. Also lege ich die Hand wieder zurück. Ich schiebe sie sogar unter sein Hemd.

Ein leises Lachen. »Du bist ganz schön schnell.« Er drückt mich ein Stück von sich weg.

Ich muss erschrocken aussehen, denn er streicht noch einmal über meinen Arm, diesmal ruhig und mit der ganzen Hand. Als ob er die Berührung von vorher wieder löscht.

Er hat hellgraue Augen.

Viel später, ein Foto in der Hand, denke ich einmal, dass seine Augen heller sind als die Art, mit der er durch sie auf die Welt blickt. Er ist wütend auf seinen Vater, weil der nie da war. Er pocht auf alles, wovon er glaubt, dass es ihm zusteht. Er gerät leicht mit Leuten in Streit.

Nichts davon lese ich nach unserer ersten Umarmung in seinem Blick. Es muss schon da sein, aber für meinen Anfang ist es unwichtig. Vielleicht bemerke ich es auch nicht, weil ich viel zu sehr mit mir selbst beschäftigt bin. Nichts war so schlimm oder gut, wie ich dachte.

Er hat hellgraue Augen.

»Hier. Es gibt keine Couch. Bei mir müssen alle gleich auf dem Bett sitzen.« Er schneidet eine kleine Grimasse. »Macht bestimmte Dinge leichter.«

Was man im Scherz sagt, meint man nicht wirklich, sage ich mir. Ich setze mich, das Fenster steht offen, warme Luft drängt herein und das Zimmer gleitet mühelos in die Perspektive, die es für immer behalten wird. Ich kann es mir aus keinem anderen Blickwinkel in Erinnerung rufen. An einem selbst gebauten Regal lehnt ein schwarzes Rennrad.

Er holt mir ein Glas Wasser aus der Küche und lässt sich neben mir nieder, während ich trinke.

»Hey«, sagt er leise, als ob er mich noch einmal begrüßt. Er lächelt nur mit den Augen. Ich stelle schnell das Glas ab. Soll ich –

»Was möchtest du?«

Mit der Frage habe ich nicht gerechnet. Was möchte ich?

Dieses Gefühl weiter haben. Zurückspulen, noch mal im Flur stehen und an deinem Haar riechen, dich anfassen, ohne dass das etwas in Gang setzt, womit ich vielleicht nicht umgehen kann. Bitte gib mir das Gefühl, dass ich normal bin. Bitte sei nicht zu erwachsen, nicht so klar und ironisch und gefährlich. Bitte lass mich glauben, dass ich erwachsen bin. Bitte fass mich an. Nein, bitte fass mich nicht an. Oder: Fass mich so an, wie es richtig ist und wie ich es dir nicht beschreiben könnte.

Ich will eine halbwegs sinnvolle Antwort geben, und die einzige, die mir einfällt, ist eine Drehung zu ihm hin, ein zügiges Annähern unserer Münder. Ein Kuss. Das könnte ich schaffen.

Er weicht zurück.

Falsche Antwort, durchzuckt es mich.

Dann leckt er sich über die Lippen, nähert sich mir viel langsamer, und auf den letzten Millimetern stoppt er. Die Zeit steht auf Zehenspitzen. Wie auf dem Turm im Schwimmbad, in diesem irren, grandiosen Augenblick vor dem Sprung. Und noch eine Sekunde länger. Ich wusste nicht, dass das geht.

Seine Lippen auf meinen sind warm wie die Luft. Entspannt. Ohne dass das etwas in Gang setzt, womit ich vielleicht nicht umgehen kann. Er hat Zeit. Ich habe Zeit, und mir wird klar, dass ich beim Küssen noch nie Zeit gehabt habe. In den Ecken auf den Partys war es eine Art Wettrennen, gegen den Jungen oder gegen sich selbst. Schneller sein oder krasser, besser als jemand anders, besser als man selbst früher.

Plötzlich gibt es kein Früher mehr. Ich habe bis zu diesem Tag überhaupt noch nie geküsst.

Er macht nichts Besonderes. Er ist einfach nur sehr … da.

Vorsichtig bewege ich die Lippen, und er bewegt seine mit, als hätte er auf mein Stichwort gewartet. Sein Mund öffnet sich, aber die Zunge ist kein aufgeregtes Tier, das sich in meinen hineinwühlt. Sie wartet. Lässt sich von mir finden.

Die Hitze draußen gibt kein Stück nach, aber das Licht ist schräg und abendlich geworden, als ich irgendwann merke, dass er unter mir liegt, dass sein Griff in meinem Nacken ziemlich kräftig ist und dass mir das keine Angst macht. Die Hand ist eher wie ein festes Geländer.

»Ich muss wohl mal in die Drogerie«, sagt er beim Abschied.

Am Sonntag darauf herrscht genau das gleiche Wetter, als hätte die Woche dazwischen gar nicht existiert. Vielleicht ziehe ich deswegen auch dasselbe T-Shirt an. Der Weg von der Haltestelle kommt mir diesmal allerdings kürzer vor. Er wird mir immer kürzer und kürzer vorkommen, und dann von einem Tag im Herbst an wieder länger, bald elend lang, ein Zeichen, dass der Anfang, der gute Anfang, vorbei ist.

Noch ist er es nicht.

Ich gehe durch dieses leere Geschäftsviertel, als ginge ich selbst zu einem Termin. Ich weiß, was passieren soll. Die Tür öffnet sich summend und fraglos.

Er wirkt heute schmaler, und ich brauche einen Augenblick, um zu erkennen, warum.

»Du hast deine Haare zusammengebunden.«

»Ich wollte gerade duschen und sie waschen.«

»Ah.«

»Du kannst mir ja dabei helfen, dachte ich. Erst mal.«

Seine Stimme schwankt nur ganz kurz, aber ich bin erleichtert. Bitte sei nicht zu erwachsen.

»Gute Idee«, sage ich.

Das Bad ist winzig. Die Enge macht es zugleich schwieriger und leichter, sich auszuziehen. Wir müssen auf unsere Ellbogen achten, auf unsere Knie, wir müssen sie synchronisieren, so lange, bis wir, fast ohne es gemerkt zu haben, nackt sind.

Wir klettern in die Kabine. Er greift um mich herum und stellt das Wasser an. In der Mitte seiner Brust wachsen schwarze Haare in verschiedene Richtungen. Als ob keins etwas mit dem anderen zu tun haben will.

Es ist die Zeit, in der ich mich am meisten über Männerkörper wundere. Sie kommen mir vor wie aus lauter Einzelteilen zusammengesetzt.

Das Wasser prasselt auf uns herab. Es wird warm.

Ich zucke zusammen, als seine Handflächen sich an meine Taille legen. Die Fingerspitzen kreisen mit leichtem Druck unter meinen Rippen. Er sieht seinen Händen zu und betrachtet meinen Körper.

Meine Brüste wahrscheinlich.

Was sonst.

Sein Atem beschleunigt sich nur leicht, aber ich erkenne die Situation sofort wieder. Mir wird trotz des warmen Wassers kalt. Das schnellere Atmen markiert immer den Punkt, an dem der Kontakt abreißt. Das war bei meinem Freund so. Bei den zwei Freunden, die ich bisher hatte. Immer an diesem Punkt verändern sich die Gesichter. Sie werden starr, als ob der Sauerstoff nur noch zischend durch eine Darth-Vader-Maske gezogen wird, hinter der möglicherweise gar kein Mann mehr ist. Kein Mensch. Oder ich bin es, die verschwindet, in meinem eigenen, angestarrten Körper.

Ich fröstele. Dann höre ich meinen Namen.

»Hier, warte.« Er lässt mich los und stellt den Duschkopf so, dass ich allein unter dem warmen Wasserstrahl stehe. »Besser?« Ein prüfender Blick in mein Gesicht.

Ich muss blinzeln. Nicken. Ich bin noch da. Er ist noch da. Er sieht genauso aus wie vorher.

»Kann losgehen«, sage ich nach ein paar Atemzügen. »Dreh dich um.«