Heat - Alex Cross 15 - - James Patterson - E-Book

Heat - Alex Cross 15 - E-Book

James Patterson

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Beschreibung

Die Sünden der Mächtigen fordern unschuldige Opfer …

Alex Cross schwört, den Killer zu fassen, der für die brutale Ermordung seiner Nichte verantwortlich ist. Doch schnell findet er heraus, dass sie nicht die unschuldige junge Frau war, für die er sie gehalten hat. Während der Jagd nach dem Mörder bringt Cross einige sehr mächtige und sehr gefährliche Männer gegen sich auf. Da verlangt das Weiße Haus, dass er seine Untersuchungen einstellt. Alex Cross wird klar, dass die Wahrheit die Welt erschüttern könnte – doch das hat ihn noch nie aufgehalten!

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Seitenzahl: 352

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James Patterson

Heat

Thriller

Aus dem Amerikanischenvon Leo Strohm

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel »I, Alex Cross« bei Little Brown US, New York.
Ausgabe April 2012 bei Blanvalet, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Copyright © der Originalausgabe 2009 by Little Brown, USCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Blanvalet Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Covergestaltung: © Johannes Wiebel | punchdesign,unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com (© Orhan Cam, © Vladimir Badaev)Redaktion: Gerhard Seidl, text in form DF · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-06913-1V003
www.blanvalet.de

Buch

Ausgerechnet an seinem Geburtstag erreicht den Profiler Alex Cross eine schreckliche Nachricht: Seine Nichte Caroline, die er nach dem Herointod seines Bruders vor knapp 20 Jahren zuletzt gesehen hat, wurde tot aufgefunden. Offenbar war sie einem äußerst brutalen Mörder in die Hände gefallen, der ihren Körper durch einen Häcksler fast bis zur Unkenntlichkeit verstümmelte. Alles, was man auf Carolines Haut noch erkennen kann, sind Bisswunden. Cross beginnt sofort mit den Ermittlungen, muss zu seiner Bestürzung jedoch bald feststellen, dass die junge Frau als Edelprostituierte gearbeitet hatte.

Parallel zu Cross’ Recherchen nimmt sich auch der Geheimdienst des Falls an. Eine Person mit dem Decknamen »Zeus« soll in die Angelegenheit verwickelt sein, und es scheint eine direkte Verbindung ins Weiße Haus zu geben. Plötzlich wird Alex Cross von höchster Stelle angehalten, seine Untersuchungen einzustellen. Hinter dem bestialischen Mord an seiner Nichte scheint eine Wahrheit zu lauern, die die ganze Welt bedrohen könnte …

Autor

James Patterson, geboren 1949, war Kreativdirektor bei einer großen amerikanischen Werbeagentur. Seine Thriller um den Kriminalpsychologen Alex Cross machten ihn zu einem der erfolgreichsten Bestsellerautoren der Welt. Inzwischen erreicht auch jeder Roman seiner packenden Thrillerserie um Detective Lindsay Boxer und den »Women’s Murder Club« regelmäßig die Spitzenplätze der internationalen Bestsellerlisten. James Patterson lebt mit seiner Familie in Palm Beach und Westchester, N.Y.

Weitere Informationen finden Sie unter: www.jamespatterson.com

Liste lieferbarer Titel:

Die Alex-Cross-Romane: Stunde der Rache (7; 35892) · Mauer des Schweigens (8; 35988) · Vor aller Augen (9; 36167) · Und erlöse uns von dem Bösen (10; 36232) · Ave Maria (11; 26406) · Blood (12; 36855) · Dead (13, 37204) · Fire (14, 37266)

Der Women’s Murder Club: Der 1. Mord (36919) · Die 2. Chance (36920) · Der 3. Grad (36921) · Die 4. Frau (36756) · Die 5. Plage (37037) · Die 6. Geisel (37228) · Die 7 Sünden (37585) · Das 8. Geständnis (37232)

James Patterson und Liza Marklund: Letzter Gruß (37739)

Für Judy Torres

Prolog

FIRE AND WATER

1

Hannah Willis studierte im zweiten Jahr Jura an der Virginia. Sie schien eine glänzende, vielversprechende Zukunft vor sich zu haben … abgesehen natürlich davon, dass sie über kurz oder lang inmitten dieses dunklen, bedrückenden und düsteren Waldes sterben würde.

Weiter, Hannah, sagte sie sich. Immer weiter. Nicht nachdenken. Heulen und jammern bringt dir jetzt gar nichts. Aber rennen vielleicht schon.

Sie taumelte vorwärts, stolperte, strauchelte, bis ihre Hände einen Baumstamm fanden, an dem sie sich festhalten konnte. Sie lehnte ihren schmerzenden Körper dagegen, wartete, bis sie genügend Kraft gesammelt hatte, um den nächsten Atemzug zu tun. Um wieder ein paar Schritte weiter zu hetzen.

Lauf weiter, sonst musst du sterben, hier, irgendwo in diesem Wald. So einfach ist das.

Die Kugel in ihrem hinteren Lendenbereich machte jede Bewegung, jeden Atemzug zur Qual und bereitete Hannah mehr Schmerzen, als sie jemals für möglich gehalten hätte. Nur die Angst vor einer zweiten Kugel oder womöglich noch Schlimmerem hielt sie auf den Beinen und am Laufen.

Mein Gott, hier im Wald war es wirklich pechschwarz. Der Sichelmond ließ kaum einen Lichtstrahl durch das dichte Laubdach auf den Boden zu ihren Füßen fallen. Die Bäume waren nichts als Schatten. Das Unterholz steckte voller unsichtbarer Dornen und Gestrüpp und stach und kratzte ihr die Beine blutig. Das Wenige, das sie zu Anfang einmal am Leib gehabt hatte – nichts weiter als einen teuren, schwarzen Spitzenbody –, hing ihr mittlerweile in Fetzen vom Leib.

Aber nichts von alledem spielte mittlerweile noch eine Rolle oder drang in Hannahs Bewusstsein. Der einzig klare Gedanke, der immer wieder ihre Schmerzen und ihre Panik durchdrang, war: Lauf weiter! Alles andere war ein einziger sprachloser, richtungsloser Albtraum.

Plötzlich öffnete sich der tief hängende Baldachin des Waldes. »Was …?« Die Erde unter ihren Füßen wurde zu Schotter, und Hannah stolperte und fiel auf die Knie, weil sie nichts mehr hatte, woran sie sich festhalten konnte.

Im milchigen Schein des Mondes erkannte sie schemenhaft eine Doppellinie, die den Kurvenverlauf einer Landstraße markierte. Es kam ihr vor wie ein Wunder. Zumindest ein halbes, denn ihr war klar, dass sie noch längst nicht alle Probleme hinter sich hatte.

Als in der Ferne ein Motorengeräusch ertönte, stützte Hannah die Hände auf den Schotter und stemmte sich auf die Beine. Ohne zu wissen, woher sie die Kraft dazu nahm, stand sie noch einmal auf und taumelte auf die Straße. Der Schweiß und frische Tränen ließen die Welt vor ihren Augen verschwimmen.

Bitte, lieber Gott, bitte lass es nicht sie sein. Nicht diese beiden Widerlinge.

So grausam kannst du doch nicht sein, oder?

Ein roter Pick-up schlingerte um die Kurve und kam auf sie zu. Schnell. Zu schnell! Mit einem Mal war sie genauso blind wie vorher im Wald, aber dieses Mal wegen der Scheinwerfer.

»Halt! Bitte, anhalten! Bit-teeeeee!«, kreischte sie. »Halt an, du Schwein!«

Im letzten Augenblick kreischten die Reifen über den Asphalt. Der rote Pick-up rutschte noch ein Stück auf sie zu und hätte sie wirklich um ein Haar überfahren. Sie konnte die Wärme spüren, die durch den Kühlergrill nach draußen drang.

»Hey, Süße, hübsches Outfit! Du hättest bloß deinen Daumen rauszuhalten brauchen.«

Die Stimme kam ihr nicht bekannt vor, und das war gut. Das war richtig gut. Aus der Fahrerkabine dröhnte laute Country-Musik … Charlie Daniels Band, schoss es Hannah noch durch den Kopf, bevor sie mitten auf der Straße zusammenbrach.

Als sie eine Sekunde später das Bewusstsein wiedererlangte, kniete der Fahrer neben ihr. »Oh, mein Gott, das habe ich ja gar nicht … Was ist denn passiert? Sind Sie … Was ist denn passiert?«

»Bitte.« Sie brachte kaum einen Ton heraus. »Wenn sie mich hier finden, dann bringen sie uns alle beide um.«

Der Mann nahm sie in seine starken Arme und hob sie auf. Dabei streifte er das Loch in ihrem Rücken, das nicht größer als ein Zehncentstück war. Sie stieß lediglich den Atem aus, zu schwach, um noch zu schreien. Ein paar graue und verschwommene Augenblicke später saßen sie in dem Pick-up und rasten die zweispurige Landstraße entlang.

»Durchhalten, Schätzchen.« Die Stimme des Fahrers zitterte. »Wer hat dir das angetan?«

Hannah spürte, wie sie erneut das Bewusstsein verlor. »Die Männer …«

»Die Männer? Welche Männer, Süße? Wen meinst du denn?«

Eine Antwort schwebte schemenhaft durch Hannahs Geist, und sie wusste nicht, ob sie sie ausgesprochen oder vielleicht nur gedacht hatte, bevor alles um sie herum schwarz wurde.

Die Männer aus dem Weißen Haus.

2

Sein Name war Johnny Tucci, aber die Jungs damals in seinem Viertel in South Philadelphia hatten ihn Johnny Twitchy genannt, weil er so mit den Augen zuckte, wenn er nervös war. Also praktisch immer.

Aber nach dem heutigen Abend konnten die Jungs in Philly ihn mal kreuzweise. Denn der heutige Abend war der Abend, an dem Johnny richtig eingestiegen war. Wie ein Mann. Er hatte schließlich »das Paket« dabei, oder etwa nicht?

Es war ein einfacher Job, aber echt gut, weil er ihn alleine erledigte und die ganze Verantwortung auf seinen Schultern lag. Das Paket hatte er bereits abgeholt. Hatte zwar Schiss gehabt, aber alles gut hingekriegt.

Auch wenn nie jemand darüber sprach, aber wenn man einmal mit solchen Lieferungen angefangen hat, dann hatte man was gegen die Familie in der Hand und umgekehrt. Mit anderen Worten: Da war eine Beziehung entstanden. Nach dem heutigen Abend würde Johnny sich nicht mehr mit irgendwelchen Botengängen abgeben müssen, würde nicht mehr mühsam irgendwelche Brotkrumen in den Wohnvierteln im Süden zusammenklauben. Wie hieß noch mal dieser Spruch? Heute ist der erste Tag vom Rest deines Lebens.

Also war er natürlich ziemlich gut drauf … und auch ein kleines bisschen nervös.

Onkel Eddies warnende Worte gingen ihm immer und immer wieder durch den Kopf. Dass du’s mir ja nicht versaust, Twitchy, hatte Eddie gesagt. Ich hab mich mächtig weit aus dem Fenster gelehnt für dich. Als ob er ihm mit diesem Job so was wie einen riesengroßen Gefallen getan hätte. Na ja, dachte Johnny, hat er ja vielleicht auch, aber trotzdem. Das brauchte ihm sein Onkel ja nicht ständig unter die Nase zu reiben, oder?

Er schaltete das Radio ein. Sogar die Country-Musik, die hier unten gespielt wurde, war besser, als den ganzen Abend lang Eddies nervtötendes Nölen im Ohr zu haben. Das Stück war ein alter Song der Charlie Daniels Band, »The Devil Went Down to Georgia.« Er kannte sogar ein paar Zeilen auswendig. Doch auch die vertrauten Worte konnten Eddies Stimme nicht aus Johnnys Kopf verjagen.

Dass du’s mir ja nicht versaust, Twitchy.

Ich hab mich mächtig weit aus dem Fenster gelehnt für dich.

Ach, du Scheiße!

Blaue Blinklichter tauchten in seinem Rückspiegel auf wie aus dem Nichts. Noch vor zwei, drei Sekunden hätte er schwören können, dass er die ganze Interstate 95 für sich alleine hatte.

Da hatte er sich anscheinend geirrt.

Johnny spürte das Zucken in seinem rechten Augenwinkel.

Er gab Vollgas. Vielleicht ließen sie sich ja abschütteln. Aber dann fiel ihm ein, dass die Schrottkarre, die er auf dem Parkplatz des Motel 6 in Essington geklaut hatte, nur ein beschissener Dodge war. Gottverdammte Scheiße noch mal! Ich hätte mir beim Marriott einen Japaner besorgen sollen.

Aber es war immer noch denkbar, dass der Dodge noch gar nicht als gestohlen gemeldet war. Der Besitzer lag wahrscheinlich in seinem Motelbett und schlief. Mit ein bisschen Glück konnte Johnny einfach nur seinen Strafzettel kassieren, und niemand würde etwas erfahren.

Aber so ein Glück hatten immer nur die anderen, niemals er.

Die Bullen brauchten eine halbe Ewigkeit, bis sie endlich aus ihrem Streifenwagen ausgestiegen waren, und das war ein schlechtes Zeichen … ein sehr schlechtes. Sie kontrollierten den Fahrzeugtyp und die Kennzeichen. Als sie schließlich zu beiden Seiten des Dodge angelangt waren, zuckten Johnnys Augen wie ein Paar mexikanische Springbohnen.

Er versuchte, ganz cool zu bleiben. »n’Abend, Officers. Was gibt es denn …?«

Der Typ auf seiner Seite, ein großer Kerl mit Südstaatenakzent, machte die Fahrertür auf. »Halten Sie einfach nur den Mund. Steigen Sie aus dem Fahrzeug.«

Es dauerte nicht lange, da hatten sie das Paket gefunden. Zuerst schauten sie auf den Vordersitzen und der Rückbank nach, dann ließen sie den Kofferraum aufschnappen, zogen die Abdeckung für das Reserverad beiseite, und das war’s dann.

»Heilige Mutter Gottes!« Einer der Polizisten leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein. Der andere fing bei dem Anblick sofort an zu würgen. »Was, zum Teufel, haben Sie getan?«

Johnny blieb nicht sitzen und gab auch keine Antwort. Er rannte bereits um sein Leben.

3

Noch nie war jemand toter oder dämlicher gewesen als er jetzt. Das war Johnny Tucci schon in dem Moment klar, als er sich am Straßenrand in die Büsche schlug und anfing, in eine steil abfallende Schlucht hinabzurutschen.

Vor diesen Bullen, da konnte er sich womöglich verstecken, aber nicht vor der Familie. Weder im Gefängnis noch sonst irgendwo. Das war eine Tatsache. Ein »Paket« wie dieses zu verlieren, bedeutete automatisch, dass man selbst eins wurde.

Vom oberen Rand des Abhangs drangen Stimmen zu ihm herunter, die Lichtkegel von Taschenlampen zuckten hin und her. Johnny duckte sich und warf sich unter ein Gebüsch. Er zitterte am ganzen Körper, sein Herz schlug so heftig, dass es wehtat, und seine Lungen ächzten vom Rauch zu vieler Zigaretten. Es war fast unmöglich, ruhig dazuliegen und kein Geräusch zu machen.

Oh, Scheiße, ich bin so tot, ich bin so dermaßen tot.

»Siehst du was? Siehst du den kleinen Scheißer? Diesen Irren?«

»Noch nicht. Aber den kriegen wir schon noch. Irgendwo da unten muss er ja stecken. Kann nicht weit sein.«

Die Polizisten schwärmten nach links und rechts aus und arbeiteten sich nach unten. Sehr überlegt, sehr systematisch.

Obwohl er jetzt so langsam wieder zu Atem kam, wurde das Zittern nur noch schlimmer, und das lag nicht alleine an den Bullen. Es lag daran, dass ihm mittlerweile klargeworden war, was er als Nächstes zu tun hatte. Im Grunde genommen hatte er nur zwei Möglichkeiten. Die eine hing mit der Achtunddreißiger zusammen, die in seinem Knöchelhalfter steckte. Die andere mit dem Paket … und mit dessen Besitzer. Es ging lediglich um die Frage, auf welche Art und Weise er sterben wollte.

Aber hier unten, im kalten Licht des Mondes, war die Antwort eigentlich klar.

So langsam wie nur irgend möglich streckte er die Hand aus und zog die Achtunddreißiger aus dem Halfter. Mit erbärmlich zitteriger Hand steckte er sich den Lauf in den Mund. Das verdammte Metall schlug gegen seine Zähne und hinterließ einen säuerlichen Geschmack auf seiner Zunge. Er schämte sich der Tränen, die ihm über das Gesicht rannen, aber das ließ sich nicht ändern, und außerdem würde es sowieso nie jemand erfahren.

Mein Gott, sollte es denn wirklich so zu Ende gehen? Heulend wie ein Penner, einsam und verlassen im Wald? Was war das doch für eine schäbige Welt.

Er konnte die Jungs geradezu hören. Hätte ja keinen Bock, so abzutreten wie Johnny. Johnny Twitchy. Das würden sie ihm auf den Grabstein schreiben – aus reiner Gehässigkeit. Diese gottlosen Arschgesichter!

Die ganze Zeit über befahl Johnnys Verstand: Drück ab, aber sein Zeigefinger reagierte nicht. Er probierte es erneut, legte diesmal beide Hände an den Griff, aber es ging nicht. Nicht einmal das kriegte er anständig hin.

Schließlich spuckte er den Lauf wieder aus. Er flennte immer noch wie ein Baby. Irgendwie nützte es gar nichts, dass er jetzt vorerst am Leben bleiben würde. Er lag einfach nur da, biss sich auf die Lippen, tat sich selbst leid, so lange, bis die Bullen bei dem Fluss am Grund der Schlucht angelangt waren.

Dann krabbelte Johnny Twitchy schnell den Abhang wieder rauf, rannte quer über den Interstate Highway und stürzte sich auf der anderen Straßenseite in den Wald. Dabei fragte er sich ständig, wie um alles in der Welt er es schaffen sollte, einfach vom Erdboden zu verschwinden. Er wusste, dass er das niemals schaffen würde.

Er hatte nachgeschaut. Er hatte gesehen, was in dem »Paket« war.

Erster Teil

FIRESTORM (Earth Crisis) – erschienen 1993

1

Ich beging meinen Geburtstag mit einer kleinen, sehr exklusiven, sehr festlichen und fröhlichen Party in der Fifth Street, genauso, wie ich es haben wollte.

Als besondere Überraschung war Damon aus dem Internat in Massachusetts nach Hause gekommen. Nana hatte die Verantwortung für die Feierlichkeiten übernommen und war allgegenwärtig, genau wie meine beiden Babys Jannie und Ali. Sampson und seine Familie waren da und natürlich auch Bree.

Ich hatte nur die Menschen eingeladen, die mir am allermeisten bedeuteten. Mit wem will man sonst die Tatsache feiern, dass man schon wieder ein Jahr älter und weiser geworden ist?

Ich hielt sogar eine kleine Rede, die ich zum größten Teil sofort wieder vergessen habe, abgesehen von den einleitenden Worten. »Ich, Alex Cross«, fing ich an, »gelobe hiermit feierlich, im Angesicht aller Gäste dieser Geburtstagsparty, dass ich mein Bestes tun werde, um mein häusliches Leben und meine Arbeit in Einklang zu bringen, und dass ich nie wieder auf die dunkle Seite wechseln werde.«

Nana prostete mir mit ihrer Kaffeetasse zu, doch dann sagte sie »Zu spät« und erntete einen Lacher.

Anschließend bemühten sich alle nach Kräften, dafür zu sorgen, dass ich mit einer gewissen Demut, aber auch mit einem Lächeln im Gesicht älter wurde.

»Wisst ihr noch, damals, vorm Redskins-Stadion?«, sagte Damon und gackerte. »Als wir noch das alte Auto hatten und Dad hat abgeschlossen, obwohl der Schlüssel noch gesteckt hat?«

Ich versuchte, dazwischenzugehen. »Aber wenn man ehrlich ist …«

»Hat mich nach Mitternacht aus dem Bett geklingelt«, sagte Sampson grimmig.

»Aber erst, nachdem er eine Stunde lang probiert hat, das Auto aufzubrechen, weil er einfach nicht einsehen wollte, dass er es nicht hinkriegt«, fügte Nana hinzu.

Jannie legte eine Hand ans Ohr. »Weil er nämlich was ist?« Und alle antworteten im Chor: »Der amerikanische Sherlock Holmes.« Das war eine Anspielung auf einen Artikel in einer großen Zeitschrift, der vor ein paar Jahren erschienen war und der mir offensichtlich ewig nachhängen wird.

Ich trank einen Schluck Bier. »Brillante Karriere – das kriege ich jedenfalls immer wieder zu hören –, bedeutende Fälle gleich im Dutzend aufgeklärt, aber was bleibt den Menschen im Gedächtnis haften? Und dabei hatte ich mich so auf einen schönen, harmonischen Geburtstagsabend gefreut.«

»Apropos«, sagte Nana und schaffte es irgendwie, gleichzeitig das Stichwort aufzunehmen und mir das Wort abzuschneiden. »Wir haben noch was zu erledigen. Kinder?«

Jannie und Ali sprangen auf. Sie wirkten deutlich aufgeregter als die anderen. Anscheinend konnte ich mich auf eine wirklich große Überraschung gefasst machen. Niemand sagte etwas, aber von Bree hatte ich bereits eine Safarihose bekommen, von Sampson ein kreischbuntes T-Shirt sowie zwei Minifläschchen Tequila und von den Kindern einen Stapel Bücher, unter anderem das neueste Werk von George Pelecanos sowie eine Keith-Richards-Biografie.

Ein weiteres Indiz, wenn man es wirklich so nennen konnte, war die Tatsache, dass Bree und ich in letzter Zeit ständig gezwungen waren, unsere Planungen über den Haufen zu werfen. Immer wieder waren unsere langen Wochenenden aus irgendeinem Grund ausgefallen. Man müsste doch eigentlich annehmen, dass die Tatsache, dass wir in derselben Behörde, ja, sogar in derselben Abteilung, nämlich bei der Mordkommission, arbeiteten, es leichter machte, unsere Dienstpläne zu koordinieren, aber meistens war genau das Gegenteil der Fall.

Ich hatte also eine gewisse Vorstellung, was da auf mich zukommen könnte, wenn auch nichts Konkretes.

»Alex, du bleibst, wo du bist«, sagte Ali. Er hatte in letzter Zeit angefangen mich Alex zu nennen, was für mich eigentlich kein Problem war, nur Nana fand es unerträglich.

Bree versprach, mich im Auge zu behalten, und blieb sitzen, während alle anderen sich in die Küche verzogen.

»Die Lage spitzt sich zu«, murmelte ich vor mich hin.

»Sogar, während wir hier sitzen«, erwiderte Bree mit einem Augenzwinkern. »Genauso, wie du es gerne hast.«

Sie saß auf der Couch, und ich saß ihr gegenüber in einem der alten Klubsessel. Bree sah immer gut aus, aber so wie jetzt, locker und bequem in Jeans und barfuß, gefiel sie mir am besten. Sie senkte den Blick in Richtung Fußboden und ließ ihn dann langsam höher wandern, bis er meinem begegnete.

»Sind Sie öfter hier?«, erkundigte sie sich.

»Ab und an, ja. Und Sie?«

Sie nippte an ihrem Bier und legte beiläufig den Kopf ein wenig schief. »Hätten Sie vielleicht Lust, von hier zu verschwinden?«

»Na klar.« Ich zeigte mit dem Daumen in Richtung Küchentür. »Sobald ich mir die da vom Hals geschafft habe, diese lästigen … ähm …«

»Geliebten Angehörigen?«

Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieser Geburtstag immer besser wurde. Jetzt standen mir schon zwei große Überraschungen bevor.

Beziehungsweise drei.

Das Telefon im Flur klingelte. Das war der Festnetzanschluss. Bei der Arbeit wussten alle, dass sie mich nur auf dem Handy anrufen sollten. Außerdem hatte ich noch einen Pager auf die Kommode gelegt, wo ich ihn auf jeden Fall hören konnte. Also konnte ich ohne allzu großes Risiko den Hörer abnehmen. Vielleicht war es ja sogar eine wohlmeinende Seele, die mir alles Gute zum Geburtstag wünschen wollte, oder im schlimmsten Fall irgendjemand, der mir eine Satellitenschüssel andrehen wollte.

Ob ich es jemals begreifen werde? In diesem Leben wahrscheinlich nicht mehr.

2

»Alex, hier Davies. Tut mir leid, dass ich Sie zu Hause belästigen muss.« Ramon Davies war Superintendent bei der Metropolitan Police und gleichzeitig mein Chef.

»Heute ist mein Geburtstag. Wer ist denn das Todesopfer?«, sagte ich. Ich war verärgert, hauptsächlich über mich selbst, weil ich überhaupt ans Telefon gegangen war.

»Caroline Cross«, sagte er, und mir wäre beinahe das Herz stehen geblieben. Genau in diesem Augenblick schwang die Küchentür auf, und meine Familie kam singend heraus. Nana trug ein Tablett mit einem aufwendigen, pink-roten Geburtstagskuchen, an dessen Spitze ein Reisegutschein von American Airlines befestigt war.

»Happy Birthday to you …«

Bree hob die Hand und brachte sie zum Schweigen. Meine Haltung und mein Gesichtsausdruck sprachen wahrscheinlich für sich. Sie blieben wie angewurzelt stehen. Das fröhliche Singen erstarb mitten im Ton. Meine Familie wusste wieder, wer hier eigentlich Geburtstag hatte: Detective Alex Cross.

Caroline war meine Nichte, die einzige Tochter meines Bruders. Ich hatte sie vor zwanzig Jahren das letzte Mal gesehen, kurz nachdem Blake gestorben war. Dann musste sie jetzt vierundzwanzig gewesen sein.

Zum Zeitpunkt ihres Todes.

Der Boden unter meinen Füßen schien plötzlich nachzugeben. Eine Stimme in mir wollte Davies einen Lügner nennen. Eine andere Stimme, die Stimme des Polizisten, meldete sich zu Wort. »Wo ist sie?«

»Ich habe gerade eben mit der Virginia State Police telefoniert. Ihre sterblichen Überreste befinden sich in der Gerichtsmedizin in Richmond. Es tut mir leid, Alex. Ich bedaure unendlich, dass ich Ihnen das sagen muss.«

»Sterbliche Überreste?«, murmelte ich vor mich hin. Das war so ein kaltes Wort, aber ich war froh, dass Davies mich nicht mit Samthandschuhen anfasste. Ich verließ das Zimmer und bedauerte, dass ich vor den Ohren meiner Familie überhaupt etwas gesagt hatte.

»Ist sie etwa ermordet worden? Davon kann ich wohl ausgehen, oder?«

»Ich fürchte, ja.«

»Was ist passiert?« Meine Pulsfrequenz erreichte besorgniserregende Dimensionen. Eigentlich wollte ich das gar nicht wissen.

»Das weiß ich auch nicht so im Einzelnen«, sagte er, und sein Tonfall ließ mich sofort stutzig werden – er verheimlichte mir etwas.

»Ramon, was ist da los? Sagen Sie’s mir. Was wissen Sie über Caroline?«

»Immer eins nach dem anderen, Alex. Wenn Sie sich gleich auf den Weg machen, müssten Sie ungefähr in zwei Stunden hier sein. Ich bitte einen der zuständigen Ermittlungsbeamten, Sie in Empfang zu nehmen.«

»Bin schon unterwegs.«

»Und, Alex?«

Ich hatte fast schon aufgelegt. Tausend unzusammenhängende Gedanken jagten mir gleichzeitig durch den Kopf. »Was denn?«

»Ich finde, Sie sollten nicht alleine fahren.«

3

Die halsbrecherische Fahrt nach Richmond, die Sirene fast ununterbrochen im Einsatz, dauerte keine anderthalb Stunden.

Das Gerichtsmedizinische Institut war in einem Neubau in der Marshall Street untergebracht. Davies hatte dafür gesorgt, dass wir von Detective Corin Fellows vom Criminal Investigation Bureau der State Police in Empfang genommen wurden. Bree und ich.

»Den Wagen haben wir in unsere Werkstatt in der Zentrale oben an der Route One gebracht«, teilte Fellows uns mit. »Aber alles andere ist hier. Die sterblichen Überreste liegen unten in der Leichenhalle. Alle anderen Beweismaterialien befinden sich im Labor hier auf dieser Etage.«

Schon wieder dieses fürchterliche Wort. Überreste.

»Was haben Sie denn alles gefunden?«, erkundigte sich Bree.

»Im Kofferraum waren Frauenkleider und eine kleine, schwarze Handtasche, eingewickelt in eine Umzugsdecke. Hier, das wollte ich Ihnen zeigen.«

Er reichte mir eine Plastikhülle mit einem Führerschein, ausgestellt in Rhode Island. Zunächst kam mir nur Carolines Name bekannt vor. Die junge Frau auf dem Foto sah wirklich schön aus, wie eine Tänzerin, mit zurückgekämmten Haaren und einer hohen Stirn. Und die großen Augen – an die konnte ich mich auch noch erinnern.

Augen so groß wie der Himmel. Das hatte mein großer Bruder Blake immer gesagt. Ich sah es ganz genau vor mir, wie er auf der alten Holzbank auf unserer Terrasse in der Fifth Street saß und sie im Arm wiegte und jedes Mal lachte, wenn sie zu ihm hinaufblinzelte. Er liebte dieses Baby. Wie wir alle. Süße Caroline.

Jetzt waren sie beide tot. Mein Bruder wegen der Drogen. Und Caroline? Was war ihr zugestoßen?

Ich gab Detective Fellows den Führerschein zurück und fragte ihn nach dem Weg zum Büro des zuständigen Gerichtsmediziners. Wenn ich das Ganze irgendwie überstehen wollte, dann musste ich in Bewegung bleiben.

Wir trafen die Gerichtsmedizinerin, Dr. Amy Carbondale, im Untergeschoss an. Wir gaben einander die Hand. Ihre fühlte sich immer noch kühl an. Sie hatte die Latexhandschuhe noch nicht lange abgestreift. Sie erschien mir schrecklich jung für eine solche Arbeit, Anfang dreißig vielleicht, und ein kleines bisschen unsicher, wie sie sich jetzt verhalten, was sie sagen sollte.

»Herr Dr. Cross, ich habe Ihre Arbeiten verfolgt. Mein tiefes, tiefes Beileid«, sagte sie in einem fast flüsternden Tonfall, der Mitleid und Respekt verriet.

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich an die Fakten halten könnten«, erwiderte ich.

Sie schob ihre Brille zurecht, silbernes Drahtgestell, und sammelte sich. »Mithilfe der Proben, die ich genommen habe, habe ich eine fast vollständige Morcellierung des Körpers festgestellt. Einige wenige Finger sind jedoch unversehrt geblieben, und die Abdrücke passen zu denen auf dem Führerschein.«

»Entschuldigen Sie bitte – Morcellierung?« Ich hatte das Wort noch nie zuvor gehört.

Es ist Dr. Carbondale hoch anzurechnen, dass sie mir direkt in die Augen blickte. »Es besteht Grund zu der Annahme, dass eine Art Zerkleinerer verwendet worden ist … vermutlich ein Häcksler.«

Ihre Worte raubten mir den Atem. Sie setzten sich in meinem Brustkorb fest. Ein Häcksler? Dann dachte ich: Aber wozu ihre Kleidung und den Führerschein aufbewahren? Als Nachweis für Carolines Identität? Als Souvenir für den Killer?

Dr. Carbondale redete immer noch. »Ich führe gleich noch eine vollständige Giftstoff-Analyse durch, erstelle ein DNA-Profil, und natürlich suchen wir auch nach Geschossfragmenten oder anderen Metallen, aber die eigentliche Todesursache dürfte in diesem Fall nur sehr schwierig, vermutlich gar nicht mehr zu ermitteln sein.«

»Wo ist sie?«, wollte ich wissen und versuchte, mich zu konzentrieren. Wo waren Carolines sterbliche Überreste?

»Herr Dr. Cross, sind Sie sicher, dass das der richtige Zeit…«

»Er ist sich sicher«, schaltete Bree sich ein. Sie wusste, was ich brauchte, und deutete auf die Labortür. »Sehen wir zu, dass wir weiterkommen. Bitte, Frau Doktor. Wir sind doch alle Profis.«

Wir folgten Dr. Carbondale durch eine Doppelschwingtür in einen Untersuchungsraum, der stark an einen Bunker erinnerte. Grauer Betonfußboden und eine hohe, geflieste Decke, an der Kameras und Lichtschirme befestigt waren. Überall die üblichen Waschbecken, der übliche Edelstahl sowie ein einziger, weißer Leichensack auf einem der schmalen, silbernen Untersuchungstische.

Ich erkannte sofort, dass da irgendetwas sehr merkwürdig war. Und falsch. Sowohl als auch.

Der Leichensack besaß in der Mitte eine Beule, schmiegte sich jedoch an beiden Enden flach an den Tisch. Ich empfand eine Angst, die ich mir vorher nicht einmal hätte vorstellen können.

Die Überreste.

Dr. Carbondale stellte sich auf die andere Seite und zog den Reißverschluss auf. »Die Wärmeversiegelung ist von uns«, sagte sie. »Ich habe sie nach meiner ersten Untersuchung wieder verschlossen.«

In dem Leichensack befand sich ein zweiter Beutel. Das Material sah aus wie eine Art Industrieplastik, milchigweiß und durchscheinend, gerade so klar, dass man die Farben von Fleisch und Blut und Knochen dahinter erkennen konnte.

Ich hatte das Gefühl, als ob mein Verstand sich etliche Sekunden lang einfach ausknipste, und genau so lange konnte ich so tun, als hätte ich nichts gesehen. In diesem Leichensack lag ein toter Mensch, aber keine Leiche.

Caroline und doch nicht Caroline.

4

Die Rückfahrt nach Washington war wie ein böser Traum, der niemals enden wollte. Als Bree und ich endlich nach Hause kamen, war es im Haus auffallend ruhig und still. Ich überlegte, ob ich Nana wecken sollte, doch die Tatsache, dass sie nicht bereits selbst aufgestanden war, sagte mir, dass sie fix und fertig war und ihren Schlaf brauchte. Die schlechten Nachrichten hatten Zeit bis morgen früh.

Mein Geburtstagskuchen stand unangetastet im Kühlschrank, und irgendjemand hatte den American-Airlines-Reisegutschein auf die Theke gelegt. Beim Blick darauf erkannte ich zwei Tickets nach St. John, eine Insel in der Karibik, die ich schon lange einmal besuchen wollte. Es spielte keine Rolle, das musste vorerst warten. Alles musste warten. Ich kam mir vor, als würde ich mich in Zeitlupe bewegen, manche Einzelheiten registrierte ich mit fast gespenstischer Klarheit.

»Du gehörst ins Bett.« Bree nahm mich an der Hand und führte mich zur Küche hinaus. »Und sei es nur, damit du morgen einen klaren Kopf hast und über das alles gründlich nachdenken kannst.«

»Du meinst heute.«

»Ich meine morgen. Nachdem du dich erholt hast.«

Mir fiel auf, dass sie nichts von schlafen gesagt hatte. Wir schleppten uns nach oben, stiegen aus den Kleidern und fielen ins Bett. Bree hielt meine Hand fest und ließ sie nicht mehr los.

So ungefähr eine Stunde später starrte ich immer noch an die Zimmerdecke und wälzte die Frage, die mich seit unserer Abfahrt aus Richmond nicht mehr losgelassen hatte: Warum?

Warum war das geschehen? Warum Caroline?

Warum ein gottverdammter Häcksler? Warum Überreste und keine Leiche?

Als Detective bei der Mordkommission hätte ich über die Indizien und die Hinweise, die sich möglicherweise daraus ergaben, nachdenken müssen, aber hier in der Dunkelheit auf meinem Bett fühlte ich mich nicht unbedingt wie ein Detective. Ich fühlte mich wie ein Onkel und Bruder.

In gewisser Weise hatten wir Caroline schon einmal verloren. Nach Blakes Tod hatte ihre Mutter jeden Kontakt mit unserem Teil der Familie abgebrochen. Sie war umgezogen, ohne sich zu verabschieden. Änderte die Telefonnummern. Ließ Geburtstagsgeschenke zurückgehen. Damals war mir das wie das Traurigste überhaupt vorgekommen, aber seither habe ich erfahren, immer und immer wieder, welch unfassbare Begabung die Menschheit besitzt, sich selbst ins Leid und Unglück zu stürzen.

Irgendwann gegen halb fünf schwang ich die Beine über den Bettrand und setzte mich auf. Weder mein Herz noch mein Geist ließen sich irgendwie zur Ruhe bringen.

Brees Stimme hielt mich auf. »Wo willst du denn hin? Es ist immer noch mitten in der Nacht.«

»Ich weiß nicht, Bree«, sagte ich. »Ins Büro vielleicht. Mal probieren, ob ich etwas arbeiten kann. Du solltest dich wieder schlafen legen.«

»Ich habe nicht geschlafen.« Sie setzte sich in meinem Rücken auf und schlang mir die Arme um die Schulter. »Du bist nicht allein. Was immer dir geschieht, geschieht auch mir.«

Ich senkte den Kopf und lauschte dem tröstenden Klang ihrer Stimme. Sie hatte recht – wir würden die ganze Sache gemeinsam durchstehen. So war es immer gewesen, seitdem wir uns kannten, und das war auch gut so.

»Ich werde alles tun, was nötig ist, damit du und deine Familie das alles überstehen könnt«, sagte sie. »Und morgen gehen wir beide gemeinsam hier raus und fangen an, diejenigen zu suchen, die diese grässliche Tat begangen haben. Hast du mich verstanden?«

Zum ersten Mal seit Davies’ Anruf spürte ich etwas Warmes in meiner Brust … weit entfernt von Glück oder Erleichterung, aber zumindest Dankbarkeit. Etwas, woran ich mich freuen konnte. Ich hatte den größten Teil meines Lebens ohne Bree verbracht, aber jetzt konnte ich mir nicht mehr vorstellen, wie.

»Wieso habe ich dich bloß gefunden?«, sagte ich zu ihr. »Wieso habe ich bloß so ein Glück?«

»Das hat nichts mit Glück zu tun.« Sie drückte mich noch ein bisschen fester an sich. »Das ist Liebe, Alex.«

5

Gabriel Reese empfand es als passend und ironisch zugleich, dass dieses merkwürdige, fast schon beispiellose nächtliche Treffen in einem Gebäude stattfinden sollte, das ursprünglich als Außen-, Marine- sowie Kriegsministerium errichtet worden war.

Reeses ganzes Leben wurde von einem tiefen Sinn für das Historische bestimmt. Man könnte fast sagen, dass Washington ihm im Blut lag, im Blut seiner Familie, und das seit drei Generationen.

Der Vizepräsident hatte Reese persönlich angerufen und dabei mehr als angespannt geklungen, und Walter Tillman hatte immerhin schon zwei der größten Unternehmen der Welt geleitet. Er konnte also bereits auf die eine oder andere Erfahrung mit Drucksituationen zurückblicken. Er war nicht weiter ins Detail gegangen, sondern hatte Reese nur befohlen, sich auf der Stelle im Eisenhower Executive Office Building einzufinden. Formal betrachtet war das der Amtssitz des Vizepräsidenten. Hier hatten Tillmans Vorgänger von Johnson bis Cheney Staatsführer aus allen Teilen der Erde empfangen.

Bedeutsamer war jedoch, dass es sehr weit vom Westflügel mit den Amtsräumen des Staatsoberhauptes und allen möglichen Augen und Ohren entfernt lag, denen dieses geheime Treffen ganz offensichtlich verborgen bleiben sollte.

Bei Reeses Eintreffen war die Tür zum eigentlichen Büro geschlossen. Davor war Dan Cormorant postiert, der Leiter der für den Schutz des Weißen Hauses zuständigen Einheit des Secret Service. Links und rechts von ihm, ein Stück den Flur entlang, stand jeweils einer seiner Agenten.

Reese trat ein. Cormorant folgte ihm und zog die schwere Holztür von innen zu.

»Sir?«, sagte Reese.

Vizepräsident Tillman stand am anderen Ende des Raums. Er hatte ihnen den Rücken zugewandt. In einer Fensterreihe spiegelten sich die nur mit halber Kraft leuchtenden Kugeln des fein gearbeiteten, nach historischem Vorbild angefertigten Gaskronleuchters. Etliche Schiffsmodelle in Glasvitrinen bildeten einen direkten Bezug zur Geschichte des Gebäudes. Dieses Büro war während des Zweiten Weltkrieges von General Pershing genutzt worden.

Tillman drehte sich um und sagte: »Wir haben eine Krise, Gabe. Kommen Sie, setzen Sie sich. Die Situation ist mehr als ungut. Schlimmer hätte es eigentlich kaum kommen können.«

6

Agent Cormorant trat vor und baute sich neben dem Vizepräsidenten auf. Das kam Reese ziemlich merkwürdig vor, und das Ziehen in seinen Eingeweiden wurde noch ein bisschen stärker. Er war der Stabschef – eigentlich gab es so gut wie nichts, was der Secret Service vor ihm wissen durfte. Aber genau das war hier der Fall, eindeutig. Was um alles in der Welt war passiert? Und wem war es passiert?

Der Vizepräsident nickte Cormorant auffordernd zu.

»Danke, Sir. Gabe, wenn du das, was ich dir gleich sagen werde, für dich behältst, machst du dich wahrscheinlich strafbar. Darüber musst du dir im Klaren sein, bevor ich …«

»Spuck’s einfach aus, Dan.«

Gabe Reese konnte Cormorant eigentlich ganz gut leiden, nur die Art und Weise, wie er immer wieder seine Kompetenzen überschritt, passte ihm nicht. Sie waren beide alte Wegbegleiter von Tillman, noch aus den Zeiten, als sie gemeinsam Lokalpolitik in Philadelphia gemacht hatten, und niemand erwartete eine strikte Einhaltung der Dienstvorschriften. Es war nur so, dass Cormorant anscheinend immer einen Schritt weiter ging, als Reese für richtig hielt. Andererseits hielt Cormorant Reese vermutlich für einen aufgeblasenen Wichtigtuer.

»Ist dir im Zusammenhang mit deiner Arbeit jemals der Name Zeus begegnet?«, wollte Cormorant jetzt wissen. »Zeus, wie der griechische Gott?«

Reese überlegte kurz. Der Secret Service benutzte ständig wechselnde Decknamen für seine Schutzbefohlenen, aber dieser kam ihm nicht bekannt vor. Es musste sich natürlich um eine hochrangige Persönlichkeit handeln. Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Muss ich den schon mal gehört haben?«

Cormorant gab ihm keine Antwort und fuhr ungerührt fort. »Im Lauf der vergangenen sechs Monate sind eine ganze Reihe von Personen aus allen Teilen der Zentral-Atlantik-Region verschollen. Überwiegend Frauen, einige wenige Männer. Sie waren alle in einem gewissen beruflichen Umfeld tätig, wenn du verstehst, was ich meine, und da bin ich mir ganz sicher. Bis jetzt gab es keine Verbindung zwischen den einzelnen Fällen.«

»Bis jetzt«, ging Reese dazwischen. »Was zum Teufel ist hier los?«

»Unsere Aufklärungsabteilung hat drei unterschiedliche Funksprüche abgehört, die das Stichwort Zeus mit drei verschiedenen Fällen in Zusammenhang bringen. Gestern Abend ist es schon wieder aufgetaucht, aber dieses Mal in Verbindung mit einem eindeutig erwiesenen Mord.« Er machte eine effektvolle Pause. »Das alles unterliegt selbstverständlich strengster Geheimhaltung.«

Reese war mit seiner Geduld am Ende. »Was hat das alles mit dem Vizepräsidenten zu tun? Oder mit dem Präsidentenamt … Immerhin habt ihr mich hierherbestellt! Ich weiß ja nicht einmal, ob wir diese Unterredung überhaupt führen sollten.«

Dann ergriff Tillman das Wort und kam, wie üblich, ohne Umschweife zur Sache. »Dieser Zeus, wer immer das sein mag, steht irgendwie in Verbindung mit dem Weißen Haus, Gabe.«

»Was?« Reese sprang auf. »In welcher Verbindung denn? Was genau wollt ihr damit sagen? Was geht hier eigentlich vor?«

»Das wissen wir nicht«, erwiderte Cormorant. »Das ist der eine Aspekt dieses gottverdammten Problems. Der zweite Aspekt besteht darin, die Regierung davor zu schützen, ganz egal, wer oder was dahintersteckt.«

»Deine Aufgabe besteht darin, Präsident und Vizepräsident zu beschützen, nicht die gesamte Regierung«, gab Reese zurück.

Cormorant behauptete seine Stellung mit verschränkten Armen. »Meine Aufgabe besteht darin, jede potenzielle Gefährdung aufzuspüren und zu verhindern …«

»Haltet die Klappe, alle beide!« Tillman sprach nicht mehr, er brüllte. »Entweder ziehen wir alle an einem Strang, oder ich beende dieses Treffen auf der Stelle. Habt ihr das kapiert? Alle beide?«

Die Antwort kam einstimmig. »Ja, Sir.«

»Dan, Ihre Einschätzung kenne ich bereits. Gabe, ich will Ihre ehrliche Meinung hören. Ich weiß beim besten Willen nicht, ob wir das wirklich geheim halten sollten. Es könnte sehr gut sein, dass die ganze Sache auffliegt, und dann stecken wir richtig in der Klemme. Dann geht es um mehr als bloß einen Verweis oder einen Klaps auf die Finger. Nicht bei diesem Kongress. Und auch nicht bei den Medien. Und schon gar nicht, wenn es dabei tatsächlich um Mord gehen sollte.«

Mord? Großer Gott, dachte Reese.

Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, die schon mit Mitte zwanzig silbergrau geworden waren. »Sir, ich weiß wirklich nicht, ob ich eine solche Frage tatsächlich aus dem Stegreif beantworten sollte, ob das wirklich Ihrem oder dem Präsidentenamt dienlich wäre. Handelt es sich um ein Gerücht? Gibt es irgendwelche eindeutigen Beweise? Und wie sehen die aus? Weiß das Staatsoberhaupt schon Bescheid?«

»Das Problem ist, dass wir im Augenblick fast gar nichts wissen. Herrgott noch mal, Gabe, was sagt Ihnen Ihr Bauchgefühl? Ich weiß, dass Sie eine Meinung haben. Und, nein, das Staatsoberhaupt weiß nicht Bescheid. Aber wir.«

Tillman legte großen Wert auf das Bauchgefühl, und er hatte recht: Reese hatte bereits eine Meinung.

»Wir werden nicht drum rumkommen, die Öffentlichkeit zu informieren. Wir sollten vorher so viel wie irgend möglich in Erfahrung bringen, und zwar innerhalb eines sehr engen Zeitrahmens. Zwei bis drei Tage, würde ich sagen. Es sei denn, Sie ordnen etwas anderes an, Sir«, fügte er hinzu, damit Agent Cormorant zufrieden war. »Und wir brauchen einen Notausstieg. Etwas, womit wir uns distanzieren können, falls irgendetwas rauskommt, bevor wir es wollen.«

»Das sehe ich genauso, Sir«, schaltete sich Cormorant ein. »Im Augenblick tappen wir noch völlig im Dunkeln, so kann es nicht bleiben.«

Tillman holte tief Luft. Reese deutete dies als Geste der Resignation und der Zustimmung gleichermaßen. »Ich will, dass Sie sich gemeinsam dieser Sache annehmen. Aber keine Telefonate und um Gottes willen keine E-Mails. Dan, können Sie mir garantieren, dass der Krisenstab davon absolut nichts erfährt?«

»Das kann ich, Sir. Ich muss noch mit ein paar von meinen Männern reden. Aber es lässt sich unter dem Deckel halten. Für eine Weile.«

»Gabe, Sie haben von einem Notausstieg gesprochen?«

»Ja, Sir.«

»Denken Sie multidimensional, ziehen Sie alle denkbaren Szenarien in Betracht. Rechnen Sie mit allem. Und damit meine ich wirklich alles.«

»Das mache ich, Sir. Mein Gehirn läuft jetzt schon auf Hochtouren.«

»Gut so. Noch irgendwelche Fragen?«

Reese hatte bereits begonnen, sein Gedächtnis nach historischen oder juristischen Präzedenzfällen zu durchforsten, mehr aus Gewohnheit als aus einem bestimmten aktuellen Anlass. Die Frage der Loyalität stand hier nicht zur Debatte. Seine Bedenken waren ausschließlich durch die Situation bedingt. Allmächtiger … was, wenn es wirklich eine Verbindung zwischen dem Weißen Haus und einem Serienmörder gab? Überhaupt zu einem Mörder?

»Sir, wenn irgendjemand davon Wind bekommen sollte, wie sollen wir diesen Jemand – der hoffentlich kein Journalist ist – daran hindern, es auszuplaudern?«

Cormorant wirkte beleidigt, ließ aber dem Vizepräsidenten das Wort.

»Wir reden hier vom Secret Service, Gabe, und nicht von irgendeiner öffentlich zugänglichen Quelle.«

Cormorant trat ab, und Reese verspannte sich.

»Aber ich will mich auch nicht einzig und allein darauf verlassen. Meine Herren, ich will, dass diese ganze Angelegenheit zügig erledigt wird. Zügig, sauber, gründlich. Wir brauchen ein paar Fakten. Und Klarheit. Wir müssen dahinterkommen, wer zum Teufel dieser Zeus ist und was er angestellt hat. Und dann müssen wir das Ganze so behandeln, als wäre es niemals geschehen.

7

Die Schläge prasselten auf mich ein, harte Schläge, wollten einfach nicht aufhören. Carolines Führerschein war zwar in Rhode Island ausgestellt worden, aber sie hatte seit sechs Monaten in Washington gelebt. Trotzdem hatte sie nicht ein einziges Mal versucht, mit mir Kontakt aufzunehmen. Gewohnt hatte sie in einer Souterrainwohnung in der C Street unweit des Seward Square – nur einen guten Kilometer von unserem Haus in der Fifth Street entfernt. Ich war Dutzende Male an ihrem Haus vorbeigejoggt.

»Sie hatte einen guten Geschmack«, meinte Bree, während sie sich in dem kleinen, aber elegant eingerichteten Wohnzimmer umsah.

Die Inneneinrichtung besaß asiatisches Flair – viel dunkles Holz, Bambus und üppige Pflanzen. Auf einem lackierten Tisch an der Wohnungstür lagen drei Kieselsteine. In einen war das Wort Gelassenheit eingraviert.

Sollte ich das als Hohn oder doch eher als Ermahnung verstehen? Carolines Wohnung war jedenfalls kein Ort, wo ich mich im Augenblick aufhalten wollte. Ich war noch nicht bereit dazu.

»Teilen wir uns auf«, sagte ich zu Bree. »Dann sind wir schneller durch.«

Ich fing mit dem Schlafzimmer an, zwang mich dann weiterzumachen. Wer warst du, Caroline? Was ist mit dir geschehen? Wie kommt es, dass du solch einen Tod erleiden musstest?

Gleich zu Beginn fiel mein Blick auf einen kleinen, braunen, ledergebundenen Terminkalender auf dem Schreibtisch neben ihrem Bett. Als ich ihn in die Hand nahm, fielen ein paar Visitenkarten heraus und landeten auf dem Boden.

Ich hob sie auf. Die Namen der Personen kannte ich nicht, wohl aber die der darauf vermerkten Beratungsfirmen. Beide Karten stammten von Lobbyisten, die auf dem Capitol Hill ihren Einfluss geltend zu machen versuchten.

Die eine Hälfte der Seiten in Carolines Terminkalender war leer, die anderen waren mit Buchstabenkombinationen versehen. Es fing am Jahresanfang an und zog sich über ungefähr zwei Monate. Was mir sofort ins Auge fiel, war, dass jede Kombination aus genau zehn Buchstaben bestand. Der letzte Eintrag, fast zwei Wochen vor Carolines Tod, lautete SODBBLZHII. Zehn Buchstaben.

Meine erste Assoziation war, dass es sich um Telefonnummern handelte, wahrscheinlich verschlüsselt.

Und wenn ich mir an diesem Punkt die Frage nach dem Warum