Hebammerich - Katrin Einhorn - E-Book
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Hebammerich E-Book

Katrin Einhorn

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Beschreibung

Ein Mann rockt den Kreißsaal Nils, 27, lebt für seine Rockband, doch der Erfolg lässt auf sich warten. Mit Freundin Charlotte kriselt es gewaltig. Charlotte liebt ihren Beruf als Hebamme und natürlich auch Nils, von dem sie sich ein Kind wünscht. Aber Nils ist die Band wichtiger. Erst als sich Charlotte von ihm trennt, wird Nils klar, dass er sie liebt. Um sie zurückzuerobern, sieht er nur einen Weg: Er muss in ihrer Klinik anheuern und die erste männliche Hebamme Kölns werden. 

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Katrin Einhorn

Hebammerich

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Für Leo und Carolina

Gute Rocksongs sind wie Kinder im Novembermatsch:

dreckig, rotzig, laut.

Freddie T. Hanswik

(Frontmann von Blobfish Project)

Kapitel 1

»Das war eine super Idee mit dem Restaurant, oder?«

»Ja. Super.« Wenn man darauf stand, sich von Kopf bis Schoß mit Essen zu bekleckern, sein Bier neben anstatt in das Glas zu kippen und keinen Schimmer davon zu haben, ob auf dem Teller Hähnchenschenkel oder Stierhoden lagen.

Ein Dinner im Dunkelrestaurant. Man konnte sich das Leben auch schwer machen! Nicht dass Nils prinzipiell etwas gegen Dunkelheit hätte. Nachts im Bett empfand er sie sogar als ausgesprochen angenehm. Tagsüber dagegen schätzte er klare Verhältnisse. Vor allem beim Essen.

»Die Sachen schmecken ganz anders, wenn man sich voll darauf konzentriert. Findest du nicht auch?«, fragte Charlotte.

»Stimmt. Ganz anders.« Nils kaute auf einem Fasergebilde herum, das eindeutig nach geschmortem Ochsenschwanz schmeckte, einem Gericht, das ihm in etwa so willkommen war wie ein Nagelpilz. Er legte den ungenießbaren Bissen auf seinem Teller ab und fahndete mit den Fingern nach weiteren Nahrungsstücken. Seine Freude war groß, als er eine Nudel zu fassen bekam. Eine hundsgewöhnliche Nudel!

»Wir haben noch gar nicht angestoßen«, sagte Charlotte, während Nils die kleine Weizenspirale an ihren Bestimmungsort beförderte. »Richtig.« Er tastete mit fettigen Fingern nach seinem Bierglas. »Prost.«

»Auf unseren Jahrestag, mein Schatz.«

Es dauerte eine Weile, bis es ihnen gelang, ihre Gläser zum Klingen zu bringen. Nils nahm einen großen Schluck Bier, um einen Ochsenschwanzrest, den er hinter einem Backenzahn geortet hatte, hinunterzuspülen. Für frisch gebackene Liebespaare musste so ein Dinner im Dunkelrestaurant ja der Horror sein. Verliebte Blicke? Fehlanzeige. Händchenhalten? Unmöglich, da man ohne die Hilfe der zweiten Hand keinen Bissen auf die Gabel bekam. Gut, dass er und Charlotte nach drei Jahren aus dem Stadium des Frischverliebtseins längst raus waren.

»Zur Feier des Tages muss ich dir noch etwas erzählen«, sagte Charlotte, nachdem sie ihre Gläser wieder auf dem Tisch platziert hatten.

»Was denn?«

»Es wird dich sicher überraschen.«

Nils war ein Freund von Überraschungen. Hatte Charlotte vielleicht Karten für ein Konzert der Red Hot Chili Peppers erstanden? Oder war das neue Schlagzeug-Becken, auf das er schon seit Wochen wartete, endlich angekommen? Hatte sie womöglich eine neue Wohnung gefunden? Eine Wohnung mit riesigem Keller, ganz in der Nähe des Proberaums? Nils hörte, wie Charlotte im Dunkeln tief Luft holte.

»Nachwuchs«, sagte sie. »Wir bekommen Nachwuchs.«

Schweigen. Die Gäste am Nebentisch schwärmten mit gedämpfter Stimme von einem neuen Friseur in der Kölner Altstadt, irgendwo weiter hinten im Raum kicherte jemand. Nils starrte angestrengt in Charlottes Richtung. Grinste sie? Hätte er doch bloß ein Feuerzeug mitgenommen! Dann könnte er sofort Licht ins Dunkel bringen und ihr an den Augen ablesen, ob sie einen Witz gemacht hatte. Machten Frauen bei diesem Thema überhaupt Witze? Die meisten sicher nicht, aber seiner Freundin war es durchaus zuzutrauen. Charlotte hatte Humor. Er musste oft daran denken, wie er ihr ein YouTube-Video von einem Fernsehauftritt der Band Muse gezeigt hatte. Die Musiker performten darin den Song »Uprising«, hatten aber witzigerweise die Instrumente getauscht, da sie gegen ihren Willen zum Playback spielen mussten. Charlotte hatte sich beim Ansehen des Clips gekringelt vor Lachen. Bei einem ihrer ersten Dates war das gewesen.

»Das war jetzt ein Scherz, oder?« Nils ärgerte sich, dass er so beklommen klang. Hey, seine Freundin war doch nicht schwanger. Das würde sie niemals so nebenbei beim Abendessen erzählen. Im Dunkeln, zu allem Überfluss. Andererseits, wo und wie sollte sie es denn sonst erzählen? Mal eben auf dem Weg zur Arbeit? Wie praktisch eigentlich, dass sie in einem Krankenhaus arbeitete, noch dazu als Hebamme. »Du, ich fahre gerade zum Kreißsaal. Ach, und übrigens, Schatz, in neun Monaten müsstest du bitte mal mitkommen.« Nein, so lief das nicht. Oder beim samstäglichen Einkauf? »Hier, unsere Einkaufsliste: Milch, Butter, Nudeln, Eier, ein Beistellbett, Windeln und fünf Strampler.« Unwahrscheinlich. Nils bekam auf einmal ganz zittrige Finger.

»Nein, das ist kein Witz«, sagte Charlotte. Ihre Stimmlage hatte sich um eine Terz nach unten verschoben. »Wir bekommen wirklich Nachwuchs.«

»Oh. Na so was. Tja. Ja.« Nils wollte mit der rechten Hand sein Bierglas greifen und einen kräftigen, einen ganz, ganz kräftigen Schluck nehmen, verfehlte aber in der Dunkelheit das Zielobjekt und stieß es um. »Scheiße, verdammt!« Das Bier schwappte über seinen Handrücken, über sein Hemd, auch über seine neuen Jeans.

»Scheiße, verdammt?« Charlottes Stimmlage hatte sich nun um eine Quinte nach unten verschoben. »So viel Begeisterung hätte ich dir gar nicht zugetraut.«

»Ich habe mir Bier übergekippt.« Nils tastete auf der nassen Tischdecke vergeblich nach einer Serviette.

»Darf ich Ihnen behilflich sein?« Maurizio, der blinde Kellner, der für sie zuständig war, wischte mit irgendetwas auf dem Tisch herum. »Nachwuchs also«, sagte Nils, nachdem Maurizio wieder abgezogen war. Sein Hals kratzte. Bier. Er brauchte jetzt ganz schnell etwas zu trinken. »Ein kleines Weizen bitte noch!«, rief er dem Kellner hinterher. Charlotte griff nach seinen Händen, die er so fest ineinander verkrampft hatte, dass es fast wehtat. »Also Nils, was sagst du?«

»Tja, was soll ich sagen? So eine Überraschung. Da habe ich jetzt gar nicht, also echt, das ist …« Nils wurde in genau diesem Moment klar, dass er doch kein Freund von Überraschungen war. »Seit wann …? Und wie geht …? Wie kann …?« Seine Zunge war trockener als ein Flussbett in der Sahara. Ein Wunder, dass er überhaupt noch Worte herausbekam. Er befreite sich aus Charlottes Griff und hob die Hand, um den Kellner herbeizuwinken und aus dem kleinen Weizen ein großes zu machen, bis ihm dämmerte, dass er mit dieser Geste im Stockdunkeln nicht viel Erfolg haben würde.

»Wann ist es denn so weit?«, krächzte er schließlich.

»In …« Charlotte schien zu rechnen. »In genau zwei Wochen.«

»Was?!« Nils hatte so laut aufgeschrien, dass vermutlich alle Blicke auf ihn gerichtet waren, theoretisch zumindest.

»Es geht um Maya«, sagte Charlotte in dieser merkwürdig tiefen Stimmlage, die nun fast eine Oktave unterhalb ihrer normalen lag. Die Information brauchte einen Moment, um zu Nils’ Bewusstsein zu wandern. »Um Maya?« Er merkte selbst, wie sich ein ziemlich dümmliches Grinsen in seinem Gesicht breitmachte, und er war froh, dass seine Freundin das im Dunkeln nicht mitbekam. »Um Maya!« Er konnte nicht anders, er musste einfach kichern, lachen, prusten, auf den Tisch hauen. »Maya ist schwanger!« Am liebsten hätte er eine Lokalrunde geschmissen.

»Trächtig heißt das bei Streifenhörnchen.« Charlotte lachte nicht mit, lächelte nicht mal, das konnte er an ihrer Stimme hören. »Und du bist echt ein unsensibler Vollidiot.«

Ein unsensibler Vollidiot? Das klang jetzt nicht ganz so nett, fand Nils. Sie hatten sich schon liebevollere Kosenamen gegeben. Trotzdem war ihm nicht nach Streit zumute. Er wollte feiern! Passenderweise brachte Maurizio gerade sein Weizen.

»Auf unseren Jahrestag!« Er hob sein Glas. »Auf Mayas Babys!« Er suchte in der Dunkelheit nach Charlottes rechtem Unterarm, um sich daran entlangzutasten und die Position ihres Glases ausfindig zu machen. Auf dem Tisch war kein rechter Unterarm. Auch kein linker. Charlotte war verschwunden.

Die Wartezeit verging in der Dunkelheit viel langsamer als bei Licht. In der ersten Minute dachte Nils noch, dass seine Freundin wohl unbemerkt zur Toilette gehuscht war. In der zweiten Minute fragte er sich, ob sie sich einen Scherz mit ihm erlaubte. In der dritten kam ihm der Gedanke, sie könnte vielleicht nach Hause gegangen sein.

Frauen! Dass er sich freute, weil nicht Charlotte, sondern Maya Nachwuchs erwartete, war ja wohl normal. Sie hatten das Thema Familienplanung schließlich längst besprochen! Erst mal abwarten, so lautete der Plan. Er überlegte noch, ob er überhaupt genug Geld dabeihatte, um beide Abendessen zu bezahlen, da bemerkte er eine Gestalt mit leuchtendem Handydisplay in der Hand, die geradewegs auf seinen Tisch zusteuerte.

»Wo warst du denn?«

»Auf der Toilette.«

Nils ignorierte Charlottes gereizten Unterton und beschloss, zur Tagesordnung überzugehen. »Dann können wir ja jetzt endlich anstoßen.« Er tastete nach seinem Glas.

»Ich will nach Hause.«

»Jetzt schon? Wir haben doch noch gar nicht den Nachtisch probiert.«

»Mir ist der Appetit vergangen. Außerdem müssen wir morgen früh raus.«

»Morgen ist Samstag.«

»Weiß ich.«

»Hast du nicht gesagt, du hättest frei?«

»Habe ich.« Charlotte hatte schon wieder diese merkwürdig tiefe Stimme.

»Und?«

»Und mein Vater hat Geburtstag.«

»Morgen?« Nils schluckte. Den Termin hatte er tatsächlich verdrängt. Eigentlich wollte er mit Freddie, Bastian und Chappi neue T-Shirts für ihre Band entwerfen. Auf die Aktion freute er sich schon seit Wochen, und alle hatten sich den Abend dafür freigeschaufelt: Freddie würde ausnahmsweise mal nicht um die Häuser ziehen, Bastian die Frickelei an einem unvollendeten Gitarrensolo unterbrechen, und Chappi hatte den Salsa-Kurs mit seiner Freundin abgesagt, auf den er im Grunde seines Herzens sowieso keine Lust hatte.

Ganz abgesehen davon fieberte Nils den raren Übernachtungsbesuchen bei Charlottes Eltern nicht gerade entgegen. Mit Sicherheit würden sie wieder in die Koblenzer Bärlauchschenke gehen und Bratkartoffeln mit selbstgemachter Sülze essen. Und Charlottes Onkel würde wie immer in seiner grünen Strickweste auflaufen und eine Festrede schwingen. Nils hasste Festreden, ganz besonders dann, wenn der Redner auf Paarreime stand und Wörter wie »Wiegenfest« oder »Heidewitzka« in seinem Alltagswortschatz pflegte.

»Du, sorry, Charlotte, das habe ich irgendwie verpeilt.« Ehrlichkeit war immer gut. »Ich kann morgen leider nicht.«

»Was? Wieso?«

Nils überlegte. Ehrlichkeit war in diesem Fall vielleicht doch nicht ganz so gut. »Ich muss arbeiten.«

»Seit wann?«

»Seit Frau Butterberg Inventur machen will.«

»Inventur?«

»War nicht meine Idee.«

»Im September?«

Nils sah ein, dass seine Geschichte Schwächen hatte. »Äh, es handelt sich um eine, äh, sogenannte Zwischeninventur.«

»Bist du noch ganz dicht?« Charlotte fauchte fast wie ihr Streifenhörnchen, wenn er es wagte, mit einem knallroten T-Shirt vor dem Käfig aufzukreuzen. »Mein Vater wird sechzig. Wir müssen da hin!«

»Oh, schon sechzig?«

»Das hast du also auch verpennt. Spitze, echt.«

Nils erkannte auf einmal den Ernst der Lage. Wenn er Charlotte nicht dauerhaft verstimmen wollte, sollte er wohl besser an dieser Veranstaltung teilnehmen. Aber dann müsste er wenigstens heute noch kurz zu Freddie, um den Jungs seine Ideen zu skizzieren. Über ihre neuen T-Shirts hatte er sich einfach schon zu viele Gedanken gemacht. »Also dann frage ich doch noch mal nach, ob ich frei bekomme. Ist ja schon wichtig.«

»Das will ich aber hoffen. Guck, dass du das geregelt bekommst!« Charlotte klang noch nicht besänftigt. »Und jetzt lass uns gehen.«

Sie riefen nach Maurizio, ließen sich von ihm in einen Nebenraum mit gedimmtem Licht führen und warfen im Vorbeigehen einen Blick auf die soeben gegessenen oder auch verschmähten Speisen: Krautsalat, Schweinefilet mit Nudeln in Gorgonzolasauce, Schokopudding. Geschmorter Ochsenschwanz? Da hatte sich Nils’ Geschmackssinn wohl einen ziemlich flachen Scherz erlaubt.

»Ab nach Hause«, sagte Charlotte, als sie nach dem Bezahlen auf den Bürgersteig traten und in die Abendsonne blinzelten. »Du, Charlotte?« Nils drückte ihre Hand. »Ich müsste noch ganz kurz zu Freddie.«

»Jetzt?«

»Ich muss ihm was sagen. Geht ganz schnell.«

»Was denn?«

»Ach, für die Band. Wir wollen neue T-Shirts entwerfen.«

»Heute?«

»Fünf Minuten. Zehn, höchstens.«

»An unserem Jahrestag?« Charlotte verschränkte die Arme. »Ich fass es echt nicht!«

Nils hatte schon geahnt, dass seine Freundin nicht gerade in Jubelgesänge ausbrechen würde, aber da musste er jetzt durch. »Wir sehen uns doch gleich wieder«, sagte er. »Und dann machen wir es uns richtig gemütlich. Mit Rotwein und Käse und allem Drum und Dran!«

»Warum machst du es dir nicht einfach mit deinen Jungs gemütlich?«, fragte Charlotte spitz. »Mit Dosenbier und Kippen und allem Drum und Dran!« Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte auf die nahe gelegene Stadtbahn-Haltestelle zu. »Nur wir zwei! Ich freu mich schon!«, rief Nils ihr hinterher, dann trabte er in die entgegengesetzte Richtung davon.

Kapitel 2

Charlotte hängte ihren Haustürschlüssel ans Schlüsselbrett. Harmonie? Nicht einmal an ihrem Jahrestag. Warum hatte sie überhaupt mit dieser Maya-Geschichte angefangen? Nur, um mal unverbindlich vorzufühlen? Eigentlich wusste sie doch, dass dieser Kindskopf nichts anderes als seine Band und sein Schlagzeug im Kopf hatte. »Oh. Na so was. Tja. Ja.« Besser nicht dran denken, was passieren würde, wenn sie wirklich irgendwann schwanger wäre. Wahrscheinlich würde Nils nicht mal mit zum Krankenhaus fahren, weil er ausgerechnet an dem Tag seine Trommeln neu bespannen musste. Aber egal – die Zeit arbeitete für sie. Irgendwann würde ihr Freund sicher einsehen, dass es Wichtigeres im Leben gab als ein paar Holzeimer und Blechdeckel. Oder etwa nicht? Charlotte starrte einen Moment lang ins Leere, dann schüttelte sie den beunruhigenden Gedanken ab und schaltete ihr Laptop ein.

Was gab es Neues? Zwei E-Mails mit Werbung. Eine Nachricht von ihrem Vater, der sie ständig mit Krankenhauswitzen jenseits der Humorgrenze beglückte. Die letzte Mail konnte sie nicht direkt einordnen. »Muffins and more«, lautete der Betreff, und als Absender stand da bloß »H.S.«. Charlotte öffnete die Mail.

Hi, Charlie!

Heiko Steffens proudly presents … den aktuellen Fortbildungskalender! Vielleicht ist ja was für dich dabei. Habe übrigens bei Brigitte nachgehört, ob die in der Cafeteria auch Muffins anbieten können. Wird wahrscheinlich klappen.

LG The Muffin Man

Charlotte verdrehte die Augen. Heiko Steffens war Anästhesist und seit Neuestem auch Fortbildungsbeauftragter des Barbara-Krankenhauses. Der Langzeit-Single sabberte so ziemlich jeder Mitarbeiterin unter dreißig hinterher und hielt sich aus unerfindlichen Gründen für einen Superhelden. Zu ihrem Leidwesen hatten sie sich schon oft im Kreißsaal getroffen. Dass er sich um die Muffins gekümmert hatte, war zwar irgendwie nett, aber Charlotte hatte den Durchblick: Heiko hatte ihr diesen Gefallen nicht aus Nächstenliebe getan. Mal ganz abgesehen davon, dass sie während ihrer letzten Heißhungerattacke nach einer Endlosgeburt nicht von Muffins geschwärmt hatte, sondern von Cupcakes, der viel edleren und schmackhafteren Gebäckvariante. Aber gut. Mit Männern, die nicht zuhören konnten, hatte sie ja Erfahrung.

Charlotte klickte auf den Anhang der E-Mail und überflog das Fortbildungsangebot. Bei den Themen Akupunktur und Babymassage fühlte sie sich fit, Bauchtanz für Schwangere dagegen war überhaupt nicht ihr Ding. Im Juni gab es ein Wochenendseminar zum Thema Schwangerschaftsyoga, das würde sie interessieren. Wobei … Sie sah sich das Datum genauer an. An dem Termin wollte sie ja mit Nils in London sein. Wenn der Abend nach Plan verlaufen wäre, hätte sie ihm den Gutschein längst überreicht. Aber nein, diese blöde Band musste ihr mal wieder alles versauen. Nur mal ganz kurz zu Freddie? Nie im Leben!

Früher hatte sie dieses Musikgedöns ja irgendwie süß gefunden. Sie würde nie vergessen, wie Nils ihr das erste Mal ein YouTube-Video vorgespielt hatte, in dem ein paar ihr völlig unbekannte Musiker bei einem Fernsehauftritt die Instrumente getauscht hatten. Warum auch immer. Sie hatte sich fast kaputtgelacht darüber, wie fasziniert Nils von dieser langweiligen Aufnahme war. Mit seinen glänzenden Augen und den hochroten Ohren hatte er ausgesehen wie ein kleiner Junge, der das erste Mal in seinem Leben einen Weihnachtsbaum sieht. Über seine Art, sich völlig übertrieben zu begeistern, hatte sie oft lachen müssen. Zu Beginn ihrer Beziehung.

Hoffentlich ließen sich die Herren beim Thema Oberbekleidung wenigstens etwas halbwegs Zivilisiertes einfallen. Dieses eine Shirt, das Nils zu Werbezwecken immer wieder gerne an seine Mitmenschen verschenkte, war schon peinlich genug: vier Tiefseeungetüme, die wie die Bremer Stadtmusikanten übereinandergestapelt waren. Kein Kommentar. Aber was konnte man schon von einer Band erwarten, die sich nach dem angeblich hässlichsten Fisch der Welt benannt hatte? Blobfish Project – alberner ging es nun wirklich nicht.

Charlotte ließ Heikos Mail unbeantwortet, legte ihre Füße auf den Tisch und klickte sich durch die neuesten Beiträge des Hebammen-Forums. Eine halbe Stunde später hörte sie, wie die Haustür aufgeschlossen wurde.

»Du schon?«, fragte sie.

»Ich habe doch gesagt, dass es schnell geht.« Nils drückte ihr eine weiß-gelbe Papiertüte in die Hand. »Für dich. Weil ja unser Nachtisch ausgefallen ist.«

»Ach.« Charlotte biss in die trockene Nussecke. »Danke.« Sie stand auf und nahm ihre Umhängetasche, die an der Stuhllehne baumelte. »Dann können wir ja jetzt Bescherung machen.«

»Super.« Nils begann in seinem Rucksack zu wühlen. Charlotte sah ihm über die Schulter. Was mochte er wohl für sie ausgesucht haben? Über einen Plüsch-Elch oder einen Wasserbüffel für ihre Trophäen-Sammlung im Flur würde sie sich besonders freuen. Ein gerahmtes Foto aus dem letzten Urlaub, ein Massage-Gutschein oder Ohrringe wären natürlich auch toll.

»Tadaaa.« Nils überreichte ihr ein flaches, quadratisches Päckchen, das mit Geschenkpapier umwickelt und mit viel zu viel Tesafilm vollgeklebt war. Charlotte kannte diese Form nur zu gut. Oh. Na so was. Tja. Ja.

»Eine CD«, stellte sie fest, nachdem sie das Papier aufgerissen hatte. »So eine Überraschung.«

»›Meet and Beat‹. Unsere neue Platte. Wir sind letzte Woche fertig geworden. Also quasi pünktlich zu unserem Jubiläum.«

»Sag bloß.«

»Wir haben fast zwei Jahre dran gearbeitet, weißt du?«

»Toll.« Charlotte versuchte, die Sache positiv zu sehen, aber ihr fiel nicht viel Positives ein. Die Scheibe würde sowieso wieder nur auf ein paar dubiosen Internetseiten erhältlich sein und dieser Hinterhofband, die dreimal im Jahr auf irgendwelchen Dorffesten spielte, weder Ruhm noch Geld noch Fanpost einbringen. Und wegen diesem Ding hatte sie also jeden Samstagabend alleine auf dem Sofa verbracht, während Nils im Proberaum oder in Michis »Tonstudio« herumlungerte. Sie quälte sich ein Lächeln auf die Lippen.

»Willst du mal reinhören?«, fragte Nils.

»Später. In Ruhe.«

»Du wirst begeistert sein.«

»Bestimmt.« Charlotte fasste in ihre Umhängetasche. »Aber jetzt bist du erst mal an der Reihe.« Sie überreichte ihm den altrosa Briefumschlag.

»Ein Liebesbrief?«

»Ein Monatsticket für die Stadtbahn. Wenn du betrunken mit deiner Band unterwegs bist und nicht mehr fahren kannst.«

»Echt?« Nils riss den Umschlag mit den Fingern auf. »Das ist ja super!«

Charlotte beobachtete genau, wie er den Gutschein-Text durchlas, den sie selbst verfasst und ausgedruckt hatte. Von wegen Monatsticket! Karten für das Foo-Fighters-Konzert in London wollte sie ihm schenken. Dazu eine Übernachtung mit Frühstück. Sie hatte reserviert, aber noch nicht gebucht, da sie erst noch auf sein Okay warten wollte.

»Die Foo Fighters in London?« Er sprang auf, setzte sich wieder hin, sprang wieder auf und strahlte, als hätte er gerade einen Plattenvertrag bei Universal Music unterschrieben. »Du bist der Wahnsinn. Danke, danke, vielen Dank!« Er drückte sie an sich.

»Ich freu mich schon.« Charlotte merkte, wie seine gute Laune allmählich auf sie überschwappte. Sein Geschenk war zwar nicht gerade der Kracher gewesen, na gut, aber dafür hatte sie von ihrem zumindest auch etwas. »Dann gehen wir mal so richtig schön shoppen«, sagte sie und kuschelte sich in seinen Arm.

»Trinken ein Bierchen im Hyde Park.«

»Spazieren durch Notting Hill.«

»Latschen einmal über die Abbey Road.«

»Gucken uns den Flohmarkt an.«

»Und natürlich Slashs Gitarre aus dem November-Rain-Video.«

»Das wird spitze!« Charlotte war so zufrieden wie schon seit Wochen nicht mehr. Der Zustand hielt genau drei Sekunden lang an. Dann räusperte sich Nils. »Moment mal, wann ist das Konzert genau?« Er zückte erneut seinen Gutschein.

»Am 20. Juni.«

»Ist da nicht …?« Er kratzte sich an der Lippe. »Doch klar, das ist während der Rockwoche!«

»Keine Ahnung. Ist das schlimm?« Charlotte hätte sich an die Stirn schlagen können. So ein Mist! An die Kölner Rockwoche hatte sie gar nicht mehr gedacht! Nils liebte dieses Musik-Event, und zwar noch mehr als Rock am Ring, im Feld, an der Bushaltestelle oder wo auch immer diese blöden Festivals alle stattfanden. Die Rockwoche dauerte, wie der Name schon sagte, genau sieben Tage lang, und während dieser Zeit bekam sie ihren Freund üblicherweise überhaupt nicht zu Gesicht, da er allabendlich auf mindestens einem Konzert herumturnte. Nils betete die Foo Fighters an, dieser Sänger Dave irgendwas war sein Gott – aber gegen die Kölner Rockwoche hatte offenbar selbst der schlechte Karten.

»Ach, weißt du was? Ist doch eigentlich egal«, sagte Nils. »Wen interessiert schon die Rockwoche? London mit dir ist besser.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Tausendmal besser.«

Yes! Charlotte war kurz davor, einen Luftsprung zu machen. Die Rockwoche war Nebensache. Nils wollte mit ihr nach London. Was für ein Liebesbeweis! Mehr ging eigentlich gar nicht. »Sollen wir uns jetzt mal deine neue CD anhören?«, fragte sie.

»Auf jeden Fall!« Er peilte den CD-Player an, doch Charlotte stellte sich ihm in den Weg. »Die Anlage im Schlafzimmer …?« Sie grinste.

»… hat einen super Sound.« Er grinste zurück. Und als Charlotte an diesem Abend mit einem Lächeln auf den Lippen in Nils’ Armen einschlief, hatte sie zum ersten Mal seit Langem die Hoffnung, dass es mit ihrer Beziehung endlich wieder aufwärtsgehen könnte.

Kapitel 3

»Ich stehe vor deiner Haustür.« Bastian sprach diese fünf Worte so langsam und bedächtig aus, dass sich Nils unwillkürlich fragte, ob sein Bandkollege betrunken, wahnsinnig oder wahnsinnig betrunken war. »Warum?«, wollte er schließlich wissen, da die bedeutungsschwangere Aussage sekundenlang im Raum stehen blieb, ohne näher erläutert zu werden.

»Weil ich dir etwas mitteilen muss.«

»Um neun Uhr früh?« Bastian war zwar morgens mitunter etwas verstrahlt, vor allem, wenn er die halbe Nacht lang über einem neuen Song gebrütet hatte, aber dass Nils freitags schon seit über einem Jahr nicht mehr ausschlief, sondern als Aushilfe bei Hörakustik Butterberg arbeitete, sollte er inzwischen mitbekommen haben.

»Öffnet ihr nicht um halb zehn?«, fragte Bastian.

»Ich muss ab neun hier im Laden sein.«

»Wie dumm.«

»Was gibt es denn?« Nils klemmte sein Handy zwischen Ohr und Schulter ein, um die Hände frei zu haben.

»Kann ich dir nicht am Telefon sagen«, raunte Bastian.

»Jetzt mach es nicht so spannend. Neuer Song? Neue Gitarre? Neue Freundin?«

»Wir treffen uns heute Abend um acht. Im Proberaum.« Bastian klang so ernst, als wollte er die Details zu einem Raubüberfall besprechen.

»Heute Abend?« Nils versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, dabei trieb die Ankündigung dieses Meetings seinen Puls mindestens genauso schnell in die Höhe wie ein spontaner Bungeesprung. Bastian war nicht nur ein perfektionistischer Songschreiber, er war auch ein menschgewordener Terminplan, was das Bandleben anging. Sie trafen sich am Mittwochabend zum Proben und am Samstagabend zum Proben und/oder Trinken – eine Maßgabe, die Bastian am liebsten in die Fassade des Kölner Doms gemeißelt hätte. Ein außerplanmäßiges Treffen an einem ganz normalen Freitag hatte es bisher noch nie gegeben.

Nils verabschiedete sich und versuchte sich zu entspannen, was jedoch dadurch erschwert wurde, dass seine Kollegin Diana gerade eine CD mit Meditationsmusik eingelegt hatte.

Nils hasste Meditationsmusik. Wenn er tibetische Klangschalen, Glockengebimmel oder gar Hirtenflöten hörte, bekam er das Gefühl, ein ganzer Stechmückentrupp hätte seinen Unterbauch in Beschlag genommen, um Party zu machen. Seit er bei Hörakustik Butterberg arbeitete, musste er sich ständig kratzen.

Er warf Diana einen grimmigen Blick zu. Aber was konnte er schon von einer Enddreißigerin erwarten, die nicht den geringsten Bezug zu Musik hatte – mal abgesehen von ihrem schamlos zur Schau getragenen Dauerwellen-Desaster, mit dem sie aussah wie Jon Bon Jovi in den Achtzigern.

»Regen, Regen, Regen. Bei diesem Wetter steht man besser gar nicht erst auf.« Eine Seniorin mit curryfarbener Häkelmütze klappte umständlich ihren Stockschirm zusammen und setzte dabei den halben Laden unter Wasser.

»Frau Kaiser kommt zum Hörtest.« Diana nickte Nils zu. »Du bereitest alles vor, ich komme in zwei Minuten.«

»Zu Befehl.« Nils schlurfte zum Eingang und nahm neben dem Stockschirm und der Häkelmütze einen ebenfalls curryfarbenen Regenmantel in Empfang. »Sie kommen zum Hörtest, Frau Kaiser, nicht wahr?«

»Nein«, sagte die Kundin und wühlte in ihrem Häkelbeutel herum, der farblich perfekt auf Häkelmütze und Mantel abgestimmt war. »Herr Doktor Heymann hat mich längst untersucht. Ich will nur mein neues Hörgerät bestellen.«

»Ach so.« Nils drehte sich zu seiner Kollegin um. »Sie kommt gar nicht zum Hörtest.«

Diana legte einen Stapel Post beiseite und kam hinter der Ladentheke hervor. »Frau Kaiser, wir müssen Ihre Werte noch einmal mit unseren Geräten nachmessen«, sagte sie und ignorierte das Schreiben, das ihr die Kundin wie eine Rote Karte entgegenhielt.

»Aber hier sind meine Werte. Schwarz auf weiß.«

»Frau Kaiser.« Diana zeigte nicht mal den Ansatz eines Lächelns. »Wir haben das doch letzte Woche besprochen. Der Test dauert nur ein paar Minuten.«

»Ach, kommen Sie.« Frau Kaiser atmete tief ein. »Das ist doch alles bloß Geldmacherei.«

»Der Test ist wirklich notwendig«, begann Diana, wurde jedoch vom Klingeln des Telefons unterbrochen. »Einen kleinen Moment bitte«, sagte sie in den Hörer, dann wandte sie sich wieder der curryfarbenen Kundin zu. »Frau Kaiser, wir machen jetzt schnell den Test und bestellen dann Ihr neues Hörsystem. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee?«

Frau Kaiser seufzte so tief, als hätte Diana sie gebeten, die Bohnen für ihr Heißgetränk höchstpersönlich in Kolumbien abzuholen. »Gibt es auch Tee?«

»Mein Kollege bringt Ihnen einen.«

Nils tappte nach nebenan in die Personalküche. Während er aus Mangel an Alternativen eine Tasse Harmonie-Tee mit Bachblüten zubereitete, rief er Freddie an, um mehr über das mysteriöse Treffen am Freitagabend zu erfahren. Leider erfolglos. Minuten später nippte die Kundin die Tasse Harmonie in sich hinein und entspannte zusehends.

»Nils.« Diana hielt immer noch das Telefon in der Hand. »Du musst Frau Kaisers Hörtest übernehmen. Die CD liegt in der obersten Schublade. Kriegst du das alleine hin?«

»Klar doch.« Er baute sich vor der Kundin auf. »Auf zum Soundcheck.«

»Wie bitte?«

»Äh, nichts. Hier entlang.« Nils führte Frau Kaiser in einen Nebenraum, in dem sich eine Schallschutzkabine befand, die ihn mit ihrer verglasten Frontseite immer an eine Einbaudusche erinnerte. Fernab des meditativen Klangschalenbreis setzte sich Frau Kaiser auf den Kunstledersessel, lehnte sich zurück und nahm einen joystickartigen Schalter sowie ein Paar Kopfhörer in Empfang. »Ich werde Ihnen gleich verschiedene Töne vorspielen«, erklärte Nils. »Sobald Sie einen Ton hören, drücken Sie den roten Knopf da. Haben Sie dazu Fragen?«

Frau Kaiser ließ ihren Blick im Schildkrötentempo durch die Kabine wandern, schüttelte den Kopf und gähnte. Vermutlich hatte sie die Harmoniekeule erschlagen. Nils durchwühlte die oberste Schublade des Materialschranks, fand die CD Minuten später in der untersten, legte sie ein, folgte den Anweisungen auf dem Bildschirm und drehte sich, als er endlich startklar war, wieder zu der Kundin um. Sie hatte die Augen geschlossen.

»Frau Kaiser?« Keine Reaktion. Ob sie meditierte? Nils klopfte an die Scheibe der Schallschutzkabine. Nichts passierte.

»Hallo?« Selbst als er die Glastür öffnete und sich extralaut räusperte, atmete die Kundin gleichmäßig weiter. Nils tippte sie mit einer Fingernagelspitze an der Schulter an. »Hallo!« Keine Chance. Frau Kaiser schlief.

»Guten Morgen!« Selbst gefühlte achtzig Dezibel konnten sie nicht wecken. Nils schlappte zu Diana in den Verkaufsraum, sie telefonierte jedoch immer noch. Kein Zweifel, er musste handeln. Und zum Glück kam ihm auch sofort eine Idee!

Wie immer trug er ein Exemplar seiner neuesten CD bei sich – man konnte ja nie wissen, ob einem nicht zufällig ein Plattenboss über den Weg lief. Mit der Scheibe würde er selbst ein übernächtigtes Murmeltier aus dem Winterschlaf reißen. Nils legte ›Meet and Beat‹ in das CD-Laufwerk des Computers ein und überflog in Gedanken die Songliste. »Bye«. Ein latent aggressives Lied, in dem Bastian das abrupte Ende seiner letzten Beziehung verarbeitet hatte.

Nils hatte sich schon oft ausgemalt, was wohl passieren würde, wenn er einem Kunden anstelle der öden Einzeltöne mal einen fetten Rocksong aufs Ohr drücken würde. Der Durchschnittssenior würde vermutlich gar nicht oder höchstens mit einem Stirnrunzeln reagieren und pflichtbewusst das kleine rote Knöpfchen drücken, sobald er den ersten Ton vernahm. Und sein Traumkunde? Der würde lächeln, im Takt mitwippen, summen, dann die Arme heben, leise mitklatschen, immer lauter mitklatschen, aufspringen, das Resthaar schütteln, die Gehhilfe gegen die Wand pfeffern, seine Luftgitarre auspacken und lauthals mitgrölend die Schallschutzkabine rocken. Ach, wäre das schön!

Frau Kaiser sah nicht so aus, als könnte sie es in einem Traumkunden-Contest weit bringen, aber sie öffnete immerhin ihre Augen. »Was – was – was ist denn das?« Nils beglückwünschte sich selbst zu seiner genialen Idee.

»Bait mi, bitsch?« Frau Kaiser rieb sich die Augen. »Was bedeutet das? Ist das ein Standard-Test?« Nils wollte gerade die Musik wieder ausmachen, als sein Handy zu vibrieren begann. »Freddie, na endlich. Hör mal, weißt du, warum wir uns heute Abend treffen?«

»Muss ich das jetzt nachsprechen?«, fragte die Kundin überlaut. Nachsprechen? Super Idee eigentlich. Nils nickte ihr durch die Glasscheibe hindurch zu und zeigte seinen erhobenen Daumen. So war sie zumindest beschäftigt und würde ihm nicht noch einmal unter den Augen wegschlummern.

»Bastian wollte es mir erst nicht sagen, aber ich habe es aus ihm rausgeprügelt.«

Nils war sich nicht ganz sicher, ob Freddie die Passage mit dem Prügeln wortwörtlich oder im übertragenen Sinne meinte. Zuzutrauen war ihm beides. »Was denn rausgeprügelt?« Er nickte Frau Kaiser beifällig zu, die gerade in gewöhnungsbedürftigem Englisch einen Gedanken über untreue Frauen und ihr Verhältnis zu gut aussehenden Vorgesetzten rezitierte. »Weißt du, wer nächstes Jahr alles bei der Rockwoche spielt?«, fragte Freddie.

»Wieso?«

»Zähl mal auf.«

Nils schnaufte.

»Na los«, drängelte Freddie.

»So ganz steht es ja noch nicht fest, aber als Headliner auf jeden Fall ›Die Toten Hosen‹. Warum guckst du nicht im Internet nach, wenn du es genau wissen willst?«

»Ich weiß es ganz genau, aber du anscheinend nicht. Ein Top Act fehlt nämlich noch. Und was für einer. Da kommst du nie drauf!«

»Schieß los.«

»Nee. Raten. Und hinsetzen.«

Nils wurde auf einmal ganz heiß und kribbelig, vor allem in der Bauchregion, dabei hörte er im Moment gar nichts von der Klangschalenmusik aus dem Verkaufsraum.

»Wie gut kenne ich die Band?«, fragte er atemlos.

»Kaum einer kennt sie besser.«

»Du machst Witze.«

»Nicht bei dem Thema.«

»Oh. Mein. Gott.«

»Gell, das ist der Hammer!« Freddies Stimme überschlug sich fast. »Bastian hat einen Typen vom Kulturzentrum kennengelernt, und der hat gesagt, dass die gerne einen Kölner Newcomer unterbringen würden. Wir müssen uns natürlich hochoffiziell bewerben, aber er will ein gutes Wort für uns einlegen!«

Nils merkte, wie sich ein grenzwahnsinniges Grinsen in seinem Gesicht breitmachte. Könnte sein größter Traum womöglich wahr werden? Er musste ganz tief einatmen, um nicht wie gestört vor der Schallschutzkabine auf und ab zu springen.

»CD, Anschreiben und Biografie müssen wir noch fertig machen. Und ein neues Bandfoto schießen«, rief Freddie.

»Treffen wir uns deshalb heute Abend?«

»Die Bewerbung muss so schnell wie möglich raus. Nicht dass uns dieser Kulturheini wieder vergisst, wenn es um die Entscheidung geht.«

Nils hörte auf einmal die trippelnden Schritte seiner Kollegin im Flur. »Du, ich muss Schluss machen. Wir sehen uns später.« Jetzt aber schnell!

»Bladdi häll, ju mäik mi sick«, tönte Frau Kaiser gerade, als Diana im Türrahmen stehen bleib, während er mit der Maus viel zu langsam auf den Stopp-Button zusteuerte.

»Schatt ab änd go houm!«, schmetterte sie, als seine Kollegin näher trat, und endlich – er konnte die CD stoppen. Keine Sekunde zu früh.

»Was ist denn hier los?«, fragte Diana.

»Ein interessanter Test.« Frau Kaiser nahm die Kopfhörer ab. »Seit wann gibt es diese Methode?«

»Die ist ganz neu«, sagte Nils und hoffte, dass sich seine Kollegin schnellstmöglich wieder verzog.

»Und wie sind meine Werte?«

»Die – die gebe ich Ihnen gleich.« Nils schielte zu Diana, die immer noch hinter ihm stand. »Wir müssen bloß noch einen zweiten Durchgang machen.«

»Sie sagten doch, das dauert nicht lange.«

»Ab jetzt geht es ganz schnell.«

»Wieder mit so einem flotten Lied?«, fragte Frau Kaiser und katapultierte sich raketengleich in die Top Ten von Nils’ Traumkunden. »Meinen Enkeln würde das sicher gefallen. Ich finde es gut, dass Sie hier so moderne Methoden verwenden.«

»Moderne Methoden?«, wiederholte Diana. Auf ihrer Stirn leuchtete ein riesengroßes Fragezeichen. »Ja, wir sind bekannt für unsere modernen Methoden.« Sie packte Nils am Ärmel und zerrte ihn in den Flur. »Was treibst du hier eigentlich?«

Was er hier trieb? Eine sehr gute Frage. Während Nils wirre Gedanken über Frau Kaisers Biorhythmus und ihren verheerenden Teekonsum von sich gab, war er im Geist schon längst bei der Rockwoche. Ein Problem hatte er allerdings noch, doch dieses Problem hatte nichts mit seiner Arbeit, nichts mit der curryfarbenen Kundin und nichts mit Diana zu tun. Würde Charlotte verstehen, warum sie unmöglich zusammen nach London fahren konnten?

Kapitel 4

Charlotte legte den Zettel neben die Kaffeemaschine, genau vor den Karton mit den Cappuccino-Pads, den Nils an der Oberseite lieblos aufgerissen hatte. Früher hatten sie sich häufig kleine Nachrichten geschrieben, also handgeschriebene Texte auf Notizzetteln oder Briefumschlägen. In den ersten Monaten ihrer Beziehung hatten sie ihre Botschaften sogar mit Zeichnungen verschönt, allerdings nicht in ernsthafter Künstlerabsicht, sondern mehr so als Gag. Charlotte fand, dass es mal wieder an der Zeit war, diese Tradition aufleben zu lassen. Da sie sich am Abend zuvor nicht mehr gesprochen hatten und sie ab sechs Uhr dreißig Frühdienst hatte, würde sich Nils sicher freuen, noch mal etwas von ihr zu hören.

Hallo!

Bin schon mal weg, musst mich nicht suchen.

Ich werde heute London buchen.

Charlotte

 

PS: Wäre das nicht ein super Text für ein neues Lied?

Unter die Nachricht malte sie mit Filzstift einen kleinen roten Doppeldeckerbus, der fast aussah wie ein Feuerwehrauto. Schön war die Zeichnung nicht, aber ein Zeichen. Sie warf den Filzstift und den Kugelschreiber, der nur noch recht kümmerliche Tintenreste von sich gegeben hatte, in die Schublade zurück, dann spähte sie ins Gästezimmer. Die trächtige Maya lag in dem größten ihrer drei Schlafhäuschen und döste. Charlotte kontrollierte das Wasser in der Nippeltränke, dann huschte sie ins Bad und machte sich auf den Weg zur Arbeit.

Im Krankenhaus führte sie der Weg zunächst in die zentrale Umkleide im Keller, wo sie in ihre blaue Arbeitskleidung und die Crocs mit dem Fersenriemen schlüpfte. Dann stapfte sie zu Fuß in den ersten Stock hinauf und betrat fast zeitgleich mit ihrer Lieblingskollegin Franziska das Hebammenzimmer. Das mit Filzmarker beschriebene Whiteboard links neben der Tür verriet den beiden noch vor der offiziellen Übergabe, dass derzeit nur ein Kreißsaal belegt war. Nachdem Nachtdienstlerin Sigrid diesen erfreulichen Umstand bestätigt hatte, konnte die Arbeit beginnen.

In Kreißsaal 1 wurden Charlotte und Franziska bereits erwartet. Ein werdender Vater hatte sich vor dem Kreißbett postiert und informierte sie mit ernster Miene über den Geburtsverlauf. »Ihr Muttermund ist bei vier Zentimetern, die Herztöne sind gut«, erklärte er. »Ich würde vorschlagen, dass wir sie jetzt in den Vierfüßlerstand bringen.«

»Hasilein, lass gut sein«, stöhnte seine Frau, die im pinken Nachthemd am Fenster stand und durch die Lamellen der Jalousie hindurch in den Innenhof des Krankenhauses blickte. Hasilein hörte nicht. »Wir sollten allmählich auch mal besprechen, welches Schmerzmittel für sie infrage käme«, sagte er und kratzte sich wie ein sinnierender Professor am Kinn.

»Schatz, jetzt nerv doch die Hebamme nicht.« Die Frau im pinken Nachthemd nickte Charlotte zu. »Alles im grünen Bereich hier.«

Charlotte lächelte. Sie hatte Erfahrung mit vollinformierten Männern, die geburtsbegleitend am liebsten eine Powerpoint-Folie nach der anderen an die Wand beamen würden.

»Vielen Dank für Ihre Anregungen.« Sie nickte Hasilein zu. »Aber in den nächsten Minuten wird hier nichts Spannendes passieren. Gehen Sie frühstücken, Sie werden die Energie noch brauchen. Das ist doch sicher in Ihrem Sinn, Frau Berger, oder?«

»Sicher doch.« Die Frau im pinken Nachthemd sah immer noch in den Innenhof hinaus. »Bis später, Hasilein.«

»Es wäre übrigens Zeit für einen Einlauf«, raunte der werdende Vater Charlotte beim Weggehen zu.

»Trink ruhig noch ein, zwei Tassen Tee!«, rief ihm seine Frau hinterher.

Während Franziska im Kreißsaal blieb, las sich Charlotte im Nebenraum den handgeschriebenen Geburtsbericht durch. Ein Klopfgeräusch riss sie aus der Lektüre.

»Alles klar hier?«, fragte Heiko.

»Selbstverständlich. Und bei dir? Nichts zu tun?«

»Ich habe bloß meinem inneren Bedürfnis nachgegeben, mich während meiner Pause mit attraktiven Hebammen zu umgeben.«

Charlotte verdrehte die Augen und setzte ihre Lektüre fort.

»Hast du meine Mail bekommen?«, fragte Heiko.

»Mhmm.« Sie hob nicht mal den Blick. »Ist ja super mit den Muffins. Wobei ich eigentlich mehr auf Cupcakes stehe.«

»Was ist denn das für eine Schweinerei?«

»Du kennst keine Cupcakes?« Charlotte hob die Augenbrauen. »Cupcakes sind besser als Muffins. Exquisiter. Der Cupcake ist der Mercedes unter den Muffins, wenn du verstehst.«

»Du meinst sicher den Porsche.«

»Wie auch immer.«

»Mir scheint, du hast einen guten Geschmack.« Heiko lächelte so zufrieden, als hätte er die Frau mit dem guten Geschmack bereits fest in der Tasche.

»Bei Geburten und Gebäck macht mir so schnell niemand etwas vor.«

»Und wie sieht’s mit einer Bildungsreise aus? Soll ich dich irgendwo anmelden?«

Charlotte schüttelte den Kopf. »Am Starnberger See gibt’s eine interessante Veranstaltung, aber der Termin passt leider nicht.«

»Am Starnberger See? Schade eigentlich, da hätten wir vielleicht sogar zusammen hinfahren können.«

»Du willst auf Hebamme umschulen?«

»Ertappt.« Heiko senkte den Kopf so tief, dass sie einen Moment lang seine hundertprozentig schuppen- und grauhaarlose Haarpracht bewundern durfte, dann hob er den Blick wieder und grinste. »Nee, aber da in der Nähe wird öfter mal mein Typ verlangt.«

»Sag bloß, du hast einen Fanclub.« Dass es einen Menschen auf dieser Welt gab, der Heikos Geschwätz länger als zwei Minuten ertrug, konnte sich Charlotte eigentlich kaum vorstellen. Heiko grinste und zog dabei seine Nase so kraus wie Maya, wenn sie an einem Mehlwurm roch. »Beinahe. Meine Familie wohnt da gleich um die Ecke. Genauer gesagt meine überbesorgte Mutter, meine überbehütete Schwester Manuela und meine übergewichtigen Tanten.«

»Tja, schade«, sagte Charlotte und hoffte, dass er die Ironie in ihrer Stimme mitbekam. Dass Heiko einen Sinn für Familie hatte, nahm sie ihm nicht ab. Das war doch bloß wieder eine Masche.

»Nahezu tragisch.« Heiko sah einen Moment lang aus dem Fenster, das ebenfalls in den Innenhof des Krankenhauses zeigte. »Dann muss ich nämlich wieder alleine über die einsame Autobahn gondeln. Und muss alleine die Schwäne begrüßen, die mir im Abendrot auf dem See entgegenschwimmen.«

»Mir kommen die Tränen.« Charlotte klopfte Heiko im Vorbeigehen auf die Schulter. »Du kannst ja ’ne Postkarte ans Krankenhaus schicken.« Sie öffnete die Tür zum Kreißsaal, um nach der Frau in Pink zu sehen. Beim Weggehen hörte sie noch, wie Heiko auf seinem Handy angerufen wurde und mit schnellen Schritten im Flur verschwand.

Hasilein hatte sich die Sache mit dem Frühstück wohl anders überlegt, denn er war schon wieder zurück und erklärte Franziska gerade die Funktionsweise des Gebärhockers. Charlotte beauftragte ihn damit, das CTG-Gerät, das im Zeitlupentempo einen Papierbogen ausspuckte, auf dem Wehen und Herztöne verzeichnet waren, im Auge zu behalten. So war er erst mal aus dem Weg.

Die Geburt zog sich noch eine ganze Weile hin, verlief aber ohne Komplikationen. Vier Stunden später schob Franziska die frischgebackene Mutter mit ihrem schlafenden Säugling auf die Wochenstation. Ihr Mann hatte das Dozieren mittlerweile aufgegeben und informierte per Handy die halbe Welt über das freudige Ereignis. Charlotte gab noch die Kurzfassung des Geburtsberichtes in den PC ein, dann hatte auch sie einen Moment Zeit zum Verschnaufen. Sie machte einen Abstecher zum Hebammenzimmer, biss in ein mitgebrachtes Käsebrötchen und checkte ihr Handy. Eine Nachricht von Nils. Charlotte lächelte. Ob er ihre Botschaft auf dem Küchentisch gelesen hatte?

»Hi! London noch nicht buchen. Müssen was besprechen. N.«

Charlotte schluckte. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Ob er seine Bandkollegen in ihrem Doppelzimmer einquartieren wollte? Oder die Reise ganz absagen? Hatte er sich womöglich wegen der Rockwoche umentschieden? Nein, das würde er ihr nicht antun. Oder etwa doch? Sie spürte, wie sich ihr Pulsschlag rasant erhöhte, während sie seine Handynummer wählte.

»Was ist mit London?«

»Ja, pass auf. Folgendes. Nun ja.«

»Komm zur Sache.« Charlotte schüttete ein Glas Sprudel in sich hinein.

»Tja. Also. Es tut mir echt leid jetzt, aber …«

»Hast du doch keine Lust, oder was?«

»Nein, natürlich habe ich Lust. London ist super. Mir ist nur etwas dazwischengekommen. Etwas wirklich Wichtiges.«

»Aha.« Charlotte knallte ihr leeres Glas auf den Tisch. »Und was ist so wichtig, wenn ich fragen darf?«

»Es geht um die Rockwoche. Halt dich fest!«

»Sag mal, hast du sie noch alle?« Charlotte stampfte mit dem Fuß auf. »Ich schenke dir ein Wochenende in London und du willst zu diesem doofen Rock-Ding?«