Liebesköter - Katrin Einhorn - E-Book

Liebesköter E-Book

Katrin Einhorn

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Beschreibung

Der will doch nur spielen ... Florian (32) schiebt eine gechillte Kugel in der Anzeigenabteilung einer Kölner Tageszeitung. Er hat eine chaotische Wohnung, ein noch nicht abbezahltes Motorrad, eine nervige Mutter, die ihn »Schätzchen« nennt und zwei supergute Freunde, Gerd und Mats. Was fehlt? Klar: eine Frau. Seine ersten Flirtversuche mit der neuen Nachbarin Neele scheinen sogar erfolgversprechend. Doch es gibt einige Hindernisse auf dem Weg zu Neeles Herz: Eines davon ist Lilly, die fledermausohrige Hündin von Neele. Eine echte Herausforderung für Florian, denn eigentlich mag er keine Hunde, schon gar nicht, wenn sie seine heiß geliebte Maschine anpinkeln. Doch was tut man nicht alles für die Liebe. Er kann ja nicht ahnen, dass das Schicksal ihn sogar in ein exquisites Hundehotel verschlagen wird.

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Seitenzahl: 297

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Katrin Einhorn

Liebesköter

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2014

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Schmidt & Abrahams GbR, Speyer

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41985-7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21499-5

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Websitewww.dtv.de/ebooks

Für Andreas

Kapitel 1

Da lag sie. Hüllenlos und ohne jede Scham bräunte sie sich im Kreise ihrer Kolleginnen. Verführerisch roch sie, leicht salzig, nach mehr. Eine Minute noch, vielleicht zwei, und ich würde sie vernaschen. Meine Bratwurst.

Eine weibliche Stimme riss mich aus meinen Träumen, und als die Worte zu meinem Großhirn durchdrangen, fiel mir vor lauter Schreck die Grillzange aus der Hand.

»Du willst was?«, rief ich entgeistert. Juliane hob die Augenbrauen.

»Hat dir Gerd denn nichts gesagt?«

»Mit dem Teufelszeug will ich nichts zu tun haben!«

»Wie bist du denn drauf?« Sie klang, als hätte ich mich soeben als Gegner des Weltfriedens geoutet.

»Sorry, aber das geht gegen meine Prinzipien.« Ich bückte mich nach der Grillzange und hoffte, dass sich das Thema damit erledigt hatte. Juliane wandte sich Richtung Terrasse.

»Ich frage mal Britta. Vielleicht hat die noch welchen gebunkert.«

Ich ließ sie ziehen und wischte mit einer Serviette auf meinem Schuh herum, der einen dicken Fettfleck abbekommen hatte. Eine schlechte Idee. Zu dem Fleck gesellten sich nun jede Menge blaue Papierfusseln. Egal. Nach dieser Killerfrage war der Grillnachmittag sowieso gelaufen. Mats und Gerd gaben wirklich ihr Bestes, um mich mit den merkwürdigsten Frauen zu verkuppeln – aber eine, die ausgerechnet auf Tofu stand, war bisher nicht dabei gewesen.

»Dauert es noch lange?« Mats quengelte wie ein hungriges Kleinkind.

»Ein paar Minuten. Wenn du schön brav wartest, kriegst du zum Nachtisch auch Gummibärchen«, sagte ich. Anstatt meinen Witz zu würdigen, legte mein Kumpel seine Stirn in tragische Falten. So sah er immer aus, wenn er eine neue Theorie dafür entwickelte, warum ich im Gegensatz zu ihm so wenig Erfolg bei Frauen hatte. »Punkt 147: Lahme Sprüche«, notierte er jetzt wahrscheinlich im Geiste für seine Feldstudie, während er sich in der Hollywoodschaukel zurücklehnte und seiner neuesten Eroberung Sandy widmete.

»Nochmals danke für deine Hilfe, Florian!«, rief Gerd von der Terrasse zu mir herüber. Ich nickte ihm zu.

»Na ja, mit deinen zwei linken Beinen hättest du heute wirklich nicht viel auf die Reihe gekriegt.« Wir grinsten uns an. Eigentlich war Gerd unser Gastgeber, aber außer einem Sitzplatz und dem Ausblick auf seine winterweißen Unterschenkel hatte er uns bisher nicht viel geboten. Matt hing er im Liegestuhl und ließ sich von seiner schwangeren Verlobten Britta einen Druckverband anlegen. Den dritten für heute. Ob er sich tatsächlich einen Bänderanriss oder bloß ein gekrümmtes Knöchelhärchen eingefangen hatte, würden wir nie erfahren, denn Mimosengerd neigte zur Übertreibung, wenn es um seinen Körper ging. Selbstverständlich hatte er sich gleich nach dem Sturz von der Bettkante in die Kölner Uniklinik fahren lassen. Und natürlich hatte ich seine Bitte, die Einkäufe für unsere Feier zu besorgen und den Part des Grillmeisters zu übernehmen, nicht abschlagen können.

Juliane hatte sich mittlerweile zu Gerd und Britta gesellt, beäugte die knöchelrettenden Notmaßnahmen und begann auf die beiden einzureden. Ich wusste ja, wonach sie fragte, und verdrehte die Augen. Wegen einer Tofu-Tussi hatte mich Gerd also darum gebeten, beim Einkauf an fleischloses Grillgut zu denken. Warum hatte er mir nicht gleich gesagt, dass er damit weder Kartoffelspalten noch Knoblauchbaguette meinte? Dann hätte ich meine Erwartungen von vornherein heruntergeschraubt und mich für das arrangierte Date nicht extra in mein letztes sauberes Hemd gezwängt.

Frauen, die sich hauptsächlich von Blümchen ernährten und am liebsten in einer Biotonne wohnen würden, waren mir nicht ganz geheuer. Sie erinnerten mich einfach zu sehr an mein früheres Ich. Seit ich am 10. Jahrestag meines unfreiwilligen Singledaseins beschlossen hatte, mein Leben zu ändern, war ich nämlich keine Schlapptüte mehr. Ich hatte das Poster mit den Zen-Steinen aus meinem Wohnzimmer verbannt, trug keine Korksandalen mehr und würde meinen Feierabend nie wieder damit verbringen, stundenlang im Solebecken der Claudius Therme herumzutreiben und zu hoffen, dass wie durch ein Wunder plötzlich meine Traumfrau neben mir auftauchte. Nein. Ich war jetzt ein echter Mann. Und echte Männer mögen keinen Tofu.

Juliane kam auf mich zugeeilt, ihr gebündeltes Haar pendelte wie der Schwanz eines zornigen Panthers hin und her. »Gerd und Britta haben auch keinen Tofu im Haus.«

»So was aber auch.« Ich versuchte nicht einmal, die Mundwinkel hängen zu lassen.

»Wo ist denn hier der nächste Supermarkt?«

»Die Läden schließen samstags schon um zwei.«

»Das schaffen wir.« Juliane sprang auf und steckte ihre Sonnenbrille ins Haar.

»Im Lembacher Märktchen gibt es keinen Tofu«, warf ich ein.

»Unsinn. Den gibt es überall.«

Ich deutete auf den Schwenkgrill. Die Schweinesteaks brauchten noch ein wenig, aber vier Bratwürste, darunter meine Auserwählte, waren gerade fertig geworden. Ihr Bräunungsgrad war perfekt, frische Brötchen lagen bereit. »Probier doch eins von den Würstchen.«

Juliane sah mich an, als wollte ich ihr einen frittierten Spulwurm andrehen. »Hast du eine Ahnung, wie viel Fett in so einem Ding steckt?«

»Weiß nicht.« Ich ignorierte ihre Grimasse und griff seelenruhig nach der Grillzange. »Zehn Gramm?«

»Vierzig!« Juliane presste die Zahl voller Verachtung zwischen den Zähnen hervor.

»So eine Zumutung aber auch.« Ich runzelte die Stirn. »Dann iss doch Salat.«

»Mayonnaise vertrage ich nicht.«

Ich seufzte. Wie kamen Mats und Gerd bloß darauf, dass ich zu so einer genussfeindlichen Fettverächterin passen könnte? Eine Frau, die mit mir für einen Currywurst-Schärfe-Contest trainierte und mich an Weihnachten zum Döner-Dinner einlud, würde mich weitaus mehr beeindrucken.

»Wurst ist fertig!«, rief ich, um die anderen anzulocken und mein Leiden zu beenden. Mats und Sandy sprangen von der Hollywoodschaukel und eilten herbei. Gerd quälte sich betont langsam an Brittas Hand über den Rasen.

»Komm, Florian, lass uns in dieses Märktchen fahren. Sandy hätte bestimmt auch gerne Tofu, stimmt’s?« Juliane sah ihre Freundin auffordernd an. »Oh yes, I love it«, hauchte diese wie abgesprochen. Mats trat einen Schritt näher und zischte mir ins Ohr: »Die Kleine steht auf dich, also reiß dich gefälligst zusammen!«

»Na schön.« Ich kapitulierte. »Aber erst bekommt ihr euer Essen.« Als Grillmeister trug ich schließlich die Verantwortung dafür, dass die mir anvertrauten Mägen gut gefüllt wurden. Ich verteilte Brötchen und Würste, wobei ich gewissenhaft darauf achtete, dass meine Auserwählte auf einem Extrateller landete, der nur für mich reserviert war. »Ketchup oder Senf?«, fragte ich als letzte Amtshandlung in die Runde und hielt die beiden Tuben hoch.

»Mayo, Alter.« Mats klopfte mir mit seiner freien Hand kumpelhaft, aber dermaßen schlagkräftig auf die Schulter, dass ich das Gleichgewicht verlor und mich gerade noch an der Kante des Gartentischs festhalten konnte. Die beiden Tuben plumpsten zu Boden, und der Ketchup spritzte genau auf Gerds Verband. Volltreffer. Gerd starrte entsetzt auf seinen Fuß, als färbte nicht Gewürzsauce, sondern sein eigenes Blut die Mullbinde.

Mats schüttelte sich vor Lachen. Ich ahnte, dass er seine Feldnotizen gerade um Punkt 148: »Akute Tollpatschigkeit« ergänzte. »Sieht doch jetzt erst richtig nach was aus«, brummte ich und reichte Gerd ein Taschentuch, wobei ich die Muskeln meines Oberarms etwas mehr anspannte, als es die paar Zellulosefasern erfordert hätten. Er winkte kraftlos ab und bat Britta, ihn zurück zu seiner Krankenliege zu geleiten. Ein Ketchupfleck auf dem Verband war offenbar zu viel für seine schwachen Nerven.

Ich warf meiner Bratwurst einen letzten traurigen Blick zu, bat Mats, sich gut um sie zu kümmern, und verließ mit Juliane im Schlepptau den Garten.

Mein Motorrad döste direkt vor Gerds Doppelhaushälfte in der Sonne vor sich hin. Achtzehn Monate alt, 339  Kilogramm Lebendgewicht, jede Menge Chrom, zwei betörende Nockenwellen und ein Reihenzweizylinder, der mir schon mehrfach nachts im Traum begegnet war. Ein Stahl gewordenes Wunder in Pazifikblau. Kerniger als mein Klappergolf, lässiger als jedes Straßenbahnticket. Und das Beste: nur noch zwölf Monatsraten, bis auch der letzte Quadratzentimeter dieses Prachtstücks mir gehören würde. Juliane wirkte wenig beeindruckt. Sie näherte sich der Maschine, als handele es sich dabei um eine besonders gefährliche Raubtierart.

»Du bist nicht mit dem Auto da?«, fragte sie.

»Sieht so aus.« Ich nahm meinen Ersatzhelm aus dem Motorradkoffer und hielt ihn ihr entgegen. Sie verschränkte ihre Arme vor der Brust. »Du, das ist nichts für mich.«

Innerlich begann ich zu brodeln. »Du, dann gibt es auch keinen Tofu.«

»Ach, Florian.« Sie sah mich bettelnd an. »Dein Motorrad ist super, aber die Dinger sind mir einfach zu schnell. Kannst du nicht alleine fahren?«

»Alleine?«

»Dauert doch nicht lange.«

»Eine Viertelstunde brauche ich mindestens.«

»Frag im Geschäft bitte nach, wenn du den Tofu nicht gleich findest.«

Ich merkte, wie meine Zehen unwillig zu zucken begannen, bei mir ein untrügliches Stresssymptom. Meistens wackelten sie rhythmisch auf und nieder, als würden sie imaginäres Bongo spielen. Manchmal gebärdeten sie sich auch wie die Finger eines Klavierspielers, der Tonleitern übte. Ich ignorierte das Gezappel und atmete tief durch. »Okay. Ausnahmsweise.«

Natürlich hätte ich mich genauso gut weigern können, Julianes Wunsch zu erfüllen. Ich hätte sie als Quarktasche betiteln, mir fünf fetttriefende Bratwürste auf einmal in den Mund stopfen und mit Visitenkarten meines Lieblingsmetzgers um mich werfen können. Aber wozu ärgern? Als wahrer Mann glänzte ich lieber mit Gelassenheit. Außerdem gewann ich bei der Tofu-Suche ein paar Minuten Ruhe, ein paar Quadratmeter Freiheit. Hatte ja auch etwas. Die Grillveranstaltung, so viel stand jetzt schon fest, war ein absoluter Reinfall. Niemals wieder würde ich Gerd und Mats erlauben, eine Singlefrau im besten Alter für mich einzuladen. Niemals.

Ich rollte auf die Straße und gab Gas. Nach ein paar Metern fühlte ich mich erheblich besser. Die Luft strömte durch das halb offene Visier, mein Halstuch flatterte, und das Rauschen des Fahrtwindes beruhigte mich schneller als jede Entspannungs-CD, die meine Mutter früher in Dauerschleife gehört hatte.

Um fünf vor zwei erreichte ich das Lembacher Märktchen im Nachbarort. Wie erwartet wurde ich nicht fündig. »Hann mer nit«, raunzte eine Verkäuferin. Sie klang derart beleidigt, dass ich einen Moment lang überlegte, ob ich mich für mein Anliegen entschuldigen oder den von ihr gerade errichteten Honigglas-Stapel umnieten sollte. In Anbetracht meines knurrenden Magens verzichtete ich auf beides und verließ den Laden.

Aber was nun? Sollte ich vielleicht doch noch in die Stadt fahren? Viele Kölner Supermärkte hatten bis abends auf. Dafür sprach: Ich hätte mindestens eine halbe Stunde Zeit geschunden. Dagegen sprach: Heißhunger. Ich entschied mich für einen Kompromiss: Etwa zehn Kilometer von Lembach entfernt gab es einen großen Supermarkt. Bestimmt hatte der seine Öffnungszeiten den allgemeinen Lebensgewohnheiten angepasst. Ich behielt recht. Er schloss tatsächlich erst um sechzehn Uhr. Außer wenn er wegen Umbauarbeiten gar nicht erst aufgemacht hatte.

Zwanzig Minuten später war ich zurück. Juliane lief mir wie eine vorwitzige Hündin entgegen. »Und?«, fragte sie erwartungsvoll.

»Es gab keinen Tofu. Ich war in zwei Geschäften.«

»Echt nicht?«

»Habe ich ja gleich gesagt.«

Sie seufzte. »Dann muss ich wohl Salat essen.«

Ach, das ging auf einmal doch? Meine Zehen begannen wieder ungnädig herumzuzappeln, was mich noch reizbarer machte, als ich es ohnehin schon war. Ich stapfte Richtung Grillplatz, wo Gerd und Mats erregt miteinander diskutierten.

»Mensch, Gerd, das war keine Absicht. Wie oft soll ich das denn noch sagen?«

»Du hast es verbockt, also kümmere dich um Ersatz.«

»Jetzt mach doch nicht so einen Stress.«

»Wart’s ab, gleich bist du einen Kopf kleiner!«

Trotz meiner ruhelosen Zehen musste ich grinsen. Hatte Mats etwa Gerds Bier ausgetrunken? Oder Brittas Kissen mit Ketchup bekleckert? Als ich den Grillplatz erreichte, verging mir die Häme. Das durfte ja wohl nicht wahr sein! Keine Würste. Kein Fleisch. Der Rost war leer.

»Wo ist das Essen?«, rief ich aufs Höchste alarmiert.

»Weg!« Mats zuckte mit den Schultern, als könne er sich diesen Umstand selbst nicht erklären. Ich starrte ihn an.

»Ihr habt mir nichts übrig gelassen?«

»Wollten wir natürlich.«

»Aber?«

»Mats hat unsere gesamte zweite Ladung verkohlen lassen«, sagte Gerd mit Leidensmiene.

»Wie, verkohlen?«

»Ich habe ein bisschen mehr Feuer gemacht. Damit es schneller geht.« Mats lächelte schief und hielt mir eine Plastiktüte entgegen. Fassungslos starrte ich auf schwarz verkrustete Steaks und ein paar kümmerliche Runzelwürstchen.

»Und wo ist das Würstchen, das ich für mich reserviert hatte?« Suchend sah ich mich unter und neben dem kleinen Campingtisch um.

»Ich wollte es aufheben, wirklich, aber Sandy hatte von der ersten Runde schon nichts abbekommen.« Mats zwinkerte mir zu. »Vielleicht gibt dir Gerd ja ein paar Gummibärchen.«

Sandy und Juliane fingen an zu kichern. Meine Zehen stimmten ein wildes Trommelsolo an. Mir reichte es jetzt. Dieser Nachmittag war wirklich das Letzte, aber am meisten ärgerte ich mich über mich selbst. Wieso hatte ich mich überhaupt dazu breitschlagen lassen, den Chef-Einkäufer, Grillmeister und Tofu-Lieferanten zu spielen? Hatte ich das nötig? Mein ehemaliges Schlapptüten-Ego vielleicht, aber der aktuelle, so ungemein männliche Florian ganz bestimmt nicht! Der sollte an so einem Tag eigentlich bloß essen, trinken und nachts um halb drei auf allen vieren in ein Taxi kriechen.

Während zart gebräunte Bratwürste vor meinen Augen erschienen und meinen Namen tanzten, nahm die Gartenparty ihren Lauf. Dass Juliane kein Wort mehr mit mir sprach, war mir nur recht. Auf eine Entschuldigung von Mats und Sandy wartete ich allerdings vergeblich.

Frustriert schnappte ich mir eine halb leere Chipstüte und suchte das Weite, ohne mich zu verabschieden. Bloß weg hier und ab nach Hause, dachte ich, als ich mein Motorrad bestieg. Dass ich einer Begegnung entgegensteuerte, die mein Leben verändern würde, ahnte ich nicht.

Kapitel 2

Mit knurrendem Magen passierte ich fünf Minuten später den Ortseingang von Lembach. Als ich in die Treidlergasse einbiegen wollte, raste nur wenige Meter vor mir etwas Schwarzes über die Straße. Von links nach rechts. Das konnte nur einer sein: Archimedes, der Kamikazehund von Manfred Keppler, meinem Vermieter. Ich bremste und legte gleichzeitig einen so zackigen Schlenker ein, dass die Chipstüte aus meiner Jackentasche herausrutschte und ihren Inhalt fontänengleich im Straßenstaub verteilte. Mein Abendessen.

Als ich bei einem Blick in den Rückspiegel sah, wie sich der schnauzbärtige Flohtransporter auf die Chips stürzte, hätte ich am liebsten gewendet und ihn gehörig zusammengepfiffen. Allerdings wäre das ebenso sinnlos gewesen wie eine Auseinandersetzung mit seinem Herrchen. Archimedes und Manfred Keppler passten zusammen wie Zwiebeln und Mettbrötchen: Beide hatten in ihrem Leben schon eine Menge Haare verloren, beide wühlten gerne im Garten herum, und beide ließen sich nichts sagen.

Wie so oft lungerte Keppler in seinem Vorgarten herum und behielt sein Umfeld scharf im Blick. In einem Dorf wie Lembach passierten ständig die spektakulärsten Dinge: Da kreuzten Füchse die Straße, da wehten Blätter im Abendwind, und wenn man einmal ganz viel Glück hatte, warf irgendein Halbstarker eine Coladose aus dem offenen Autofenster.

Unter den Spähblicken meines Vermieters, die er sich im Laufe seines Lehrerlebens antrainiert haben musste, stellte ich mein Motorrad vor der Garage ab. Bestimmt könnte ich später noch eine Gute-Nacht-Tour unternehmen. Ansonsten waren die Alternativen auf dem Lande dünn gesät. Aber was konnte man schon von einem Dorf erwarten, das den regionalen Kreisentscheid im Leistungspflügen ausrichtete und als Höhepunkt des Jahres ein Traktorrennen nebst After-Race-Party organisierte?

Am Straßenrand hielt gerade ein klappriger Renault. Vermutlich einer von Kepplers Bekannten aus dem Schützenverein. Oder, was bei der im Innenraum maultrommelnden Heimatmusik noch wahrscheinlicher war, ein Gesangskollege von den »Lembacher Silberkehlchen«. Nicht nur die Musik, allein schon der Name war eine akustische Zumutung. Warum sich diese Sängerknaben nicht »Iron Power Voices«, »Lords of Lembach« oder wenigstens »Rage against the Milk Price« nannten, würde ich nie verstehen.

Der Fahrer kurbelte sein Fenster herunter. Wie ich mit einem Seitenblick bemerkte, bestand er fast ausschließlich aus Augenbrauen, die wie graues Dornengestrüpp über sein oberes Gesichtsdrittel wucherten. Er deutete auf einen Lieferwagen, der vor Kepplers Haus parkte.

»Tach, Manni. Hast du dir einen neuen Transporter gekauft?«

»Wo denkst du hin? Das Ding ist doch voller Dreck!«

Der Angesprochene stutzte. Sein Blick wanderte über das glänzend weiße Gefährt, blieb an dem Trierer Kennzeichen hängen, und er begann schallend zu lachen. »TR-EK. Da ist Dreck am Auto! Da muss man erst mal draufkommen!«

Keppler kraulte sich am Kinn. Das Lob über den Scherz erfüllte ihn sichtlich mit Stolz. Bevor mir dieses selbstgefällige Kraulen noch den Magensaft in die Speiseröhre trieb, schnappte ich mir meinen Motorradhelm und stapfte Richtung Haus. Auch der Renault-Fahrer machte sich wieder auf den Weg. Da mir trotz aller Abneigung immer noch die gute Kinderstube in den Knochen steckte, grüßte ich meinen Vermieter mit sachlichem Anzeigenberaterlächeln.

»Rrrrh-pff«, grunzte dieser bloß.

Ich runzelte die Stirn. »Ihr Hund ist abgehauen. Er wäre mir fast vor die Räder gelaufen.«

Keppler kniff seine Augen zu winzig kleinen Schlitzen zusammen. »Herr Ziesel, Sie sollen hier ja auch nicht herumrasen, als wären Sie auf dem Nürburgring.«

Wieder begannen meine Zehen unwillig zu zucken. »Ich war ganz normal auf der Hauptstraße unterwegs.«

»Wir befinden uns innerhalb einer geschlossenen Ortschaft, falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten.«

»Sie können froh sein, dass mein Motorrad ABS hat.«

»Sollten Sie Archimedes jemals ein Haar krümmen, ist Ihr Lotterleben in diesem Haus schneller vorbei, als Sie bremsen können. Übrigens, Ihr Müll verpestet schon wieder den Flur!«

Typisch Keppler. Ganz Lembach stank nach ungefilterter Landluft, und dieser Kleingeist regte sich über einen Müllbeutel vor der Wohnung auf! Kommentarlos warf ich die Haustür ins Schloss. Im Erdgeschoss dünstete Kepplers Gummi-Fußmatte wie immer einen lieblichen Duft nach Desinfektionsspray aus. Der erste Stock roch tatsächlich etwas muffig, aber wen störte das schon? Ich hatte Wochenende.

Raus aus dem Streifenhemd, in das ich mich extra wegen Juliane gezwängt hatte, rein in ein ordentliches Freizeit-Outfit. Wenn ich denn noch eins hätte. Auf meinem von Motorradzeitschriften und Socken belagerten Sofa lag ein graues T-Shirt, das zwar optisch ganz passabel aussah, aber nach einer wenig überzeugenden Komposition aus Frittenfett und Schweiß mit einem Hauch von schalem Bier roch. In meinem Schrank herrschte, abgesehen von drei Bürohemden und einem ziemlich eigenwilligen Geschenk von Mats und Gerd, gähnende Leere. Not oder Elend? Ich streifte mir nach kurzem Überlegen das bisher ungetragene Geburtstagspräsent über: ein rosa T-Shirt, auf dem ein betrunkenes Einhorn über einen Regenbogen torkelte. Meine Superman-Boxershorts rundeten das Outfit in vollendeter Disharmonie ab.

Wenig begeistert sah ich an mir hinunter. Selbst in meinen Zeiten als Schlapptüte hatte ich eine bessere Figur abgegeben! Die Angelegenheit ließ sich nicht schönreden, es war Zeit zu handeln. In meiner Waschmaschine lagerte noch eine Ladung Wäsche, die ich gestern erst hatte laufen lassen. Ich steckte meine Nase in die Trommel und atmete tief ein. Glück gehabt. Die Sachen rochen zwar nicht mehr taufrisch, aber auch nicht so muffig, dass ich die Maschine ein zweites Mal anstellen musste. Mangels eines Wäscheständers, der bei einer meiner letzten Balkonpartys zu Bruch gegangen war, hängte ich die nassen Sachen zum Trocknen auf meine fünfarmige Stehlampe. Fertig.

Mit dem guten Gefühl, endlich mal wieder etwas Richtiges geschafft zu haben, riss ich den Kühlschrank auf. Die Salami war verschimmelt, der Käse steinhart, und auf Salsa-Dip pur hatte ich keine Lust. Ich ließ mich auf die Couch fallen und griff nach dem Notebook. Biker-Forum statt Fernseh-Wüste. Wenigstens hatte mein Abendprogramm Stil. Als ich mir gerade einen Beitrag über die Stuttgarter Motorradmesse durchlesen wollte, öffnete sich auf meinem Bildschirm ein blaues Textfeld mit einer Privatnachricht.

»Hallo Knieschleifer. Habe gesehen, dass du online bist. Lust zu quatschen?«

Der Nickname des Absenders, Motorradbraut26, sagte mir nichts, und auf Benzingespräche mit Fremden stand ich nicht besonders. Andererseits klang der Name eindeutig weiblich, und wenn sich die angegebene Zahl nicht auf ihre Exliebhaber, sondern das Alter bezog, war ich durchaus interessiert.

»Wer bist du denn?«

Ich klickte auf ihr Profil, das zwar außer dem Namen keine persönlichen Angaben enthielt, aber immerhin ein Foto. Die Motorradbraut war ansehnlich. Sie hatte lange Haare in einem Schwarzton, der mich an die satte Farbe von Motoröl kurz vor dem Ölwechsel erinnerte. Ihre dunkel umrandeten Augen waren mir etwas zu katzenhaft und die Brauen etwas zu rechtwinklig, aber dafür gefiel mir ihr Lächeln, das aussah, als hätte sie gerade einen anzüglichen Witz gemacht.

»Ich heiße Mariella. Und du?«

»Florian. Bist du schon länger in diesem Forum?«

»Nein, das ist heute mein erstes Mal.«

»Na, dann herzlich willkommen.«

Es dauerte ein paar Minuten, dann schrieb Mariella wieder.

»Ich habe dein Profil gesehen. Tolles Foto.«

»Danke.«

Das Kompliment freute mich zwar, aber viel konnte sie auf dem Porträt, das mich mitsamt Motorradhelm zeigte, nicht erkannt haben. Trotz des offenen Visiers sah man weder meine kokosnussbraune Out-of-bed-Frisur noch die ziemlich verwegene Stirnnarbe, die ich mir mit drei Jahren bei einem Sturz vom Laufrad zugezogen hatte. Dafür kam meine etwas zu repräsentativ geratene Nase ganz gut zur Geltung.

»Knieschleifer, du hast ein ziemlich großes Gerät, oder?«

»85 PS, 1597 ccm. Und du?«

»Bin noch auf der Suche. Vielleicht kannst du mir ja weiterhelfen?«

»Aaaarrrrh!« Mit einem Aufschrei krachte ich auf mein Sofa. Allerdings hatte mich nicht Mariellas Nachricht umgehauen, sondern meine als Wäscheständer missbrauchte Stehlampe, deren Statik offenbar nicht optimal an die Zusatzlast von zwei klatschnassen Jeans und vier T-Shirts angepasst war.

Fluchend rappelte ich mich hoch. Wie mir zwei hämmernde Stellen an meinem Hinterkopf offenbarten, hatten mich die beiden vorderen Messingschirme der Lampe genau erwischt. Vorsichtig berührte ich meinen Brummschädel, um das Ausmaß des Einschlags zu ermitteln. Zwei winzige Kratzer, die bluteten, als wollten sie den Folgen eines Kettensägen-Massakers Konkurrenz machen. Ich wischte mir die verschmierten Finger an meinem T-Shirt ab, das optisch sowieso nicht mehr zu retten war, dann wickelte ich mir zum Kühlen ein nasses Handtuch um den Kopf und setzte mich wieder auf die Couch. Das bisschen Blut konnte einen Mann von meinem Format nicht aus der Ruhe bringen.

»Bist du noch da, Knieschleifer?«

»Ja, hier bei der Arbeit. Nach was suchst du denn genau?«

Noch während ich überlegte, ob Mariella wohl eher der Typ für eine Honda oder eine Yamaha war, klingelte mein Handy. Mats war am Apparat. Die Verbindung war ziemlich schlecht, im Hintergrund rauschte und knackste es immer wieder. Es klang, als sei er gerade mit dem Auto unterwegs.

»Hallo Flori, lange nicht gehört. Wo bist du denn so plötzlich hin?«

»Weg halt.«

»Ist alles okay?«

»Ja, ja, alles senkrecht.«

»Falls es wegen Sandys Wurst war«, sagte Mats und räusperte sich, »das hätte vielleicht echt nicht unbedingt sein müssen.« Sieh an. Die Erkenntnis kam spät, aber sie kam. Ich ahnte, dass ihm dieses Statement schwergefallen war.

»Schon okay.« Mein Tagesbedarf an sinnlosen Streitereien war gedeckt. Außerdem blieb ich grundsätzlich nie lange wütend, weil mir das viel zu mühsam war. Auch Mats ging zur Tagesordnung über. »Sollen wir noch ein Bier trinken gehen? Die Grillparty ist nämlich schon vorbei.«

»Geht nicht, mir brummt der Schädel.«

»Du hast doch heute gar nichts getrunken.«

»Blöde Geschichte. Weißt du was? Komm doch einfach bei mir zu Hause …«, sagte ich, da knackste es noch einmal ganz laut, und die Verbindung war weg. Wahrscheinlich ein Funkloch.

Ich wandte mich wieder der Motorradbraut zu, die soeben geantwortet hatte. »Bin ziemlich offen. Hauptsache, keine Schlaftablette.«

»Und sonst? PS sind ja nicht alles!«

Diese Kaufanfänger. Keinen Plan von nichts, aber ein schnelles Motorrad fahren wollen. Eigentlich hatte ich gedacht, dass Frauen anders ticken. Mariellas Antwort ließ ein paar Minuten auf sich warten. »Stimmt. Gerne groß und muskulös, aber klein und drahtig finde ich auch super. Wie siehst du denn aus, Süßer?«

Ich kratzte mich verdattert an der Stirn, auf der sich zu meinem Leidwesen ein krustiges Blutrinnsal gebildet hatte und antwortete genau das, was mir durch den Kopf schoss.

»???«

Während ich die Nachrichten noch einmal las, um den tieferen Sinn von Mariellas Botschaft zu ergründen, klingelte es an der Tür. Das musste Mats sein, der bei seinem Anruf wahrscheinlich schon ganz in der Nähe gewesen war. Ich drückte auf den Summer, öffnete die Wohnungstür und tappte, so schnell es mein Brummschädel zuließ, wieder an mein Notebook zurück. »Klick mal auf den Link!«, stand auf dem Bildschirm. Mariella-live.de. Ihre private Homepage. Die Seite brauchte ewig, um sich aufzubauen.

»Komm rein!«, rief ich, als ich Schritte im Treppenhaus hörte.

»Hallo?« Eine unbekannte Stimme. Eine weibliche Stimme. In meinem Wohnungsflur. Ich fuhr von meinem Sofa hoch, als hätte ich irrtümlich auf einer glühenden Sitzheizung Platz genommen. Und da stand sie.

Eine Frau, so schön wie ein Model für den Pirelli-Kalender. Anstatt irgendetwas Sinnvolles zu sagen, starrte ich sie mit offenem Mund an. Ihre anthrazitgrauen Augen faszinierten mich vom ersten Moment an, ohne dass ich im Entferntesten hätte sagen können, warum. In ihrem Spaghetti-Top, den Jeansshorts und den Flip-Flops sah sie aus, als käme sie gerade vom Strand – wäre da nicht dieser starre und seltsam verzerrte Ausdruck um ihre Mundwinkel herum.

Plick. Meine rechte Kontaktlinse landete auf dem Boden. Das passierte mir immer, wenn ich vor lauter Schauen vergaß, meine Augen zu schließen.

»Hallo, ich – wollte mich – ich hätte eine – ich bin die, äh …«, stotterte meine Besucherin, während ich einäugig auf dem Fußboden herumrutschte. Ich spürte, wie ich vom Hals über die Wangen bis hin zu meiner blutverkrusteten Stirn rot anlief. Was für eine Glanzleistung! Da kreuzte die mit Abstand attraktivste Frau, die Lembach je gesehen hatte, bei mir zu Hause auf, und was bekam sie zu sehen? Ein verwüstetes Wohnzimmer, dominiert von einem muffigen Wäscheberg, und einen Mann mit Turban, der aussah wie ein Zombie im Blutrausch.

Immerhin fand ich meine Kontaktlinse, bevor ich sie zu Glasbrei zerstampft hatte. Ich schnellte wieder in die Senkrechte und wischte mir mit dem Handrücken die Blutreste von der Stirn, was die Situation jedoch nicht nachhaltig verbesserte, da ich leider immer noch nichts zu sagen wusste. Und die unbekannte Besucherin beschränkte sich darauf, ihren Blick über das Chaos in meiner Wohnung schweifen zu lassen. Hätte ich eine Wanduhr, würde sie jetzt bestimmt ganz besonders laut ticken.

»Sie haben da – ich komme wohl etwas ungelegen.« Das Pirelli-Model sah Richtung Tür, als wollte sie sich vergewissern, ob der Fluchtweg frei war. Endlich fand ich meine Sprache wieder. »Nein, alles in Ordnung, ich hatte nur einen, einen kleinen Unfall. Kommen Sie doch rein.« Meine Besucherin blieb wie angeklebt im Türrahmen stehen. Ich schob mit einem Bein die nasse Wäsche auf dem Teppich beiseite, sodass zumindest der Weg zum Sofa geräumt war. »Tut mir leid, es ist etwas unordentlich. Setzen Sie sich doch.«

Sie räusperte sich. »Ich komme lieber ein andermal wieder.«

Nein. So schnell würde ich sie nicht ziehen lassen. »Warten Sie einen Moment, ich werfe mir ganz schnell etwas anderes über.« Ohne eine Antwort abzuwarten, hastete ich ins Bad. Besser ein verschwitztes Bürohemd als ein blutiger Regenbogen. Während ich meine Kontaktlinse säuberte und mich umzog, hörte ich ein sanftes Flip-Floppen aus dem Wohnzimmer. Offenbar traute sich mein Gast nun doch näher. Als ich mir gerade den Turban vom Kopf gewickelt hatte, um eine Baseballkappe aufzusetzen, bewegten sich die Schritte allerdings wieder eilig Richtung Ausgang. »Tut mir leid, ich muss jetzt doch weg«, rief sie, dann knallte die Wohnungstür. Die unbekannte Besucherin war fort. Vor dem Haus wurde ein Auto angelassen. Ich stürzte zum Fenster, sah gerade noch einen Transporter um die Ecke biegen und ließ mich mit einem Frustseufzer auf die Couch fallen.

Mein Blick fiel auf das Notebook. Mariellas Homepage hatte sich inzwischen geöffnet. Im Mittelpunkt des Bildschirms: Brustbilder. Alle paar Sekunden ein neues. Mariellas Brust von vorne, von der Seite, im Dämmerlicht und in Schwarz-Weiß. Darüber der pinke Titel: »Call Mariella!« Darunter eine 0190er-Nummer. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich diese Schlange anrufen und gehörig zusammenstauchen sollte. Aus finanzieller Sicht schien das jedoch nicht die Ideallösung zu sein.

Zwei Dokusoaps später fühlte ich mich zumindest körperlich besser. Die Blutung hatte aufgehört, mein Kopf pochte nur noch sanft vor sich hin. Ich beschloss, mein Motorrad bettfertig zu machen, da ich eine Feierabendtour mit Kopfverletzung sowieso vergessen konnte. Das verschleimte Räuspern meines Vermieters begrüßte mich auf der Straße. Zwischen seinen Beinen sprang jetzt auch der Schnauzer wieder herum.

»Da ist ja der Ausreißer«, sagte ich.

»Haben Sie Ihren Müll weggeräumt?«

»Selbstverständlich.«

»Und das Treppenhaus?«

»Das Treppenhaus?«

»Sie sind diese Woche mit Putzen dran.«

»Ist so gut wie erledigt.«

Keppler stapfte am Haus vorbei zu den Mülltonnen. Was nun? Sollte ich ihn fragen? Ich zögerte. Andererseits: Was hatte ich schon zu verlieren? Meine Würde hatte ich längst unter dem blutigen Regenbogen-Shirt verloren. Ich gab mir einen Ruck. »Sagen Sie, haben Sie heute Abend zufällig jemand Fremdes hier in der Straße gesehen? Eine junge Frau?«

Mein Vermieter drehte sich um und sah mich mit gerunzelter Stirn an. »Was denn für eine Frau?«

»Ach, nicht so wichtig.« Keppler war bestimmt der Letzte, dem ich von der soeben erlebten Schmach erzählen wollte.

»Oder meinen Sie die neue Mieterin?«

Ich schluckte. Es gab eine neue Mieterin? Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass der Philosophie-Student aus der Dachwohnung ausgezogen war. Dieser verschrobene Einsiedler hatte sich ja nie blicken lassen.

»Es zieht jemand Neues oben ein?«, fragte ich.

»Ja. Jemand mit Niveau. Nicht so ein Hallodri wie Sie.«

Ich lehnte mich an die Garagentür, weil mir plötzlich schwindelig wurde. So musste sich ein Rennfahrer bei der Motorrad-WM fühlen, dem kurz vor der Zielkurve der Sprit ausging. Das wäre es gewesen. Eine Superfrau, ein Stockwerk, eine Riesenchance. Und ich hatte es verbockt.

Kapitel 3

Fünf Tage waren seit unserer denkwürdigen Begegnung vergangen. Die neue Mieterin hatte sich nicht mehr blicken lassen. Lustlos saß ich an meinem Arbeitsplatz in der Anzeigenabteilung des Kölner Blatts und fuhr den Computer hoch.

Mein Rechner und ich, wir waren uns sehr ähnlich. Wenn wir zu viele Aufgaben gleichzeitig erledigen mussten, wurden wir unheimlich langsam. Im Anschluss daran stürzten wir auch gerne mal ab. Und wir brauchten beide ewig, um nach der nächtlichen Ruhephase wieder hochzufahren.

Heute war ich besonders müde, da ich letzte Nacht viel zu lange über die Pirelli-Frau nachgedacht hatte. Noch zwei Minuten bis zum Geschäftsbeginn, und ich schüttete bereits den dritten Espresso in mich hinein. Während ich ohne große Hoffnung darauf wartete, dass mich die Wirkung des Koffeins in ein energiegeladenes Arbeitstier verwandelte, betrachtete ich mein neues Hintergrundbild.

Ein Foto von mir, Gerd und Mats, wie wir im Biergarten des Rostigen Berts auf den gefühlten Frühlingsbeginn anstießen. Mit unseren Sonnenbrillen sahen wir alle drei ziemlich lässig aus. Ich hatte extra meine Out-of-bed-Frisur in Form gestrubbelt und schaute links an der Kamera vorbei, um meine Stirnnarbe in Szene zu setzen. Gerd glänzte wegen einer Extraportion Sonnencreme, als hätte er ein Butterfass ausgeleckt. Mats, der seine Haare aufgrund mikroskopisch wahrnehmbarer Geheimratsecken kahl rasiert hatte, trug wie so oft ein Muskelshirt und präsentierte sein Stier-Tattoo am angespannten Oberarm. Ein tolles Bild.

Ich hielt große Stücke auf Gerd und Mats. Sie waren nicht nur wunderbare Kumpels, sondern auch gute Kollegen. Gerd arbeitete in der Redaktion, Mats in der Grafikabteilung. Wir verbrachten fast jede Mittagspause miteinander. Dieses Foto würde ich mir zukünftig sicher oft ansehen, wenn es um mich herum mal wieder stressig wurde.

Wie wohl der PC-Bildschirm der neuen Mieterin aussah? Horrorszenarien wie Delfine im Abendrot oder Katzenbabys mit Wollknäueln erwartete ich bei ihr nicht. Spontan würde ich sagen, sie wäre der Typ für eine Strandlandschaft oder ein Caipirinha-Stillleben. Eine mallorquinische Serpentinenstraße wäre mein persönlicher Favorit. Eigentlich hätte ich Desktop-Psychologe werden müssen. Ein Blick auf den Bildschirm zweier Menschen, und ich wusste genau, ob diese zueinander passten oder nicht. Die Beziehung zwischen Mats und Steffi aus der Buchhaltung zum Beispiel. Auf ihrem Monitor ein Gemälde mit zwei herumlungernden Engeln, auf seinem die Explosion des Todessterns aus Star Wars – war doch klar, dass das nicht gut gehen konnte.

Die Ankunft einer Kundin riss mich aus meinen Gedanken. Eine schätzungsweise siebzigjährige Dame mit silbriggrauem Haar und ebensolcher Weste sah sich einen Moment lang suchend um und marschierte dann so zackig durch den Raum, als nähme sie an einem Walking-Wettbewerb für Senioren teil, bei dem ausgerechnet mein Service Counter die Ziellinie markierte. Rechts und links ihrer Gesundheitsschuhe rollten zwei beige Kleinhunde mit Kugelaugen und ebensolchem Bauch herein. Möpse. Auch das noch. Auf den ersten Blick war mir klar, dass die Silberlady eine Kundin der Kategorie drei bis vier war, was entsprechend der sechsstufigen Hurrikan-Skala für »anstrengend« bis »sehr anstrengend« stand. Schon seit Jahren wollte ich mit Kollege Bernd ein Alarmsystem einführen, damit wir uns gegenseitig vor solchen Kunden warnen und rechtzeitig zum Schreddern in den Kopierraum verschwinden könnten, aber leider fürchtete er das Kontrollauge unseres Chefs.

So gab es für mich kein Entrinnen. Bernd hatte einen Kunden, Christiane lächelte auffordernd einem Anzugträger entgegen, und Kai, der schmierlockige Abteilungsstreber, telefonierte wild gestikulierend, als befände er sich unmittelbar vor dem Aktienverkauf seines Lebens. Beherzt trat ich die Flucht nach vorne an.

»Guten Tag, Ziesel mein Name. Was kann ich für Sie tun?«

»Langstätten. Ich möchte eine Anzeige im Tiermarkt aufgeben. Belinda hat geworfen.« Ich sah auf die beigen Kleinhunde und schluckte. Meine Müdigkeit war plötzlich wie weggeblasen. Gab die Silberlady womöglich gleich den Anzeigentext des Jahres auf? Die Chancen standen denkbar günstig. Derzeit wurde meine heimliche Hitliste der Absurditäten angeführt von: »Erfahrener Deckhengst sucht neuen Wirkungskreis.« Jetzt aber lag ein Spruch förmlich in der Luft, der alle anderen toppen würde: »Verkaufe meine Möpse, abzugeben in liebevolle Hände.«

Ich starrte die Kundin gebannt an und biss mir auf die Unterlippe, während mir vor lauter Vorfreude Tränen in die Augen schossen. Aber nichts passierte. Schließlich gab ich mir einen Tritt. »Haben Sie einen Text vorbereitet?« Frau Langstätten sah mich entrüstet an. »Wie? Ich dachte, das erledigen Sie!« Ich seufzte innerlich. Aus der Traum. Meine Hitliste würde ohne Verkaufsmöpse auskommen müssen. »Ich kann Ihnen gerne ein paar Vorschläge machen. Ganz klassisch wäre zum Beispiel: Verkaufe Mopswelpen. Und die Telefonnummer.« Die Kundin klimperte aufgeregt mit ihren silbrig geschminkten Augen. »Aber das sind doch nicht einfach irgendwelche Mopswelpen. Die Mutter ist Belinda von den Goldgrafen, und Rodolfo von der Kaiserburg war der Deckrüde.«

»Ach.«

»Ein Multichampion!«

Ich unterdrückte ein Schnauben. Mein kerniges Männer-Ich hätte dieser Silberschachtel am liebsten gesagt, dass sie den Text zu Hause selbst ausformulieren sollte. Mit zwölf Monatsraten für das Motorrad im Nacken war das natürlich keine Option. Während mir ein adeliger Urahn nach dem anderen aufgezählt wurde, schweiften meine Gedanken ab.

»… und diese milanesische Edelzucht ist weltberühmt. Sicher haben Sie auch schon davon gehört.« Der erwartungsvolle Blick der Seniorin holte mich zurück in die Gegenwart. »Das ist nicht so mein Spezialgebiet«, presste ich hervor und überlegte, wie ich die Kundin loswerden könnte. Dieses Elend musste ein Ende haben. »Wenn Sie mich einen Moment entschuldigen würden.« Ich stand auf und flüsterte Christiane zu, dass die Kundin ihre Möpse verkaufen wollte, was eindeutig in das Aufgabengebiet einer Frau fallen würde.

Sekunden später ließ ich mir im Waschraum kaltes Wasser über die Hände laufen und fragte mich wieder einmal, warum ich bloß nach der zwölften Klasse mit einem desaströsen Zeugnis von der Schule abgegangen war. Ich hätte besser noch ein Jahr durchgehalten, mein Abitur gemacht und Fahrzeugtechnik studiert. Dummer Fehler. Stattdessen musste ich mich mit Verkäufern, Jobsuchern, Heiratswilligen und Tierliebhabern herumschlagen.

Ob die neue Mieterin einen erfreulicheren Beruf hatte? Nach einem langweiligen Bürojob hatte sie ganz und gar nicht ausgesehen. Rein optisch gesehen könnte sie ganz klar ein Model sein. Oder sie war Geschäftsfrau und plante die Neueröffnung einer Cocktailkneipe. Vielleicht war sie auch Krankenschwester oder Flugbegleiterin.

Als ich nach einer Viertelstunde mit verschrumpelten Fingern in den Servicebereich zurückkehrte, war Frau Langstätten verschwunden, aber der akute Mitarbeiterbedarf gewachsen.