Hegel, der Mensch und die Geschichte - Georges Bataille - E-Book

Hegel, der Mensch und die Geschichte E-Book

Georges Bataille

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Beschreibung

Georges Batailles hier erstmals auf Deutsch vorliegende Essays zu Hegel sind nur der sichtbare Teil einer lebenslangen, oft unterschwelligen Beschäftigung mit dessen Philosophie. Es sind Bruchstücke eines ununterbrochenen Dialogs, denn Hegel war einer von Batailles ständigen philosophischen Wegbegleitern, ohne den sich sein Denken nur bedingt verstehen lässt. Noch ein Jahr vor seinem Tod schreibt er an Alexandre Kojève, dass er etwas der Introduction à la lecture de Hegel Vergleichbares schaffen möchte, "aber das müsste unendlich willkürlicher sein und hauptsächlich auf dem Bestreben beruhen, das zu interpretieren, was Hegel nicht gewusst oder unbeachtet gelassen hat (so die Vorgeschichte, die Gegenwart, die Zukunft etc.)."

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Georges Bataille

Hegel, der Menschund die Geschichte

Die Hegel-Essays, herausgegeben, übersetztund mit einem Nachwort von Rita Bischof

Fröhliche Wissenschaft 113

Inhaltsverzeichnis

Kritik der Grundlagen der Hegel’schen Dialektik

Hegel, der Tod und das Opfer

Hegel, der Mensch und die Geschichte

Rita Bischof

Negativität und Anerkennung.Hegel, Kojève, Bataille und das Ende der Geschichte

Anmerkungen

Kritik der Grundlagen der Hegel’schen Dialektik1

Die marxistische Auffassung der Dialektik ist oft angefochten worden. Zuletzt hat Max Eastman sie als eine Form des religiösen Denkens charakterisiert. Allerdings war die marxistische Dialektik bislang immer nur Gegenstand einer negativen Kritik2, und jene, die sie kritisierten, haben sich wie simple Abrissarbeiter aufgeführt. Sie wollten nicht sehen, dass sie einem Körper das Blut entziehen, wenn sie der Ideologie des Proletariats die dialektische Methode nehmen, und sie gingen darüber hinweg, weil die Hegel’sche Philosophie, unter welcher Form auch immer, mit ihren gewöhnlichen Vorstellungen nicht zu vereinbaren ist. Daher wurde die marxistische Dialektik im Allgemeinen auf dieselbe Weise behandelt wie auch die Hegel’sche Dialektik, nämlich mit Widerwillen zurückgewiesen.

Mit Nicolai Hartmann3, bei dem man die Elemente einer wirklichen positiven Kritik finden kann, beginnt jedoch eine neue Weise, die Hegel’sche Dialektik zu verstehen. Die Hinweise, die von diesem deutschen Professor in einem Artikel der Revue de métaphysique et de morale4 gegeben werden, sprechen für sich: Sie drücken in kurzer Form eine Richtung aus, die unseres Erachtens von größtem Interesse für marxistische Studien ist. N. Hartmann hat es sich zur Aufgabe gemacht, nacheinander die verschiedenen, in der Hegel’schen Philosophie entfalteten dialektischen Themen zu untersuchen und sie sowohl hinsichtlich ihrer Grundlage als auch ihrer Form zu vergleichen. Er unterscheidet zwischen solchen, die in der Wirklichkeit begründet und durch Erfahrung gerechtfertigt sind, und anderen, die nur eine rhetorische Bedeutung besitzen. Als Beispiel der Letzteren führt er das berühmte Thema von Sein und Nichtsein an. »Im Laufe einer solchen Untersuchung«, sagt Hartmann, »setzt sich die Hegel’sche Logik auf schwerwiegende Weise dem Verdacht aus, im Wesentlichen nur in einer Dialektik zu bestehen, die in keiner Realität begründet ist. Das gilt noch viel mehr«, fügt er hinzu, »für die Naturphilosophie (eine Evidenz, die in diesem Bereich allerdings nicht neu ist und die man bereits von ihren Ergebnissen her kennt).«5

Der grundlegende Unterschied zwischen der Kritik Hartmanns und der marxistischen Kritik manifestiert sich von Anfang an. Für Marx und Engels ist die Dialektik immer noch das allgemeine Gesetz einer fundamentalen Wirklichkeit, wie sie es bereits für Hegel war. Zwar haben sie die Logik durch die Natur oder die Materie ersetzt, doch darum ist für sie das Universum als Ganzes nicht weniger der antithetischen Entwicklung ausgeliefert. Für Hartmann handelt es sich dagegen nur noch darum, den Wert dialektischer Überlegungen an besonderen Fällen zu erweisen. Nicht nur bleibt die Universalität außer Betracht, auch die Natur wird, mehr als jedes andere Element, von Anfang an als ein verbotener Bereich angesehen. Die dialektischen, von Hartmann gerechtfertigten Themen sind weder der Logik noch der Naturphilosophie entlehnt, sondern entstammen der Rechtsphilosophie, der Philosophie der Geschichte und der Phänomenologie des Geistes. Das erste Beispiel, das er anführt, um seine Auffassung zu begründen, hat nichts mit dem Gerstenkorn oder der Bestellung des Bodens zu tun, sondern ist der Klassenkampf und damit das Hegel’sche Thema von »Herr und Knecht«. Es ist also eine marxistische Erfahrung, auf die sich ein moderner Philosoph, der die Dialektik in der Wirklichkeit zu begründen sucht, unmittelbar bezieht.6

Man muss übrigens anerkennen, dass Marx und Engels selber die Notwendigkeit einer ähnlichen Arbeit, wie sie Hartmann in unseren Tagen unternommen hat, verspürt haben – wenn auch nur in ihrem elementaren Prinzip. Dass sie einen anderen Untersuchungsbereich als Hartmann wählten und den Ehrgeiz hatten, den dialektischen Vorstellungen den Charakter allgemeiner Naturgesetze zu geben, steht zwar nicht in Widerspruch zu der Tatsache, dass Engels versuchte, diesen Gesetzen in einer langen Studie über die Naturwissenschaften einen Erfahrungswert zu geben. Aber wir können nicht umhin, von Anfang an zwischen dem von Hartmann a posteriori zugelassenen Bereich und demjenigen zu unterscheiden, den sich Engels a priori vorgenommen hat. Hartmann hat methodisch zu erkennen versucht, welche der dialektischen Themen als Ausdruck gelebter Erfahrung verstanden werden können, während Engels es sich zur Pflicht machte, diese Gesetze in der Natur zu finden, das heißt in einem Bereich, der auf den ersten Blick jeder vernünftigen Auffassung einer antithetischen Entwicklung verschlossen scheint.

Hartmanns indifferente Haltung hinsichtlich der Naturphilosophie entspricht der aller Vertreter der Naturwissenschaften seit Hegel. Diesen Letzteren musste eine dialektische Konstruktion der von ihnen untersuchten Beziehungen als unvereinbar mit der Wissenschaft erscheinen: Die Wissenschaft sollte so weit wie möglich ohne die Intervention eines Elements auskommen, das ihr so fremd wie der systematische Widerspruch ist, und es zeigte sich, dass sie tatsächlich mühelos ohne ein solches Element auskam. Der Einwand gegen die Einführung der Dialektik drängte sich den Gelehrten mit solcher Notwendigkeit auf, dass sie ihn nicht einmal mehr formulieren mussten.

Nicht nur zeigt die Geschichte aller modernen wissenschaftlichen Untersuchungen, wie wenig Möglichkeiten die Natur der Dialektik bietet: Hegel hat selbst als Erster herausgestellt, dass die Natur gerade durch ihre Ohnmacht, den Begriff zu realisieren, der Philosophie Grenzen setze.7 Der Philosophie, das heißt: der dialektischen Konstruktion des Werdens der Dinge. Für ihn ist die Natur der [Ab-]Sturz der Idee, eine Negation, das heißt, gleichzeitig eine Revolte und ein Nichtsinn.

Selbst wenn er von seinen idealistischen Vorurteilen abstrahiert hätte, wäre Hegel nichts unvernünftiger erschienen, als die Gründe für die Objektivität der dialektischen Gesetze in der Natur zu suchen. Dieser Versuch kann de facto nur dazu führen, die dialektische Konstruktion auf ihren schwächsten Teil zu stützen, das heißt, zum Paradox des Kolosses auf tönernen Füßen. Gerade diejenigen Elemente, die bei Marx und Engels auf einmal zur methodischen Grundlage werden, haben der Anwendung der Methode den größten Widerstand entgegengesetzt, nicht nur per definitionem, sondern auch und vor allem in der Praxis: Wie groß auch die Mühe gewesen sein mag, die Hegel auf sich nahm, um die in der Naturphilosophie angetroffenen Schwierigkeiten zu lösen, dieser Teil seiner Arbeit hat ihn nicht zufriedengestellt. Selbst wenn man grundsätzlich anerkennt, dass Schwierigkeiten dieser Ordnung es nicht erlauben, Engels’ Versuch als an sich unhaltbar anzusehen, war sein Scheitern in den Prämissen bereits angelegt. Die Ersetzung der Logik durch die Natur ist nur die Charybdis als Scylla der nachhegelschen Philosophie.

Heute ist eine neue, auf der Erfahrung beruhende Rechtfertigung der Dialektik notwendig. Und wir werden sehen, aus welchem Grund ihre Ausführung nur auf dem eigentlichen Gebiet ihrer spezifischen Entwicklung, das heißt auf dem unmittelbaren Gebiet des Klassenkampfs, in der Erfahrung und nicht in den apriorischen Wolken universeller Auffassungen stattfinden kann.

Das Scheitern von Engels, der acht Jahre lang daran arbeitete, eine Dialektik der Natur vorzubereiten, und bis 1885 nur das zweite Vorwort zum Anti-Dühring8 zustande gebracht hatte, war bislang noch nicht Gegenstand von Untersuchungen, wie sie die beträchtliche Anstrengung des großen Pioniers der Revolution trotz allem verdient hätte. Viele Leute ziehen es vor, vom dialektischen Materialismus zu sprechen, als handele es sich um eine formulierte Doktrin und nicht um ein Projekt, das nicht verwirklicht wurde.9 Diese Fahrlässigkeit ist umso unangebrachter, als das Projekt weder aus Zeitmangel noch aus einem anderen, der Natur dieses Projekts äußerlichen Umstand aufgegeben wurde. Engels selbst hat sich zwar auf den Tod von Marx und die Notwendigkeit berufen, die unvollendet gebliebenen Werke seines Freundes abzuschließen. Dennoch hat er dieses zweite Vorwort geschrieben: In ihm hat er die Unzulänglichkeiten des Anti-Dühring in Bezug auf die Entwicklungen der Dialektik eingeräumt und die Dialektik in einer Weise definiert, die nur als Preisgabe seiner Ausgangsposition verstanden werden kann. Die ungeheure, die bewundernswerte Anstrengung von Engels, heute dank der Veröffentlichung durch Rjasanov bekannt, hat also doch ein Ergebnis erbracht: die Änderungen an der These des Anti-Dühring im zweiten Vorwort. Diese Zurücknahme genügt an sich selbst, um von der Tatsache Rechenschaft abzulegen, dass Engels eine Arbeit unvollendet ließ, der er, wie er selber sagte, acht Jahre lang den Großteil seiner Zeit gewidmet hatte.

Noch im Jahr 1881/82 hatte man in einer von Rjasanov10 veröffentlichten Anmerkung eine Bestätigung der dialektischen Auffassung in ihrer verräterischsten Form gefunden. Darin wird das »Gesetz« der Negation der Negation zwar als eines von drei wesentlich dialektischen Gesetzen der Naturgeschichte angeführt. Die anschließende Ausführung aber hört bereits bei der Umwandlung von Qualität in Quantität auf.11 Für die »Negation der Negation« selbst wird kein Beispiel angeführt, und in einem Exposé von 1885, das der Unzulänglichkeit des 1878 veröffentlichten Anti-Dühring abhelfen sollte, taucht sie gar nicht mehr auf.

Trotzdem könnte man sich leicht darüber verständigen, dass, wenn ein Teil des Anti-Dühring Kritik verdient, es der ist, der die Beispiele für die »Negation der Negation« enthält: die Geschichten von dem Gerstenkorn, dem Schmetterling und den geologischen Schichten. Die Unzulänglichkeit dieses Teils ist umso bedauernswerter, als ohne die »Negation der Negation« die Dialektik ihren praktischen Wert für das soziale Terrain verliert. Weit davon entfernt, auf diese brennende Frage zurückzukommen, hört Engels 1885 auf, in der »Negation der Negation« das »Wesentliche der dialektischen Auffassung der Natur« zu sehen. Daher soll hier der Übergang zum zweiten Vorwort vollständig zitiert werden: »Es sind aber gerade die als unversöhnlich und unlösbar vorgestellten polaren Gegensätze, die gewaltsam fixierten Grenzlinien und Klassenunterschiede, die der modernen theoretischen Naturwissenschaft ihren beschränkt metaphysischen Charakter geben. Die Erkenntnis, dass diese Gegensätze und Unterschiede in der Natur zwar vorkommen, aber dort nur eine relative Gültigkeit besitzen, dass dagegen jene vorgestellte Starrheit und absolute Gültigkeit erst durch unsre Reflexion in die Natur hineingetragen wird – diese Erkenntnis macht den Knotenpunkt12 der dialektischen Auffassung der Natur aus.«13

Diese Aussage bedeutet nichts Geringeres als den Verzicht auf die Hoffnung, in der Natur das allgemeine Gesetz begründen zu können, dessen besonderer Fall der Klassenkampf wäre.

In der Tat hat es keinen Sinn, und schon gar keinen praktischen, Fakten einander anzunähern, die so verschieden wie die Umwandlung von Energie in Wärme (oder jede andere Veränderung in der Natur) und der Klassenkampf sind. Der Klassenkampf, auf den wir uns nur als auf das wichtigste Beispiel beziehen, ist dadurch charakterisiert, dass 1. der positive Begriff des Kapitalismus notwendig den negativen Begriff des Proletariats einschließt; 2. die im Begriff des Proletariats implizierte Realisierung der Negation auf ihre Weise, aber mit gleicher Notwendigkeit die Negation der Negation einschließt (weshalb die Revolution sowohl einen negativen als auch einen positiven Sinn besitzt). Dieses elementare Schema kann durch andere Anwendungen verändert werden: Wie Hartmann herausstellt14, können die dialektischen Themen eine große Zahl höchst unterschiedlicher Formen annehmen, aber man kann die Veränderung zugestehen und sich trotzdem weigern, das Schema als identisches zu erkennen, wenn es unter einer so armseligen Form erscheint, dass es unmöglich ist, sich eine noch größere Verarmung vorzustellen. Wenn es sich nur darum handelt, die Verschiedenheit in der Identität oder die Identität in der Verschiedenheit zu erkennen, wenn es nur darum geht zuzugeben, dass das Unterschiedene nicht notwendig mit sich identisch bleibt, ist es zwecklos und sogar unvorsichtig, sich auf die Hegel’sche Dialektik zu berufen. Diese Dialektik gehört einer Richtung des Denkens an, deren »lange Versuchsgeschichte« nicht exakt diejenige ist, an die Engels dachte, als er den Ausdruck verwendete. Man muss den Dingen ins Auge sehen und zugeben, dass die Dialektik noch andere Vorläufer als Heraklit, Platon oder Fichte kennt. Noch deutlicher als an diese knüpft sie an Denkrichtungen wie die Gnosis und die neuplatonische Mystik sowie an Phantome wie Meister Eckart, den Kardinal Nikolaus von Kues oder Jakob Böhme an, und es ist kaum überraschend, dass das Denken dieser Phantome, so wie Hegel es aufgenommen und sich angeeignet hat, auf den Bereich der Naturwissenschaft nicht angewendet werden kann. Auch die Dialektik verkümmert und findet sich auf ihren elendsten Stand reduziert, wenn sie in einem Bereich herumstreunt, in dem sie sich nur als Schmarotzer behaupten kann. Doch andererseits ist dasselbe Denken, in seiner reichsten Form aufgefasst, das angemessene und allein angemessene Denken, wenn es darum geht, das Leben und die Umwälzungen der Gesellschaften darzustellen.

Um diese Angemessenheit zu bewahren, muss das dialektische Denken, welche religiösen Vorläufer es auch immer hatte, in seiner vollständigen Form aufgefasst werden. Dadurch, dass sich eine auf die Naturwissenschaften gestützte Begründung der Dialektik in verkümmerter Gestalt als unzureichend erwies, wurde der Weg frei für die analytische Arbeit auf der von Hartmann definierten Grundlage.

Bleibt das seltsamste Element von Engels Weltanschauung15, seine dialektische Auffassung der Mathematik16, die durch gewisse Seiten an den mathematischen Idealismus des Kusaners erinnert, den wir soeben als einen der mystischen Vorläufer der Hegel’schen Dialektik angeführt haben.

Engels ist zwar keines mathematischen Idealismus verdächtig, aber seine Auffassung darüber befremdet umso mehr, als sie sich nur in dem Maße vom mathematischen Idealismus entfernt, in dem sie die Mathematik mit der Natur gleichsetzt. Diese Verwirrung manifestiert sich im folgenden Absatz des zweiten Vorworts zum Anti-Dühring: »Es handelt sich bei meiner Rekapitulation der Mathematik und der Naturwissenschaften selbstredend darum«, sagt er, »mich auch im Einzelnen – woran im allgemeinen kein Zweifel für mich bestand – davon zu überzeugen, dass in der Natur17 dieselben dialektischen Bewegungsgesetze … sich durchgesetzt haben«.18 Andererseits führt er mathematische Beispiele für die Negation der Negation aus der Geschichte [geologischer Bewegungen] und der Geschichte der Eigentumsformen an.

Jedenfalls hatte Engels in der Mathematik so etwas wie einen privilegierten Bereich derjenigen Auffassungen erblickt, die er einführen wollte: In diesem Bereich kam der Dialektik nicht nur der legitimste, sondern auch der notwendigste Platz zu. Die Mathematik diente ihm als das überzeugendste Beispiel einer Wissenschaft, die das dialektische Stadium erreicht hat.

Umso wichtiger ist es, hier darauf hinzuweisen, dass diese Wissenschaft in ihrer Entwicklung konsequent alles verworfen hat, was eine solche Interpretation hätte begünstigen können. Was Engels als eine Vervollkommnung19 ansieht, wurde von den Mathematikern als Auswuchs betrachtet, als ein Übel, das es zu beseitigen galt.20 [Ursprünglich stützte sich die Infinitesimalrechnung tatsächlich auf widersprüchliche Begriffe, und die Beweise, auf die man stieß, waren in Engels’ Worten »vom Standpunkt der Elementarmathematik aus streng genommen falsch«.21 Während des ganzen 18. Jahrhunderts arbeitete man, ohne sich um die logischen Schwierigkeiten zu kümmern, die mit dem Gebrauch des unendlich Kleinen, des Grenzwerts, der Stetigkeit usw. verbunden waren. »Das bloße Beweisen tritt hier entschieden in den Hintergrund zugunsten der mannigfachen Anwendung der Methode auf neue Untersuchungsgebiete.«22 Aber dieser Satz, den Engels ins Präsens setzt, traf nur auf eine überwundene Etappe der Analysis zu. Vom Beginn des 19. Jahrhunderts an waren Mathematiker wie Gauß, Abel, Cauchy darauf bedacht, ihre Beweise in absoluter Strenge zu führen und von dieser Grundlage aus die Beweise ihrer Vorgänger zu revidieren. Ihre Nachfolger setzten diese klärende Arbeit fort und machten sich an die Prinzipien der Analysis: Der Grenzwert, die Stetigkeit, die Differenzierbarkeit, die Integrierbarkeit usw. wurden in einer Weise definiert, die jeden Widerspruch ausschloss, und 1886 hatte Jules Tannery die mathematische Aktivität eines ganzen Jahrhunderts zusammengefasst, als er schrieb: »Man kann die Analysis vollständig auf dem Begriff der ganzen Zahl und den Begriffen aufbauen, die sich auf die Addition ganzer Zahlen beziehen. Es ist zwecklos, an ein anderes Postulat, eine andere Gegebenheit aus Erfahrung zu appellieren; der Begriff des Unendlichen, aus dem man in der Mathematik kein Geheimnis machen sollte, reduziert sich auf Folgendes: Nach jeder ganzen Zahl kommt eine andere.«23 Dass Engels die neuesten Arbeiten der Wissenschaften seiner Zeit nicht gekannt hat, kann man ihm nicht vorwerfen, aber wenn er über die Differentialrechnung schreibt: »Dass dies Verhältnis zwischen zwei verschwundenen Größen, der fixierte Moment ihres Verschwindens, ein Widerspruch ist, erwähne ich nur nebenbei; es soll uns aber ebenso wenig stören, wie es die Mathematik insgesamt seit zweihundert Jahren gestört hat«24, sollte man auch daran erinnern, dass dieser Widerspruch die Wissenschaftler nicht nur gestört, sondern ganz entschieden schockiert hat; sie haben all ihre Anstrengungen darauf gerichtet, ihn zu beseitigen, und sie waren erfolgreich, es wäre unsinnig, das zu leugnen. Die Analysis tritt heute mit der gleichen logischen Strenge auf wie die Arithmetik und die Algebra. Zwar trifft zu, dass Engels sogar in der elementaren Mathematik Beispiele für die Negation der Negation oder das dialektische Denken entdeckte. Aber es kann nicht darum gehen, sie eins zu eins aufzugreifen; man kann sogar ganz allgemein sagen, dass alle diese Beispiele auf einer gewissen »realistischen« Weise, den mathematischen Symbolismus und die Sprache der Mathematik zu interpretieren, beruhen. Weil die »Kurve ersten Grades« die gerade Linie bezeichnet, glaubt Engels daraus auf die Identität von Gerade und Kurve schließen zu können; dabei ist es doch ganz klar, dass der Gebrauch dieses letzten Wortes nur eine sprachliche Konvention ist. Desgleichen bedeutet die Tatsache, dass eine Wurzel eine Potenz sein kann, nur, dass das Zeichen, welches das Ziehen einer Wurzel ausdrückt, bequem durch eine Zahl mit Exponenten ersetzt werden kann. Der mathematische Symbolismus kann, in die Alltagssprache überführt, leicht zu Widersprüchen führen; aber es sind sozusagen Widersprüche ohne Wirklichkeit, Pseudowidersprüche. Zitieren wir noch die veränderlichen Größen: »Absurde Widersprüche … wirklicher Unsinn«, hat Engels gesagt, »nur geordnete Paare wirklicher Zahlen« würde ein Mathematiker sagen.

Die Mathematik, die höhere oder nicht, hat sich in einer Weise entwickelt, die Engels’ Programm in jeder Hinsicht widersprochen und jeden Anschein einer Dialektik beseitigt hat. Strenge in den Beweisen, Widerspruchsfreiheit der Prinzipien, durchgängige Übereinstimmung mit der Logik: Dieses Ziel strebte sie an und hat es alles in allem auch erreicht. Man könnte natürlich einwenden, dass mit der Mengenlehre neue Schwierigkeiten aufgetaucht sind und dass transfinite Zahlen dialektisch getönten Entwicklungen Raum geben könnten. Aber die Haltung der Mathematiker (ihre praktische Anstrengung) ist den neuen wie den alten Paradoxen gegenüber die gleiche: Weit davon entfernt, in ihnen das Ergebnis einer höheren Denkweise zu sehen, sind sie ihnen ein Ärgernis, das eine neue Arbeit logischer Reduktion erzwingt. Wir führen dafür nur die Arbeiten von Hilpert und der polnischen Schule an.

Wenn eine mathematische Theorie in ihren Anfängen ein gewisses »Schwanken« in ihren Prinzipien aufweist und es in ihren Beweisen an Strenge fehlen lässt, ist das eine Schwäche – ist es nicht überflüssig, das zu betonen? –, aber kein Beweis25 für den dialektischen Charakter des Gegenstands der Naturwissenschaften. Die Mathematik kann sich nur dadurch entwickeln, dass sie die Auswüchse und Schwächen negiert, die ihre Entwicklung mit sich bringt. Doch sind die Struktur eines abgeschlossenen Teils der Wissenschaft und die Umwege, die der menschliche Geist nehmen musste, um imstande zu sein, diese Struktur zu finden, zweierlei. Die Dialektik drückt nicht die Natur der Mathematik aus; sie gilt als Agens nicht als Gegenstand der wissenschaftlichen Tätigkeit.

Diese letzte Bemerkung führt zum wesentlichen Thema dieses Artikels zurück. Es geht nicht darum, das dialektische Denken abzuschaffen, aber man sollte wissen, von welcher Grenze an seine Anwendung Früchte trägt. Dafür ist es von Nutzen, sich auf folgenden Absatz von Plechanow zu beziehen: »Unter den Wissenschaften, welche die Franzosen moralische oder politische Wissenschaften nennen, gibt es keine, die nicht unter dem mächtigen und sehr fruchtbaren Einfluss von Hegels Genie gestanden hätte.«26 Diese Bemerkung drückt den wirklichen Antrieb aus, den die Wissenschaften der Dialektik verdanken, und setzt ganz selbstverständlich die faktische Sterilität derselben Methode in den Naturwissenschaften voraus; sie koinzidiert mit den Prinzipien von Hartmanns Exposé, der einen Anwendungsbereich für die dialektische Methode sucht. Es ist richtig, dass Plechanow nicht an eine Grenze gedacht hat, es ist aber auch wichtig anzumerken, dass er auf seine Weise das frappierende Privileg der politischen und moralischen Wissenschaften erkannt hat. Es ist dies übrigens nur eine vage Bezeichnung: Hartmann gebraucht den stärker Hegel’schen Begriff der Geisteswissenschaften, der relativ genau ist. Natürlich darf die Terminologie in diesem Fall der Natur des Objekts, das von einer Gruppe mehr oder weniger homogener Wissenschaften untersucht wird, nicht vorgreifen, und es kann im Voraus auch keine genaue Begrenzung festgelegt werden.

Die Veröffentlichung einzelner Ergebnisse von Hartmanns Analyse wird die Elemente für eine exaktere Bestimmung bereitstellen. Diese Analyse hat sich nacheinander auf jede der zahlreichen dialektischen Entwicklungen erstreckt, die das Werk Hegels ausmachen, und sie hat als vorbereitendes Ziel diejenigen dieser Entwicklungen, die eine gelebte Erfahrung darstellen, von denen unterschieden, die Auswüchse toten Fleisches sind. Man muss aber nicht unbedingt ihre Veröffentlichung abwarten, um den Bereich solcher Forschungen auch auf Tatsachen auszudehnen, die nicht in Hegels Philosophie eingegangen sind.

Von Hartmanns Methode aus ist es möglich, Themen zu analysieren, die erst durch die jüngsten Entwicklungen der Wissenschaften als solche aufkamen. Man darf nicht vergessen, dass sich im Verlauf solcher Analysen notwendigerweise zahlreiche zusätzliche Probleme ergeben. Daher stellt sich die neue Untersuchung von Anfang an als eine grenzenlose Aufgabe dar. Dass die Resultate zweier vergleichbarer Analysen am Ende der Arbeit zusammenfallen, ist daher selbst von einer gemeinsamen Methode aus, die sich unabhängig von den mehr oder weniger offenen Absichten aufdrängt, mit denen sie bei Hartmann korrespondieren kann, eher unwahrscheinlich.

Wir geben uns damit zufrieden, hier einige Hinweise auf die Möglichkeiten einer längeren methodischen Ausarbeitung zu geben, die zu einer Wiederaneignung allgemeiner Auffassungen führen könnte. Die genauen Punkte, an denen das eingeführte dialektische Denken reale Beziehungen auszudrücken beginnt, müssen anhand besonderer Fälle bestimmt werden. Beispielsweise kann keine begriffliche Opposition von der biologischen Entwicklung eines Mannes Rechenschaft ablegen, der nacheinander Kind, Jugendlicher, Erwachsener und Greis ist. Wenn man dagegen die psychologische Entwicklung desselben Mannes vom psychoanalytischen Gesichtspunkt aus betrachtet, kann man sagen, dass sein Dasein zunächst durch die Verbote begrenzt wird, die der Vater seinen Trieben entgegensetzt. Unter dieser prekären Bedingung ist er darauf beschränkt, unbewusst den Tod des Vaters herbeizusehnen. Gleichzeitig finden die Wünsche, die er gegen die väterliche Gewalt richtet, ihren Widerhall in der Persönlichkeit des Sohnes selbst, der als Rückstoß seiner Todeswünsche die Kastration auf sich zu ziehen sucht. In den meisten Fällen ist diese Negativität des Sohnes weit davon entfernt, den wirklichen Charakter des Lebens auszudrücken, das zahlreiche und widersprüchliche Aspekte gleichzeitig anbietet. Dennoch wird gerade durch diese Negativität die Notwendigkeit gesetzt, dass der Sohn den Platz des Vaters einnimmt, was nur dadurch gelingt, dass er eben die Negativität zerstört, die ihn bis dahin charakterisiert hat.

Die Bedeutung dieses Themas ergibt sich aus der Tatsache, dass es um eine von jedem menschlichen Wesen gelebte Erfahrung geht, dank derer die Termini der dialektischen Entwicklung zu den Elementen der wirklichen Existenz werden.

Von diesem Beispiel aus können wir überdies die Konstellation einer gewissen Zahl von Problemen bestimmen: Es erlaubt, die Richtung anzuzeigen, die unseres Erachtens der Einführung einer Dialektik des Wirklichen entspräche.

1. Das Thema von Vater und Sohn zeigt deutlich, dass die Natur nicht für einen Bereich aufgegeben wurde, der eine wirkliche Aufkündigung der Kontinuität mit ihr bedeuten würde. Die Phänomene, von denen die Psychoanalyse Rechenschaft ablegt, lassen sich in letzter Instanz auf Triebe zurückführen, deren Ziel zwar in psychologischen Termini ausgedrückt wird, deren Quelle aber somatischer Natur ist. Das heißt nicht, dass von einem Dualismus von Materie und Geist die Rede ist: Zu Gegenständen der dialektischen Forschung werden nur die komplexesten Produkte der Natur. Das Problem ihres spezifischen Charakters kann redlich nur gestellt werden, wenn man die verhasste und vulgäre Hypothese des Spiritualismus von Anfang an beiseitestellt, wozu gerade die Psychoanalyse autorisiert.

2. Nicht nur wurde der Bereich der Natur nicht für Phantome aufgegeben, die ihr absolut heterogen sind; es blieb auch die Frage offen, ob eine Denkmethode, die nicht direkt im Studium der Natur oder in einer rein logischen Arbeit, sondern, wie das gewählte Beispiel zeigt, in einer gelebten Erfahrung begründet ist, ob eine Denkmethode, die von der Struktur desjenigen, der denkt, beherrscht wird, nicht wenigstens in einem gewissen Maße auch für das Verständnis der Natur eingesetzt werden kann. Wer diese Methode anwenden will, muss sich zuallererst der Grenzen bewusst werden, die ihr von ihrem Ursprung her selbst gesetzt werden. Das läuft darauf hinaus, sich des gewagten Charakters einer Hypothese zu bedienen, der zufolge die relativ einfachen Formen der Natur dadurch untersucht werden können, dass man sich auf die Gegebenheiten stützt, die von den komplexeren Formen zur Verfügung gestellt werden.

3. Um zur Praxis zurückzukehren, ist ein letztes Problem zu lösen, das aus dem Unterschied resultiert, der unmittelbar zwischen einer auf den Naturwissenschaften begründeten Methode und einer Dialektik besteht, die ihren historischen Ursprung in der gelebten Erfahrung anerkennt. In der ersten ist es nicht möglich, eine Unterscheidung zwischen gegensätzlichen Termini zu treffen, die gewöhnlich als positiv und negativ bezeichnet werden können, die aber nicht so beschaffen sind, dass diese Bezeichnungen nicht austauschbar wären. Das hat Engels selbst in einer der von Rjasanov veröffentlichten Anmerkungen festgestellt.27 Wenn man sich jedoch auf die Beispiele bezieht, die wir für gültig halten und in denen die Negativität einen spezifischen Wert erreicht, verhält es sich ganz anders. Es könnte leicht gezeigt werden, dass die grundlegenden dialektischen Methoden der marxistischen Geschichtsauffassung insgesamt zu dieser letzten Kategorie gehören und dass sowohl ihre tiefe Originalität als auch ihre praktische Bedeutung genau daraus entspringen, dass sie den konstanten Rückgang auf Kräfte oder auf negative Handlungen in ihre Taktik aufnehmen, nicht als einen Zweck, sondern als Mittel, das von der historischen Entwicklung selbst gefordert wird. Die Untersuchung dieses Merkmals der Dialektik ist umso bedeutender, als gerade solche Rekurse die Geschmeidigkeit und gleichzeitig die Macht des Marxismus bedingen, ihn radikal den reformistischen Lösungen28 entziehen und aus ihm eine lebendige Ideologie des modernen Proletariats als einer Klasse machen, die das Bürgertum zu einer negativen Existenz, zur revolutionären Aktivität verurteilt hat, die von nun an den Grund für eine neue Gesellschaft legt.29

Hegel, der Tod und das Opfer30

Das Tier stirbt. Aber der Tod des Tieres ist das Werden des Bewusstseins.31

I. Der Tod

Die Negativität des Menschen

In den Jenenser Vorlesungen von 1805–1806, im Augenblick der vollen Reife seines Denkens, zu der Zeit, als er die Phänomenologie des Geistes schrieb, hat Hegel den schwarzen Charakter der Menschheit so ausgedrückt:

»Der Mensch ist diese Nacht, dies leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält, ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt oder die nicht als gegenwärtige sind. Dies [ist] die Nacht, das Innere der Natur, das hier existiert – reines Selbst. In phantasmagorischen Vorstellungen ist es ringsum Nacht; hier schießt ein blutig[er] Kopf, dort ein[e] andere weiße Gestalt hervor und verschwinden ebenso. Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird; es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen.«32

Man darf diesen »schönen Text«, in dem sich Hegels Romantik ausdrückt, selbstverständlich nicht im Vagen belassen. Wenn Hegel Romantiker war, war er es vielleicht von Grund auf (jedenfalls war er Romantiker zu Beginn – in seiner Jugend –, als er revolutionär im gängigen Sinn war). Damals hat er in der Romantik noch nicht die Methode gesehen, durch die ein herablassender Geist glaubt, die wirkliche Welt der Willkür seiner Träume unterzuordnen.33 Alexandre Kojève, der den Text zitiert, sagt, dass diese Zeilen den »zentralen und letzten Gedanken der Hegel’schen Philosophie« ausdrücken, nämlich »den Gedanken, dass Grundlage und Quelle der objektiven Wirklichkeit und des menschlichen Daseins das Nichts ist, das sich als negierende oder schöpferische, freie und ihrer selbst bewusste Tat manifestiert und offenbart«.34

Um Zugang zu Hegels verwirrender Welt zu schaffen, sah ich mich verpflichtet, sie sowohl in ihren eklatanten Gegensätzen wie in ihrer letzten Einheit sinnfällig zu machen.

Für Kojève ist »die ›dialektische‹ oder anthropologische Philosophie Hegels letztlich eine Philosophie des Todes (oder, was dasselbe ist: des Atheismus)«.35

Aber auch wenn der Mensch der »Tod [ist], der ein menschliches Leben führt«, so ist diese Negativität, die im Tod gegeben ist, nicht weniger das Prinzip des Handelns, da der Tod des Menschen ein wesentlich gewollter ist (er leitet sich von Risiken her, die ohne Notwendigkeit, ohne biologische Gründe eingegangen wurden). Für Hegel ist nämlich das Tun Negativität, und die Negativität ist Tun. Der Mensch, der die Natur negiert, indem er in sie gleichsam als ihr Gegenbild die Anomalie eines »reinen Selbst« einführt – ist einerseits im Schoß dieser Natur gegenwärtig wie eine Nacht im Licht, wie eine Innerlichkeit in der Äußerlichkeit an sich seiender Dinge – wie eine Phantasmagorie, in der sich alles nur zusammenfügt, um sich wieder aufzulösen, alles nur auftaucht, um zu verschwinden, in der es nichts gibt, was nicht pausenlos der Nichtung36 der Zeit anheimfällt und darin die Schönheit des Traumes gewinnt. Doch dazu gibt es einen komplementären Aspekt: Denn diese Negation der Natur ist nicht nur im Bewusstsein gegeben – in dem das aufscheint, was an sich ist (aber nur um wieder zu verschwinden); diese Negation entäußert sich und verändert, indem sie sich entäußert, tatsächlich (verändert an sich) die Wirklichkeit der Natur. Der Mensch arbeitet und kämpft, er gestaltet das Gegebene oder die Natur um: er schafft, indem er die Natur zerstört, die Welt, eine Welt, die es zuvor nicht gab. Auf der einen Seite gibt es Poesie: die Zerstörung eines blutigen Kopfes, der plötzlich aufgetaucht ist und sich wieder auflöst, auf der anderen Seite Tun: die Arbeit, den Kampf. Auf der einen Seite das »reine Nichts«, von dem sich der Mensch »nur für eine gewisse Zeit unterscheidet«.37 Auf der anderen eine historische Welt, in der die Negativität des Menschen, dieses Nichts, das ihn von innen her zerfrisst, die Gesamtheit des konkret Wirklichen hervorbringt (gleichzeitig Objekt und Subjekt, wirkliche Welt, verändert oder nicht, und Mensch, der denkt und die Welt verändert).

Hegels Philosophie ist eine Philosophie des Todes – oder des Atheismus38

Das Wesentliche – und Neue – an der Hegel’schen Philosophie ist, dass sie die Totalität dessen, was ist, beschreibt. Und da sie von dem, was ist, Rechenschaft ablegt, legt sie folglich auch von all dem Rechenschaft ab, was vor unseren Augen erscheint, einschließlich des Denkens und der Sprache, die diese Erscheinung ausdrücken – und offenbaren.

»Es kommt nach meiner Einsicht«, sagt Hegel, »[…] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.«39

Anders gesagt, die Erkenntnis der Natur ist unvollständig, sie fasst nur und kann nur abstrakte Entitäten, isoliert vom Ganzen einer unauflöslichen, allein konkreten Totalität, ins Auge fassen. Die Erkenntnis muss daher gleichzeitig eine anthropologische sein: »außer den natürlichen Grundlagen der natürlichen Wirklichkeit«, schreibt Kojève, »muss sie auch die des menschlichen Daseins suchen, das allein imstande ist, sich selbst durch die Rede zu offenbaren«.40 Natürlich fasst diese Anthropologie den Menschen nicht nach Art der modernen Wissenschaften auf, sondern als eine Bewegung, die unmöglich innerhalb der Totalität isoliert werden kann. In gewisser Weise handelt es sich sogar um eine Theologie, in welcher der Mensch an die Stelle Gottes getreten ist.

Das menschliche Dasein, das Hegel innerhalb und im Zentrum der Totalität situiert, ist deutlich von dem der griechischen Philosophie unterschieden. Hegels Anthropologie ist die der jüdisch-christlichen Tradition, die den Menschen durch die Freiheit, die Geschichtlichkeit und die Individualität definiert. Wie der jüdischchristliche Mensch ist auch der Mensch Hegels ein geistiges (das heißt, »dialektisches«) Wesen. Doch in der jüdisch-christlichen Welt erscheint und verwirklicht sich die volle Geistigkeit erst im Jenseits, und der Geist im eigentlichen Sinn, der objektiv wirkliche Geist, ist Gott: »ein unendliches und ewiges Wesen«. Für Hegel dagegen ist das »geistige« oder »dialektische« Wesen »notwendig zeitlich und endlich«. Das will sagen, dass nur der Tod die Existenz eines geistigen oder dialektischen Wesens im Sinne Hegels gewährleistet. Wenn das Tier, welches das natürliche Sein des Menschen ausmacht, nicht sterben würde, mehr noch, wenn der Mensch nicht den Tod in sich hätte als Quelle seiner Angst, die umso stärker ist, als er sie sucht, ersehnt und sich manchmal sogar freiwillig auferlegt, gäbe es weder Mensch noch Freiheit, weder Geschichte noch Individuum. Anders gesagt: Nur wenn er sich in dem gefällt, was ihm gleichwohl Angst einflößt, wenn er das mit sich selbst identische Sein ist, welches das (identische) Sein selbst aufs Spiel setzt, ist der Mensch wahrhaft Mensch: Er trennt sich vom Tier. Von nun an ist er kein unveränderlich Gegebenes mehr wie ein Stein, sondern hat in sich die Negativität; und die Kraft, die Gewalt dieser Negativität werfen ihn in die unaufhörliche Bewegung der Geschichte, die ihn verändert und die allein die Totalität des konkret Wirklichen in der Zeit realisiert. Allein die Geschichte hat die Macht, das, was ist, zu vollenden, es im Ablauf der Zeit zu vollenden. Daher ist aus dieser Sicht die Idee eines ewigen, unveränderlichen Gottes nur eine provisorische Vollendung, die in Erwartung einer besseren überlebt. Erst die vollendete Geschichte und der Geist des (Hegel’schen) Weisen, dem sich die Geschichte offenbart, dem sie sich in der vollen Entwicklung des Seins und der Totalität seines Werdens vollends offenbart hat, nehmen tatsächlich eine souveräne Position als Regent ein, die Gott nur provisorisch innehatte.

Tragikomischer Aspekt der Göttlichkeit des Menschen

Diese Sichtweise kann völlig zu Recht für komisch gehalten werden. Hegel sprach übrigens nicht explizit darüber. Die Texte, die sie implizit zum Ausdruck bringen, sind uneindeutig, und ihre extreme Schwierigkeit entzieht sie vollends dem Tageslicht. Kojève seinerseits bleibt vorsichtig. Er spricht ohne Nachdruck darüber und vermeidet es, Schlüsse daraus zu ziehen. Um die Situation, in die Hegel, zweifellos ungewollt, geraten war, angemessen darzustellen, hätte es in der Tat des Tons oder des Schreckens der Tragödie, zumindest in abgeschwächter Form, bedurft. Doch die Dinge sollten bald eine Wendung ins Komische nehmen.

Wie dem auch sei, die Gottheit kennt die Erfahrung des Todes so wenig, dass ein in der Tradition verankerter Mythos den Tod und die Angst vor dem Tod mit dem einzigen und ewigen Gott der jüdisch-christlichen Welt verbunden hat. Der Tod Jesu hat insofern an der Komödie teil, als man in das Bewusstsein eines allmächtigen und unendlichen Gottes nur mittels Willkür das Vergessen seiner – ihm eigentümlichen – ewigen Göttlichkeit einzuführen vermochte. Der christliche Mythos nahm das »absolute Wissen« Hegels vorweg, das in der Tatsache begründet ist, dass nichts Göttliches (im vorchristlichen Sinn des Sakralen) vorstellbar ist, das nicht auch endlich wäre. Aber das vage Bewusstsein, in dem sich der (christliche) Mythos vom Tod Gottes bildete, unterscheidet sich trotzdem von demjenigen Hegels: Um eine Gottesgestalt, die das Unendliche begrenzte, im Sinn der Totalität zu verbiegen, war es notwendig, als Widerspruch zu einem Fundament eine Bewegung auf das Endliche hin einzuführen.

Hegel konnte die Summe (die Totalität) aus den Bewegungen, die sich in der Geschichte abspielen, ziehen – und er musste das auch. Aber der Humor scheint mit der Arbeit und dem Fleiß, den die Dinge fordern, nicht vereinbar. Ich werde darauf zurückkommen, denn für den Augenblick habe ich nur Verwirrung gestiftet … Es ist schwierig, von einer Menschheit, die durch die göttliche Größe gedemütigt worden ist, zu der … des vergöttlichten, souveränen Weisen zu gelangen, der seine Größe von der menschlichen Nichtigkeit ausgehend aufbläht.

Ein Haupttext

Eine einzige Forderung ragt aus dem Vorangegangenen klar und deutlich heraus: Es kann nur dann authentische Weisheit (absolutes Wissen oder was sonst dem nahe kommt) geben, wenn der Weise sich (wenn ich so sagen darf) auf die Höhe des Todes begibt, wie groß seine Angst davor auch sein mag.

Eine Stelle aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes bringt die Notwendigkeit einer solchen Haltung drastisch zum Ausdruck. Niemand kann daran zweifeln, dass dieser bewundernswerte Text von Anfang an nicht nur in Hegels Verständnis, sondern in jeder Hinsicht von wesentlicher Bedeutung ist.

»Der Tod«, schreibt Hegel, »wenn wir diese Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten, das, was die größte Kraft erfordert. Die kraftlose Schönheit hasst den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese [verschwenderische]41 Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgendetwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.«42

Die menschliche Negation der Natur und des natürlichen Seins des Menschen

Eigentlich hätte ich das Zitat schon früher beginnen lassen sollen. Doch wollte ich diesen Text nicht mit den rätselhaften Zeilen beschweren, die ihm vorangestellt sind. Ich werde aber den Sinn der wenigen ausgelassenen Zeilen anzeigen, indem ich Kojèves Interpretation aufgreife, ohne die uns das Folgende, trotz des relativ klaren Anscheins, verschlossen bliebe.