Hegels "Phänomenologie des Geistes". Ein systematischer Kommentar - Georg W. Bertram - E-Book

Hegels "Phänomenologie des Geistes". Ein systematischer Kommentar E-Book

Georg W. Bertram

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Beschreibung

Die "Phänomenologie des Geistes" war Hegels erster großer Wurf, gleichzeitig ist es sein am eigenwilligsten komponiertes Buch. Er entwickelt darin die philosophischen Entwürfe von Kant, Fichte und Schelling weiter, führt in umfassender Weise Fragestellungen der theoretischen und der praktischen Philosophie zusammen und rekonstruiert gleichzeitig die gesamte abendländischen Philosophie. Nicht nur Anfängern in der Philosophie bereitet das Verständnis dieses Textes erhebliche Schwierigkeiten. Georg W. Bertram bietet in diesem Kommentar unverzichtbare Hilfestellung und legt so den Zauber wieder frei, den die Lektüre dieses Klassikers bis heute ausübt.

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Georg W. Bertram

Hegels »Phänomenologie des Geistes«

Ein systematischer Kommentar

Reclam

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen

Made in Germany 2017

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961252-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-019443-0

www.reclam.de

Inhalt

EinführungDie Entstehung der PhGGestalt und Struktur der PhGDie zentralen Fragen und Thesen der PhGZielsetzung und Aufbau des KommentarsI. EinleitungÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische ErtragII. BewusstseinÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische ErtragIII. SelbstbewusstseinÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische ErtragIV. VernunftÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische ErtragV. Geist, erster Teil: Die sittliche WeltÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische ErtragVI. Geist, zweiter Teil: Die BildungÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische ErtragVII. Geist, dritter Teil: Die MoralitätÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische ErtragVIII. ReligionÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische ErtragIX. Das absolute WissenÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische ErtragX. VorredeÜberblickProbleme der InterpretationDetaillierter KommentarDer systematische ErtragLiteraturhinweiseWerke HegelsÜbersichtsdarstellungen zur PhG und zu Hegels PhilosophieWeiterführende Literatur zur PhG und zu Hegels PhilosophieSonstige Literatur

Einführung

Eine Lektüre von Hegels Phänomenologie des Geistes (PhG) sieht sich mit erheblichen Schwierigkeiten konfrontiert. Hegel galt und gilt für viele der ihm nachfolgenden Philosophinnen und Philosophen als ein besonders unzugänglicher Autor. Oft wurde er als Dunkelmann gescholten und aus der philosophischen Tradition verbannt. Zugleich aber ging von Hegel immer eine besondere Faszination aus, die sich zum Beispiel inzwischen darin niederschlägt, dass er in der sogenannten sprachanalytischen Tradition, in der er lange Zeit verpönt war, mehr und mehr rezipiert wird.1 Für die entsprechenden negativen und positiven Vorurteile Hegel gegenüber ist besonders seine PhG verantwortlich. Sie sticht aus Hegels Werk heraus. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass es sein erster großer Wurf und zugleich ein sehr eigenwillig komponiertes Buch ist. Die PhG bietet einerseits eine umfassende Weiterentwicklung der großen philosophischen Entwürfe von Kant, Fichte und Schelling – Hegels Vorgängern. Dabei führt sie in umfassender Weise Fragestellungen der theoretischen und der praktischen Philosophie zusammen. Andererseits entwickelt sie eine großangelegte Rekonstruktion der abendländischen Philosophie- und Geistesgeschichte. Schon allein die Kombination dieser unterschiedlichen Zielsetzungen hebt die PhG auch aus Hegels Werk heraus: Es ist ein rundum hybrides Buch.

Den weitreichenden Ambitionen des Textes stehen die Leserinnen und Leser aber in mancher Hinsicht hilflos gegenüber. Oftmals gewinnen sie – zu Recht – den Eindruck, dass Hegel nicht klar sagt, was er eigentlich sagen will. Zudem bleibt immer wieder unklar, warum Hegel in so komplexer Weise historische Überlegungen mit systematischen Überlegungen verbindet, so dass sich an unterschiedlichen Stellen des Textes die Fragen stellen, welche Bedeutung die historischen Bezüge haben und warum Hegel es nicht bei systematischen Überlegungen belassen hat – zumal die systematischen Zusammenhänge, die er in den Blick nimmt, durchaus ausreichend komplex und schwer zu durchschauen sind.

Diesen Schwierigkeiten bei der Lektüre der PhG steht der Zauber gegenüber, den der Text ausübt. Gerade seine unorthodoxe Gestalt, seine pointierte und polemische Diktion und sein allumfassender Erklärungsanspruch ziehen Leserinnen und Leser immer wieder aufs Neue in ihren Bann. Oft hat man bei der Lektüre den Eindruck, dass hier Bedeutsames geschieht, auch wenn man nicht genau zu sagen weiß, was es denn nun eigentlich ist. Die Suggestionskraft von Hegels Schreiben und Denken mag ein Grund dafür gewesen sein, dass man ihm gegenüber misstrauisch geworden ist und – wie dies zum Beispiel im Umfeld des Neukantianismus auf der Schwelle zum 20. Jahrhundert der Fall war – die vergleichsweise klarere und nüchternere Diktion Kants vorzieht.

Hegels Text ist aber unbedingt der Auseinandersetzung wert. Dafür ist es erforderlich, ihn so zu interpretieren, dass sein Beitrag zu systematischen Fragestellungen verständlich wird. Dieser Kommentar will eine entsprechende Interpretation entwerfen.

Diese kurze Einführung setzt sich zur Aufgabe, das so weit umrissene Vorhaben in vier knappen Abschnitten vorzubereiten. Im ersten dieser Abschnitte gebe ich einen Überblick über die Entstehung des Textes, bevor ich ihn im zweiten in seinen Eigentümlichkeiten charakterisiere. Der dritte Abschnitt skizziert in einer ersten Annäherung, worum es in Hegels PhG in der Sache geht. Der vierte und letzte Abschnitt erläutert schließlich genauer die Ziele und den Aufbau des Kommentars.

Die Entstehung der PhG

Hegels Weg in die akademische Philosophie war alles andere als gradlinig. Nach seinem Studium am Tübinger Stift von 1788 bis 1793 (das er mit der theologischen Konsistorialprüfung abschloss), arbeitete er zunächst als Hauslehrer (damals nannte man den entsprechenden Beruf »Hofmeister«). Er war dabei zuerst in Bern und dann, auf Vermittlung seines Jahrgangsgenossen und Freundes aus Tübinger Tagen Friedrich Hölderlin (1770–1843), in Frankfurt. Als Hegels Vater im Jahr 1799 starb, erbte Hegel eine größere Summe. Dies ermöglichte es ihm, seine Tätigkeit als Hofmeister an den Nagel zu hängen und sich wieder im engeren Sinn seinen Studien zu widmen. So ging er im Januar des Jahres 1801 nach Jena.

Es ist nicht so, dass Hegel in den Jahren seiner Hauslehrertätigkeit nicht auch wissenschaftlich gearbeitet hätte. Dennoch intensiviert sich seine Arbeit mit der Ankunft in Jena erheblich. Schon nach einem halben Jahr legte er (an seinem 31. Geburtstag, dem 27. August 1801) seine Habilitation ab und begann im Wintersemester 1801/02 damit, als Privatdozent (also – das ist bei dieser Form der Zugehörigkeit zum Lehrkörper einer Universität heute noch genauso, wie es damals war – ohne feste Bezahlung) Vorlesungen zu halten.

Als Hegel nach Jena kam, stand die dortige Universität durchaus noch in ihren Blütejahren, wenn auch kurz vor deren Ende. Gerade im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts hatte sie, unter der Herrschaft Carl Augusts (1757–1828) und seines Ministers Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), eine große Bedeutung, die wesentlich darin bestand, dass Jena zu einem Ort der seinerzeit modernsten Philosophie in deutscher Sprache wurde. Bereits 1789 hatte der Kantianer Karl Reinhold (1757–1823) seine Lehrtätigkeit an der Universität aufgenommen – in demselben Jahr übrigens, in dem Friedrich Schiller (1759–1805) seine Geschichtsprofessur antrat. 1794 wurde dann Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) berufen und 1798 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854), der, obgleich fünf Jahre jünger als Hegel, in denselben Jahren wie Hegel und Hölderlin gemeinsam mit den beiden am Tübinger Stift studiert hatte. Da Fichte und Schelling beide mit dem Anspruch auftraten, Kants moderne Philosophie, die Transzendentalphilosophie, ihren eigenen Maßstäben entsprechend weiterzuentwickeln und von Problemen zu befreien, und beide aufgrund ihrer Schriften als avancierteste philosophische Stimmen anerkannt waren, hatte Jena in dieser Zeit eine philosophiegeschichtlich außerordentliche Stellung. Deren Ende kündigte sich im Jahr 1799 an, als Fichte der gegen seine Philosophie erhobenen Atheismus-Vorwürfe wegen die Professur räumen musste und Jena verließ.

Hegel wurde nach seiner Ankunft in Jena von seinem Freund Schelling unterstützt, mit dem er auch ein gemeinsames Projekt aufnahm: das Critische Journal für Philosophie. Mit diesem Journal profilierte Hegel sich nicht nur als Mitstreiter Schellings, sondern gewann auch ein Publikationsorgan, in dem er erste wichtige Abhandlungen veröffentlichen konnte. Darüber hinaus trat er auch gleich mit einer ersten Monographie an die Öffentlichkeit, die 1801 erschien und sich einem Vergleich der Philosophien Fichtes und Schellings (vor dem Hintergrund der Kantischen Philosophie) widmet. Der genaue Titel des Buches lautet: Die Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (es hat sich eingebürgert, diesen Text kurz als »Differenz-Schrift« zu bezeichnen). Hegel wurde mit seinen Überlegungen allgemein als Parteigänger von Schelling wahrgenommen. Das ist insofern verständlich, als Hegel sich in seinem Vokabular und seiner Kritik an Fichte unübersehbar Schelling anschließt, ist aber zugleich auch unberechtigt, da sich schon in diesem ersten Buch Hegels eine eigene Position andeutet – vor allem eine Positivierung der Begriffe des Widerspruchs und der Entfremdung.

Hegel wollte es dabei jedoch nicht belassen. Gleich im Zuge der ersten Vorlesung im Wintersemester 1801/02 kündigte er ein Buch an, das sein eigenes System entwickeln sollte und an dem er seine Vorlesungen orientieren wollte. Dieses Buch aber kam längere Zeit nicht zustande. Hegel arbeitete durchweg an Texten, vielfach auch im Zusammenhang seiner Lehrtätigkeit. Diejenigen dieser Texte, die uns erhalten geblieben sind, zeigen deutlich die Entwicklung von Hegels eigener Philosophie, für die besonders auch die Auseinandersetzung mit Fichtes Denken von größerer Bedeutung ist. Bereits im Jahr 1802, also im zweiten Jahr seiner Zeit in Jena, hat Hegel ein Manuskript verfasst, das unter dem Titel »System der Sittlichkeit« bekannt geworden ist. Dabei orientiert Hegel sich kritisch an Fichtes Grundlagen des Naturrechts von 1796 und dem dort eingeführten Begriff der Anerkennung. Anerkennung ist für Fichte ein transzendentales Prinzip des Bezugs von selbstbestimmten und in diesem Sinn rationalen Individuen aufeinander. Sie können Selbstbestimmung nur dann für sich reklamieren, wenn sie sie auch anderen zugestehen, diese also als gleichermaßen selbstbestimmte Individuen anerkennen. Fichtes Gedanke hat, so zeigen die frühen Jenaer Arbeiten, von Anfang an eine große Faszinationskraft auf Hegel ausgeübt. Er sah in ihm das Potential, Probleme der von Kant, Fichte und Schelling vorgelegten Positionen zu lösen. Insofern lässt sich die Kritik des Naturrechts-Ansatzes von Fichte, die Hegel auch in einer Abhandlung im Critischen Journal publiziert hat, als Keimzelle der Loslösung auch von seinem Freund Schelling begreifen.

Diese Loslösung wurde im Jahr 1803 erheblich dadurch beschleunigt, dass Schelling – wie viele andere seiner renommierteren Kollegen – Jena verließ und einen Ruf an die Universität Würzburg annahm. Durch diesen Weggang war Hegel nun in Jena in mehrfacher Weise auf sich allein gestellt. Erstens fiel die gemeinsame Arbeit am Critischen Journal weg – das Journal wurde, nach zwei Jahrgängen mit jeweils drei Heften, wieder eingestellt. Zweitens verlor Hegel seinen Mentor und Unterstützer. Drittens verlor Jena nach Fichte nun auch die zweite maßgebliche Stimme avanciertesten Philosophierens in deutscher Sprache. Aus Schellings Abschied ergab sich deshalb für Hegel sicherlich im ersten Moment eine schwierige Situation. Im zweiten Moment bot sich ihm damit aber auch eine gute Gelegenheit, sich selbst zu profilieren. Und letztlich nutzte er diese Gelegenheit. Er erarbeitete sich in den Folgejahren bis zu seinem Abschied aus Jena im März 1807 die Grundlage dafür, sich seinerseits als eine wichtige neue Gestalt in der deutschsprachigen Philosophie zu etablieren.

Auch wenn Hegel in den Jahren nach 1803 nach wie vor als Privatdozent ohne feste Bezahlung tätig war, so erregte seine Lehrtätigkeit in Jena zunehmend größere Aufmerksamkeit. Gerade in den Vorlesungen der Jahre von 1803 bis 1806 zeichnet sich auch mehr und mehr eine neue Konzeption ab, die dann ihre erste Gestalt in der PhG fand. Diese Vorlesungen werden heute unter dem Titel Jenaer Systementwürfe I–III diskutiert (früher waren zwei von ihnen unter dem Titel Jenaer Realphilosophie I+II bekannt). In ihnen wird nicht nur der von Fichte her entwickelte Anerkennungsbegriff immer wichtiger, sondern es wird zunehmend auch der Idealismus Schellingscher Prägung überwunden, also eine primäre Orientierung an der grundlegenden Einheit von Subjekt und Objekt. Hegel geht es im Gegensatz dazu nun besonders um die Auseinandersetzungen von Subjekten mit Objekten und um diejenigen von Subjekten mit anderen Subjekten – kurz gesagt: um Differenzen und Konflikte. Von einer Einheit kann ihm zufolge nur auf Basis dieser Differenzen und Konflikte die Rede sein. Dabei betont er, wie vor ihm bereits Fichte und Schelling, die Bedeutung von Praxis, die er aber konkreter versteht als seine Vorgänger. Sowohl die Auseinandersetzung mit Objekten als auch diejenige mit anderen Subjekten muss demnach unter Rekurs auf historisch-kulturell entwickelte Praktiken gedacht werden.

Nicht zuletzt seine sich zusehends verschlechternde ökonomische Situation brachte Hegel wohl dazu, den lange gehegten Plan einer Niederschrift seines Systems in einem eigenen Buch nicht weiter aufzuschieben. Die im Jahr 1805 aufgenommene Arbeit an dem Text, den wir als PhG kennen, verlief jedoch nicht ohne Komplikationen. So hatte Hegel mit dem Verleger (Goebhardt in Bamberg) eigentlich vereinbart, dass er bei der Ablieferung der Hälfte des Manuskripts entlohnt würde. Der Verleger wurde aber wegen Hegels unklarem Text- und Zeitmanagement so unruhig, dass er die Verabredung änderte und erst bei Abgabe des Gesamtmanuskripts zur Zahlung bereit war. Diese wurde – unter Vermittlung von Hegels Freund Immanuel Niethammer (1766–1848) – auf den 18. Oktober 1806 festgesetzt. Zu dem Druck, unter dem Hegel stand, trugen auch die politischen Umstände bei. Im Sommer 1806 entwickelte sich zunehmend ein Konflikt zwischen dem napoleonischen Frankreich und Preußen, der dazu führte, dass Napoleon mit seinen Truppen am 13. Oktober in Jena einmarschierte – am Vorabend der Schlacht von Jena und Auerstedt. Hegel hat sein Erstlingswerk mit diesen historischen Ereignissen verbunden, indem er behauptete, es an diesem Abend fertiggestellt zu haben. Richtig ist wohl, dass er das Ende des Buches in diesen Tagen fertigstellte und dann sehr besorgt war, das resultierende Teilmanuskript durch die feindlichen Linien zu seinem Verleger nach Bamberg bringen zu lassen (ein anderer Teil des Manuskripts befand sich schon lange dort und war, wie damals üblich, auch schon gedruckt worden). Erst im Januar 1807 aber lieferte er mit der Vorrede den letzten Textteil ab. Das Buch erschien dann im April 1807 unter dem Titel System der Wissenschaft. Erster Theil, die Phänomenologie des Geistes, als Hegel Jena bereits verlassen hatte und als Redakteur bei der Bamberger Zeitung arbeitete.

Das Buch wurde zuerst nicht sonderlich euphorisch aufgenommen. Die erste Rezension am 6. August 1807 in der Oberdeutschen Allgemeinen Literaturzeitung kritisierte die PhG besonders für eine übertrieben idealistische Position. Moniert wurden eine angeblich intellektualistische Grundtendenz von Hegels Philosophie sowie eine Orientierung an einem allumfassenden Absoluten. Da Letzteres in der Position Schellings tatsächlich eine größere Rolle spielt, kann man vermuten, dass Hegel weiterhin durch die Brille seines Freundes gelesen wurde, von dessen Ansatz er sich inzwischen aber entfernt hatte. Schelling selbst realisierte dies sofort und war, verständlicherweise, nicht sonderlich erfreut über Hegels Werk. Die philosophische Mitwelt aber brauchte einige Zeit, um zu verstehen, dass Hegel eine eigenständige Position erarbeitet hatte. Dies mag ein Grund dafür sein, dass seine eigentliche akademische Karriere noch ein wenig auf sich warten ließ. Erst im Jahr 1816 erfolgte der Ruf auf die erste Professur (in Heidelberg), und das Jahr 1818 brachte ihn dann an seine Wirkungsstätte Berlin, wo er mit seiner Philosophie großes Ansehen erlangte. Dort fing er gegen Ende seines Lebens, im Jahr 1831, erste Arbeiten an einer geplanten Neuauflage des Buches an. Zu dieser Neuauflage kam es dann aber wegen Hegels Tod nicht mehr.

Nach der PhG hat Hegel Texte publiziert, die im engeren Sinne das ausmachen, was man als sein System bezeichnet: besonders die Wissenschaft der Logik (1812–1816) und die Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817). Damit ist die notorische Frage aufgeworfen, wie sich die PhG zu Hegels reiferem Werk verhält. Diese Frage wird gewissermaßen dadurch verschärft, dass Hegel in der Enzyklopädie eine »Phänomenologie des Geistes« in die Explikation des Geistes integriert hat. Dies suggeriert, durch die reiferen Arbeiten sei die PhG überwunden. Das ist aber nicht notwendigerweise der Fall. Gerade wenn man die PhG als Einleitung des Systems2 liest, kann man sie als einen eigenständigen und wichtigen Teil dieses Systems begreifen. Im »Vorwort« der Wissenschaft der Logik verweist Hegel auch klar auf den Standpunkt der PhG als eine Voraussetzung für die systematische Perspektive, die er dort bezieht.3 So scheint es mir richtig, davon auszugehen, dass der PhG im Kontext von Hegels System eine Funktion zukommt, die sich durch das System nicht erübrigt hat (in den letzten beiden Teilen dieses Kommentars werde ich diese Funktion genauer bestimmen).

Gestalt und Struktur der PhG

Die PhG ist ein eigentümliches philosophisches Buch. Vergleicht man sie zum Beispiel mit den großen philosophischen Abhandlungen der Neuzeit – also zum Beispiel mit Descartes’ Meditationes de prima philosophia, mit Lockes Essai Concerning Human Understanding und Kants Kritik der reinen Vernunft –, so fällt auf, dass Hegel keinen Traktat geschrieben hat: Das Buch entwickelt nicht systematisch eine Position, mit der ein bestimmter Bereich philosophischer Fragestellungen gewissermaßen sukzessive ab- und ausgearbeitet wird. Hegel rechtfertigt diese Eigentümlichkeit in der Einleitung der PhG, in der er die Gründe dafür darlegt, warum es aus seiner Sicht problematisch ist, einfach systematisch eine philosophische Position zu entwickeln.

Diese Gründe werde ich im Kommentar der Einleitung ausführlich erörtern. An diesem Punkt reicht es erst einmal, die Eigentümlichkeit der PhG weiter zu charakterisieren: Sie entwickelt nicht systematisch eine eigene Position, sondern ordnet vielmehr andere Positionen in einer systematischen Art und Weise. Diese Positionen sind aber oftmals nicht klar als solche einzelner Philosophen zu erkennen; sie beziehen auch naturwissenschaftliche Theorien wie die Newtonsche Theorie der Massenanziehung und historische Ereignisse wie die Französische Revolution im weitesten Sinn mit ein. So haben Leserinnen und Leser erst einmal den Eindruck, in der PhG mit einem bunten Reigen an Themen konfrontiert zu werden, die sich nicht in ein klares und stringent entwickeltes Gesamtbild fügen.

Eine weitere Eigentümlichkeit der PhG besteht darin, dass sich im Laufe von Hegels Arbeit an dem Text das Projekt verändert hat.4 Besonders markant ist hier die Änderung des Titels, die sich an der zuerst geschriebenen Einleitung festmachen lässt, die den Titel erläutert, den Hegel dem Buch zuerst geben wollte: Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins. Die Konzeption einer solchen Wissenschaft bestimmt dann auch nicht nur die Einleitung, sondern auch die ersten Kapitel. Bis zum Vernunftkapitel lässt sich das Buch durchaus so lesen, als ob Hegel seiner ursprünglichen Konzeption gefolgt ist. Dann aber scheint er diese Konzeption verschoben zu haben.5

Äußerlich schlägt sich diese Verschiebung darin nieder, dass die Proportionen des Buches zunehmend unwuchtig werden. Der ersten Gliederung Hegels zufolge gibt es vier Teile (Bewusstsein, Wahrnehmung, Kraft und Verstand sowie Selbstbewusstsein), die zwar nicht gleich lang sind, aber doch im weitesten Sinn in einem gemeinsamen Rahmen bleiben. Mit dem Vernunftkapitel aber kommt es zu einem deutlichen Ungleichgewicht, und spätestens das Geistkapitel sprengt den zuerst entwickelten Rahmen ganz, denn es ist vom Umfang her gesehen fast so lang wie alle bisherigen Teile zusammen. Die Disproportionen im Aufbau des Buches kann man als Symptom dafür verstehen, dass Hegel die Konzeption seines Buches während der Niederschrift verändert hat. Inhaltlich hängt die Revision damit zusammen, dass ihm die Wichtigkeit dessen, was er Geist nennt, für sein Vorhaben zunehmend klarer geworden sein dürfte. Entsprechend kommt es mit dem Geistkapitel auch zu einem gewissen Neuansatz in dem Buch, der sich symptomatisch daran zeigt, dass Hegel sagt, er habe bislang »Gestalten […] des Bewußtseins« rekonstruiert, widme sich nun aber »Gestalten einer Welt« (312/326)6 (hier will ich dies nur als Symptom anführen, lasse also die Begriffe noch unkommentiert).

Die konzeptionellen Änderungen schlagen sich auch darin nieder, dass Hegel seinem Werk einen neuen Titel gibt: Phänomenologie des Geistes. Dieser neue Titel wurde aber durch die Ankündigungen der Einleitung nicht vorbereitet. Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass Hegel dem Buch am Ende noch eine lange Vorrede beigegeben hat, die das Projekt mit Blick auf die geänderte Konzeption erklärt.

Hegel hat nicht nur den Titel geändert, sondern auch noch eine zweite Gliederung eingefügt, mit der die Unwucht jedoch nicht beseitigt wird. Hat die erste Gliederung schon nach 20 Prozent des Textes vier von acht Teilen absolviert, so dass 80 Prozent des Textes eine Hälfte der Gliederung ausmachen, so hat die zweite Gliederung nach den besagten 20 Prozent bereits zwei von drei Teilen zurückgelegt.

Immerhin wird in der zweiten Gliederung der große Schlussteil in vier Unterteile gegliedert. Hegel stellt damit einen Zusammenhang von der Vernunft bis zum absoluten Wissen her. Irritierend aber ist wiederum, dass dieser große Schlussteil keinen eigenen Titel trägt, so dass nicht recht klar wird, unter welchem Oberbegriff für Hegel dieser Zusammenhang besteht. Wie bereits erwähnt, wird inhaltlich besonders mit dem Beginn des Geistkapitels eine Zäsur in dem Text deutlich. Dies würde dafür sprechen, einen Zusammenhang von diesem Kapitel bis zum Ende herzustellen. Warum genau Hegel den abschließenden Zusammenhang in der neuen Gliederung schon mit dem Vernunftkapitel beginnen lässt, bleibt offen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Text ohne jeden Zweifel Spuren eines work in progress trägt. Die textliche Gestalt ist weder, was den Titel angeht, noch mit Blick auf Gliederung und Gesamtstruktur aus einem Guss. Das heißt selbstverständlich nicht, dass hier unterschiedliche Gedanken vorlägen, die wir nicht in einen Zusammenhang bringen könnten. Es heißt aber, dass jede Interpretation der PhG mit dem Problem konfrontiert ist, mit den Verwerfungen in der Struktur umzugehen und sie als Aspekt der Eigentümlichkeit von Hegels Text im Blick zu behalten.

Die zentralen Fragen und Thesen der PhG

Nähert man sich der PhG inhaltlich, so ist es hilfreich, den Hintergrund in den Blick zu nehmen, vor dem Hegel schreibt: die rasante Entwicklung der Philosophie in deutscher Sprache. Im Jahr 1781 hat Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft nicht weniger als die philosophische Moderne eingeläutet. Der epochale Ansatz Kants ist von seinen Zeitgenossen unter anderem dadurch gewürdigt worden, dass rasch nach ihm eine intensive Debatte über Weiterentwicklungen seiner Transzendentalphilosophie zustande kam. Hier spielten die bereits mehrfach erwähnten Fichte und Schelling eine entscheidende Rolle, da beide im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts mehrere Hauptwerke publizierten. Auf Fichtes und Schellings Weiterentwicklungen der modernen Philosophie Kants antwortete nun seinerseits Hegel mit der PhG. So können wir fragen, an welche Elemente des Diskussionszusammenhangs zwischen Kant und Schelling Hegel in besonderer Weise anknüpft.

Ich schlage vor, bei den Kantischen Grundgedanken der Selbstbegrenzung des menschlichen Wissens sowie der Selbstbestimmung als Form menschlichen Handelns anzusetzen. Das Ziel von Kants Transzendentalphilosophie besteht unter anderem darin zu zeigen, dass alle Erkenntnis von Menschen in Formen vonstattengeht, mit denen Menschen in ihrem Erkennen die Natur konfrontieren, so dass der menschlichen Erkenntnis in doppelter Weise Grenzen gesetzt sind: Erstens bedürfen Menschen einer Welt, die ihnen sinnlich begegnet, um überhaupt etwas erkennen zu können, und zweitens sind bei ihrem Erkennen immer Formen im Spiel, die es ihnen unmöglich machen, ein Wissen davon zu erlangen, wie die Welt, vom Gottesstandpunkt aus betrachtet, beschaffen ist. Diese Selbstbegrenzung menschlichen Wissens hat für Kant die positive Kehrseite, dass Menschen als Wesen verständlich werden, die eigenen Bestimmungen folgen. Insofern schafft die Selbstbegrenzung aus Kants Sicht Raum für den Gedanken der Selbstbestimmung von Menschen in ihrem Handeln. Es ist dabei wichtig zu beachten, dass es Kant nicht um zwei voneinander getrennte Elemente geht. Kant verfolgt insgesamt das Vorhaben, den spezifischen kognitiven Standpunkt sinnlicher Wesen, die erkenntnisfähig sind, zu erklären. Die Selbstbegrenzung des Wissens und die vernünftige Selbstbestimmung sind aus seiner Sicht für eine solche Erklärung entscheidend.

Die beiden Grundelemente des Kantischen Denkens sind sowohl von Fichte als auch von Schelling weiterentwickelt worden. Dabei ging es ihnen jeweils darum, Kant dafür zu kritisieren, dass er diese Elemente nicht plausibel genug ausbuchstabiert habe. Hegel setzt mit seiner kritischen Fortsetzung der Bestimmung dieser Elemente anders an: Es geht ihm nicht primär darum, dem Geist der Kantischen Elemente besser gerecht zu werden, als Kant es aus seiner Perspektive getan hat, sondern er fragt, wes Geistes Kind die Elemente sind, die Kant geltend macht. Das heißt: Hegel will die Grundlage für die Auseinandersetzung mit den von Kant aufgeworfenen Fragen klären. Er will die Voraussetzungen, die Kant mit seinem Neuansatz gemacht hat, hinterfragen und auf diese Weise erhellen, wie man überhaupt dazu kommt, so zu denken, wie Kant es vorschlägt. Das ist keine psychologische, sondern eine konstitutionslogische Frage: Was sind die Bedingungen dafür, dass man im Kantischen Sinn eine Selbstbegrenzung des eigenen Denkens vornimmt und das menschliche Tun als ein selbstbestimmtes Tun begreift? Hegels Vorhaben lässt sich mit Blick auf die beiden Elemente der Selbstbegrenzung und der Selbstbestimmung so etwas genauer artikulieren, indem man zwei Fragen voneinander unterscheidet, um die es ihm in seinem Text geht:

(a) Wie ist es möglich, Grenzen des Wissen zu begreifen und in diesem Sinn eine Selbstbegrenzung des Wissens vorzunehmen?

(b) Wie können epistemische Subjekte als freie Subjekte begriffen werden, als Subjekte, die die von ihnen erhobenen Wissensansprüche anderen gegenüber zu vertreten und zu verteidigen vermögen?

Formuliert man die Fragen so, haben sie zuerst einmal nicht direkt etwas miteinander zu tun. Es wird sich aber im Laufe von Hegels Überlegungen herausstellen, dass sie untrennbar miteinander zusammenhängen. Die erste Frage impliziert für ihn in erster Linie, dass wir aufklären, inwiefern wir überhaupt ein Wissen von unserem Wissen, ein Wissen des Wissens haben. Wie kommt ein Wissen davon zustande, dass man Wissen hat? Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit eine Selbstbegrenzung des Wissens realisiert werden kann? Hegel argumentiert, dass wir unser Wissen vom eigenen Wissen nicht allein aus unserer Auseinandersetzung mit Objekten heraus verstehen können. Es bedarf dazu ihm zufolge eines verwirklichten intersubjektiven Kontexts von Praktiken, innerhalb deren wir von anderen als solche anerkannt werden, die ein bestimmtes Wissen haben. Aus diesem Grund wendet Hegel (im Verlauf des Buches zum ersten Mal im Selbstbewusstseinskapitel) seinen Blick von Beziehungen zwischen Subjekten und Objekten auf Beziehungen zwischen Subjekten und Subjekten, um die Selbstbegrenzung des Wissens in seiner Konstitution zu analysieren. Er schließt dabei an seine bereits erwähnte Auseinandersetzungen mit Fichtes Naturrechtslehre an und verfolgt den Gedanken, dass die Freiheit von Subjekten anderen Subjekten gegenüber nur aus Anerkennungsbeziehungen heraus verständlich gemacht werden kann. Dabei aber weicht er in erheblichem Maße von Fichte ab, der behauptet, dass die Anerkennung von anderen als eine Begrenzung der eigenen Freiheit um der Freiheit anderer willen zu verstehen ist. Genau diesen Gedanken hält Hegel für unhaltbar, da ihm zufolge die Anerkennung selbst als ein Akt der Freiheit zu verstehen ist. Sollte etwas mich zwingen, andere zu bestätigen, sie als Autorität zu achten oder in anderer Weise auf sie einzugehen, so sprechen wir nicht davon, dass ich sie anerkenne. Anerkennung ist nur dann gegeben, wenn ich sie anderen aus freien Stücken gewähre. Es ist aus diesem Grund für Hegel irreführend, Anerkennung als eine Begrenzung von Freiheit zu verstehen, wenn sie doch gerade Freiheit manifestiert. Hegel sieht sich dadurch zu dem Gedanken gedrängt, dass die Selbstbegrenzung als ein Akt der Realisierung von Freiheit im Rahmen intersubjektiver Interaktionen zu verstehen ist. Damit deutet sich an, was es heißen könnte, Selbstbegrenzung und Selbstbestimmung als zwei Seiten ein und derselben Medaille zu begreifen.

Hegel stellt also einen direkten Zusammenhang zwischen seinen Antworten auf die Fragen (a) und (b) her. Selbstbegrenzung gilt ihm nicht nur, wie Kant, als eine Voraussetzung für Selbstbestimmung. Für Hegel ist Selbstbegrenzung ein Akt der Selbstbestimmung. Den damit hergestellten Zusammenhang kann man allerdings ihm zufolge nicht ohne den Hintergrund einer gemeinschaftlichen Praxis begreiflich machen. Dies liegt unter anderem darin begründet, dass für die Realisierung von Anerkennung anderer als solcher, die ein bestimmtes Wissen haben, Praktiken erforderlich sind, die in einer Tradition entwickelt sein und in die Individuen hineinsozialisiert werden müssen. Hegel hat für den Hintergrund der Tradition schon früh den Begriff der Sittlichkeit eingeführt, der auch in den entsprechenden Passagen der PhG eine entscheidende Rolle spielt (und an dem Hegel auch in späteren Arbeiten festgehalten hat7). Eine sittliche Praxis in Hegels Sinn können wir vorerst als einen traditionsgebundenen Zusammenhang von Praktiken verstehen, die von Individuen in einer Gemeinschaft geteilt werden. Damit habe ich ausreichend Material zusammengetragen, um Hegel zwei Thesen zuzuschreiben, mit denen er auf die beiden von mir unterschiedenen Fragen antwortet:

(Antwort auf a) Eine Selbstbegrenzung des Wissens wird dadurch realisiert, dass erkennende Subjekte die (begrifflichen) Strukturen ihres Erkennens von den Objekten, die sie in diesen Strukturen erfassen, dadurch unterscheiden, dass sie diese Strukturen thematisieren.

(Antwort auf b) Erkennende Subjekte sind dadurch in der Lage, ihre Wissensansprüche anderen gegenüber aus freien Stücken zu vertreten, dass sie diese Wissensansprüche und damit auch die Strukturen ihres Erkennens in einer gemeinschaftlichen Praxis der konfliktiven Auseinandersetzung mit anderen thematisieren und so verteidigen können.

Natürlich ist es unmöglich, einen so komplexen Text wie die PhG auf zwei Thesen zu reduzieren. Dennoch können die beiden genannten Thesen vielleicht einen ersten Eindruck davon geben, worum es Hegel in seinem Text geht. Sie deuten auch an, inwiefern die beiden Elemente, die Hegel von Kant und seinen anderen Vorgängern her aufgreift, aus seiner Sicht nicht zu trennen sind: Auf der einen Seite betont er, dass die Freiheit von Subjekten nur in einem Anerkennungsgeschehen zustande kommen kann, das seinerseits an eine in einer Gemeinschaft realisierte Tradition gebunden ist. Auf der anderen Seite behauptet er, dass eine entsprechende Freiheit nicht ohne Konflikte begreiflich ist, in denen Subjekte mit ihren Perspektiven anderen gegenüber Bestand haben, dass solche Konflikte aber nur dann möglich sind, wenn innerhalb der Tradition Praktiken verfügbar sind, mittels deren Subjekte sich auf ihre jeweils vertretenen Verständnisse beziehen können.

Diese grundlegende Kontur von Hegels Position lässt sich mit dem von ihm eingeführten Begriff des Geistes zusammenfassen. Geist verstehe ich dabei als Begriff für eine konfliktive gemeinschaftliche Praxis, die von Selbstverständnissen – also von Praktiken, mittels deren Subjekte innerhalb der mit anderen geteilten Praxis ihre Verständnisse thematisieren – getragen ist. Im Rahmen einer solchen Praxis sind Individuen in der Lage, sich erstens auf die Strukturen ihres Erkennens zu beziehen und damit zweitens anderen gegenüber Wissensansprüche zu vertreten. Hegels Projekt ist so tatsächlich als eine »Phänomenologie des Geistes« zu verstehen: Es geht ihm darum, die Konstitution – das In-Erscheinung-Treten – einer Praxis nachzuvollziehen, in der Selbstbegrenzung und Selbstbestimmung zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Der Begriff des Geistes ist dabei, und das wird bereits an diesem Punkt deutlich, nicht mit dem Begriff des Geistes zu verwechseln, wie er in der sogenannten philosophy of mind gebraucht wird, die man im Deutschen heute als »Philosophie des Geistes« übersetzt. Hier ist von Geist in dem Sinne die Rede, dass ein einzelnes Individuum – paradigmatisch ein Mensch – ein geistiges Wesen ist, etwa im Gegensatz zu einem Baum oder einem Stein. Hegels Begriff des Geistes setzt hingegen auf einer Ebene an, die sich nicht auf das Wirken einzelner Subjekte reduzieren lässt. Er meint dezidiert eine gemeinschaftliche Praxis, die bestimmte Eigenschaften aufweist, nämlich insbesondere die Eigenschaft, mit symbolischen Artikulationen verbunden zu sein, die die Herausbildung von Selbstverständnissen ermöglichen, die in Konflikten verteidigt werden.

Jedoch nicht nur der Begriff des Geistes ist hilfreich, um die Thesen der PhG zusammenzufassen, sondern auch der Begriff der Moderne. Aus Hegels Sicht sind die Konstitutionsbedingungen einer Praxis, in der Selbstbegrenzung und Selbstbestimmung im Zusammenhang miteinander realisiert sind, in historischen Entwicklungen zustande gekommen. Sie haben keine überzeitliche Gültigkeit – wie die Kantischen Formen transzendentaler Subjektivität –, sondern unterliegen historischen Entstehungsbedingungen (auch wenn das nicht heißt, dass sie einfach zur Disposition gestellt werden könnten). Insofern zeigt die PhG ein Charakteristikum Hegelschen Philosophierens, das er später mit der Aussage artikuliert hat, Philosophie sei »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«.8 Die PhG begreift menschliche Selbstbegrenzung und Selbstbestimmung in ihrer spezifisch modernen Ausprägung. Das ist kein historiographisches Vorhaben, so dass insbesondere das Geistkapitel als ein Kurzabriss abendländischer Geschichte zu lesen wäre. Es geht Hegel vielmehr um eine Rekonstruktion der strukturellen Entwicklung von Praktiken, die für eine moderne Praxis der Selbstbegrenzung und der Selbstbestimmung wesentlich sind.

Ein Vorbegriff einer solchen Praxis lässt sich mit zwei Charakterisierungen geben: Erstens ist eine moderne Praxis nicht in dem Sinne traditionsgebunden, dass sie durch einen bestimmten historisch-kulturellen Kontext bestimmt wäre. Zwar bestehen auch in einer modernen Praxis solche Kontexte; sie können aber von den Individuen immer unter Bezugnahme auf andere Kontexte überschritten werden. Die Möglichkeit einer solchen Überschreitung liegt zweitens in der kritischen Haltung begründet, die Individuen im Rahmen einer modernen Praxis den sie bindenden Normen gegenüber einnehmen. Das von Kant artikulierte Selbstverständnis eines aufgeklärten Denkens ist in diesem Sinn als paradigmatisch für die Moderne zu verstehen. Hegel geht es darum, die Entwicklungen nachzuvollziehen, die zu einem solchen Selbstverständnis geführt haben.

Zielsetzung und Aufbau des Kommentars

Das Ziel eines systematischen Kommentars zu Hegels komplexem Text muss in erster Linie sein, klärende Vorschläge zur Interpretation zu machen und in diesem Sinne Lesarten des Textes zu eröffnen. Dies muss zudem in einer übersichtlichen Art und Weise geschehen, so dass es wichtig ist, den sowieso unüberschaubar langen Text Hegels nicht noch einmal durch einen gleichermaßen ausgreifenden Kommentar zu vermehren. Entscheidend für das Vorhaben dieses Buches sind also Klarheit und Kürze.

Wiederum darf Klarheit nicht einfach behauptet werden. Die PhG ist an vielen Stellen unklar und lässt mehrere Interpretationen zu, ja mehr noch: Sie fordert geradezu unterschiedliche Interpretationen. Meine Vorschläge zur Interpretation will ich also so entwickeln, dass ich jeweils auch auf wichtige andere Interpretationsmöglichkeiten hinweise und darlege, warum ich diese nicht vertrete. Auch wenn dies jeweils nur in knapper Form geschehen kann, so will ich auf diese Weise der Vielstimmigkeit von Hegels Text Rechnung tragen.

Besonders wichtig für meinen Kommentar ist das Ziel, Hegels Text systematisch zu erläutern. Wie bereits mehrfach betont, bleibt die systematische Anlage in Hegels Text an vielen Punkten unklar. Das ist auch den vielfältigen historischen Bezügen geschuldet, die insbesondere das Geistkapitel bestimmen und die dazu führen, dass viele der vorliegenden Kommentare zu Hegels Text sich ab einem bestimmten Moment in erster Linie auf eine Erläuterung dieser Bezüge konzentrieren.9 Ich halte es für besonders wichtig, gerade auch dort, wo Hegels Text dem ersten Anschein nach historischen Orientierungen folgt, auch noch die systematische Linie des Textes nachvollziehbar zu machen. Das betrifft viele Passagen des Geistkapitels, aber zum Beispiel auch den Übergang zum Religionskapitel. An solchen Punkten ist es mein besonderer Anspruch, Hegels Text systematisch zu interpretieren, so dass ich insgesamt die Thesen und Argumente klären will, die Hegel bis zum Ende des Buches entwickelt und die meinem Verständnis zufolge in einem engen Zusammenhang stehen, der von den ersten Seiten des Bewusstseinskapitels bis zum absoluten Wissen reicht.

Um die so weit benannten Ziele zu realisieren, gebe ich meinem Kommentar eine Struktur, die von der eines durchlaufenden Kommentars abweicht: Ich teile den Text in grundlegende Einheiten auf und gehe in Bezug auf diese Einheiten jeweils in analoger Art und Weise vor:

1. Zuerst lege ich kurz dar, worum es in der jeweiligen Einheit geht, um dann

2. wichtige Fragen zu benennen, mit denen jede Interpretation sich auseinandersetzen muss.

3. Daraufhin entwickle ich meinen Kommentar entlang von Hegels Text in Orientierung an diesen Fragen und fasse

4. die systematischen Ergebnisse, zu denen Hegel in den Abschnitten kommt, abschließend zusammen.

Die Einheiten, in die ich den Text Hegels einteile, bestimme ich in Anlehnung an seine Gliederung, und zwar an jene zweite Gliederung, die er dem Text gegeben hat. So beginne ich mit der Einleitung und behandele dann jeweils das Bewusstseins-, das Selbstbewusstseins- und das Vernunftkapitel im Zusammenhang. Das lange Geistkapitel unterteile ich in drei Abschnitte, wobei ich zuerst die Zusammenhänge, die Hegel als sittliche Welt begreift, dann die Bildung und schließlich die Abschnitte zu Moralität und Gewissen kommentiere. Im Anschluss folgen Teile zu Religion und absolutem Wissen sowie schließlich noch zu der Vorrede als dem Textteil, den Hegel als Letztes geschrieben hat.

Diese Einteilung mag die Frage aufwerfen, warum ich nur das lange Geistkapitel und nicht auch das zwar kürzere, aber durchaus auch sehr lange Vernunftkapitel unterteile. Ich verzichte hier deshalb auf eine Unterteilung, da Hegel insgesamt Vernunft noch als eine Abstraktion aus dem Gesamtbild begreift, das mit dem Begriff des Geistes positiv umrissen wird. Mir geht es dezidiert darum, im Geistkapitel, das viele Interpretationen nicht sehr systematisch artikulieren, den Schwerpunkt zu setzen, den auch Hegel in ihm gesetzt hat. Gerade die zweite Hälfte von Hegels Text verdient mehr Aufmerksamkeit, als ihr oft zuteilwird. Allzu viele Interpretationen richten sich besonders auf das Bewusstseins- und Selbstbewusstseinskapitel, obwohl Hegel hier unmissverständlicherweise erst am Anfang seiner systematischen Entwicklungen ist. Mein Anspruch ist es, den systematischen Entwicklungen zu folgen, bis sie den Stand gewonnen haben, den Hegel in der PhG erreicht. Dies macht es erforderlich, dass ich durchaus auch eigene Vorschläge zur Interpretation des Textes systematisch ausarbeite.10 Meine Einführung will also beides sein: eine echte Einführung und ein Beitrag zu der komplexen Debatte darüber, wie Hegel zu verstehen und zu verteidigen ist.11

I. Einleitung

Überblick

In der Einleitung stellt Hegel das Projekt der PhG vor. Es handelt sich dabei um einen sehr dichten Text, der vielfach als Kernstück von Hegels Buch verstanden worden ist. Die wenigen Seiten sind entsprechend Gegenstand vieler Interpretationen geworden.12 Nach allem, was man weiß, hat Hegel diesen Textteil am Anfang seiner Arbeit an der PhG niedergeschrieben (die »Vorrede« ist erst am Ende entstanden). Aus diesem Grund führt er in der Einleitung noch in das Projekt ein, wie es ihm am Anfang vorschwebte: in eine »Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins«. Dieses Projekt hat sich im Laufe seiner Arbeit an dem Buch dann zur »Phänomenologie des Geistes« gewandelt. Auch wenn damit die Weichenstellungen der Einleitung weitgehend nicht verabschiedet werden, ist mit dem neuen Titel doch zumindest eine Akzentverschiebung gegenüber dem zu beobachten, was die Einleitung ankündigt.

Die 17 Absätze des Textes der Einleitung lassen sich in drei Abschnitte aufteilen.

1. Die ersten drei Absätze (65–67/68–70)13 artikulieren einen Ausgangspunkt, gegen den Hegel sich wendet, klären also indirekt, wie er nicht anfangen will.

2. Die Absätze vier bis acht (67–72/70–75) geben dann knapp an, wie er (stattdessen) vorgeht. Sie bieten in geraffter Form einen Ausblick auf die Entwicklung, die er in seinem Buch präsentieren will.

3. Die Absätze neun bis siebzehn (72–77/75–81) schließlich machen Angaben zur Methode der Entwicklung, die Hegel in der PhG präsentiert. Dabei behauptet er paradoxerweise, keine eigene Methode zu verfolgen.

In allen drei Teilen kann die Einleitung so gelesen werden, dass sie Hegels Selbstverständnis von Philosophie skizziert. Genau dies macht den Text reich und gleichermaßen dicht. Besonders wichtig aber ist, dass der Text klare Ankündigungen dazu macht, wie Hegel in dem Buch insgesamt vorgehen wird. Eine Lektüre der Einleitung sollte also dazu führen, dass Leserinnen und Leser ein erstes Verständnis dieses Vorgehens gewinnen.

Probleme der Interpretation

Die zentralen Fragen in der Interpretation der Einleitung lassen sich so fassen, dass jeder ihrer drei Abschnitte eine bestimmte Frage aufwirft.

(a) Gegen welche philosophischen Positionen und – sofern sich dies überhaupt sagen lässt – gegen wen richtet sich Hegel mit seinen Eingangsüberlegungen? Er kann leicht so verstanden werden, dass er hier bereits seine direkten Vorgänger Kant, Fichte und Schelling attackiert. Ist dies aber wirklich so und wenn ja: Was genau kritisiert Hegel an den Philosophien, von denen er sich abgrenzt?

Die zweite Frage betrifft die gerafften Angaben, die Hegel zu der in dem Buch präsentierten Entwicklung macht:

(b) Wie ist der Weg zu begreifen, den Hegel hier mit unterschiedlichen Formulierungen ankündigt? Er spricht zum Beispiel von einem »Weg der Seele«, dessen Ziel darin bestehe, »daß sie sich zum Geiste läutere« (69/72). Er spricht aber auch von einem »Weg der Verzweiflung« (69/72). Was besagen solche Formulierungen?

Die dritte Frage ist angestoßen von Hegels These, er benötige für sein Projekt keine eigene Methode und, damit zusammenhängend, von dem Begriff der Erfahrung, den Hegel ins Spiel bringt.

(c) Warum geht Hegel davon aus, dass Bewusstseinsgestalten sich immanent kritisieren, dass sie also in dem Sinne Erfahrungen machen, dass ihre Wissensansprüche sich in Bezug auf ihre Gegenstände als unzureichend erweisen, woraufhin sich, wie er sagt, sowohl das Wissen als auch sein Gegenstand ändert? Wie funktioniert eine solche immanente Kritik und insbesondere: Was kann es heißen, dass ein Gegenstand sich ändert? Wir gehen normalerweise davon aus, dass die Gegenstände, von denen wir Wissen zu erlangen suchen, sich nicht verändern, sondern dass sich zuweilen unsere Überzeugungen wandeln, während die Gegenstände bleiben, was sie sind. Revidiert Hegel dieses Verständnis von Erfahrung?

Detaillierter Kommentar

Hegel beginnt das große Buch damit, dass er von einer »natürlichen Vorstellung« spricht. Er erläutert sie folgendermaßen:

Es ist eine natürliche Vorstellung, daß, eh in der Philosophie an die Sache selbst, nämlich an das wirkliche Erkennen dessen, was in Wahrheit ist, gegangen wird, es notwendig sei, vorher über das Erkennen sich zu verständigen, das als das Werkzeug, wodurch man des Absoluten sich bemächtige, oder als das Mittel, durch welches hindurch man es erblicke, betrachtet wird. (65/68)

Es liegt nahe zu denken, dass Hegel erst einmal philosophische Positionen kritisiert, mit denen er sich auseinandersetzt, so zum Beispiel – wie bereits angeführt – die Positionen seiner Vorgänger Kant, Fichte und Schelling. Auch andere neuzeitliche Philosophen wie Descartes, Locke, Leibniz und Hume könnten als Positionen verstanden werden, mit denen Hegel gleich zu Beginn eine kritische Abrechnung vornimmt. So könnte er die These vertreten, dass manche oder alle dieser Philosophien einer natürlichen Vorstellung folgen, die es aber zu überwinden gelte (oder so ähnlich).

Genau das macht Hegel aber nicht. Er spricht nicht von unterschiedlichen philosophischen Positionen beziehungsweise einem bestimmten Typ von philosophischen Positionen. Vielmehr spricht er – im Sinne einer Reflexion darauf, was es heißt, mit einer philosophischen Reflexion anzufangen – von einem oftmals selbstverständlich gesetzten Ausgangspunkt. Viele Philosophien gehen demnach davon aus, dass die erste Aufgabe (der theoretischen Philosophie) in einer Analyse des Erkennens besteht. Dieser Ausgangspunkt lässt sich knapper fassen, wenn man sagt, dass Philosophie einer gängigen Auffassung zufolge Erkenntniskritik leisten soll. Demnach gibt es auf der einen Seite das Erkennen (die menschlichen Erkenntnisvermögen) sowie auf der anderen Seite das (von diesen Vermögen) Erkannte, und es muss zuerst geklärt werden, welche Mittel das Erkennen zur Verfügung hat, um Zugang zu dem zu bekommen, was erkannt werden soll. Das, was erkannt werden soll, ist die unabhängig von erkennenden Wesen bestehende Realität. Hegel spricht hier knapp von dem Absoluten. Absolut ist die Realität, weil sie losgelöst von uns als erkennenden Wesen Bestand hat. Das Erkennen – also die Kräfte in uns Subjekten, die uns erkenntnisfähig machen – wird, wie Hegel sagt, immer wieder als ein Werkzeug oder ein Mittel (beziehungsweise Medium) verstanden, das den Zugang zur Realität ermöglichen soll. Die natürliche Vorstellung besagt also, dass die Realität auf der einen Seite steht und das Subjekt mit seinen Erkenntniskräften auf der anderen und dass es zuerst zu klären gilt, in welcher Weise die Erkenntniskräfte uns Zugang zur Realität verschaffen.

Was kritisiert Hegel nun an dieser Vorstellung? Er sagt es deutlich im zweiten Absatz. Seine Kritik besteht erst einmal nicht darin, dass die Vorstellung falsch ist (auch wenn er am Ende zweifelsohne zu dieser Auffassung kommt). Vielmehr besagt sie in erster Linie, dass unbegründete Voraussetzungen im Spiel sind. Er formuliert folgendermaßen:

Sie [die Furcht zu irren, wenn man nicht zuerst die Möglichkeiten des Erkennens untersucht] setzt nämlich Vorstellungen von dem Erkennen als einem Werkzeuge und Medium, auch einen Unterschied unserer selbst von diesem Erkennen voraus; vorzüglich aber dies, daß das Absolute auf einer Seite stehe, und das Erkennen auf der andern Seite für sich und getrennt von dem Absoluten doch etwas Reelles, […]. (66/69 f.)

Wer denkt, dass die Philosophie mit Erkenntniskritik zu beginnen habe, macht also die Voraussetzung, dass es zwei Seiten gibt: die Seite des für sich bestehenden Objekts und die Seite des erkennenden Subjekts. Das Subjekt ist getrennt vom Objekt: Diese These wird von erkenntniskritischen Überlegungen vorausgesetzt. Aber wie ist diese These begründet? Woher weiß eine erkenntniskritische Philosophie, dass diese These gilt? Sie weiß es nicht – sie muss es unhinterfragt voraussetzen. Hegel spricht in diesem Sinn von einer »leere[n] Erscheinung des Wissens« (68/71). Die Erscheinung des Wissens ist deshalb leer, weil zentrale Begriffe wie die des Objekts oder des Subjekts nicht bestimmt worden sind, sondern einfach unbestimmt an den Anfang gesetzt werden. Damit führt sich das Projekt der Erkenntniskritik aber selbst ad absurdum. Es ist keine kritische Reflexion über die Möglichkeiten des Erkennens, sondern ein Sammelsurium unkritischer Behauptungen darüber, wie das Verhältnis von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt beschaffen ist. Hegel beginnt damit in diesem Sinn seine Überlegungen mit einer Kritik des Projekts der Erkenntniskritik.

Es geht ihm also nicht primär darum, bestimmte Philosophien zu kritisieren. Seine Kritik richtet sich weder primär gegen Kant noch gegen Fichte oder – was man auch immer wieder vermutet hat – gegen Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819), einen Zeitgenossen, der eine spiritualistische philosophische Position in Anlehnung an Spinoza vertrat. Zwar ist es sicher richtig, dass alle diese Philosophen erkenntniskritische Ansätze verfolgen (und insofern auch von Hegels Kritik der Erkenntniskritik getroffen werden). Sie teilen dies mit nahezu allen anderen Philosophien, die in der Neuzeit und auch bereits in der Antike formuliert worden sind (und auch, nebenbei bemerkt, mit einer großen Zahl der Philosophien, deren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen wir sind). Hegel geht es jedoch um den erkenntniskritischen Ansatz als solchen, den er zu überwinden trachtet.

Somit haben wir eine erste Idee davon gewonnen, wie die einleitende Kritik Hegels zu verstehen ist. Sie hat, von Anfang an, eine positive Seite, die folgendermaßen artikuliert werden kann: Hegel will nicht mit unbegründeten Voraussetzungen beginnen. Er erläutert dies auch mit Blick auf den Gehalt der zentralen Begriffe (wie derjenigen von Subjekt, Objekt, dem unabhängigen Bestehen des Objekts oder dem Erkennen im Unterschied zum Erkannten): Er will diesen Gehalt, wie er sagt, »geben« (68/71), das heißt: er will ihn entwickeln und nicht voraussetzen.

Hegels Kritik des Projekts der Erkenntniskritik macht selbstverständlich noch nicht klar, wie er selbst sich den Anfang des Philosophierens vorstellt. Dieser Frage wendet er sich im vierten Absatz der Einleitung zu. Gerade hier ist der Text recht kurzatmig und erklärt nicht allzu viel. Nachdem Hegel festgehalten hat, dass unbegründete Voraussetzungen genau das sind, was durch Wissenschaft und damit durch Philosophie überwunden werden soll, heißt es: »Aber die Wissenschaft darin, daß sie auftritt, ist sie selbst eine Erscheinung; ihr Auftreten ist noch nicht sie in ihrer Wahrheit ausgeführt und ausgebreitet.« (68/71) Es ist entscheidend zu klären, was Hegel hier sagen will. Ich schlage vor, ihn folgendermaßen zu verstehen: Wissenschaft ist immer mit Wissensansprüchen verbunden. Wenn diese erhoben werden, ist aber noch nicht klar, ob sie auch tatsächlich eingelöst werden. Das ist zunächst immer eine offene Frage. In diesem Sinne ist Wissenschaft zuerst einmal eine Erscheinung: ein Erheben von Wissensansprüchen, die in der Folge geprüft werden müssen.

Aus diesem Grund stellt Hegel auch nicht zu Beginn ein anderes Projekt gegen das Projekt der Erkenntniskritik. Er sagt in Bezug auf ein solches mögliches Vorgehen in aller Deutlichkeit: »ein trockenes Versichern gilt aber gerade soviel als ein anderes.« (68/71) Wissenschaft kann sich so nicht damit zufriedengeben, dass sie eine bestimmte Position bezieht. Genau darin ist sie eine bloße Erscheinung, wie Hegel sagt, bloß ein trockenes Versichern – oder anders gesagt: bloß ein erhobener Wissensanspruch. Wissensansprüche aber müssen eingelöst werden. Sie müssen sich anderen gegenüber bewähren. Wissenschaft ist eine Praxis, in der Wissensansprüche nicht einfach für sich stehen, sondern zu überprüfen sind. Eine entsprechende Überprüfung aber kann es nur dann geben, wenn das Wissen als Wissen thematisiert werden kann. Nur dann kann sich zeigen, ob erhobene Wissensansprüche auch eingelöst werden. Wissenschaft ist, kurz gesagt, notwendig mit einem Wissen vom Wissen verbunden. Wissenschaft ist nicht nur das Projekt, Wissen zu erlangen, sondern auch das Projekt, Wissen als Wissen zu thematisieren. In der Wissenschaft geht es um ein Wissen vom Wissen, um ein höherstufiges Wissen – ein Wissen, das sich als Wissen weiß. Drückt man es in dieser Weise aus, ist leicht zu sehen, dass Hegel nicht einfach allgemein von Wissenschaft spricht, sondern Wissenschaft in spezifischer Weise versteht: als Philosophie. Die Ausführungen Hegels zur Wissenschaft handeln von Philosophie, präsentieren also Philosophie als Wissenschaft par excellence.

Wissenschaft in diesem Sinn beginnt damit, dass von Positionen Wissensansprüche erhoben werden und dabei ein bestimmtes Verständnis davon vertreten wird, was Wissen ist. Solche Positionen werden immer in konkreter Weise auf etwas bezogen. Sie sind mit spezifischen historischen Umständen verbunden, mit körperlichen Aktivitäten und Interaktionen von Subjekten innerhalb von Gemeinschaften. Wissenschaft ist dabei, wie erläutert, insofern eine Erscheinung, als die erhobenen Wissensansprüche immer einem kritischen Blick unterworfen werden müssen, was in einem Prozess des immer neuen Überprüfens von Wissensansprüchen geschieht. So kann man die erste positive Angabe verstehen, die Hegel macht und der zufolge »diese Darstellung nur das erscheinende Wissen zum Gegenstande hat« (68/72). Die PhG ist also eine Darstellung davon, wie unterschiedliche Ansprüche, ein Wissen vom Wissen zu haben, an sich selbst scheitern und inwiefern daraus Rückschlüsse für ein angemessenes Wissen vom Wissen gezogen werden können.

Damit gewinnen wir zugleich ein erstes Verständnis der wiederkehrenden Rede von einem Weg: Es geht Hegel darum, ein Wissen, das sich als Wissen weiß, in angemessener Weise zu entfalten. Dies soll dadurch geleistet werden, dass unterschiedliche Varianten des Wissens vom Wissen als einseitig verständlich gemacht werden, also als solche, die an ihren Wissensansprüchen scheitern. Dadurch sollen sich zunehmend Konturen eines angemessenen Wissens vom Wissen ergeben. Heidegger schreibt sehr treffend, dass der Weg, den Hegel sich vornimmt, nicht als eine Reisebeschreibung durch das »Museum der Gestalten des Bewußtseins«14 zu verstehen ist. Vielmehr geht es um eine sukzessive Befragung von Einseitigkeiten, die ein Wissen vom Wissen verhindern.

Hegel charakterisiert im Anschluss den Weg, den er sich vornimmt, mit zwei weiteren Formulierungen, die beide auf ihre Weise klärend sind. Er charakterisiert ihn als den »Weg des natürlichen Bewußtseins, das zum wahren Wissen dringt« (68/72), und als »Weg der Verzweiflung« (69/72). Das »natürliche Bewußtsein«, von dem Hegel hier spricht, ist nicht mit der »natürlichen Vorstellung« zu verwechseln, die am Anfang der Einleitung steht. Wie wir gesehen haben, ist die »natürliche Vorstellung« eine solche, die Hegel überhaupt nicht für natürlich hält. Er ist vielmehr der Meinung, dass in dem Projekt der Erkenntniskritik viele unbegründete und überhaupt nicht selbstverständliche Voraussetzungen stecken. Hegels Charakterisierung der Vorstellung als »natürlich« ist also als ironisch zu verstehen. Seine Rede von einem »natürlichen Bewußtsein« ist hingegen nicht ironisch. Sie bezeichnet vielmehr ein einfaches Wissen vom Wissen im Sinne eines Wissensanspruchs, der besonders voraussetzungslos vertreten wird.

In dieser Erläuterung steckt eine entscheidende These, die Hegel mit vielen seiner Vorläufer teilt: Jedes Bewusstsein ist ein Wissen vom Wissen. Bewusstsein ist immer Selbstbewusstsein. Dies hat bereits Descartes behauptet,15 und alle wesentlichen neuzeitlichen Positionen sind ihm darin gefolgt. Hegel macht damit noch einmal deutlich, dass es ihm nicht darum geht, seinen Vorgängern einfach eine andere Position entgegenzusetzen. Er will vielmehr von gegebenen Positionen ausgehend eine Position entwickeln, die nicht mehr an ihren Wissensansprüchen scheitert. Das natürliche Bewusstsein ist als ein selbstverständlich erhobener Wissensanspruch ein geeigneter Ausgangspunkt, um zu diesem Punkt zu gelangen.

Auf der Basis des bislang Geklärten lässt sich auch verstehen, was Hegel meint, wenn er von einem »Weg der Verzweiflung« spricht. Es handelt sich um einen Weg, in dem zunehmend die Selbstverständlichkeit, Wissensansprüche zu erheben, verlorengeht. In diesem Sinn verzweifelt das natürliche Bewusstsein. Diese Verzweiflung ist dabei nicht einfach ein theoretisches Geschehen, sondern hat eine existentielle Dimension. In dem Maße, in dem das Erheben von Wissensansprüchen für uns immer selbstverständlich ist und auf selbstverständliche Weise vollzogen wird, sind wir es, die verzweifeln. Die PhG behandelt unterschiedlichste Positionen, denen das Erheben von Wissensansprüchen in der ein oder anderen Weise selbstverständlich ist. Und da sich immer wieder Selbstverständlichkeiten in das Erheben von Wissensansprüchen einschleichen, geht die Verzweiflung immer weiter.

Hegel stellt genau in diesem Sinne einen Bezug zum Skeptizismus her, indem er von einem »sich vollbringende[n] Skeptizismus« (69/72