Improvisieren! Lob der Ungewissheit - Georg W. Bertram - E-Book

Improvisieren! Lob der Ungewissheit E-Book

Georg W. Bertram

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Beschreibung

Der Mensch ist das improvisierende ›Tier‹ schlechthin. Denn er kann aus mangelnder Vorbereitung Chancen kreieren, sich Situationen anpassen und mit Flexibilität das Beste daraus machen. Improvisation darf dabei nicht mit Stümperei verwechselt werden. Der Jazzmusiker Lee Konitz forderte etwa von Mitmusikern und Zuhörern, darauf vorbereitet zu sein, unvorbereitet zu sein. Wer also souverän mit unklaren Situationen umgehen möchte, sollte den Zwang zur Improvisation niemals fürchten: Herausforderungen und Krisen sind ohne diese grundlegende menschliche Fähigkeit nicht zu meistern.

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Georg W. Bertram / Michael Rüsenberg

Improvisieren!

Lob der Ungewissheit

Reclam

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2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961936-1

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014164-9

www.reclam.de

Inhalt

Prolog

Warum das Improvisieren oft falsch verstanden wird

Improvisieren im Jazz und darüber hinaus

Der Film und die Frage: Lassen sich Improvisationen aufzeichnen?

Das Gespräch

Evolution und die biologischen Grundlagen des Improvisierens

Medizin als improvisatorische Praxis?

Das improvisierende Gewohnheitstier

Die Improvisation des Entscheidens: Politik, Organisation – und Fußball

Das angemessene Urteil: Improvisation im Recht

Die Zeit des Improvisierens und seine Ungewissheit

Epilog

Anmerkungen

Literaturhinweise

Zu den Autoren

Prolog

Dieser Essay plädiert für ein anderes Verständnis vom Improvisieren und damit für eine andere Sicht auf uns Menschen. Er will mit einigen Irrtümern aufräumen, die uns eine klare Sicht auf uns und auf die Bedeutung des Tuns im Offenen gleichermaßen versperren. Wir sollten lernen, im Improvisieren eine Stärke zu sehen, die uns als Menschen ausmacht.

Die folgenden Überlegungen sind das Ergebnis einer Bemühung, die in unterschiedlichen Akzenten verläuft: auf der einen Seite das Interesse für viele Bereiche, in denen improvisatorische Praktiken und Strukturen anerkanntermaßen relevant sind, und für all das, was sich in Bezug auf das Improvisieren sagen lässt und was dazu gesagt wird; auf der anderen Seite das Nachdenken über den Begriff der Improvisation, seine Bedeutung für menschliche Praktiken sowie über die Gründe, deretwegen diese Bedeutung immer wieder verborgen bleibt. Beide Ansätze werden in dem vorliegenden Essay zusammengeführt.

Den Ausgangspunkt bildet die Frage, warum wir das Improvisieren oft falsch verstehen. Dieser programmatische Auftakt führt uns zum Jazz im Besonderen sowie zur Musik und den Künsten im Allgemeinen, der Wahlheimat des Improvisierens. Dass das Improvisieren sich auf diese Bereiche nicht eingrenzen lässt, zeigt ein Blick auf etwas, das uns sehr vertraut ist, auf das Gespräch. Im Anschluss geht es um Evolution, Tiere und Medizin sowie schließlich um Politik, Management und Organisation sowie Fußball und Recht. In einigen dieser Bereiche wird schon jetzt von Improvisation gesprochen, in vielen aber auch nicht – in nicht wenigen ist der Begriff sogar verpönt. Wir wollen zeigen, wie der Blick auf konstitutiv improvisatorische Momente uns hilft, die Dinge klarer zu sehen.

Die einzelnen Abschnitte des Essays sind so gestaltet, dass sie sich auch unabhängig voneinander lesen lassen. Zuletzt hängen sie aber doch miteinander zusammen. Sie bilden einzelne Stationen auf dem Weg zu einem umfassenderen Verständnis davon, was Improvisieren für uns bedeutet.1

Warum das Improvisieren oft falsch verstanden wird

Mit dem Improvisieren ist das so eine Sache. Wenn wir nicht gerade an die Jazzmusik denken, kommt es uns eigenartig vor. Dort scheint man damit viel anfangen zu können. Aber in unserem eigenen alltäglichen Leben? Der Improvisation haftet der Ruf des Beliebigen an, des Halbfertigen, nicht ganz Gelungenen. Improvisation verspricht höchstens eine Lösung für den Augenblick, doch im Anschluss muss eine Sache wetterfest gemacht werden.

Wir halten diese Perspektive für falsch. Wir gehen davon aus, dass Menschen sich in vielerlei Hinsicht durchaus auf das Improvisieren verstehen. Sie missverstehen sich aber darin, was dies für sie bedeutet. Sie halten Improvisation überwiegend für etwas, das nur dann erforderlich wird, wenn sie nicht (ausreichend) vorbereitet sind, wenn etwas schiefgeht – oder wenn ein Ereignis unerwartet und urplötzlich eintritt: ein Unfall. Vielleicht benutzt man den Begriff ab und an beim Kochen, doch eher dann, wenn man einen Fehler in der Zubereitung oder das Fehlen einer Zutat auszubügeln hat. In den Künsten setzen wir oft bewusst auf Risiko, darauf, dass etwas anders als geplant verlaufen und so auch schiefgehen könnte: Das erhöht die Spannung und macht einen besonderen künstlerischen Reiz aus.

Dieses Verständnis von Improvisieren wollen wir in Frage stellen, denn wir sollten es überwinden. Um das zu zeigen, müssen wir weiter ausholen.

Beginnen wir mit dem, was normalerweise als Gegenteil des Improvisierens verstanden wird. Für das Gegenteil haben wir viele Ausdrücke: komponieren, sich sicher sein, über verlässliche Fähigkeiten verfügen, vernünftig sein, aus festen Grundsätzen und Strukturen heraus und nach wohlüberlegter Planung handeln, eine bestimmte Strategie verfolgen. Mit Ausdrücken dieser Art wird nach landläufiger Meinung auch das Besondere beziehungsweise das Ziel des menschlichen Lebens angesprochen. Die Besonderheit des Menschen liegt, so scheint es, darin, dass er sich in seinen Fähigkeiten und seinen Möglichkeiten absichert und Festigkeit gewinnt.

Der griechische Philosoph Platon (um 428–347 v. Chr.) entwickelte in seinen Dialogen ein Programm der Erinnerung an Urbilder, die dem Menschen Stabilität verleihen sollen. Dabei erkennt er das Grundproblem menschlicher Existenz in der Flüchtigkeit all dessen, was uns umgibt. Die Welt und die Umstände, in denen wir uns befinden, ändern sich von Tag zu Tag und sogar von Moment zu Moment. In dem, womit wir konfrontiert sind, findet sich keinerlei Konstanz. Unsere Existenz ist umgeben von flackernden Schatten, wie sie in Platons Gleichnis vor den Höhlenbewohner*innen an die Wand geworfen werden. Nicht nur Platon hat aus dieser Grundsituation der menschlichen Existenz heraus den Schluss gezogen, der Mensch habe aus sich heraus für Verlässlichkeit und Festigkeit zu sorgen. Er muss sich an Bestimmungen halten können, die ihm Sicherheit geben. Diese Bestimmungen liegen entweder, wie Platon denkt, jenseits unserer Sinnenwelt oder sie müssen, wie in der Neuzeit immer wieder behauptet, vom Menschen selbst entwickelt werden.

Dieses Bild des Menschen wurde in der Aufklärung und dort von seinem wichtigen Vertreter Immanuel Kant (1724–1804) bekräftigt. Versteht Kant Aufklärung als den »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit«2, so begegnet er dieser Unmündigkeit damit, das menschliche Tun durch selbstgesetzte Regeln zu stabilisieren. Dies soll dadurch geleistet werden, dass man das eigene Handeln an Regeln orientiert, die für alle gelten können. Der entsprechende kategorische Imperativ lautet (in einer seiner Formulierungen): »[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.«3 Es gilt, eine Gesetzgebung der bzw. durch Vernunft zu realisieren.

Was im abendländischen Denken so prominent vertreten wurde, bestimmt das Selbstverständnis von Menschen weit über diesen Kontext hinaus. Prägend wurde der Gedanke, dass das Ziel des menschlichen Lebens in Selbststabilisierung liegt. Und genau dieser Gedanke ist mit einem bestimmten Verständnis des Improvisierens verknüpft. Vielen ist Improvisieren verdächtig und darf nur dann durchgeführt werden, wenn die Selbststabilisierung in bestimmten Momenten und in Bezug auf spezifische Umstände nicht greift.

Denken wir zum Beispiel an die Medizin: Fragt man Chirurg*innen, ob sie improvisieren, dann werden einige sicher die Frage empört zurückweisen. Wer seine Materie beherrscht, der muss nicht improvisieren. Er weiß genau, was er tut. Aber stimmt das? Wodurch zeichnet sich etwa eine Chirurgin aus, die ihr Metier beherrscht und die über viel Erfahrung verfügt? Offensichtlich dadurch, dass sie auch mit schwierigsten Situationen umzugehen vermag.

Es ist charakteristisch für unsere menschliche Existenz, dass wir mit Unsicherheiten umgehen lernen und sie für uns produktiv machen können. Wir können Unsicherheiten sogar dezidiert suchen und tun dies auch oft. Dafür haben wir improvisatorische Fähigkeiten entwickelt.

Mit diesen Fähigkeiten ist ein zeitlicher Aspekt verbunden, der sich von der Wortgeschichte her erschließen lässt. Das Wort Improvisation kommt aus dem Italienischen (also nicht aus dem Lateinischen, wie man vielleicht denken mag). Das italienische improvvisare (›aus dem Stegreif agieren‹) ist ein Verb, das von improvviso (›unerwartet, unvorhergesehen, unvermutet‹) abgeleitet ist. Improvviso lässt sich wiederum auf das lateinische Verb providere (›vorhersehen‹) und die mit ihm zusammenhängende verneinende Form des Partizip Perfekt Passiv improvisus (›unerwartet, unvorhergesehen‹) zurückführen. Improvisieren ist also ein unvorhergesehenes Tun, das auf die Zukunft verweist. Es stellt aus sich heraus die Frage, was man mit ihm anfangen kann.

Das Substantiv Improvisation lenkt den Blick stärker auf das Ergebnis. Doch wenn wir beim Verb bleiben, wird die offene Struktur deutlicher. Wer etwas Unvorhergesehenes tut, ist auf die Zukunft hin orientiert, in der sich entscheiden wird, was die Mitwelt aus dem Angebot macht.

Leicht gewinnt man den Eindruck, dass all das, was von normaler Funktionalität und Beherrschung abweicht, als ›improvisiert‹ bezeichnet wird. Ein markantes Beispiel dafür sind die sogenannten »improvisierten Sprengfallen«, »improvised explosive devices« (IEDs), eine Abart der Landmine. Ein scheinbar arglos zurückgelassener Turnschuh beispielsweise kann sich als eine solche Waffe erweisen. Ihre Herstellung erfordert die strikte Einhaltung eines Planes; dass dabei zur Tarnung unkonventionelle Bausteine verwendet werden, widerspricht ihrer Funktionalität nicht. Improvisation ist dabei nicht im Spiel. Hier wiederholt sich in zugespitzter Weise das bereits angesprochene Missverständnis: Improvisieren gilt als Abweichung vom beherrschbaren Normalfall. All das, was nicht in das Bild geregelter Abläufe und Gegenstände passt, gilt als improvisiert. Damit aber wird das Improvisieren falsch verstanden.

Dieser Essay plädiert dafür, dass wir unser Selbstverständnis ändern sollten. Wir verstehen uns als menschliche Wesen nur dann richtig, wenn wir uns von Fähigkeiten her begreifen, die es uns erlauben, unvorbereitet zu sein und im Ungewissen zu agieren. Es geht um Fähigkeiten, mittels deren wir uns auf Situationen, mit denen wir nicht gerechnet haben, vorbereiten. Für solche Fähigkeiten spielen Regeln – zum Beispiel guter chirurgischer Praxis – zweifelsohne eine wichtige Rolle. Doch werden wir mittels dieser Regeln allein keine Selbststabilisierung erreichen. Zu ihr gelangen wir erst dann, wenn die Regeln in Verbindung mit denjenigen Vermögen stehen, die es uns erlauben, dort weiterzukommen, wo alle eintrainierten Abläufe uns nicht mehr weiterhelfen.

Beziehen wir uns noch einmal auf das Bild Platons: Es ist richtig, dass gerade die natürlichen Umgebungen, in denen wir leben, uns mit stetem Wandel konfrontieren. Wenn wir uns gegen den Wandel stabilisieren, erreichen wir nur, dass wir den Kontakt zu dem, was uns umgibt, verlieren. Wollen wir diesen Kontaktverlust vermeiden, müssen wir die Instabilität dessen, was uns umgibt, anerkennen und für uns produktiv machen. Das schaffen wir durch improvisatorische Fähigkeiten, die die Grundlage für die produktive Form von Stabilisierung abgeben, die wir erlangen können.

Die Plausibilität dieses Gedankens können wir uns vor Augen führen, wenn wir an Krisensituationen denken. Gerät die Welt – wie in der Corona-Pandemie – aus der Bahn, werden wir nicht mit der Situation zurechtkommen können, wenn wir ausschließlich auf feste Schemata setzen. All die Zusammenhänge gesellschaftlichen Lebens, die fixiert sind, geraten in einer solchen Situation in größere Schwierigkeiten. Die Bereiche und Institutionen hingegen, die darauf eingestellt sind, sich immer wieder aus sich selbst heraus zu verändern, werden deutlich besser zurechtkommen.

Verwaltungsapparate und Unternehmen der Dienstleistungsbranche geben charakteristische Beispiele ab. Während Erstere angesichts unerwarteter Herausforderungen vielfach nicht von den etablierten Abläufen und Routinen abweichen können und in Untätigkeit verfallen, haben sich Letztere grundsätzlich darauf eingestellt, schnell auf sich verändernde wirtschaftliche Situationen reagieren zu können. Die vielfältige Verwendung des Improvisationsbegriffs in neuerer Literatur zur Unternehmensführung dokumentiert dies eindrücklich.

Wenn wir also in dieser Weise unser Selbstverständnis korrigieren, müssen wir auch den fehlgeleiteten Begriff der Improvisation überwinden, der mit dem falschen Selbstverständnis verbunden ist, das auf eine alle Kontingenzen abwehrende Form von Festigkeit setzt. Warum ist dies Verständnis von Improvisation unzureichend? Zwei Aspekte sind entscheidend:

Erstens beruhen Improvisationen auf komplexen Vorbereitungen, auf einem Erwerb besonderer Fähigkeiten. Gerade wenn wir – aus Sicht unseres problematischen Selbstverständnisses – alltäglich zum Improvisieren gezwungen sind, brauchen wir solche Fähigkeiten. Sollten uns die richtigen Materialien oder Werkzeuge für eine handwerkliche Aufgabe oder die passenden Zutaten für ein Kochrezept fehlen, kommen wir nicht weiter, wenn wir nur über ein eng umrissenes Set von Handgriffen verfügen. Wir müssen Fähigkeiten entwickeln, die es uns erlauben, auch unbekannte Wege zu gehen.

Und weiter beim Kochen: Eine Köchin, die viel Erfahrung hat, wird bei unerwarteten Problemen mit den Zutaten anders zurechtkommen als jemand, der nur selten und ohne größeren Enthusiasmus kocht. Die Köchin kann besser improvisieren. Das liegt daran, dass sie über weiter entwickelte Fähigkeiten des Improvisierens verfügt. Dass die Fähigkeiten bei ihr weit entwickelt sind, heißt aber nicht, dass sie bei einem Alltagskoch nicht auch vorliegen könnten. Alles Kochen beruht auf improvisatorischen Fähigkeiten. Aus diesem Grund ist die Gleichung ›aus mangelnder Vorbereitung und Planung folgt Improvisation‹ grundfalsch. Auch den kleinen und großen Improvisationen unseres alltäglichen Lebens wird diese Gleichung nicht gerecht.

Man nimmt anscheinend an, dass Improvisationen letztlich nur in Situationen zustande kommen, in denen es an Möglichkeiten beherrschten Vorgehens fehlt. Damit ist der Gedanke verknüpft, dass Improvisieren eine Art trial and error sei. Wo improvisiert werden muss, kann etwas genauso gelingen, wie es immer auch schiefgehen kann. Umgekehrt wird dadurch (fälschlich) nahegelegt, dass nur dort, wo wir nach festen Regeln vorgehen, etwas gelingen kann. In der Improvisation hingegen soll gelten: Es kann gut gehen – oder auch nicht.

Die These, das Improvisieren sei grundsätzlich nicht abgesichert, zeigt noch einen anderen wichtigen Punkt. Es sieht so aus, als entstehe im Improvisieren etwas gewissermaßen aus dem Nichts heraus, als komme es zu einer creatio ex nihilo. Aber Improvisationen kommen nicht aus dem Nichts. Wer keine improvisatorischen Fähigkeiten erworben hat, kann in unerwarteten Situationen nicht bestehen.

Wenn man beim Kochen auf ein fest umrissenes Set der Kombination von Zutaten eingeschränkt ist, dann bleibt einem im Falle einer fehlenden Zutat einfach kein Spielraum. Das gilt ähnlich in der Chirurgie. Wer auf bestimmte Handgriffe festgelegt ist, der kann nicht reagieren, wenn diese Handgriffe nicht anwendbar sind. Kurz: Das Improvisieren kommt nicht aus dem Nichts, sondern beruht auf Erfahrung, Geistesgegenwart und eintrainiertem Vorgehen.

Das bringt uns zum zweiten Aspekt, den es in Bezug auf Improvisationen zu revidieren gilt. Improvisationen gelten als ein regelloses Tun.

Aber das sind sie nicht. Ganz offenkundig wird dies in den Künsten. Wenn im Jazz, im Tanz oder im Theater improvisiert wird, dann sind immer Regeln im Spiel, die entweder im Voraus verabredet worden sind oder die – mehr noch – im Zuge des Improvisierens selbst etabliert werden. Die Regeln können sich auf wenige Punkte beschränken, sie können sich auch darin zeigen, bestimmte Vorgehensweisen oder Formen auszuschließen. In künstlerischen Improvisationen (auch im Free Jazz) ist nicht einfach alles zulässig. Und mehr noch: Diese Improvisationen macht gerade aus, dass die Improvisierenden in ihrem Zusammenspiel neue Regeln entwickeln und fortführen. Es bedarf dazu keiner expliziten Verabredungen.

Doch auch jenseits der Kunst unterliegen Improvisationen Regeln. Wenn mir zum Beispiel die richtige Schraube fehlt, um zwei Holzstücke zu verbinden, dann kann ich nicht einfach irgendetwas anderes machen. Ich bin in meinem Improvisieren an mein Ziel gebunden, eine funktionierende Verbindung herzustellen. Auch in einer Mahlzeit kann ich das fehlende Gewürz nicht einfach irgendwie ersetzen. Ich sollte am Ende etwas realisieren, das geschmacklich überzeugend ist.

Hinter der engen Bindung des Improvisierens an Regeln verbirgt sich ein entscheidender Aspekt: Alles Improvisieren ist in Handlungskontexte eingebunden. Wo nicht gehandelt wird, kann auch nicht improvisiert werden. Handeln ist ein zielorientiertes Tun. Sowohl beim Kuchenbacken als auch bei einem Vertragsschluss wird ein gewisses zukünftiges Ziel verfolgt. Im einen Fall handelt es sich um das zu erreichende Ergebnis des Backens, den Kuchen; im anderen Fall um die vertragliche Bindung, die man eingeht. Wo Ziele verfolgt werden, kann es wichtig werden, zu improvisieren, wie auch im Falle der bereits angeführten Beispiele: Sollten die richtigen Materialien für den Zusammenbau des Schrankes nicht verfügbar sein, muss man sich anderweitig zu helfen wissen. In diesem Fall ist man an dem Ziel orientiert, den Schrank so aufzubauen, dass der Schrank den Erwartungen an seine Funktion gerecht wird. Und wenn die Beschaffenheit des Körpers, auf die man beim Operieren trifft, anders ist, als man es kennt, sind Fähigkeiten entscheidend, mit diesen neuen Vorgaben umzugehen.

Im Gegensatz zu einem solchen Handlungskontext, in dem Improvisieren durchaus Leben retten kann, ist die Nützlichkeit des Improvisierens in seinen elaborierten künstlerischen Formen nicht so offensichtlich. Was sollte auch durch eine Jazz- oder eine Tanz-Improvisation realisiert werden? Doch auch in diesem Fall kann man das Ziel klar bestimmen: Es handelt sich um guten Jazz oder guten Tanz. Wer mit anderen in einem Jazzquartett improvisiert, will gelungene Jazzmusik hervorbringen. Insofern liegt auch hier ein Handeln unter bestimmten Vorgaben vor und nicht etwas, das man als bloße spielerische Aktivität bezeichnen könnte. Es geht im Improvisieren nicht nur um eine Aktivität um der Aktivität willen. Und ebenso wenig um ein zielloses Geschehen.

Setzt man dem Improvisieren beherrschte und geplante Tätigkeit gegenüber, könnte man auf den Gedanken kommen, Improvisieren gelinge dann am besten, wenn der Improvisierende nicht durch Regeln eingeschränkt wird, er sich nicht beherrschen muss, sondern frei und unbeherrscht agieren kann. Sie erscheint als etwas, das aus natürlichem Vermögen heraus zustande kommt. So ist auch mit dem Gedanken geliebäugelt worden, die natürliche Evolution als ein improvisatorisches Geschehen zu begreifen. Doch ›die Natur‹ improvisiert nicht, da sie kein Ziel verfolgt. In ihr waltet blindes Geschehen. Improvisationen aber verlaufen nicht blind (auch wenn Improvisierende vielfach nicht Rechenschaft darüber ablegen können, wie genau sie etwas warum getan haben), da sie grundsätzlich mit Zielen verbunden sind, um die es im improvisatorischen Handeln geht.

Insofern müssen wir lernen, Improvisieren nicht aus einem Gegensatz zur beherrschten Tätigkeit heraus zu verstehen. Improvisieren ist, so könnte man sagen, eine andere Art beherrschter Tätigkeit, ein kontrollierter Kontrollverlust. Beherrschung ist in der Improvisation nicht an festgelegte, stabile Regeln gebunden. Vielmehr liegt die Beherrschung der Improvisation in der situativen Veränderung von Regeln und einem gelingenden Antworten auf etwas, mit dem man nicht