Die Freiheit des Verstehens - Georg W. Bertram - E-Book

Die Freiheit des Verstehens E-Book

Georg W. Bertram

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Beschreibung

Theorien des Verstehens und kritische Theorien werden häufig als Gegenpositionen begriffen. Georg Bertram zeigt in seinem neuen Buch, dass dies nicht so sein muss. Verstehen ist seinem Entwurf zufolge konstitutiv mit Prozessen der Kritik und Selbstkritik verbunden – mit Prozessen, die ihrerseits in Konflikten wurzeln. Aus diesem Grund ist Verstehen, wo es sich einstellt, nicht selbstverständlich, sondern Teil einer in umfassender Weise improvisatorischen Praxis. Von dieser hermeneutischen Praxis der Freiheit aus lässt sich erkennen, was Subjekte ausmacht.

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Cover

Titel

3Georg W. Bertram

Die Freiheit des Verstehens

Eine hermeneutisch-kritische Theorie

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2431

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77722-0

www.suhrkamp.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Vorbemerkung

Einleitung

Kapitel

I

.

Die Selbstverständlichkeit des Verstehens und das Problem der Freiheit

1. Gadamer: Verstehen als Frage-und-Antwort-Geschehen

2. Davidson: Verstehen als radikale Interpretation

3. McDowell: Die Verpflichtung zur Reflexion

4. Was ist zu tun? – Ein Zwischenstand

5. Ausblick auf eine Hermeneutik der Freiheit

Kapitel

II

. Der improvisatorische Charakter des Verstehens – eine programmatische Rekonstruktion

1. Improvisation als normative Praxis

1.1 Auf dem Weg zu einem Vorbegriff der Improvisation

1.2 Die Grundstruktur von Improvisationen: Einzelaktion versus Interaktion

1.3 Normen in statu nascendi

1.4 Improvisatorische Fähigkeiten und die evaluative Dimension improvisatorischer Praktiken

2. Verstehen als improvisatorisches Geschehen: drei grundlegende Aspekte

2.1 Die Wandelbarkeit des Verstehens (Chomsky/Davidson)

2.2 Verstehen als Antwortgeschehen (Wittgenstein/Gadamer/Kleist)

2.3 Die Plastizität der Fähigkeiten sprachlichen Verstehens (Malabou)

3. Die offene Normativität des Verstehens

3.1 Konstante Weiterentwicklung von Normen (Hegel/Wittgenstein)

3.2 Normen des Verstehens und die Spannung zwischen Individuen und überindividuellen Praxiszusammenhängen

3.3 Strukturen des Verstehens und ihr mögliches Erstarren als Grundlage von Freiheit

Kapitel

III

. Konflikte als Grundlage des Verstehens

1. Die soziale Grammatik von Konflikten

1.1 Anerkennung als konfliktive Praxis

1.2 Asymmetrische Anerkennungsverhältnisse im Konflikt

1.3 Die Notwendigkeit der Reflexion und die Herstellung von Gemeinsamkeit im Konflikt

1.4 Die Weltorientierung im Konflikt

2. Konflikte im Verstehen

2.1 Wiederholungsketten des Verstehens

2.2 Konflikte, Verunsicherung und die Öffnung der Sprache zur Welt

2.3 Gemeinsamkeiten in Konflikten über Verständnisse (Arendt/Cavell)

2.4 Das Ringen um Kriterien

3. Radical Interpretation Revisited

3.1 Gemeinschaft des Konflikts

3.2 Freiheit aus dem Konflikt

3.3 Reibung an der Welt

Kapitel

IV

.

Subjekte als Instanzen von Selbstkritik

1. Auf dem Weg zu einem hermeneutisch-kritischen Begriff der Subjektivität

1.1 Vier Modelle der Einheit des Subjekts

1.2 Integration und Öffnung

1.3 Die Unganzheit des Subjekts

1.4 Die Distanzierung von Subjekt und Objekt

2. Die Struktur der für Subjekte konstitutiven Selbstkritik

2.1 Zur Kritik der existenzphilosophischen Deutung von Selbstkritik

2.2 Zur Kritik der psychoanalytischen Deutung von Selbstkritik

2.3 Die Entwicklung von Distanz und Nähe in der Selbstkritik: das engagierte Subjekt (Taylor/Foucault/Schmitt)

2.4 Selbstkritik als Selbstverunsicherung (Hegel)

3. Subjekte des Verstehens – ein letzter Zwischenstand

Kapitel

V

.

Das Potential der Freiheit

1. Freiheit als Aufgabe: Die konstitutive Rolle von Anerkennungskonflikten (Fichte/Hegel)

2. Freiheit aus dem Umgang mit … (McDowell/Butler)

3. Zwang und Freiheit im Verstehen (Rousseau/Freud)

4. Der soziale und geschichtliche Charakter des Zusammenhangs von Zwang und Freiheit im Verstehen

5. Freiheit und die Kritik der Macht des Verstehens

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9Vorbemerkung

Dieses Buch ist das Ergebnis einer nun schon mehr als dreißigjährigen Auseinandersetzung mit Fragen des Verstehens und mit kritischen Theorien der Gesellschaft sowie der Subjektivität. Meine beiden philosophischen Lehrer Odo Marquard und Martin Seel haben mir für diese Auseinandersetzung wichtige Impulse gegeben und das intensive Studium unter anderem von Adorno, dessen Ästhetische Theorie mir bereits im ersten Semester im Oberseminar begegnete, und Heidegger, dessen Sein und Zeit ich für die Zwischenprüfung wochenlang vorbereitete, angestoßen. An der Freien Universität Berlin hat sich für mein daraus resultierendes philosophisches Profil ein idealer Kontext ergeben, sowohl mit Blick auf Fragen der Künste als auch hinsichtlich der Philosophie der Sprache, der Rationalität und der Subjektivität. Neben einem Aufenthalt bei John McDowell an der University of Pittsburgh haben besonders auch philosophische Freundschaften mit Kolleg:innen außerhalb von Berlin – hervorheben will ich Seoul, Tel Aviv und Turin – mein Nachdenken über Fragen des Verstehens durch viele gemeinsame Veranstaltungen und Gespräche geprägt.

Bereits im Jahr 2017 habe ich auf der Rückreise von einem Aufenthalt in Turin den Entschluss gefasst, meine Überlegungen zum Begriff des Verstehens und die damit verbundenen Revisionen hermeneutischen Denkens in systematischer Weise auszuarbeiten. Nicht zuletzt meine Aktivitäten in der Selbstverwaltung und Weiterentwicklung der Universität und zudem die Belastungen der Corona-Pandemie haben dabei für nicht unerhebliche Verzögerungen gesorgt. Zugleich hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft mir mit dem seit 2021 bestehenden Graduiertenkolleg »Normativität, Kritik, Wandel« einen weiteren wundervollen Kontext ermöglicht, in dem ich meine Gedanken schärfen konnte. Eine von der DFG unterstützte Teilfreistellung während des ersten Semesters im Kolleg hat mir die vertiefte Arbeit an zwei Kapiteln dieses Buches ermöglicht, zudem habe ich sehr von allen Mitgliedern des Kollegs und meines Arbeitsbereichs im Zuge vieler gemeinsamer Diskussionen profitiert (Linus Aigner, Tilman Giustozzi und Lilja Walliser haben mich in besonderer Weise in der Arbeit am Text unterstützt). 10Insgesamt schulde ich weit mehr Menschen – Studierenden, Mitarbeitenden und Kolleg:innen – Dank für Gespräche und Anstöße, als ich hier nennen kann. Insofern schließe ich sie alle in die große Dankbarkeit für das ein, was mir an glücklichen menschlichen und philosophischen Impulsen widerfahren ist, die in dem hier Vorgelegten ihren Niederschlag finden. Eine einzige Nennung aber soll noch erfolgen: Juliane Schiffers, mit Blick auf die es unpassend wäre, hier weitere Worte zu verlieren. Ihr ist dieses Buch gewidmet.

Berlin, Juni 2023

11Einleitung

Um Fragen des Verstehens ist es philosophisch still geworden. Während die analytische Philosophie vielerorts die philosophische Szenerie bestimmt und die Erben des strukturalistisch-phänomenologischen Denkens hauptsächlich in den Kulturwissenschaften auf breite Resonanz stoßen, entsteht der Eindruck, das ehedem in der Hermeneutik angesiedelte Nachdenken über menschliches Verstehen sei von der Bildfläche mehr oder weniger verschwunden. So sieht es zumindest aus, wenn man sein Augenmerk darauf richtet, dass die großen hermeneutischen Traditionslinien, die die Philosophie in der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts mitgeprägt haben, heute keine ernsthafte Fortsetzung finden. Bei aller Wertschätzung, die ihre Philosophien bis heute zumindest zum Teil erfahren, wird doch an das Denken Hans-Georg Gadamers und Gianni Vattimos im Moment systematisch nicht weiter angeknüpft. Der so genannte Neue Realismus kann zwar als philosophische Strömung verstanden werden, die unter anderem aus hermeneutischen Schulen hervorgegangen ist. Er versteht aber sein Denken eher nicht als hermeneutisch und verfolgt unter anderem die Strategie, aus dem Denken der Neuzeit insgesamt auszubrechen.[1]  Die Frage nach den Grundlagen menschlichen Verstehens setzt jedoch am Subjekt-Objekt-Verhältnis an, ist also ein Kind der Neuzeit und von daher für einen Ausbruch aus derselben denkbar schlecht geeignet. Insofern wird man den Neuen Realismus kaum als eine Reaktualisierung einer Reflexion menschlichen Verstehens begreifen können.

Man mag die philosophische Stille in Bezug auf menschliches Verstehen für angemessen halten. Liegt nicht in der Art und Weise, wie Fragen des Verstehens in der Vergangenheit verfolgt wurden, ein problematischer traditionalistischer Duktus? Und haben nicht prominente Vertreter hermeneutischen Denkens (etwa der Schule Joachim Ritters) in der deutschen Nachkriegsphilosophie diesen 12traditionalistischen Duktus gepflegt und sich gegen philosophische Weiterentwicklungen gesträubt? Sicher haben sich viele Philosoph:innen der hermeneutischen Tradition nicht unbedingt um eine Modernisierung des philosophischen und gesellschaftlichen Denkens sowie um seine Öffnung anderen Traditionen und kulturellen Räumen gegenüber bemüht. Dennoch wäre es vorschnell, von daher ein Urteil über ein philosophisches Nachdenken bezüglich der Grundlagen des Verstehens abzuleiten. Und es wäre auch nicht angemessen, aus der aktuellen Stille auf eine Erschöpfung der philosophischen Leistungsfähigkeit dieses Nachdenkens zu schließen. Zu sehr sind auch philosophische Traditionen Konjunkturen und Machtpolitiken unterworfen. So kann es wichtig sein, danach zu fragen, welche Impulse erstens für eine Weiterentwicklung des hermeneutischen Denkens produktiv sein könnten und inwiefern zweitens eine solche Weiterentwicklung in Bezug auf drängende philosophische Fragen relevant ist.

In diesem Buch will ich den Vorschlag machen, dass eine immanente Kritik der hermeneutischen Positionen, die bis in unsere Gegenwart hinein vorherrschen, dies leisten kann. Mit meinem Vorschlag ist eine Diagnose verbunden, die von der bislang vertretenen Einschätzung abweicht. Demnach ist das hermeneutische Denken mitnichten von der philosophischen Bildfläche verschwunden. Es hat nur sein Erscheinungsbild in entscheidender Weise verändert. Wichtige hermeneutische Positionen finden sich in den letzten Jahrzehnten unter anderem im Rahmen der analytischen Tradition. John McDowells Rekurs auf die Philosophie Gadamers kann als paradigmatischer Ausdruck dafür begriffen werden.[2]  Auch die Bewegung, die man als analytischen Neohegelianismus bezeichnen kann, ist ein Zeichen der neuen hermeneutischen Ausrichtung analytischer Philosophien.[3]  Die vielen Debatten, die aktuell über Kant und Hegel geführt werden, finden großteils auf einem im weitesten Sinne hermeneutischen Boden statt. Nicht zuletzt aktualisiert auch der so genannte Neoaristotelismus – wie er sich über McDowell hinaus unter anderem bei Matthew Boyle[4]  und in 13anderer Weise bei Sebastian Rödl[5]  zeigt – hermeneutische Grundgedanken.

Statt das philosophische Nachdenken über Grundfragen des Verstehens für erledigt zu halten, gilt es also zu konstatieren, dass es sich zumindest teilweise einer ganz neuen Bedeutung erfreut, die damit verbunden ist, dass es nicht mehr als solches zutage tritt. Das aber führt dazu, dass problematische Momente hermeneutischen Denkens implizit bleiben und so unkritisch wiederholt werden. Dies zu ändern, halte ich für wichtig. Grundlegende Elemente der Theorie des Verstehens müssen explizit gemacht und kritisch befragt werden. Gerade das jüngste Wiederaufleben hermeneutischer Grundmotive ist mit Aspekten verbunden, die es als solche zu reflektieren gilt.

Im Zentrum dessen, was an neueren hermeneutischen Positionen problematisch ist, steht aus meiner Sicht der Gedanke, den ich als Unfreiheit des Verstehens bezeichnen will. Verstehen wird immer wieder als in dem Sinne unfrei begriffen, dass es als eine unhintergehbare Selbstverständlichkeit gilt. Demnach versteht man einfach, wie man versteht. Oder mehr im Sinne der Unfreiheit artikuliert: Man kann nicht anders, als so zu verstehen, wie man versteht. Der Gedanke von der Unfreiheit des Verstehens aber ist falsch. Man kann immer anders verstehen. Es gilt zu begreifen, dass Verstehen von Grund auf mit einem Potential der Freiheit verbunden ist.

Die im Folgenden präsentierten Überlegungen zielen darauf ab, die grundlegende Verknüpfung zwischen Verstehen und Freiheit auszubuchstabieren. Diese Verknüpfung darf aber nicht kurzschlüssig gedeutet werden. Verstehen garantiert nicht einfach per se Freiheit. Wenn man es im Sinne einer solchen Garantie begreift, dann dreht man den Gedanken der Selbstverständlichkeit nur um. Es ist abstrakt betrachtet dasselbe, die Unfreiheit oder die Freiheit als Selbstverständlichkeit des Verstehens zu deuten, also zu sagen, es sei selbstverständlich, so zu verstehen, wie man versteht, oder zu sagen, es sei selbstverständlich, dass man immer anders versteht, als man zuvor verstanden hat. Die These von der Selbstverständlich14keit des Verstehens lässt sich nur dadurch durchbrechen, dass man die Verknüpfung von Verstehen und Freiheit als prekär begreift und in dieser Weise Verstehen als ein nicht selbstverständliches Geschehen begreiflich macht. Aus diesem Grund spreche ich von einem Potential der Freiheit, das in allem Verstehen angelegt ist: In allem Verstehen kann in einem gewissen Maße ein Moment von Freiheit wirklich werden. Ob es zu einer Verwirklichung kommt, liegt – wie ich in diesem Buch rekonstruieren will – in der konkreten Ausgestaltung von Praktiken des Verstehens begründet.

Will man das in Frage stehende Verhältnis von Verstehen und Freiheit als offen und prekär fassen, hilft der Rekurs auf Improvisationen. Improvisationen sind Praktiken, in denen Freiheit immer eine Aufgabe darstellt. Wer improvisiert, läuft stets Gefahr, den Besonderheiten einer Situation oder seiner Gegenüber nicht gerecht zu werden, und dies aus dem Grund, weil er in Stereotypen und mechanisierten Abläufen verhaftet bleibt. So besteht die Kunst der Improvisation darin, sich aus festgefahrenen Strukturen zu lösen und dadurch Freiheit zu gewinnen. Es gilt, die Grundsituation des Verstehens von dieser Eigenart von Improvisation her zu begreifen. In allem Verstehen geht es darum, sich immer wieder Spielräume, anders zu verstehen, zu erarbeiten. Noch weniger als in der Improvisation ist es dabei so, dass das immer wieder Andere und Neue sowie die ständige Veränderung ein Selbstzweck wären. Im Verstehen geht es darum, dem, was es zu verstehen gilt, gerecht zu werden, ob das nun Veränderung erfordert oder nicht. Insofern liegt die improvisatorische Kunst des Verstehens darin, auf eine je angemessene Weise auf das zu reagieren, womit man konfrontiert ist. Das schließt das Beibehalten von Verständnissen genauso ein wie das Ausbilden neuer Impulse für das Verstehen.

Ein verbreitetes Missverständnis besteht darin, Improvisation als ein Geschehen aufzufassen, das von einer grundlegenden Freiheit ausgeht. Man muss demnach dann improvisieren, wenn man mit einer Situation konfrontiert wird oder sich vorsätzlich in eine begibt, in der man nicht aufgrund von Routinen abgesichert zu handeln vermag. Dieser unhaltbaren Konzeption zufolge ist das Freisein von verfügbaren oder brauchbaren Routinen die Grundsituation der Improvisation. Freiheit wäre so gesehen garantiert und zugleich das Schicksal des Improvisierens. Aber dieses Bild ist verkehrt. Keine Improvisation basiert auf Freiheit. Wenn man tat15sächlich mit einer Situation konfrontiert ist, die einen ganz und gar unvorbereitet trifft, so ist man, recht betrachtet, ganz und gar unfrei – zumindest im ersten Moment. Das, womit man konfrontiert ist, bindet einen in den eigenen Möglichkeiten dadurch, dass man keinerlei Vorbereitung mitbringt, ihm gerecht zu werden. Es lähmt einen, bildlich gesprochen. Erst dadurch, dass man zumindest über gewisse Vorbereitungen verfügt und aus diesen Vorbereitungen heraus zu reagieren vermag, kann man improvisieren, und erst so kann sich in dem improvisatorischen Geschehen gegebenenfalls tatsächlich ein Moment der Freiheit verwirklichen.

Das Missverständnis der Improvisation ist nicht nur aus dem Grund weit verbreitet, weil vielfach falsch über Improvisation gedacht wird. Im Grunde handelt es sich um ein Missverständnis in Bezug auf die Grundsituation menschlicher Existenz. Auch in Bezug auf die menschliche Existenz wird immer wieder der Gedanke verfolgt, dass der Mensch seinem Wesen nach frei ist. Freiheit ist demnach dem Menschen garantiert und zugleich sein Schicksal; er ist, mit Sartre gesprochen, zur Freiheit verdammt.[6]  Dieses Bild dessen, was Menschen ausmacht, ist im (philosophischen) Nachdenken spätestens seit dem 18.Jahrhundert gezeichnet worden.[7]  Es ist der positive Ausdruck einer Konzeption, die auch als Mängelwesen-Konzeption diskutiert wird.[8]  Der Mensch aber ist nicht von Grund auf frei. Er ist kein unbestimmtes Tier, sondern als Tier durchaus bestimmt. Das Tier, das der Mensch ist, hat aber Praktiken und Fähigkeiten entwickelt, aus denen Potentiale der Freiheit hervorgehen. Im Zentrum dieser Praktiken und Fähigkeiten befindet sich das Verstehen, mit dem grundsätzlich das Potential der Realisierung von Freiheit verbunden ist. So gilt es zu rekonstruieren, worin dieses Potential besteht und inwiefern es einerseits entfaltet und andererseits auch verschüttet werden kann.

Das Potential der Freiheit, das in allem Verstehen schlummert, lässt sich mit einer Überlegung Ludwig Wittgensteins verdeutlichen. Wittgenstein erläutert als zentrales Moment von (sprachli16cher) Bedeutung, etwas noch einmal auf eine andere Art und Weise sehen zu können. Er spricht dabei vom Wechsel eines Bildes – oder eines Aspekts. Ein Aspektwechsel liegt dann vor, wenn man etwas noch einmal mit einem anderen Blick sieht. Etwas, das eine bestimmte Bedeutung hat, wird durch den Aspektwechsel in seiner Bedeutung verändert. Wittgenstein erläutert den Wechsel der Bedeutung an dem Gestaltwechsel des berühmten Hase-Enten-Kopfs. Die Gestalt, die in einer bestimmten Perspektive als Gestalt eines Hasen erscheint, zeigt sich in einer anderen Perspektive als Gestalt einer Ente.[9]  Der Aspektwechsel führt so dazu, dass man sich von festen Verständnissen löst. Eine solche Loslösung eröffnet Freiheit. Wittgenstein kontrastiert das entsprechende Potential damit, dass er sagt: »Ein Bild hielt uns gefangen.«[10]  Verständnisse können wie ein Gefängnis sein. Sie können erstarren und einem gewissermaßen die Luft zum Atmen nehmen. Wenn es zu einem solchen Erstarren kommt, bedarf es einer Perspektivänderung im Sinne eines Aspektwechsels.

Wittgensteins Überlegung lässt sich auch in Bezug auf Improvisationen verdeutlichen. Improvisation ist, zuspitzend gesagt, die Praxis des steten Aspektwechsels. Immer wieder werden etablierte Strukturen – seien sie eher stabil oder eher flüchtig – durch perspektivändernde Impulse innerhalb der Improvisation auf neue Weise beleuchtet. In einer Improvisation kommt es zu einem ständigen Ringen um eine angemessene Fortsetzung. Dabei stellen sich vielfach kontinuierliche Fortsetzungen des bislang Entwickelten als passend heraus. Immer wieder aber bedarf es auch neuer Impulse, mit denen das Vorangehende anders perspektiviert oder mehr oder weniger radikal verwandelt wird. Damit ändert sich das improvisatorische Geschehen. Eine solche Änderung kann gleichermaßen eine Fortsetzung wie einen Bruch bedeuten. Zwischen Kontinuität und Diskontinuität gibt es hier keine scharfen Grenzen. Die in Improvisationen immer wieder gebotenen Aspektwechsel können die in ihnen etablierten Strukturen genauso festigen, wie sie diese Strukturen aufzubrechen vermögen.

Alles Verstehen ist genauso wie Improvisationen grundsätzlich 17auf Aspektwechsel angewiesen. Immer wieder ist es erforderlich, Verständnisse neu zu perspektivieren. Dies fordern gleichermaßen die Gegenstände des Verstehens wie die anderen Individuen und Gruppen, mit denen wir in unseren Verständnissen verbunden sind. Übertrieben wäre es allerdings, einen unentwegten Aspektwechsel zu fordern. Jeder Kreativitätsimperativ im Hinblick auf das Verstehen ist verfehlt. Richtig ist vielmehr, dass es in vielen Situationen angemessen ist, gerade nicht die Perspektive zu verändern. Die Rolle von Aspektwechseln im Verstehen ist so im Sinne eines in ihm angelegten Potentials zu begreifen. Immer müssen sie als Möglichkeit in Betracht gezogen werden können. Die Realisierung von Freiheit im Verstehen setzt die damit umrissene Flexibilität, also die grundsätzliche Möglichkeit von Aspektwechseln voraus.

In den im weitesten Sinne hermeneutischen Philosophien ist das für alles Verstehen konstitutive Potential der Freiheit nach meiner Einschätzung bislang nicht angemessen entfaltet worden. Dies gilt für beide Grundhaltungen, aus denen heraus diese Theoriebildung betrieben wurde, also sowohl für Hermeneutik als Kunstlehre des Verstehens als auch für Hermeneutik als Fundamentalontologie menschlicher Existenz. Nun mag man einwenden, dass die in der Tradition der Bibelexegese entwickelten Kunstlehren des Verstehens nicht darauf zielen, grundlegende Dimensionen menschlichen Seins wie etwa ein Potential der Freiheit aufzuklären, und dass gerade die existenzialistische Fundamentalontologie Heideggers durchaus das Ziel verfolgt, die Möglichkeit menschlicher Freiheit zu erhellen.[11]  Die Einwände sind verständlich, und es lohnt, ihnen nachzugehen, um der Zielsetzung des vorliegenden Projekts weiter Kontur zu verleihen.

Kunstlehren des Verstehens geht es, allgemein betrachtet, darum, Bedingungen des Verstehens zu rekonstruieren und aus ihnen methodische Richtlinien für Praktiken des Verstehens abzuleiten. Das berühmte Theorem des hermeneutischen Zirkels zum Beispiel wurde im 18. Jahrhundert als methodisches Instrumentarium entworfen. Als solches verstanden, besagt der hermeneutische Zirkel, dass das Ganze eines Textes (oder eines größeren Textzusammenhangs) von den Teilen und die Teile vom Ganzen her zu erschließen 18sind.[12]  Die Konstitutionsbedingungen des Verstehens, denen zufolge die Bestimmtheit einzelner Elemente (von Texten oder kulturellen Artefakten zum Beispiel) von ihrem Platz in einem Ganzen (des Textes oder Artefakts) her zu begreifen ist, werden hier methodisch ausgewertet. Auch in neueren Ansätzen zur Wiederbelebung der Hermeneutik als einer Kunstlehre des Verstehens finden sich analoge Bestimmungen.[13]  Problematisch an entsprechenden Überlegungen mit Blick auf Methodiken des Verstehens ist generell, dass von einer bestehenden Bestimmtheit von Verständnissen ausgegangen wird, dem das Verstehen gerecht zu werden hat. Das Potential der Freiheit wird damit systematisch ausgeblendet, da es nur begreiflich wird, wenn man Verstehen als ein produktives und nicht allein reproduktives Geschehen fasst. Diese Abwehr des Einwands beansprucht nicht, allen Varianten von Kunstlehren des Verstehens gerecht zu werden. Sie soll aber eine grundlegende Tendenz anzeigen.

Der Einwand, der Heideggers Hermeneutik betrifft, ist nicht einfach zurückzuweisen. Heidegger verfolgt mit seiner Verschränkung von uneigentlichem und eigentlichem Verstehen ohne Zweifel einen Ansatz, der Verstehen nicht an eine bestehende Bestimmtheit (zum Beispiel im Rahmen einer historisch-kulturellen Praxis) bindet.[14]  Eigentliches Verstehen im Sinne Heideggers ist als Realisierung eines Potentials der Freiheit zu begreifen. Dieses Potential ist aus Heideggers Sicht in der verstehenden Existenz des Menschen angelegt. Insofern könnte seine Position durchaus als Realisierung des hier gesuchten Ansatzes begriffen werden.

Dennoch findet sich in Heideggers Ansatz ein problematischer Aspekt, der einer solchen Realisierung im Wege steht und der sich folgendermaßen umreißen lässt: Heidegger macht geltend, dass das Potential der Freiheit gegen die Grundsituation des Verstehens in der Uneigentlichkeit durchgesetzt werden muss. In der grundlegenden Situation des uneigentlichen Verstehens, in der man versteht, wie man im Rahmen des jeweiligen historisch-kulturellen Kontexts versteht, ist das Potential der Freiheit unentwickelt. Es kommt erst dadurch ins Spiel, dass man sich aus dieser Situation der Uneigent19lichkeit löst. Heidegger zeichnet damit ein Bild des Verstehens, in dem dieses nicht durchweg vom Potential der Freiheit geprägt ist. In der Ausgangssituation ist Verstehen aus Heideggers Sicht als unfrei zu begreifen. Aus dieser Unfreiheit heraus muss Freiheit gewissermaßen erkämpft werden. Auch wenn Heidegger damit zugesteht, dass im Verstehen Freiheit immer möglich ist, zeigt doch für ihn nicht alles Verstehen dieses Potential. Konzeptionell hat dies zur Folge, dass Unfreiheit im Verstehen nicht als ein Modus des mit ihm verbundenen Potentials der Freiheit begriffen wird.

Um zu erkennen, dass diese Konzeption problematisch ist, kann man auf die Frage rekurrieren, was das Potential der Freiheit im Verstehen ausmacht. Ich habe bereits eine Bestimmung genannt, an die ich mich auch im Folgenden immer wieder halten werde: Wer versteht, kann immer auch anders verstehen. In der Möglichkeit des Anders-Verstehens liegt der Kern der im Verstehen angelegten Freiheit. Alles Verstehen weist dieses Potential auf. Entsprechend gilt es, jede Form der Unfreiheit im Verstehen als Ausdruck einer Stillstellung zu begreifen, die jedoch aus der grundsätzlichen Möglichkeit des Anders-Verstehens heraus zustande kommt. Man sollte daher eine polare Gegenüberstellung von Strukturen unfreien Verstehens und Strukturen, die das Potential der Freiheit aufweisen, vermeiden. Alle Modi des Verstehens sind aus dem ihm inhärenten Potential heraus zu begreifen.[15] 

Mit Blick auf die hermeneutische Tradition verweist dies auf das Erfordernis, eine neue Deutung des Theorems zu entwickeln, das als »Geschehenscharakter« des Verstehens profiliert worden ist.[16]  Nicht zuletzt Heidegger und Gadamer haben betont, dass Verstehen nicht aus eigenem Entschluss heraus herbeigeführt werden kann, so dass es nicht das Resultat eigenen Handelns, sondern mit einem Moment von Widerfahrnis verbunden ist. Der damit artikulierte Geschehenscharakter muss aber so verstanden werden, dass aus ihm nicht auf ein Nicht-anders-verstehen-Können geschlossen wird. Dieser Schluss wird allerdings implizit unter anderem in Heideggers Explikation uneigentlichen Verstehens gezogen. Man 20versteht im Modus der Uneigentlichkeit, so kann man mit Heideggers Worten sagen, wie man eben versteht. Demgegenüber gilt es den Geschehenscharakter so zu erläutern, dass im Verstehen immer die Möglichkeit des Anders-Verstehens gegeben ist. Verstehen geschieht in einer Weise, die grundsätzlich die Möglichkeit, Verständnisse neu zu perspektivieren, einschließt. Diejenigen, die verstehen, stehen immer vor der Aufgabe, diese Möglichkeit zu entfalten. Eine Uneigentlichkeit des Verstehens in Heideggers Sinn gibt es nicht.

Dies bedeutet auch eine Neuakzentuierung eines Aspekts, der in Gadamers Erläuterung des Geschehenscharakters zentral ist. Bei Gadamer heißt es, es genüge »zu sagen, daß man anders versteht, wenn man überhaupt versteht«.[17]  Verstehen wird so als ein Geschehen steter Veränderung begriffen. Jedes neue Verständnis ist anders als diejenigen, die ihm vorangehen. Verstehen als Geschehen ist stete Veränderung. Diese Art und Weise, grundlegende Zusammenhänge des Verstehens zu artikulieren, ist aber damit verbunden, dass das in ihm liegende Potential der Freiheit nicht zur Geltung gebracht wird. Denn in Gadamers Erläuterung spielt der Unterschied zwischen einer Veränderung, die einfach zustande kommt, und einer solchen, die aus Freiheit resultiert, keine Rolle. Aus diesem Grund bedarf es einer Neuakzentuierung, die dazu führt, dass Veränderung nicht zwischen Verständnissen, sondern in Akten des Verstehens selbst situiert wird. Veränderung ist nicht nur etwas, das dem Verstehen passiert, sondern kann dort, wo verstanden wird, auch herbeigeführt werden. Das Verstehen wird dabei gewissermaßen von innen heraus verändert – es verändert sich nicht einfach äußerlich. Dafür sind – wie sich zeigen wird – selbstkritische Perspektiven der am Verstehensgeschehen beteiligten Subjekte entscheidend. Das Potential der Freiheit liegt in einer durch Selbstkritik angestoßenen Veränderung von innen heraus.

Im philosophischen Nachdenken über die Grundlagen des Verstehens ist immer ein Bezugspunkt wichtig gewesen, der in jüngeren im weitesten Sinne hermeneutischen Philosophien analytischer Provenienz zunehmend verloren zu gehen droht: die Kunst. Bei aller Offenheit in Bezug auf die Frage, inwiefern Kunstwerke überhaupt als Gegenstände des Verstehens im engeren Sinne zu begreifen sind,[18]  ist es aufschlussreich zu überlegen, welche Rolle 21Kunst mit Blick auf Verstehen spielt. In sehr vereinfachter Weise lässt sich das Ergebnis einer solchen Überlegung zusammenfassen, indem man sagt, dass Kunst uns immer noch einmal anders verstehen lässt. Das trifft einerseits auf unsere Auseinandersetzung mit Kunstwerken selbst zu, gilt aber auch mit Blick auf die Art und Weise, wie Kunst in unser sonstiges Verstehen eingreift. Kunstwerke werden nicht finit verstanden, sondern eröffnen immer ein Noch-einmal-anders-Verstehen.[19]  Sie sind, um die Begrifflichkeit von oben aufzugreifen, inhärent mit ständigen Aspektwechseln verbunden. Zugleich beleuchtet Kunst anderes Verstehen in immer neuer Weise. Insofern ist Kunst insgesamt als eine Praxis des Anders-Verstehens zu begreifen.[20] 

Es ist entscheidend, eine solche Praxis des Anders-Verstehens nicht als Sonderfall abzutun. Wenn wir eine plausible Erklärung dafür haben wollen, warum alle uns bekannten kulturellen Zusammenhänge in vielfältiger Weise von Kunst durchzogen sind, müssen wir den in Kunst realisierten Modus des Verstehens als Aspekt der Normalität (und Anormalität) des Verstehens nachvollziehen. Von Kunst ist so zu lernen, dass Verstehen immer in Bezug auf die Möglichkeit des Anders-Verstehens zu denken ist. Diese Lektion dient den Überlegungen dieses Buches als Richtschnur. Mein Anspruch ist es entsprechend, Verstehen so zu rekonstruieren, dass die Kunst als paradigmatischer Gegenstand stets – zumindest implizit – im Blick bleibt.

Die Revision und Reaktualisierung einer philosophischen Reflexion menschlichen Verstehens, die ich im Folgenden entwickeln will, soll Verstehen von dem in ihm liegenden Potential der Freiheit her begreiflich machen. Sie soll die Strukturen und Mechanismen ausleuchten, die dieses Potential ausmachen und auch gefährdet sein lassen. Es geht mir, so gesehen, um eine kritische Rekonstruktion des Verstehens. Mein Vorhaben lässt sich entsprechend auch als »kritische Theorie des Verstehens« umreißen. Einer solchen Theorie geht es darum, die internen Chancen und Gefährdungen 22des Verstehens gleichermaßen offenzulegen. Kritik ist demzufolge beides: grundlegende Klärung und kontextorientierte Problematisierung.

Dabei spielt die soziale Dimension des Verstehens eine entscheidende Rolle. Mit Stanley Cavell hat ein wichtiger Hermeneutiker des ausgehenden 20. Jahrhunderts den Blick auf diese Dimension gelenkt, indem er die Selbstverständlichkeit des sozialen Miteinanders in so etwas wie der Alltagssprache als fraglich markiert.[21]  Die Brüchigkeit der sozialen Sphäre des Verstehens ist entscheidend für eine kritische Theorie des Verstehens. Im Verstehen kommt es immer wieder zu Ausschlüssen und Kontaktverlusten.[22]  Ihnen stehen die sozialen Zusammenhänge gegenüber, die sich im Verstehen herstellen lassen. So gilt es beides zu erklären: die Möglichkeit, sich verstehend für Andere zu sensibilisieren und soziale Bande zu festigen, sowie die Möglichkeit, im Verstehen Andere zu übergehen und die Verbindungen zu ihnen zu kappen. Wenn man Verstehen mit Blick auf die in ihm angelegte Freiheit expliziert, rückt seine Sozialität mit all ihren Chancen und ihren Brüchen gleichermaßen in den Fokus. Hermeneutik soll so im Folgenden auch als ein sozialphilosophisches Projekt entfaltet werden.

Gerade in der Auseinandersetzung zwischen Jürgen Habermas und Hans-Georg Gadamer ist Hermeneutik in einem antagonistischen Verhältnis zur kritischen Theorie positioniert worden. Dieser Antagonismus ist gespeist von politischen Hintergrundannahmen, einem vermeintlich traditionalistischen und einem vermeintlich fortschrittlichen Gesellschaftsverständnis. Der auf eine solche Weise begründete scheinbare Antagonismus ist jedoch nicht haltbar. Immer wieder ist einer Kritik der Hermeneutik aus Perspektive der kritischen Theorie entgegengehalten worden, dass auch die Hermeneutik fortschrittlich sei.[23]  Darum aber geht es nicht. Entscheidend ist vielmehr, dass das hermeneutische Denken von sich aus nach kritischer Theorie und dass die kritische Theorie von sich aus nach Hermeneutik verlangt.

Es ist aufschlussreich, bei dieser Perspektivüberkreuzung von 23der kritischen Theorie auszugehen. Adornos Theorie des Nichtidentischen ist von ihrer Programmatik her gegen hermeneutisches Denken gerichtet.[24]  Wenn man diese Theorie allerdings dialektisch ausbuchstabiert, erkennt man, dass sie ganz unvermeidlich auch eine hermeneutische Seite hat. Eine kritische Theorie der Nichtidentität ist mit der Frage verbunden, wie eine Erkenntnis dessen beschaffen ist, was sich nicht stereotypen begrifflichen Rastern fügt. Bei Lichte besehen ist das die Grundfrage des Verstehens, sofern man die Möglichkeit des Anders-Verstehens als zentrales Moment hermeneutischer Theoriebildung begreift. Die jeweilige Eigenart von Anderen und von Gegenständen und Sachverhalten, mit denen man in der Welt konfrontiert ist, fordert uns in unserem Verstehen unentwegt heraus. Aus diesem Grund können wir dieser Eigenart im Verstehen nur gerecht werden, wenn wir uns in unserem Verstehen immer wieder befragen und dadurch in Bewegung halten.

Martin Seel spricht in Bezug auf Adornos Hermeneutik des Nichtidentischen von einer »anerkennenden Erkenntnis«.[25]  In dieser Charakterisierung steckt mit Blick auf eine Rekonstruktion des Verstehens mehr, als man im ersten Moment sehen mag. Im Verstehen sind wir nicht nur mit der Anforderung konfrontiert, den uns begegnenden Eigenarten von Gegenständen gerecht zu werden. Sein anerkennendes Moment schließt auch andere Individuen und Gruppen ein, deren Art und Weise, wie sie sich zu den Eigenarten der Welt verhalten und mit ihnen umgehen, wir im Zusammenhang mit unserem Bezug auf diese Gegenstände ebenfalls gerecht zu werden haben. Adornos Theorie der Nichtidentität muss so auch auf eine soziale Dimension hin gedacht werden, womit zugleich ein Schritt in Richtung einer Hermeneutik der Freiheit gegangen wird. Nichtidentität erweist sich nicht nur als Kriterium für eine Kritik sozialer Strukturen, sondern als Anstoß für intersubjektive und soziale Interaktionen, in denen Anerkennungsverhältnisse realisiert werden. Damit wird für den Bezug auf das Nichtidentische die Frage relevant, wie wir in unserem Verstehen anderen gerecht werden. Da mit dieser Frage die soziale Dynamik des Verstehens 24ins Zentrum rückt, gewinnt die kritische Theorie hier eine hermeneutische Perspektive.

Die umgekehrte Verbindung ist genauso gefordert. Verstehen ist nach Hans-Georg Gadamer an die Suche nach dem »treffenden Wort« gebunden.[26]  Diese Suche aber ist nicht nur den Individuen, Gegenständen und Sachverhalten geschuldet, mit denen man im Verstehen befasst ist. Sie betrifft auch die Gestaltung sozialer Verhältnisse, die im Verstehen produzierten sozialen Ein- und Ausschlüsse und anderes mehr. Die im Verstehen hergestellte Freiheit ist so nicht nur in der Möglichkeit des Anders-Verstehens, sondern auch in der sozialen Öffnung begründet, die ein solches Anders-Verstehen bedeuten kann.

Oder anders gesagt: Das Finden des rechten Worts hängt in dem Sinn konstitutiv mit der Realisierung von Freiheit zusammen, gegebene Strukturen des Verstehens von sich aus verändern zu können. Es ist erforderlich, sich immer wieder von eingespielten Mustern zu lösen, um das rechte Wort zu finden. Dabei haben die Muster und die realisierte Loslösung komplexe soziale Implikationen. Auf der einen Seite können Muster sozial einengen und verhindern, dass der Perspektive Einzelner Rechnung getragen wird. Auf der anderen Seite kann aber auch das Verlassen sozialer Muster zu Isolation und ausbleibender Anerkennung führen. So ist die Suche nach dem rechten Wort immer auch mit einem Ringen um soziale Zusammenhänge verknüpft, die Einzelnen in ihren Eigenarten Rechnung tragen, ohne dass es zu sozialer Isolation und Ausschluss kommt. So gesehen kann die im Sinne Gadamers begriffene hermeneutische Aufgabe nur von einer kritischen Theorie des Verstehens erledigt werden.

Eine solche Theorie hat sich noch einer weiteren Herausforderung zu stellen, die mit sozialen Ein- und Ausschlüssen zusammenhängt und die zu kritischen Theorien in einem weiteren Sinn führt. Fragen von unter anderem Gender, Diversität und postkolonialen gesellschaftlichen Konstellationen stellen einen besonderen Anspruch an eine kritische Theorie des Verstehens. Ihnen gerecht zu werden, bedeutet nicht nur, danach zu fragen, wie Verstehen den Eigenarten von Anderen gerecht werden kann, sondern auch danach, inwiefern Konzepte des Verstehens der Eigenarten von Anderen oft von Verzerrungen geprägt sind. Entsprechend gilt es, den 25Blick auf die normalisierenden und kolonialisierenden Tendenzen zu richten, die mit dem Gedanken des Verstehens von Eigenarten verbunden sein können. Emanzipatorische Theoriebildung steht damit vor der Frage, ob und wie unsere begrifflich artikulierten Verständnisse von Geschlechterrollen und anderen sozialen Differenzen sich verbessern lassen.[27]  Feministisches Denken und postkoloniales Denken verlangen jeweils nach einer kritischen Theorie des Verstehens, die auch damit verbunden sein kann, dass man die Frage nach einer an spezifischen Konzeptionen orientierten Verbesserung unserer Verständnisse ihrerseits als eine begreifen kann, die eine kritische Haltung zu Verständnissen geradezu verhindert.[28]  Die die Kritik von Verständnissen leitenden Vorstellungen entfalten immer wieder eine normalisierende Kraft, die ihrerseits unterdrückend wirkt, sodass sich Kritik in ihr Gegenteil verkehrt.

In diesem Sinn verlangen kritische Theorien nach einer Hermeneutik, die auch für die mit spezifischen Idealen des Verstehens (von Nichtidentität) verbundenen Blockaden und Ausschlüsse sensibilisiert ist. Die Rekonstruktion der Freiheit des Verstehens bedeutet hier nicht nur, Spielräume des Anders-Verstehens auf die Eigenarten von Gegenständen und Anderen hin auszurichten. Vielmehr gilt es ebenso zu fragen, inwiefern spezifische Ideale des Anders-Verstehens das Potential der Freiheit im Verstehen gerade auch verschütten können. Die Reaktualisierung der Hermeneutik, um die es mir im Folgenden geht, ist mit dem Anspruch verbunden, das Nachdenken über das Verstehen auch für die kritischen Theorien der Gegenwart fruchtbar zu machen.

Die Gewinnung der Dimension der Freiheit für ein hermeneutisch-kritisches Denken soll im Folgenden in fünf Schritten zustande kommen. Zuerst erläutere ich die Motivation für die gesuchte Neuausrichtung der Hermeneutik in Auseinandersetzung mit neueren hermeneutischen Positionen. Danach rekurriere ich auf Improvisation und überlege, inwiefern Verstehen in Analogie zu Praktiken der Improvisation erläutert werden kann. Im dritten Schritt beleuchte ich die Bedeutung von Konflikten für alles Verstehen, um dann Selbstkritik als zentrales Moment verstehender 26Subjektivität einzubeziehen. Zuletzt nehme ich das damit entfaltete Verständnis von Freiheit in den Blick. Etwas ausführlicher lässt sich das Kommende folgendermaßen vorzeichnen:

Im ersten Kapitel setze ich mich kritisch mit dem Gedanken der Selbstverständlichkeit des Verstehens auseinander, der neuere hermeneutische Positionen, so meine Diagnose, beherrscht. Ich verfolge die Probleme, die dieser Gedanke in den Positionen von Gadamer, Davidson und McDowell zeitigt. Dabei interessiert mich, inwiefern das mit allem Verstehen verbundene Infragestellen von Verständnissen in der hermeneutischen Theoriebildung übergangen wird und was es heißen könnte, diesem wesentlichen Moment des Verstehens theoretisch Rechnung zu tragen.

Das zweite Kapitel unterbreitet den Vorschlag, den Ansatz für eine Hermeneutik der Freiheit aus der Theorie der Improvisation zu gewinnen. Auf Grundlage improvisationstheoretischer Überlegungen kläre ich zentrale Strukturen des Verstehens. Mein besonderes Augenmerk gilt dabei der offenen normativen Praxis des Verstehens und seiner irreduziblen Gemeinschaftlichkeit, die allerdings nicht von einer geteilten Sprache oder Praxis, sondern von einem Teilen der kritischen Weiterentwicklung von Praxis her gedeutet wird.

Die gemeinschaftliche Dimension des Verstehens wird im dritten Kapitel dadurch fundiert, dass sie als eine Gemeinschaftlichkeit im Konflikt rekonstruiert wird. Ausgehend von der sozialen Grammatik von Konflikten beleuchte ich die konfliktive Dimension alles Verstehens. Ich lege dar, dass Gemeinschaften des Verstehens erst im Konflikt Stabilität gewinnen und dass dabei Reflexionspraktiken in Bezug auf Verständnisse eine entscheidende Rolle zukommt. Diese Klärungen bringen mich dazu, ein revidiertes Bild des Gedankenexperiments der radikalen Interpretation vorzuschlagen.

Mit dem vierten Kapitel wird die für alles Verstehen konstitutive Infragestellung von der Seite der Selbstkritik her beleuchtet. Dabei geht es mir darum, die für alles Verstehen grundlegende Subjektivität derjenigen, die verstehen, zu erläutern. Subjekte sind demnach nicht als Gravitationspunkte von Selbstsicherheit, sondern als Instanzen von Selbstkritik zu begreifen. Subjekte können nur dadurch zu Verständnissen kommen, dass sie sich von Gegenständen und Anderen distanzieren. Dafür ist Selbstkritik konstitutiv. Es gilt, den Zusammenhang von Subjektivität und Verstehen von der Selbstkritik her zu begreifen.

27Auf dieser Grundlage lässt sich, so lege ich im abschließenden fünften Kapitel dar, der Begriff der Freiheit des Verstehens schärfen. Die Realisierung der in allem Verstehen angelegten Freiheit ist als Aufgabe zu bestimmen, die sich konstitutiv nicht vollenden lässt. Dabei spielen der Umgang mit der Welt und die Interaktionen mit Anderen eine entscheidende Rolle. Eine solchermaßen verstandene Freiheit lässt sich weder von Zwang noch von Macht abgrenzen, sondern muss aus unlösbaren Verknüpfungen mit beiden heraus begriffen werden. Ihre Prekarität liegt darin begründet, dass aus den Mechanismen heraus, die sie begründen, immer wieder auch Unfreiheit entstehen kann. So wird die Freiheit des Verstehens in einer Geschichte von Ausschlüssen und Brüchen realisiert und ist aus dieser Geschichte heraus zu denken.

Die Kapitel zwei bis vier sind nicht so zu verstehen, dass sie in isolierter Weise Schlaglichter auf Aspekte des Verstehens werfen. Sie setzen vielmehr sukzessive ein Bild zusammen, das den Begriff des Verstehens und des ihm inhärenten Potentials der Freiheit erhellt. Um es knapp zu sagen: Konflikt und Selbstkritik gehören zu einer recht verstandenen improvisatorischen Praxis. Die Rekonstruktionen der Gemeinschaft im Konflikt und der subjektiven Eigenständigkeit aus Praktiken der Selbstkritik heraus tragen zu einer Weiterentwicklung der Explikationen bei, die bei Improvisationen ansetzen. Insofern zeigt sich in den folgenden Überlegungen das Erfordernis, Verstehen umfassend aus den Grundstrukturen menschlicher Praxis heraus zu fassen.

Nicht zuletzt geht ein hermeneutisch-kritisches Denken der Freiheit damit von der Tradition aus, die Charles Taylor immer wieder als diejenige der »drei großen H« bezeichnet hat: die Tradition von Johann Georg Hamann, Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt.[29]  Mit ihren Positionen haben die drei das hermeneutische Denken im Sinne einer umfassenden Analyse menschlicher Existenz am Rande der akademisch institutionalisierten Philosophie begründet. Ihre randständige Stellung verdanken die drei nicht nur einer Akzentuierung der Relevanz von Sprache für den menschlichen Geist, die ihrer Zeit voraus war. Ihr Denken prägte auch ein Geist der Freiheit, den es zu aktualisieren gilt.

28Kapitel I. Die Selbstverständlichkeit des Verstehens und das Problem der Freiheit

Philosophien, die im weitesten Sinne als hermeneutisch gelten können, versprechen eine Versöhnung von Geist und Welt. Aus diesem Grund haben sie in der Gegenwart eine besondere Konjunktur. Sie sollen sicherstellen, dass der Geist in der Welt verankert ist, also nicht gegenüber dem, was ihn umgibt, kontaktlos verbleibt. Die Versöhnung, von der hier die Rede ist, hängt mit einer Betonung des Verstehens als einer grundlegenden Dimension des menschlichen Weltverhältnisses zusammen. Die These, die die besagten Philosophien diesbezüglich in der ein oder anderen Variante und Explizitheit vertreten, lässt sich folgendermaßen fassen: Menschen sind in ihrem Verstehen von Grund auf mit der Welt verbunden.

Mit der These der Verankerung alles Verstehens in der Welt knüpfen neuere Philosophien weit über die hermeneutische Tradition im engeren Sinn hinaus an Philosophien wie diejenigen von Johann Georg Hamann, Johann Gottfried Herder und Georg Wilhelm Friedrich Hegel, aber letztlich auch an diejenige von Aristoteles an.[1]  Entsprechend sind auch im Rahmen von zum Beispiel sprachanalytisch geprägten Philosophien zunehmend Rekurse auf diese Autoren zu finden. Von besonderer Bedeutung ist hier die Philosophie von John McDowell, der sich nicht nur explizit auf Gadamer beruft, sondern seiner eigenen Philosophie eine deutlich hermeneutische Anlage gegeben hat.[2]  McDowell führt unter anderem Diskussionen, die an Aristoteles, Kant, Wittgenstein und Davidson orientiert sind, zusammen und zeigt so indirekt, dass auch in Bezug auf diese Philosophien hermeneutische Lesarten entwickelt werden können.

Der Grundbegriff des hermeneutischen Ansatzes, den McDowell vorschlägt, ist der Begriff der »zweiten Natur«, der program29matisch festhält, dass ein verstehendes Weltverhältnis die Natur des Menschen ausmacht.[3]  Menschen leben demnach immer schon in Zusammenhängen, die durch Verständnisse artikuliert sind. Sie stehen mit ihren Verständnissen der Welt nicht gegenüber, sondern sind in sie eingelassen. McDowell begreift den von ihm verteidigten philosophischen Ansatz als eine Beruhigung in Bezug auf die in der Philosophie der Neuzeit und Moderne immer wiederkehrenden skeptischen Bedenken. Das hermeneutische Denken soll so leisten, was schon Martin Heidegger sich von ihm versprochen hat: Es soll die skeptischen Beunruhigungen überhaupt nicht erst aufkommen lassen. In diesem Geist hielt Heidegger pointiert fest, dass der Skandal im Umgang mit dem Skeptizismus nicht – wie Kant meinte – darin liege, dass man ihm keinen hinreichenden Beweis entgegenstellen könne, »sondern darin, daß solche Beweise immer wieder erwartet und versucht werden«.[4] 

Die Beruhigung, die die Hermeneutik verspricht, ist in wichtigen hermeneutischen Ansätzen mit einem Gedanken verbunden, den ich mit dem Begriff der »Selbstverständlichkeit des Verstehens« umreißen will. Die fundamentale Dimension des Verstehens ist demnach dadurch gesichert, dass Verstehen als ein grundlegendes und unmittelbares Geschehen begriffen wird. Entsprechend lässt sich der Gedanke, um den es mir geht, auf zwei Thesen bringen: (1) Episoden des (sprachlichen) Verstehens sind grundlegend für ein verstehendes Weltverhältnis. (2) In Momenten, in denen verstehende Wesen (sprachlich) etwas verstehen, können sie nicht anders, als so zu verstehen, wie sie verstehen. Aufgrund dieser Selbstverständlichkeit gilt als gewährleistet, dass Verstehen das menschliche Weltverhältnis von Grund auf durchdringt. Zwischen dem, was verstanden wird, und dem Verstehen selbst gibt es keine Lücke.

Der Gedanke von der Selbstverständlichkeit des Verstehens allerdings wird dem Verstehen nicht gerecht. Wenn man ihn vertritt, kann man wichtige Momente eines verstehenden Weltverhältnisses nicht angemessen fassen. Die problematischen Konsequenzen, die der Gedanke von der Selbstverständlichkeit des Verstehens in dieser Weise zeitigt, will ich dadurch aufklären, dass ich drei hermeneutische Positionen analysiere, die den Gedanken in unterschied30lichen Varianten präsentieren. Es handelt sich um die Positionen von Gadamer, Davidson und McDowell. Nun bietet diese Auswahl übliche Verdächtige, also Positionen, die keine sonderlich innovative Perspektive versprechen. Ich wähle sie, da sie es nach meinem Verständnis erlauben, Probleme der Selbstverständlichkeit des Verstehens in besonders klärender Art und Weise im Zusammenhang zu behandeln.

Jeweils will ich an diesen Positionen Momente beleuchten, die für ein verstehendes Weltverhältnis grundlegend sind, die aber von Gadamer, Davidson und McDowell verfehlt oder zumindest nicht angemessen gefasst werden. Meine Rekonstruktionen sind nicht von dem Anspruch geleitet, ihren Philosophien als solchen gerecht zu werden. Ich nehme Verkürzungen in Kauf, um jeweils die Momente, um die es mir geht, markant herausarbeiten zu können. Dabei geht es mir aber wiederum auch nicht darum, die diskutierten Positionen gegen den Strich zu lesen. Ich folge ihnen vielmehr jeweils immer in Aspekten, die sie von sich aus stark machen. So ziele ich darauf darzulegen, inwiefern unterschiedliche grundlegende Aspekte, die in Gadamers, Davidsons und McDowells Philosophien im Spiel sind, konsequenter und zum Teil auch anders gefasst werden müssen, um einen angemessenen Begriff des Verstehens zu gewinnen.

In Bezug auf Gadamers Hermeneutik zeichne ich nach, wie die von ihm profilierte Struktur von Frage und Antwort als eine Grundstruktur alles Verstehens verkürzt wird, wenn man sie auf die Selbstverständlichkeit des Verstehens hin fixiert. Übersehen wird aufgrund dieser Verkürzung, dass alles Verstehen grundsätzlich mit der Möglichkeit der Befragung von Verständnissen verbunden ist – einer Befragung, die von Individuen aus ihren je unterschiedlichen Perspektiven hervorgebracht wird. Davidsons Hermeneutik interessiert mich bezüglich des von ihr vertretenen Interaktionismus, der allerdings in seinem Potential nicht ausgeschöpft wird, weil Davidson der Konfliktivität alles Verstehens keine Rechnung trägt. Die Position von McDowell ist schließlich aus dem Grund relevant, da sie einerseits den transformatorischen Charakter und andererseits Kritik als Moment des Verstehens betont. Kritik wird aber dabei als bloß objektives Geschehen und nicht als Selbstkritik begriffen. Verstehen aber ist konstitutiv mit Selbstkritik verbunden.

Dieses erste Kapitel zielt insgesamt darauf aufzuklären, welche 31Konsequenzen es hat, wenn man die freiheitseröffnenden Potentiale des Verstehens nicht in den Blick nimmt. Ich will zeigen, warum es erforderlich ist, die Aspekte, denen die Positionen von Gadamer, Davidson und McDowell nicht angemessen Rechnung tragen, ins Zentrum einer Erläuterung des Verstehens zu stellen. Gefordert ist im Lichte der Desiderate, die dadurch zutage treten, eine Thematisierung der konstitutiven Verknüpfung von Verstehen und Freiheit. Eine solche Thematisierung will ich durch die folgenden Überlegungen vorbereiten.

1. Gadamer: Verstehen als Frage-und-Antwort-Geschehen

Gadamer hat auf Grundlage der hermeneutischen Arbeiten Heideggers eine Position entwickelt, die die Einseitigkeiten von Hermeneutik als einer Kunstlehre des Verstehens hinter sich zu lassen sucht. Im Rahmen der Tradition hermeneutischen Denkens ab dem 18. Jahrhundert hatten unter anderem Friedrich Ast und Friedrich Schleiermacher in erster Linie den methodischen Charakter von Hermeneutik im Blick. Hermeneutik ist für sie besonders an dem Vorhaben orientiert, Momente des Nichtverstehens zu überwinden.[5]  So zielt unter anderem die klassische Interpretation des hermeneutischen Zirkels darauf, das, was an einem Text oder anderen kulturellen Artefakten bereits verstanden ist, als Grundlage für ein Verständnis des zunächst Nichtverstandenen zu gewinnen.[6]  Charakteristisch für einen methodischen Begriff von Hermeneutik ist so, das Nichtverstehen als Ausgangspunkt hermeneutischer Überlegungen zu platzieren.

Genau mit diesem Ausgangspunkt brechen die philosophischen Hermeneutiken, die Heidegger und Gadamer vorgelegt haben.[7]  Sie argumentieren, dass der grundlegende Charakter des Verstehens für 32das menschliche Weltverhältnis nur dann begreiflich gemacht werden kann, wenn man Verstehen selbst als Ausgangspunkt ansetzt. Verstehen gilt Heidegger und Gadamer entsprechend als unhintergehbar.[8]  Momente des Nichtverstehens werden von ihnen als Momente rekonstruiert, die sich nur vor einem Hintergrund grundlegenden Verstehens ergeben können. Dieser für die hermeneutische Tradition des 20. Jahrhunderts wegweisende Gedanke lässt sich auch mit dem oben eingeführten Begriff der Selbstverständlichkeit des Verstehens artikulieren. Bei Heidegger und Gadamer wird diese Selbstverständlichkeit dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sie Verstehen als unhintergehbare Grundlage des menschlichen Weltverhältnisses analysieren.[9]  Diejenigen, die verstehen, befinden sich demnach immer schon in einem Raum des Verstehens. Sie können Verstehen nicht aus eigener Aktivität herbeiführen, sondern erfahren es unwillkürlich.

Das heißt aber gerade für Gadamer nicht, dass Verstehen ein bloß objektives Geschehen wäre. Verständnisse sind aus seiner Sicht so verfasst, dass in ihnen diejenigen, die verstehen, durchweg mit im Spiel sind. Was verstanden wird, geht aus einer Beziehung zwischen den Objekten, um die es geht, und den jeweils involvierten Subjekten hervor. Insofern wird Verstehen für Gadamer verfehlt, wenn man es als einen bloßen Bezug auf Objekte fasst. Markant heißt es daher bei ihm, dass »alles […] Verstehen am Ende ein Sichverstehen ist«.[10]  Gadamer ist bemüht, den Geschehenscharakter alles Verstehens so zu erläutern, dass die für ihn wesentliche Bezogenheit von Objektivität und Subjektivität aufeinander begreiflich wird. Zwei Theoreme aus Gadamers Hermeneutik stehen in besonderer Weise für diese Bemühung: das Theorem der Applikation und dasjenige von Frage und Antwort. Meine Rekonstruktion dieser Theoreme soll klären, inwiefern Gadamer gerade aufgrund seiner Betonung des Geschehenscharakters ein wichtiges Moment von Verstehen nicht angemessen fasst.

Unter Rekurs auf die juristische Hermeneutik pointiert Gadamer den Gedanken, dass alles Verstehen als eine Applikation, also als Anwendung eines in einem verständniseröffnenden Gegenstand vor33liegenden Gehalts auf die Situation, in der ein verstehendes Subjekt sich befindet, zu begreifen ist.[11]  Das Paradigma einer entsprechenden Applikation ist die rechtliche Entscheidung über einen spezifischen Fall, die die Aufgabe hat, diesen Fall in seinen Eigenarten von einem oder mehreren bestimmten Rechtsinhalten her zu begreifen. Wenn eine Richterin über einen Einzelfall entscheidet, muss sie gegebene Rechtsbegriffe auf diesen Einzelfall anwenden. Nur durch eine solche Anwendung kann sie zu einer Entscheidung kommen.[12] 

Gadamer vertritt die These, dass die Struktur der Rechtsanwendung mit Blick auf Verstehen insgesamt verallgemeinert werden kann. Alles Verstehen ist demnach mit einem Moment von Anwendung verbunden. Verstehen konstituiert sich, so gesehen, dadurch, dass überkommene Verständnisse auf eine neue Situation angewendet werden. Die neue Situation ist dabei als die Situation zu begreifen, in der sich das verstehende Subjekt – im Rahmen einer mit anderen geteilten gegenständlichen Welt – befindet. Dass ein Gegenstand verstanden wird, heißt, dass diejenige, die versteht, ihn für sich aktualisiert. Diese Struktur gilt für das von Heidegger prioritär behandelte praktische Verstehen[13]  genauso wie für das historische Verstehen, welches Gadamer primär im Blick hat.[14]  Wenn ich mit einem Gegenstand umzugehen weiß, geht es nicht um Handhabungen, die jede und jeder vollziehen könnte, sondern um solche, die ich mir aus der für mich als Subjekt spezifischen Situation heraus angeeignet habe. Wenn ich einen Roman wie Dostojewskis Der Idiot verstehe, sagt der Text mir in meinen konkreten Lebensverhältnissen und den daraus resultierenden Fragen etwas. Ich bin nicht primär daran orientiert, wie jedwede Leserin den Text verstehen würde, sondern mache ihn für mich aus dem, was mich spezifisch betrifft, heraus fruchtbar.

Die Struktur der Applikation, die hier zum Tragen kommt, ist nicht als ein aktives Tun zu begreifen. Ich stelle das Sprechen eines Textes oder die Umgangsweise mit einem Gegenstand nicht aus eigener Aktivität her, sondern erfahre sie. Insofern ist die Applikation ein Aspekt des Geschehens, als das Gadamer alles Verstehen 34begreift. Allem Verstehen eignet so für Gadamer eine grundlegende Passivität. Diese lässt sich besonders aus seiner Kritik der bewusstseinsphilosophischen Rekonstruktion von Verstehen verdeutlichen. Nicht zuletzt die kritische Philosophie Kants erläutert die verstehende Auseinandersetzung mit der Welt unter Rekurs auf eine Aktivität des Verbindens von Seiten des Subjekts. Aus Gadamers Sicht liegt darin eine entscheidende Verzerrung, die daraus resultiert, dass Kant die Einbettung von Subjekten in eine Welt des Verstehens verkennt. Aus dieser Einbettung folgt für Gadamer, dass die für die Anwendung von Verständnissen relevanten Verbindungen von Gegenständen des Verstehens ausgehen, so dass ein Subjekt sie im Verstehen erfährt und nicht seinerseits herstellt. In diesem Sinn ist Verstehen ihm zufolge ein Geschehen.

Dieses Geschehen klärt Gadamer noch weitergehend mit den Begriffen von Frage und Antwort auf.[15]  Verstehen ist seiner Analyse nach von Grund auf dadurch geprägt, dass Antworten auf Fragen, die von Seiten des Gegenstands und des verstehenden Subjekts im Spiel sind, zustande kommen. Der Rekurs auf die Frage-Antwort-Struktur erlaubt Gadamer eine feingliedrige Analyse, da diese Struktur auf drei Ebenen festgemacht werden kann und so die wechselseitige Bezogenheit von Objektivität und Subjektivität aufeinander genauer zu durchdringen vermag.

Die erste Ebene, in der alles Verstehen eine Frage-Antwort-Struktur aufweist, betrifft das verstandene Objekt. Etwas zu verstehen, heißt demnach, es als Antwort auf eine Frage zu verstehen. Charakteristisch für die betreffende Frage ist, dass sie zumeist unartikuliert bleibt. Die historischen und gesellschaftlichen Problemlagen, auf die Dostojewskis Roman antwortet, werden in seinem Text nicht explizit genannt. Sie müssen also rekonstruiert werden, wenn man Dostojewskis Text verstehen will. Auch mit Blick auf die praktische Handhabung eines Geräts sind praktische Problemlagen im Spiel, auf die das Gerät antwortet und die in seiner Handhabung implizit leitend sind. Wo auch immer sich Verstehen einstellt, werden implizit Zusammenhänge zwischen dem Fragenhintergrund und der ihm korrespondierenden Antwort hergestellt, die das zu Verstehende darstellt. Dies geschieht unterschwellig, ist also ein Aspekt des Geschehenscharakters.

35Die zweite Ebene, auf der im Verstehen eine Frage-Antwort-Struktur auftritt, betrifft die Bezogenheit des Objektiven und des Subjektiven aufeinander. Wo auch immer etwas verstanden wird, findet demnach eine Infragestellung statt.[16]  Das, was verstanden wird, stellt diejenige, die versteht, indirekt in Frage. Nun mag es so scheinen, als dramatisiere dieser Gedanke Prozesse des Verstehens in einer überzogenen Art und Weise. Um zu zeigen, dass dies nicht der Fall ist, muss man in erster Linie den formalen Charakter der betreffenden Infragestellung betonen. Verstehen kommt nur dadurch zustande, dass ein Gegenstand in einem Subjekt ein auf den Gegenstand bezogenes Verständnis auslöst. Dies setzt voraus, dass das Subjekt durch die Begegnung mit dem Gegenstand nicht einfach unverändert bleibt. Wenn die Begegnung keinerlei Veränderung bei dem Subjekt auslöst, ist nichts geschehen, was sich als Verstehen des Gegenstands begreifen ließe. Das Subjekt bleibt dann einfach bei den Verständnissen, die es bereits unabhängig von der Begegnung mit ihm hatte. Sofern es aufgrund dessen, womit es konfrontiert ist, tatsächlich versteht, muss dieses eine Spur in den Verständnissen des Subjekts hinterlassen. Dies heißt, formal betrachtet, dass der Gegenstand die Verständnisse, über die das Subjekt zuvor bereits verfügte, in Frage gestellt hat. Aufgrund dieser Infragestellung verändert der Gegenstand etwas im Verständnishaushalt des Subjekts.

Die für alles Verstehen grundlegende Infragestellung geht aber über das formale Moment zugleich auch hinaus. Mit dem Begriff der Applikation hat Gadamer bereits betont, dass dasjenige, was verstanden wird, auf die Situation derjenigen, die versteht, bezogen wird. Dieses In-Beziehung-Setzen lässt sich auch artikulieren, indem man sagt, dass das verstehende Subjekt sich den Gegenstand zu eigen macht. Es antwortet auf den Gegenstand. Die Fragen, die Gegenstände des Verstehens grundsätzlich darstellen, sind also auf Seiten der verstehenden Subjekte mit Antworten verbunden. Subjekte lassen sich von dem, was sie verstehen, nicht nur verändern; sie verändern auch ihrerseits, was sie verstehen. Insofern ist die von den Gegenständen ausgehende Infragestellung damit verknüpft, dass Subjekte auf diese Infragestellung antworten und sich damit 36implizit in das, was sie verstehen, einbringen. Jede Lektüre eines Romans oder jede Betrachtung eines Gemäldes zeigt diese Struktur. Immer entwickeln diejenigen, die verstehen, eine strukturell eigene und in diesem Sinn neue Perspektive auf das, was sie verstehen. Diese neue Perspektive ist als eine von ihnen auf die erfahrene Infragestellung hin gegebene Antwort zu begreifen.

Die Art und Weise, wie verstehende Subjekte sich in jedes Verständnisgeschehen einbringen, lässt sich noch weiter klären, indem man die Frage-Antwort-Struktur in einer dritten Hinsicht akzentuiert. Hier dreht sich das Verhältnis zwischen verstandenem Gegenstand und verstehendem Subjekt um. Wer versteht, bringt seinerseits Fragen mit. Wenn mich Fragen von Einsamkeit in modernen Gesellschaften oder Fragen sozialer Ausgrenzung oder andere vergleichbare Fragen nicht bewegen, werde ich womöglich keinen Zugang zu Dostojewskis Narrativ finden. Ich werde dann den Text vielleicht belanglos finden und kein weiteres Interesse entwickeln, mich mit ihm auseinanderzusetzen. In diesem Sinn gehen auch von denjenigen, die verstehen, Fragen aus, die sie in Prozesse des Verstehens einbringen und von denen diese Prozesse mit getragen sind. Die Gegenstände, die verstanden werden, sind im Rahmen dieser Struktur als Antworten auf solche Fragen zu begreifen.

Gadamers Analyse der Frage-Antwort-Struktur des Verstehens ist von dem Gedanken geleitet, dass diese Struktur Verstehen als Geschehen grundsätzlich bestimmt. Es geht ihm demnach um eine Rekonstruktion von in allem Verstehen impliziten Aspekten. Er spricht von einer »Struktur der hermeneutischen Erfahrung«,[17]  die er mit dem Rekurs auf das Zusammenspiel von Frage und Antwort aufklärt. In der Art und Weise, wie er den alles Verstehen prägenden Strukturen Rechnung trägt, sichert er so die Selbstverständlichkeit des Verstehens. Dies aber führt dazu, dass er diese Strukturen verkürzt. Denn für alles Verstehen spielt eine entscheidende Rolle, dass Verständnisse auf ihre Angemessenheit hin befragt werden können. Die Dimension des Fragens spielt nicht nur implizit eine zentrale Rolle, sondern auch explizit. Genau dies wird von Gadamer nicht in dem erforderlichen Maße herausgestellt.

Denken wir an die Lektüre eines Romans wie des Textes von Dostojewski. Das Verstehen eines solchen literarischen Textes setzt 37voraus, dass man sich fragt, ob und wie man richtig versteht. So kann man sich grundsätzlich fragen, inwiefern der Protagonist von Dostojewskis Text trotz seiner Eigentümlichkeit für uns alle Relevanz besitzt. Oder man kann sich fragen, was es heißt, dass der Protagonist zu Anfang der Erzählung in St. Petersburg gesellschaftliche Verbindungen knüpft und welchen Charakter diese Verbindungen haben. Wenn man sich Fragen wie diese nicht stellt, kann man Verständnisse nicht aufeinander abstimmen und zusammensetzen. Zweifelsohne kann man in der Lektüre eines Romans auch einfach einzelne Sätze, Satzzusammenhänge und umfassendere Bögen des Textes verstehen, ohne seine Verständnisse zu befragen. Sofern man in dieser Weise versteht, ist der Zusammenhang aber nur Zufall. Jedes Moment des Textes, das sich nicht einfach in den Zusammenhang einbettet, konterkariert ihn und bricht so das Verstehen. Wenn Zusammenhänge nur auf Zufall basieren, kann das Verstehen jederzeit und unvermittelt aussetzen. Einem unabsehbaren Abbruch des Verstehens kann man aber dadurch entgegenarbeiten, dass man Verständnisse dort befragt, wo sich Zusammenhänge von Verständnissen nicht einfach herstellen.

Das Befragen von Verständnissen setzt voraus, dass neben Erfahrungen des Verstehens auch Erfahrungen des Nichtverstehens als grundlegend einbezogen werden. Dies aber ist mit einer Revision der Ausgangslage von Heidegger und Gadamer verbunden: Verstehen kann nicht als unhintergehbar gesetzt werden. Vielmehr sind Verstehen und Nichtverstehen dort, wo Zusammenhänge von Verständnissen befragt werden, miteinander verbunden. Zudem setzt das Befragen von Verständnissen voraus, dass man sie in ihrer Bestimmtheit zu thematisieren weiß. Man hat Verständnisse nicht nur, sondern kann sich auch auf ihren Gehalt und ihre Relation zu anderen Verständnissen beziehen. In Fällen, in denen Zusammenhänge – zum Beispiel in der Lektüre eines literarischen Texts – unklar bleiben oder in denen man sich hinsichtlich ihrer unsicher ist, ist eine Bezugnahme auf den Gehalt von Verständnissen und auf die Relationen, in denen sie zueinander stehen, entscheidend. Auch wenn es nicht ständig stattfindet, gehört ein solches Befragen von Verständnissen konstitutiv zum Verstehen. In dieser Hinsicht ist Verstehen nicht selbstverständlich, sondern konstituiert sich ausgehend von Momenten, in denen nicht einfach verstanden wird.

Nun mag man einwenden, dass bei der Lektüre eines Romans 38