Heile, heile München - Arik Steen - E-Book

Heile, heile München E-Book

Arik Steen

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Beschreibung

Die sonst so idyllische bayerische Landeshauptstadt lebt in Angst und Schrecken. Innerhalb einer Woche geschehen die schrecklichsten Dinge und die Polizei sucht verzweifelt nach einem Zusammenhang. Ex-Soldat Daniel Adler ist wenig begeistert, als sein alter Freund aus Kindertagen ihn um Rat fragt. Doch Kommissar Philipp Walter weiß sich nicht anders zu helfen. Und ablehnen kann Daniel nicht. Er ist längst Teil der Geschehnisse in München. Ein totgeglaubter ehemaliger Untergebener zwingt ihn in ein gefährliches und höchst brisantes Katz- und Mausspiel. In das auch Münchner Politiker verstrickt sind. Seite an Seite kämpften sie in Afghanistan gegen Rebellen. Jahre später kämpfen sie in München gegeneinander.

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Seitenzahl: 513

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Heile, heile München

Heile, heile MünchenPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8EpilogImpressum

Heile, heile München

Prolog

Dezember 2009, Afghanistan

«Gott hatte ein wunderbares Wesen geschaffen. Einen vollkommenen Engel. Doch er gab diesem Engel einen freien Willen. Und dieser entschied, sich gegen Gott aufzulehnen. Er hatte die Wahl zwischen Recht und Unrecht. Er entschied sich gegen Gott und gegen das Recht. Wer auch immer diesem gottverdammten Engel ins Hirn geschissen hatte, es war das Ende seiner Zeit im Himmelsreich. Er wurde hinabgeschleudert auf die Erde. Und dort wandert er seitdem umher. Oder er versteckt sich. Wahrscheinlich hier in diesem gottverdammten Land Afghanistan.»

Hauptmann Daniel Adler schaute seinen Hauptfeldwebel an. Seit zehn Stunden lagen sie nun hinter einem Hügel und beobachteten die kleine Siedlung vor sich. Sieben deutsche Fallschirmjäger. «Den Scheiß glaubst du doch wohl nicht, oder?»

Hauptfeldwebel Jonathan Frankenwald grinste. «Aber natürlich, Hauptmann. So steht es in der Bibel.»

«Das Gott den Teufel nach Afghanistan geschleudert hat?»

«Das nicht. Aber auf die Erde. Und irgendwo muss er sich ja verstecken. Warum also nicht in diesem gottverdammten öden Land?»

«Ich glaube eher, dass er in unseren Köpfen steckt. Und uns Tag für Tag manipulieren will. Und dabei spielt es überhaupt keine Rolle, ob du in Afghanistan sitzt, mit der Waffe in der Hand oder furzenderweise daheim in deinem Sessel von Ikea.»

«Bei einem kühlen Bier. Neben einer Frau mit riesigen Titten. Fußball läuft». Hauptfeldwebel Frankenwald grinste. «Ja, das wäre es jetzt.»

«Oh, bitte nicht», sagte ein anderer Soldat, der direkt neben dem Hauptfeldwebel lag. Ein kräftiger Unteroffizier. Insgesamt lagen vier Soldaten in dem Versteck. Drei weitere schützten die Flanken und den rückwärtigen Raum als Sicherung. Sie waren einige Meter entfernt.

Wie lange lagen sie schon hier? Hauptmann Adler schaute auf die Uhr. Sieben Stunden. Eine lange Zeit.

«Hauptmann», flüsterte der Soldat, der neben dem Offizier lag. Er hieß Müller und war ein Sachse. Von seinem Dialekt war allerdings wenig zu hören. «Nord-Nordost. Ein Fahrzeug. Sieht nicht nach Militär aus.»

«Was nicht heißt, dass es kein Militär ist», sagte Hauptmann Adler. «Gib mir das Headquarter.»

Stabsgefreiter Müller war der Funker der Gruppe. Er nahm das Funkgerät und gab seinem Hauptmann den Hörer.

«Puma, hier Löwe, kommen.»

Es dauerte eine Weile bis sich die Leitstelle meldete. «Hier Puma, kommen.»

«Hier Löwe, verdächtiges Fahrzeug bei NC 153464, kommen.»

«Hier Puma, wie lautet die Authentisierung für Zulu, kommen.»

Hauptmann Adler seufzte. «Hier Löwe, Warten Sie». Dann gab er seinem Funker ein Zeichen. Dieser gab ihm eine sogenannte Sprechtafel.

Hauptmann Adler nahm seinen Bleistift und schrieb sich den Authentisierungs-Code heraus. Dann nahm er wieder den Funk in die Hand. «Hier Löwe, Authentisierung lautet, SD, KF, CF, kommen.»

«Hier Puma, verstanden, warten Sie.»

«Was soll der Scheiß mit der Authentisierung?», fragte Hauptfeldwebel Frankenwald. «Wir sind die gottverdammt Einzigen in diesem Funkkreis.»

«Keine Ahnung», murmelte der Hauptmann. Ihm schwante jedoch nichts Gutes. Es wurde ernst.

Dann funkte das Headquarter weiter. «Löwe hier Puma, Hammer, Hammer, bestätigen Sie, kommen.»

Hauptmann Adler schloss die Augen. Nur für zwei Sekunden. Dann drückte er sie Sprechtaste. «Hier Löwe, bestätige Hammer, kommen.»

«Hier Puma, Ende.»

«Macht euch bereit Männer. Wir sprengen die Bude in die Luft. Frankenwald. Flanken aufgeben. Fertig machen zum Angriff.»

Frankenwald nickte. «Verstanden.»

«Gruppenfunk an», sagte Hauptmann Adler. «Linke Hausecke. Frankenwald, du mit deinen beiden Männern. Ich folge mit den anderen beiden. Bei Feindkontakt Feuer frei.»

«Feuer frei, verstanden», meinte Frankenwald. «Männer zuhören. Jetzt wird´s ernst. Lasst euch nicht abknallen. Sonst wird es noch mal heiß und hell ... und dann wird es kalt und dunkel. Und so bleibt es dann auch.» Er erhob sich und zwei Soldaten folgten.

«Müller. Du bleibst hier, verstanden?»

Der Funker nickte.

«Denk dran, wir haben keinen Flankenschutz mehr. Du bist nun unser Mann im rückwärtigen Raum.»

«Jawohl, Herr Hauptmann.»

«Dann los», sagte Adler zu den beiden Anderen und ging dann in Richtung Siedlung.

Am Gebäude angekommen, sicherte einer der beiden Männer von Frankenwald nach vorne. «Zwei Schützen auf dem Dach. Erkannt?»

«Erkannt. Noch nicht schießen.», befahl Frankenwald. «Warte bis der Hauptmann nachgerückt ist.»

«Verstanden Hauptfeld.»

Dann war Hauptmann Adler mit seinen beiden Männern am Haus.

«Zwei Männer auf dem Dach», sagte Frankenwald.

«Glück ab, Kamerad. Wir nehmen das Gebäude. Schaltet die Wachen aus. Dann zur Tür. Wir sichern von hinten. Sobald ihr am Gebäude seid, mit Blendgranate und Feuer stürmen.»

«Verstanden Hauptmann», sagte Frankenwald. «Auf mein Zeichen, Männer. Zwo, eins ... Feuer.»

Die Männer schossen. Und trafen.

«Los, los», schrie Frankenwald. Geräuschtarnung war jetzt nicht mehr wichtig. Der Feind wusste, dass er angegriffen worden war.

Die beiden Männer von Frankenwald stürmten an die Hauswand. Der eine links, der andere rechts und Frankenwald hinter ihnen.

«Zuhören. Joe, du öffnest die Türe. Richie, du wirfst die Blendgranate. Dann Joe mit Feuer rein und nach links. Richie nach rechts, verstanden?»

«Verstanden.»

«Ja, verstanden.»

«Dann los ...»

Stabsgefreiter Joe fasste an den Griff. Langsam drückte er ihn herunter. Und schließlich stieß er die Türe auf. Stabsunteroffizier Richard «Richie» Ewald warf die Blendgranate. Die Detonation war deutlich zu hören. Getötet wurde damit niemand, aber wer im Raum war, der war kurzzeitig orientierungslos. Seh- und Hörwahrnehmung wurden durch den lauten Knall und dem hellen Licht stark beeinträchtigt.

«Und los», donnerte Frankenwald.

Die beiden Fallschirmjäger stürmten. Schüsse fielen. Nach einer Minute war es vorbei. Frankenwald kam raus. «Vier Mann ausgelöscht.»

«Gut», sagte Daniel Adler. «Wir sprengen die Container. Auf geht´s.»

«Fünf feindliche Fahrzeuge von Norden», kam plötzlich über den Gruppenfunk. «Verflucht, es wird brenzlig.»

Hauptmann Daniel Adler wurde sichtlich nervös. Das war nicht geplant. «Frankenwald, du bleibst mit deinen beiden Männern. Sprengt die gottverdammten Container in die Luft. Wir gehen zurück zu den Kuppeln und geben euch gegebenenfalls Feuerschutz.»

«In Ordnung. Wir rocken das Baby, Hauptmann.», Frankenwald grinste.

Für einen Moment schaute Hauptmann Adler seinen Hauptfeldwebel an. Er hielt ihn für verrückt. Aber solche Leute brauchte man in derartigen Situation. Man brauchte klardenkende Männer die führten. Aber man brauchte auch die Draufgänger. Dann rannte er los. «Auf geht´s.»

Die Fahrzeuge kamen auf die Siedlung zu. Insgesamt waren es sechs Stück. Hauptmann Adler konnte es nicht glauben. Das war irre. «Hol die Panzerfaust aus dem Wolf», befahl er. «Und du hinters MG.» Der angesprochene Soldat nickte und legte sich hinter das Maschinengewehr.

«Panzerfaust bereit», sagte der Schütze. Er hatte das Visier aufgeklappt und zielte.

«Warten!»

Der Soldat wartete.

«Auf das erste Fahrzeug Panzerfaust Feuer frei.»

Die Panzerfaust wurde abgefeuert. Der Geschosskopf flog zischend durch die Luft. Und traf perfekt das erste Fahrzeug. Die Motorhaube zersprang, als wäre das Fahrzeug gegen eine Mauer gerast. Keiner der Insassen konnte das überleben.

«Ziel vernichtet.»

«Gut gemacht», sagte der Hauptmann. «Nachladen.»

Aus der kleinen Siedlung kamen die zwei Soldaten gerannt.

«Sie kommen! Gebt ihnen Feuerschutz», schrie Adler.

Das Maschinengewehr schoss auf die Fahrzeuge, die sich den Gebäuden näherte.

«Verdammt», schrie Adler. «Wo ist Frankenwald?»

«Ich sprenge jetzt», sagte Frankenwald durch den Gruppenfunk.

«Mach das du da rauskommst, Hauptfeld. Schnell. Sie sind da.»

«Ich bin gleich soweit.»

«Das ist ein Befehl, Frankenwald, raus da.»

«Ich bin gleich soweit ...»

«Verdammt noch mal», Adler war außer sich. Er schaute sich zu seinen Männern um. «Schießt.»

«Panzerfaust bereit.»

«Dann Panzerfaust Feuer frei.»

Erneut zischte ein Geschoss durch die Luft. Und auch das zweite Fahrzeug wurde getroffen. Die anderen Fahrzeuge waren nun keine zehn Meter von der Siedlung entfernt.

Die Männer schossen auf die Fahrzeuge und die aussteigenden Männer. Frankenwald war nicht zu sehen.

«Fuck!», hörte man über Funk. «Hauptmann, melde Feind.»

«Frankenwald, verdammte Scheiße, komm da raus.», schrie Adler und riss das große Funkgerät an sich. «Puma, hier Löwe, kommen.»

«Hier Puma, kommen.»

«Hier Löwe. Sind unter Beschuss geraten. Fordere Luftunterstützung an sofort, kommen.»

«Hier Puma, warten Sie.»

Adler rastete aus und warf den Hörer zur Seite. «Verdammte Scheiße.»

In diesem Augenblick explodierten die beiden Container. Mit enormer Kraft zerriss es die stählernen Kolosse.

«Auftrag ausgeführt», sagte Frankenwald über den Gruppenfunk: «Krieg ist die Hölle, aber der Sound ist geil. Ich werde nun ...»

Schüsse fielen.

«Frankenwald?», fragte Adler durch den Gruppenfunk.

«Ihn hat´s erwischt», meinte der Unteroffizier. «Oh verdammt.»

Adler atmete tief durch. Er sah, wie die Taliban-Kämpfer sich nun in ihre Richtung positionierten. Frankenwald war tot, da war er sich sicher. Sie hatten ihn erschossen. Jetzt musste er die anderen Männer retten. Seine restliche Gruppe aus dieser Lage befreien. «Zu den Fahrzeugen. Schnell. Rückzug.»

Kapitel 1

01

«Tick tack, Schweinchen, tick tack ... deine Zeit läuft ab ...», grinste der Mann und begutachtete das Werkzeug, das vor ihm lag. Handwerkszeug für einen Schlachter. Mit einer Seelenruhe fuhr er über die Klinge eines scharfen Messers. Sofort löste sich ein Blutstropfen und fiel zu Boden. Er verzog keine Miene beim Schnitt. Dann jedoch beobachtete er süffisant lächelnd den Tropfen beim Fallen. Schließlich schaute er sich um. Schaute direkt zu Herbert, der auf dem gefliesten Boden saß.

Dieser beobachtete mit panischem Blick und großen Augen seinen Peiniger, der sich seelenruhig in der Metzgerei umsah. Er selbst war gefesselt und komplett nackt. In seinem Mund ein Knebel, wie man ihn bei Sexspielchen nutzte.

«Wie machst du das?», fragte der Mann schließlich und ging auf Herbert zu. «Stichst du deine Opfer mit so einem Teil ab? Schlitzt du dem Schweinchen die Kehle auf?»

Herbert wollte etwas sagen, aber er konnte nicht. Es kam nur undeutliches Gestammel aus seinem Mund. Nein, so lief das nicht ab.

Der Mann kniete sich vor ihn und schaute ihm direkt in die Augen. «Es gibt für alles das erste Mal, richtig?»

Einen Moment blickten sie sich nur an. Herbert mit großem ängstlichem Blick. Der Mann mit einem unheimlichen, verrückten Glanz in den Augen. Als hätte er einen Sportwagen gewonnen. Er sah gefährlich aus. Eine leicht rötliche wulstige Narbe ging quer über sein markant männliches Gesicht. Die Haare waren seitlich kurz geschoren, das Deckhaar etwas länger und zu einem Seitenscheitel gekämmt. Das personifizierte Böse, hämmerte es in Herberts Kopf. Er war ein Monster. Garantiert. Ein Monster in Menschengestalt.

«Du glaubst, ich bin der Teufel, oder?», meinte der Mann mit der Narbe. Er fuhr mit der flachen Seite der Klinge an Herberts Hals entlang. Der kalte Stahl löste einen Schauer aus. Herbert wusste, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing. Die Angst schnürte ihm den Hals zu und kroch dann seinen Rücken hinunter. Seine Nervenbahnen hatten das Gefühl, als würden tausend Spinnen seinen Körper herunterkrabbeln und mit ihren kleinen behaarten Beinen auf schaurige Weise jede Hautzelle seines Rückens berühren. Herbert fröstelte, auch weil sein Körper durch den Angstschweiß feucht war.

Schließlich packte der Mann mit der Narbe seinen Gefangenen an den Füßen. Mühelos zog er ihn in die Mitte des Raumes. Die nackte schweißnasse Haut erzeugte schmatzende Geräusche auf den Fliesen. Herbert bekam unfassbare Panik. Er hatte das Gefühl, als würde die Angst jede Muskelfaser vergiften. Er versuchte die Fesseln an seinen Händen zu lösen, aber die Seile fraßen sich nur noch mehr in seine Haut. Den Schmerz dabei spürte er jedoch kaum. Das Adrenalin hatte ihn fest im Griff. Es durchströmte seinen Körper und schien jede Zelle zu erfassen. Um ihn vorzubereiten auf die große Frage: Kampf oder Flucht. Doch beides war nicht möglich. Er war gefesselt und hilflos ausgeliefert. Einem wahnsinnigen Psychopathen, das war ihm klar.

«Tick tack, Schweinchen, tick tack ...», sagte der Mann mit der Narbe erneut. Ein kräftiger, ja athletischer Typ. Er nahm eine Lederschlinge, legte sie um das linke Bein von Herbert, zog sie fest und hängte sie schließlich an einen der beiden Fleischerhaken, die von der Decke hingen.

Schlagartig war Herbert bewusst, was hier passierte. Er wehrte sich urplötzlich wie verrückt. Wand seinen Körper hin und her wie ein Aal auf trockenem Grund. Aber der Mann war stärker und zudem war Herbert gefesselt. In Seelenruhe hängte der Peiniger auch das andere Bein an einen Haken.

Herbert betete. Es war ein wirres, hilfloses Gebet. Ihm wurde plötzlich klar, dass er schon seit Jahren nicht mehr gebetet hatte. Obwohl er eigentlich an Gott glaubte. Das war zynisch und das wusste er. Weil er ihn nicht gebraucht hatte, nicht weil er nicht an ihn glaubte. Ein Stoßgebet vielleicht mal beim Autofahren. Mehr nicht. Aber nun brauchte er ihn. Nun flehte er. Und im Hinterkopf fragte er sich, ob er selbst reagieren würde, wenn ein Mensch ausgerechnet dann kam, wenn er dermaßen in Gefahr war. Sich aber davor nie gemeldet hatte. Nein, wahrscheinlich nicht. Deshalb musste Herbert auf die Gnade Gottes hoffen.

Der Mann mit der Narbe hatte beide Beine an den Fleischerhaken aufgehängt. Schließlich begab er sich an einen Hebel an der Wand, betätigte diesen und die beiden Ketten, an denen sich die Haken befanden, wurden nach oben gezogen.

Herbert zappelte wie wild. Doch er hatte keine Chance. Und das wusste er. Tag für Tag zog er damit Schweine hoch ... um sie anschließend zu zerlegen. Rund zweihundert Kilo wiegt so eine Schlachtsau. Er nicht einmal die Hälfte.

«Quiek, Schweinchen quiek“, sagte der Peiniger und schaute zu, wie Herbert schließlich kopfüber mitten im Raum hing. «Hey, Junge, lass dich doch nicht so hängen.»

Der spöttische Unterton klang in Herberts Ohren wie die pure Verhöhnung. Er dachte an seine Frau und seine Kinder. Er wusste, dass er sie nie wiedersehen würde. Außer es würde ein Wunder geschehen. Aber daran glaubte er nicht. Die Hoffnung in ihm war nur noch ein kleines Flämmchen.

Der Mann mit der Narbe pfiff eine Melodie, während er sich die Säge und die Axt holte. Prüfend schaute er beides an und ging dann zu seinem Opfer. «Wie würdest du ein Schweinchen in zwei Hälften teilen? Axt oder Säge, du hast die Wahl ...»

Herbert versuchte etwas zu sagen. Die Panik war ihm ins Gesicht geschrieben. Und das Blut staute sich in seinem Kopf.

«Oh, Verzeihung», grinste sein Peiniger und ging in die Knie. Er öffnete den Knebel. «Was sagtest du?»

«Ich flehe Sie an. Bitte ... ich habe Kinder und eine Frau.»

«Herrje. Weißt du, wie oft ich das schon gehört habe? Glaubst du ernsthaft, dass mich das beeindruckt?»

«Ich heiße Herbert ...», meinte der an den Fleischerhaken hängende Metzger. Irgendwo hatte er mal gehört, dass man damit etwas bewirken konnte. Dann, wenn der Täter sein Opfer plötzlich als Mensch wahrnahm. Und nicht als Objekt.

«Ich weiß, Schweinchen», grinste der Peiniger. «Darum geht es ja. Es geht nicht um irgendjemand. Es geht um dich. Um Herbert, den Metzger. Und du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Was soll ich benutzen? Die Säge oder das Beil?»

«Bitte, ich flehe Sie an.»

Der Mann mit der Narbe ahmte Herbert nach. Er schluchzte, weinte und flehte. Dann wurde er wieder ernst. «Es sind deine letzten Minuten. Willst du die auf dieser Erde nicht wenigstens mit so viel Würde und mit so wenig Schmerzen wie möglich verbringen?»

Es war Irrsinn zu glauben, dass eines der beiden Werkzeuge weniger Schmerzen verursachte. Beides war grausam. Ohne auch nur annähernd daran zu denken, was dieses Monster wirklich vorhatte, versuchte es Herbert nochmal. «Bitte ...»

«Bitte was? Bitte nutze das Beil um mich in zwei Hälften zu teilen, oder die Säge?»

«Sagen Sie mir, was habe ich Ihnen getan?», fragte Herbert.

«Es gab ein Schweinchen namens Rosa. Das lebte auf dem Hof meiner Eltern. Erinnerst du dich?»

«Nein!», sagte Herbert. Er spürte, wie sich das Blut in seinem Kopf immer mehr sammelte. Seine Schläfen schmerzten.

«Natürlich nicht. Wie viele Schweine tötest du pro Jahr?», der Mann mit der Narbe seufzte. «Ich weiß schon. Kann man nicht zählen. Höchstens in den Akten nachlesen.»

«Was hat es mit ... Rosa auf sich?»

«Sie war mein Schwein. Ich war gerade 8 Jahre alt, als du sie mir genommen hast», sagte der Peiniger. «Draußen in Deisenhofen.»

«Ja, ich ... ich erinnere mich!», log Herbert. Nicht einmal annähernd wusste er, um was für ein Schwein es ging. Das war viel zu lange Zeit her. Aber früher war er oft im Münchner Landkreis auf Höfe gerufen worden um Tiere zu schlachten. Für den Eigenbedarf der dortigen Bauern.

«Du erinnerst dich einen Scheißdreck!», meinte der Mann mit der Narbe. «Und nun entscheide. Beil oder Säge?»

Herbert heulte. So wie er noch nie geheult hatte. Der Tod war für ihn etwas Grausames. Zumindest jetzt. Bisher war er für ihn einfach nur eine natürliche Sache gewesen. Der Kreislauf des Lebens.

«Tja ... die Zeit läuft ab. Tick tack, kleines Schweinchen. Dann muss wohl ich für dich entscheiden. Ich denke, dass die Säge mir besonders Spaß machen wird.»

Herbert wand sich wie ein Wurm am Angelhaken. Doch er hatte keine Chance. Als sein Peiniger schließlich die Säge zwischen seinen Beinen ansetzte, konnte er noch nicht ahnen welch grausame Schmerzen ihn erwarten würden.

«Tick tack, kleines Schweinchen!»

Herbert schrie laut auf, als die scharfen Zähne sich durch seinen Schambereich fraßen. Der Schmerz war unglaublich. Der Mann mit der Narbe lachte laut und ließ das Sägeblatt durch den Unterleib gleiten. Blut floss in Strömen den zappelnden Körper von Herbert herunter und bildete eine klebrige Lache am Boden.

Die Schreie verstummten und während der Mann mit der Narbe in Seelenruhe sein Opfer zerteilte, begann er zu singen: «Heile, heile München, es schlägt dein letztes Stündchen, der Boden färbt sich rot und Metzgerlein ist tot.»

02

Unter anderen Umständen wäre es ein romantischer Anblick gewesen. Es war Abend und die untergehende Sonne brachte im Hintergrund des alten Gebäudes ein erstaunliches Farbenspiel zustande. Der Himmel war nicht wolkenfrei. Graue Schatten zeichneten sich am rötlich schimmernden Firmament ab. Einer davon sah aus, als wäre er ein Engel, der mit weit ausgestreckten Flügeln im Westen von München wachte. Oder das Münchner Kindl, dachte sich Philipp. Doch Zeit diesen Anblick zu genießen hatte der Kriminalhauptkommissar nicht. Vor allem hatte er nicht die Nerven zu. Und die Kulisse unterhalb des Himmels war eindeutig nicht dafür geeignet romantische Gefühle zu entwickeln. Zumindest nicht in ihm. Weil er dem Fußball so gut wie nichts abgewinnen konnte. Sein Blick ging deshalb schon fast verächtlich Richtung Westen, wo zahlreiche Fußballfans in der sogenannten Westkurve feierten. Was auch immer bei ihnen Freude auslöste, denn das Spiel hatte noch nicht begonnen. Sie feierten sich selbst. Oder den Abstieg. Oder ihr proletarisches Leben, das sie hier im Grünwalder Stadion so perfekt zelebrieren konnten.

«Entschuldigung, Sie können da nicht durch», meinte einer der Securities. Philipp schaute ihn irritiert an. Er hatte den falschen Eingang genommen, das war ihm klar. Er stand in der Ostkurve und musste hinüber in die sogenannte Stehhalle im Norden des Stadions.

«Was?», fragte Philipp zurück.

«Sie können den Block nicht wechseln, tut mir leid. Es sei denn, Sie haben einen Berechtigungsausweis.»

Philipp zog aus seinem Hemd seinen Dienstausweis heraus. «Kripo München. Ist das Berechtigung genug?»

«Oh ...», meinte der Sicherheitsmann. Ein Angestellter, der sich hier vermutlich für den Mindestlohn die Beine in den Bauch stand und das Tor bewachte. Er öffnete das Tor einen Spalt. Genau so viel, dass Philipp durchhuschen konnte.

Die Stehhalle. Warum sie so genannt wurde, erschloss sich Philipp nicht, weil es durchaus Sitzplätze gab. Und die waren bereits gut gefüllt. Hunderte, nein vermutlich Tausende von primitiven Fans, die ihrem tief abgestürzten Verein zujubelten. So zumindest sah Philipp das. Und sie freuten sich wie ein Schnitzel, als plötzlich die Mannschaft auf das Spielfeld lief. Die sogenannten «Blauen», wie man sie nannte. Oder «Sechzger» oder offiziell einfach nur der TSV München von 1860. Nein, mit Fußball konnte Philipp nun wahrlich nicht viel anfangen.

Seit gut zehn Jahren war er nun bei der Kripo. In der Mordkommission. Philipp Walter, Kripo München. Eigentlich war er stolz darauf. Aber der Job war Segen und Fluch gleichermaßen.

Er schaute auf sein Handy. Er hatte eine klare Anweisung, wohin er gehen sollte. Aber das war gar nicht so einfach. Wo war dieser verdammte Block N? Er ging vorbei an den Rollstuhlfahrern, die sich an den Zaun quetschten und auf das Spielfeld starrten. Hatte man schon begonnen zu spielen? Vermutlich nicht. Von Westen marschierten Fahnenträger aufs Spielfeld. Warum auch immer. Philipp hatte für Fahnen ebenso wenig übrig wie für Fußball.

«Block N in der Mitte der Stehhalle. Reihe 12. Sitzplatz 14», lautete die Nachricht auf dem Display. Und Philipp folgte den Informationen.

Philipp suchte den Platz. Er setzte sich unter den kritischen Blicken einiger Fans um ihn herum hin. Jeder sah, dass er hier nicht reinpasste. Mit seinem Anzug und seinen sauber geputzten Schuhen. Einen Schal hatte er auch nicht. Das schien hier wohl irgendwie Pflicht zu sein. Obwohl die Temperaturen in diesem Herbst freilich kaum einen Schal rechtfertigten. Aber ganz so blöd war Philipp natürlich nicht. Er wusste durchaus, dass es ein Symbol der Zugehörigkeit war. Zu einem Verein, der nun in einer «Grasnarbenliga» angekommen war. Zumindest hatte er das in der Zeitung gelesen. In der Abendzeitung oder der Süddeutschen. Was halt bei der Kripo zu rumlag.

Er hasste Fußball. Die grölende Masse von Fans war gar nicht so sein Ding. Und so saß er auf seinem Platz und starrte missmutig auf das Spielfeld.

«Was willst du?», fragte eine Stimme plötzlich neben ihm. Für einen Moment war Philipp abgelenkt gewesen und hatte nicht gemerkt, dass sich jemand neben ihn gesetzt hatte.

«Daniel», meinte Philipp und reichte seinem Sitznachbarn die Hand. Der jedoch nahm diese nicht.

«Ich wiederhole meine Frage: was willst du?»

«Mit dir reden!»

«Ach ja? Ich wüsste nicht, was wir miteinander zu bereden hätten», erwiderte der Mann neben Philipp, den dieser mit «Daniel» angesprochen hatte. Er trug eine Jeans, eine schwarze Jacke und hatte wie die meisten anderen Fans einen Schal um den Hals. Locker umgelegt.

«Du bist mir was schuldig, Kamerad. Ich brauche deine Hilfe», meinte Philipp und zog seine Hand zurück, nachdem der Handschlag verweigert worden war.

«Ich bin niemandem etwas schuldig! Und das weißt du», sagte Daniel. Sein Haar war kurz geschnitten und sah militärisch korrekt aus.

«Ich benötige bei einem Fall deine Hilfe», Kommissar Philipp Walter lehnte sich nach vorne und begann fast schon zu flüstern. «Was soll das? Warum treffen wir uns hier?»

Eine Antwort bekam er nicht. Stattdessen meinte Daniel: «Du weißt, dass ich kein Interesse habe auch nur annähernd irgendjemand zu helfen. Geschweige denn dir. Einem von der Mordkommission.»

«Wir sind ... wir waren Freunde», meinte Philipp und korrigierte sich im letzten Augenblick. Nein, eine Freundschaft konnte man ihre Beziehung nicht mehr nennen. Obwohl sie sich seit dem Kindergarten kannten. Aber trotz allem, er vertraute ihm.

«Du weiß, dass ich auf Freundschaften wenig Wert lege.»

«Ja, ist mir klar“, seufzte Philipp. «Sonst hättest du nicht meine Frau gefickt!»

«Ich habe sie nicht gefickt», kam als Antwort, «Sie hat mir einen geblasen!»

Ein etwa 12jähriger Junge in der Reihe vor ihnen drehte sich überrascht um. Daniel warf ihm einen strengen Blick zu.

«Oh, verdammt. Glaubst du, das macht es besser?», Philipp sprach leiser um nicht für noch mehr Aufmerksamkeit zu sorgen.

«Sie war nicht mal gut dabei!»

«Du bist ein Arschloch.»

«Weißt du das seit heute?», Daniel seufzte und starrte aufs Spielfeld. Das Spiel lief. Der TSV 1860 München trat gegen den 1. FC Schweinfurt an.

«Nein, das wusste ich schon immer!», meinte Philipp und fügte dann flüsternd hinzu: «Und du warst es schon, bevor du tot warst.»

«Wie geht es deiner Frau?»

«Gut! Wobei ich nicht glaube, dass es dich wirklich interessiert.»

«Sie ist jetzt wie alt?», Daniel sprach beiläufig. Sein Interesse schien vor allem dem Spiel zu gelten.

«Vierzig», meinte Philipp.

Daniel seufzte. «Gottverdammt. Scheiße. Frauen ab 40 sind wie das Grünwalder Stadion.»

Der Kommissar schaute ihn irritiert an und erwiderte spöttisch mit einem raschen Blick durchs Stadion. «Also ganz nach deinem Geschmack?»

«Ab diesem Alter werden sie sanierungsbedürftig. Und es gehen nicht mehr so viele rein, wenn du verstehst, was ich meine!»

«Arschloch!», rutschte es dem Kommissar über die Lippen.

«Ich geh trotzdem rein», grinste Daniel und schaute nun zu seinem Gesprächspartner. «Frag sie doch, ob sie Lust hat ...»

«Wenn ich nicht wüsste, dass du schon vor deinen Einsätzen ein Arschloch warst ...»

«Dann was? Würdest du mir das posttraumatische Belastungssyndrom diagnostizieren? Dass jeder scheiß Bulle immer auch ein Hobby-Arzt ist, geht mir gehörig auf die Eier.»

«Wir haben eine Leiche», meinte Philipp.

Daniel nickte. «Sicher. Das hat die Mordkommission so an sich, dass sie sich mit Leichen beschäftigt.» Sein Blick folgte dem Ball auf dem Spielfeld.

«Ich hätte gerne deine Hilfe!»

«Wieso?», Daniel wollte die Arme hochreißen, weil die Sechzger dem Tor ziemlich nahekamen und es aussah, als würde es gleich einen Treffer geben. Ein Raunen ging durch die Menge, als der Ball am Pfosten vorbeischlitterte.

«Wir haben es mit jemandem vom Militär zu tun», sagte Philipp. «Deshalb!»

«Mord ist Mord. Es spielt keine Rolle, ob Mörder oder Opfer beim Militär waren oder sind. Es ist deine Aufgabe ihn zu fassen. Ich habe damit nichts zu tun.»

Philipp griff in seine Tasche. Er nahm etwas heraus und gab es dann Daniel. «Sagt dir das was?»

Daniel starrte das kleine Tütchen an. Darin war ein Barettabzeichen. Ein Olivenkranz mit einem stürzenden Adler. «Woher hast du das?»

«Wir haben es bei dem Opfer gefunden. Es hielt es in der Hand.»

 «Wirklich?», fragte Daniel.

Philipp seufzte. «Glaubst du, ich scherze?»

«Herrje, was weiß ich.»

«Hilfst du mir?»

«Du weißt, dass ich tot bin», murmelte Daniel und starrte noch immer auf das Abzeichen. Es hatte einen Durchschuss. Jemand hatte darauf geschossen. Direkt dort, wo der Adler war.

Philipp nickte. «Ich weiß.»

Daniel schaute für einen Moment stumm auf das Spielfeld. Die Sechzger bereiteten einen Angriff vor. Er wartete den Schuss ab, der weit über das Tor ging. Dann meinte er: «Das ist eine Botschaft.»

«Ach, ehrlich?», spottete Philipp. «Ich dachte, du könnest mir mehr sagen. Aber vielleicht erlaubt sich da jemand auch einen Scherz.»

«Nein», meinte Daniel und strich über das Abzeichen.

«Ich verstehe!» der Kommissar seufzte. «Du solltest dir wenigstens die Leiche anschauen ...»

«Ich denke nicht, dass ich das tun sollte, gottverdammt!»

«Ich wahre dein Geheimnis seit nun sieben Jahren“, meinte Philipp. «Du bist mir was schuldig»

«Willst du mir drohen?»

Der Kripobeamte seufzte. «Wenn es sein muss ...»

«Du bist ein Narr. Du weißt, dass du das nicht überleben würdest.»

Daniels Handy vibrierte. Überrascht zog er es aus seiner Tasche und hielt es sich ans Ohr. «Hallo?»

03

Maja wusste, dass es nicht mehr die Jahreszeit für Miniröcke war. Es war Herbst, wenn es auch recht warm draußen war. Der Winter würde kommen und sich nun ein kurzes, dünnes Röckchen zu kaufen, da würde ihre Mutter nur müde den Kopf schütteln. Das war der siebzehnjährigen Schülerin klar. Wenn es wenigstens aus festem Wollstoff wäre.

«Für die Disko ist er doch in Ordnung», meinte Tina und schaute auf ihre Freundin. «Du hast verdammt lange Beine. Der sieht sexy an dir aus.»

«Ich weiß nicht. Meine Mutter dreht durch!»

«Zahlst du es oder sie?»

Maja seufzte. «Ich hatte eigentlich gehofft, dass sie es bezahlt. Ich wollte ungern das alles schon wieder ausgeben, was ich mir im Sommer erarbeitet habe.»

«Verstehe», grinste Tina und schaute auf die Uhr. In rund zwanzig Minuten würde das Kaufhaus schließen. «Dann hast du wohl ein Problem.»

«Meine Mutter meinte, dass ich mir was Herbstliches kaufen soll. Ich glaube, der geht nicht durch als herbstlich, oder?»

«Vielleicht, wenn du eine Strumpfhose dazu kaufst?», überlegte Tina.

«Sehr witzig!»

«Du möchtest den Rock, oder?»

«Ja, unbedingt!»

«Oh shit, dort drüben», meinte Tina und machte eine Kopfbewegung.

Maja blickte in die Richtung und sah Timo und David. Beide waren in ihrer Schule. Vor allem David war ein absoluter Mädchenschwarm. «Oh Gott, was machen die hier?»

«Sie kommen», erwiderte ihre Freundin aufgeregt.

Maja wusste, dass Tina auf David stand. Sie ging sogar manchmal zu seinen Basketball-Spielen.

Die beiden jungen Männer kamen näher. Timo war der Erste, der die beiden Schulkameradinnen entdeckte. Grinsend schlug er seinem Schulfreund gegen den Oberarm.

Maja wusste, dass sie in einem Minirock dastand. Sie wollte in die Umkleidekabine fliehen, aber angesichts der Tatsache, dass die beiden Jungs sie bereits gesehen hatten, war das lächerlich.

David pfiff beim Anblick von Maja mit einem süffisanten Grinsen und meinte dann: «Sexy, sexy. Das ist man von einem Mauerblümchen wie dir gar nicht gewohnt.»

Maja wusste, dass sie knallrot wurde. Und es war ihr unangenehm. Die beiden Jungs waren in ihrer Parallelklasse. In der Schule waren sie die «Macher».

«Du bist doch die Kampfmaus, oder?», grinste Timo. «Maja, richtig?»

«Ja», erwiderte Maja leise. Sie war froh, dass Timo wenigstens ihren Namen kannte.

«Kampfmaus?», fragte David irritiert.

«Sie ist so eine Kampfsportlerin, oder?», meinte Timo. «Stand doch in der Schulzeitung!»

«Oh ho ho!», David grinste spöttisch. «Dann legst du uns wohl eher flach, als wir dich. Die Schülerzeitung lese ich nicht. Gibt keine Tittenbilder.»

Tina schaute die beiden böse an. Die beiden nervten und waren unverschämt zu ihrer Freundin. Allerdings störte sie am meisten, dass sie nicht im Mittelpunkt stand, das musste sie sich selbst eingestehen. «Habt ihr nichts zu tun?»

«Ja, wir müssen weiter», sagte Timo. «Der Scheißladen schließt eh gleich.»

David grinste nur und folgte seinem Kameraden.

«Arschlöcher!», meinte Tina.

«Ich dachte, du stehst auf David?», Maja schaute sie irritiert an.

«Ach, weiß nicht. Der hat doch jetzt was mit der Sabine. Weißt du, die wo Tennis spielt?»

«Ja», Maja seufzte und wollte dann in die Umkleide.

«Er sieht gut aus», sagte eine Stimme von der Seite. «Die beiden Jungs, sie wissen gar nicht, was ihnen entgeht.»

Maja schaute überrascht auf und starrte in die stechenden Augen eines Mannes, etwa um die vierzig Jahre alt. Schüchtern nickte sie. «Danke!»

«Du siehst gut aus!», meinte er und betonte das erste Wort.

Auf der einen Seite schmeichelte es ihr, auf der anderen Seite gruselte es sie auch. Er war wie alt? Zu alt, um einer jungen Frau wie ihr Komplimente zu machen. Zumindest so von der Seite und unbekannterweise.

«Können wir Ihnen helfen?», fragte Tina leicht spöttisch.

«Ich bin Modelscout. Und deine Freundin hat die perfekten Maße. Sie ist schlank, hübsch ... sie passt genau in ... mein Profil», meinte der Mann recht professionell wirkend.

«Sie schauen also nach Models?», fragte Maja durchaus interessiert.

«Das ist doch nichts für dich», meinte Tina rasch. «Du bist viel zu schüchtern.»

«Oh, das bekommen wir schon hin. Am Charakter lässt sich arbeiten. Dieses Aussehen ist jedoch ein Geschenk», meinte der Mann und lächelte. Sein Blick wanderte über ihren Körper. «Du machst Kampfsport? Sorry, ich habe vorhin die Unterhaltung mitbekommen.»

Maja wurde erneut knallrot. Ja, sie war tatsächlich schüchtern. Sie hatte noch nie einen Freund gehabt. Anders als Tina. Bei ihr lohnte es fast schon nicht mehr die Freunde zu zählen. «Ja!»

«Was denn genau?»

«Alles Mögliche», sagte Maja. «Ist eine Leidenschaft von mir. Hauptsächlich Mixed Martial Arts und Kickboxen.»

«Das ist heftig», erwiderte er anerkennend.

«Ich muss los!», meinte Tina mit Blick auf die Uhr. Im Grunde wollte sie jedoch nur der Gesellschaft dieses Mannes entfliehen. Sie hatte keine Lust darauf sich mit ihm zu unterhalten. Obwohl er gar nicht schlecht aussah. Wenn auch etwas unheimlich. Vor allem dieser Blick hatte etwas, das sie nicht so richtig einordnen konnte.

«Oh, ihr müsst schon gehen?», fragte der Mann und wand sich dann direkt an Maja. «Vielleicht kann ich dir meine Karte dalassen?»

«Okay ...», meinte diese peinlich berührt und nahm die Visitenkarte. «Thomas Delavonte, Modelscout, European Model Agentur». Das klang gut. Sie steckte die Karte in ihre Handtasche.

«Ich muss jetzt wirklich», meinte Tina drängelnd.

Maja nickte und verschwand rasch in der Umkleide um sich umzuziehen.

«Vielleicht bis irgendwann!», rief der Mann ihr hinterher.

«Ja, Ciao! Und danke nochmal.», meinte Maja grinsend. Sie zog den Vorhang zu und zog sich rasch um.

Es dauerte nicht allzu lange, dann kam sie in Jeans wieder heraus. Sie folgte ihrer Freundin in Richtung Ausgang.

«Für was hast du dich bedankt?», Tina seufzte und ging auf die Rolltreppe.

«Keine Ahnung. Er war doch nett!»

«Ja, nett. Vielleicht ist er ein netter Psychopath.»

«Er ist Modelscout.»

«Das kann jeder behaupten.»

«Ähem, er hat eine Visitenkarte.»

Tina drehte sich auf der Rolltreppe um. «Sicher. Er wird wohl kaum auf seine Visitenkarte schreiben: Gelernter Psychopath!»

«Du bist doof!»

«Und du bist leichtgläubig.»

Maja schaute ihre Freundin böse an. «Du bist doch nur neidisch!»

Ja, das konnte sein. Zugegeben, Tina war tatsächlich ein wenig eifersüchtig. Ihre Freundin war mehr als hübsch. Aber sie machte sich eigentlich nichts daraus und das war auch gut so. Tina war die Begehrtere. Weil sie eben aufgeschlossener war. Und nun eine Modelagentur? Das fand Tina gar nicht gut. Sie stieg von der Rolltreppe und ging dann Richtung Ausgang. «Ich muss jetzt wirklich los. Sehen wir uns morgen früh?»

«Ich geh jetzt mit leeren Händen heim», meinte Maja enttäuscht. Es war bereits dunkel. Es war Herbst und in der Zwischenzeit verschwand die Sonne wieder schneller.

«Sorry, aber wir können ja nächste Woche noch mal einkaufen gehen, okay?»

«Okay!»

«Hab dich lieb», sagte Tina und umarmte ihre Freundin. Dann ging sie Richtung Marienplatz.

„Sieh einer an. Du bist ja immer noch hier», meinte der Mann von gerade.

Maja drehte sich um. «Oh ja. Meine Freundin hat keine Zeit mehr. Meine S-Bahn geht erst in neunzehn Minuten.» Sie blickte auf die Uhr, als wolle sie sich noch einmal vergewissern.

«Tatsächlich?», der Mann seufzte. «Kann ich dich vielleicht einladen? Magst du etwas trinken? Vielleicht kommen wir ja ins Gespräch. Ich denke, du hast eine Zukunft vor dir, als Model.»

Maja schüttelte etwas zu eifrig den Kopf. Das war ihr dann doch zu viel. «Tut mir leid. Das ist lieb, aber lieber nicht.»

«Thomas», meinte eine weitere Stimme. Eine attraktive Blondine kam auf die beiden zu. Sie umarmte den Mann. «Du bist in der Stadt?»

«Oh, Tamara. Schön dich zu sehen», lächelte der Mann. «Darf ich dir ... wie war dein Name?» Er drehte sich zu Maja um.

«Maja», meinte diese etwas vorschnell. Sie hatte ihren Namen bislang nicht gesagt. Da war sie sich sicher. Und vielleicht war es nicht so klug ihn zu nennen.

«Maja heißt du? Ein schöner Name. Bist du bei der Modelagentur unter Vertrag?», fragte die Blondine.

Maja schüttelte den Kopf.

«Bist wahrscheinlich auch noch ein wenig zu jung dafür», meinte die Frau lächelnd. «Nun, solltest du mal einen Vertrag bekommen, es lohnt sich. Keine Agentur zahlt mehr.»

«Sie sind Model?», fragte Maja.

Tamara nickte, schaute aber etwas beleidigt. «Sehe ich etwa nicht so aus, Kleines?»

«Doch, schon ...», murmelte Maja verschüchtert.

«Wie wäre es. Gehen wir was trinken?», Tamara schlug ihr kameradschaftlich auf die Schulter.

Maja überlegte. Aber dann nickte sie. «Okay ...» Jetzt wo Tamara da war, fühlte sie sich sicherer. Doch dann klingelte ihr Handy. «Ja?»

Ihre Mutter war am Apparat. Sie klang hektisch und aufgeregt.

Maja erstarrte. Die Stimme ihrer Mutter war vollkommen anders als sonst. Panik, Trauer, Verzweiflung, alles hatte sich irgendwie vermischt.

«Mein Engel», sagte ihre Mutter. «Du musst heimkommen. Es ist etwas Schlimmes passiert.»

«Was denn?»

«Nicht am Telefon. Komm bitte heim.»

«Okay», meinte Maja mit zittriger Stimme.

04

«Hallo?», fragte Daniel noch einmal. Nicht viele hatten seine Nummer.

«Sieben Soldaten, sie ziehen in die Schlacht, nur sechs kehren um, wer hätte das gedacht.»

«Wer ist da?»

«Du weißt, wer da ist.»

Es war ein unglaublicher Schauer, der den ehemaligen Offizier erfasste. «Das kann nicht sein!» Daniel stand auf. Er drückte sich durch die Reihe von Fans bis zur Treppe. Von dort ging er nach unten.

«Oh ... vieles, was wir glauben, dass nicht sein kann, ist so, wie es ist.»

«Du bist tot ...»

«Bist du das nicht auch?», die Stimme am anderen Ende lachte. «Man hat uns beide für tot erklärt ...»

«Mit dem Unterschied, dass ich dich habe sterben sehen!»,

«Ja. Das mag sein. Aber glaube mir, es ist keine Stimme aus dem Jenseits, die mit dir spricht.»

«Du bist ...»

«Hör mir zu, Hauptmann. Es war dein Befehl. Du hast mich zurückgelassen.»

«Weil ich dachte, dass du tot bist. Dachten wir alle. Und du warst es, der meinen Befehl verweigert hat. Ich habe Rückzug befohlen.»

«Du weißt, was die Taliban mit Soldaten macht, oder?»

Daniel blieb am Zaun vor dem Spielrand stehen. Weg von den Tribünen. Er wiederholte sich. «Ich dachte, du wärst tot. Ich war mir sicher.»

«Sagtest du bereits!», meinte die Stimme höhnisch. «Du hast dich verändert. Ich hätte dich fast nicht erkannt.»

«Was willst du?»

«Ich will, dass du leidest. Ich will dich vernichten.»

«Wir sollten uns treffen...», murmelte Daniel in den Hörer.

«Nein, sollten wir nicht. Aber du solltest dein Telefon bei dir behalten. Damit ich dich erreichen kann.»

«Hör mir zu, wir müssen ...»

«Dieser Kommissar», meinte die Stimme und unterbrach ihn. «Er ist ein Freund von dir?»

Daniel schaute sich um. Sein Blick fiel auf die Tribüne, wo Kriminalhauptkommissar Philipp Walter saß und zu ihm herüberschaute. «Nein, ein Freund ist er nicht. Ich habe keine Freunde.»

«Ach klar. Der unnahbare und gefühlskalte Hauptmann Adler. Er hat dich um einen Gefallen gebeten, richtig?»

Daniel hielt sich am Gitter fest. Verdammt. Woher wusste er das?

«Bist du noch dran?», fragte die Stimme.

«Ja, hat er.»

«Nun, das ist witzig, oder?»

«Was ist daran witzig?»

«Das Witzige an der Sache ist, dass du ihm nicht helfen willst. Aber du musst.»

«Wieso?»

«Weil ich es sage», meinte Jonathan Frankenwald am anderen Ende.

«Du bist doch verrückt. Warum sollte ich tun, was du mir sagst?», meinte Daniel spöttisch.

«Einen Toten gibt es. Und es wird weitere geben. Wenn du mich nicht aufhältst.»

Daniel runzelte mit der Stirn. «Du willst, dass ich dich aufhalte? Was soll dieses Psychospielchen, du gottverdammter Freak. Du weißt, dass ich ...»

«... mit Terroristen nicht verhandelst?», die Stimme lachte laut. «Ja. Da spricht der Hauptmann von damals.»

«Und auch nicht mit Psychopathen!», sagte Daniel deutlich. Eigentlich hätte er den Hauptfeldwebel nie als Psychopathen eingeschätzt, vielleicht ein wenig verrückt. Aber da war er sich im Augenblick gar nicht so sicher.

«Finde heraus, wer der Tote ist», meinte sein ehemaliger Untergebener. «Dann sehen wir weiter.»

«Wenn du frustriert bist, dann verstehe ich das. Wenn du eine Rechnung mit mir offen hast, in Ordnung. Dann komme vorbei und wir regeln das wie Männer. Aber lass diese Spielchen.»

«Oh, wir werden uns noch gegenüberstehen. Keine Angst.»

«Dieser Tote. Hast du ihn umgebracht?», Daniel presste seine Faust um das Barettabzeichen, das er immer noch in der Hand hielt. Es war ein eingetütetes Beweisstück, aber das war ihm zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst. Und im Grunde war es ihm auch egal.

«Er ist nur der Anfang. Ich werde München heilen. Von seinen Schuldigern», meinte die Stimme am Telefon und legte dann auf.

Daniel starrte verwirrt auf sein Handy. Er versuchte die Nummer zu sehen, aber sie war unterdrückt worden. Verdammt. Was war das nur für ein Scheißspiel? Er kannte den Mann. Besser als viele andere Menschen. Gemeinsam waren sie ihm Einsatz gewesen.

«Alles klar?», fragte plötzlich jemand neben ihm.

Daniel drehte sich überrascht um und blickte in die Augen von Kommissar Philipp Walter. «Ja ...»

«Du siehst so ...»

«Es ist nichts!», meinte Daniel zu rasch.

«Ich muss weiter!», seufzte Philipp und starrte auf das Spielfeld.

«Hey, würden Sie bitte Ihre Sitzplätze einnehmen?», fragte ein Ordner. Er hatte schon länger Daniel beobachtet, wie er dort vorne am Zaun telefoniert hatte. Nun standen dort zwei Männer und das war eindeutig zu viel.

«Kripo München», meinte Philipp und zeigte seine Marke. «Kümmern Sie sich um andere Sachen. Bitte!»

Daniel ging dennoch die sogenannte Stehhalle, wie die Tribüne sich nannte, Richtung Ausgang entlang. Der Kommissar folgte ihm.

«Wann kann ich die Leiche sehen?», fragte Daniel.

«Am besten sofort?»

«Ist das eine Frage oder eine Antwort, gottverdammt?»

«Ich denke nicht, dass du das Spiel hier verlässt.»

Daniel seufzte. Schaute noch einmal Richtung Spielfeld und nickte. «Ich komme mit. Jetzt gleich.»

05

Mit zittriger Hand steckte Maja das Handy weg. Ihre Mutter hatte sich nicht gut angehört. Es war etwas passiert, definitiv. Und sie musste nach Hause.

«Alles in Ordnung?», fragte der Mann vor ihr. Als Modelscout hatte er sich vorgestellt. Neben ihm die durchaus attraktive Blondine.

Sie schüttelte den Kopf. «Ich muss heim.»

«Ist was passiert?»

«Ich weiß es nicht. Aber ich muss schnell heim.»

«Ich kann dich heimfahren. Ich habe hier nicht weit in der Tiefgarage mein Auto.»

Majas Instinkte rührten sich und dennoch waren sie vernebelt. Ihre Mutter hatte sich nicht gut angehört. Vielleicht war es wirklich besser sich fahren zu lassen statt mit der S-Bahn zu fahren und dann noch einige Stationen mit der Tram.

«Ernsthaft, Maja. Ich kann dich schnell nach Hause bringen.»

Sie zögerte. Ihr Blick ging Richtung S-Bahn-Eingang.

«Ich könnte doch mitfahren», meinte die Blondine. «Falls dir das lieber ist. Ich verstehe dich schon. Man steigt nicht zu einem fremden Mann ins Auto.»

Das war ein Angebot. Maja nickte. Ihre Unsicherheit verschwand. Eigentlich würde sie sowas nicht tun. Aber wenn eine Frau dabei war?

«Also, dann lass uns keine Zeit verlieren», meinte der Modelscout. Er ging Richtung Parkhaus.

Maja folgte ihm. Zusammen mit der Blondine.

«Du bist wirklich hübsch, er hat Recht», meinte das Model zu ihr.

«Danke!»

«Du hast eine große Karriere vor dir.»

Sie gingen über den Marienplatz. Es war immer noch reges Treiben auf dem Platz. Sie gingen zügig und überholten ausgerechnet Timo und David. Die beiden Schulkameraden schlenderten vor sich hin. Beide hatten sie eine Bierflasche in der Hand. In München nicht wirklich unüblich. Vor allem am Fischerbrunnen vor dem Rathaus gab es immer wieder Gruppen, die dort ihr Bier tranken. Es war zudem Freitagabend.

David erkannte Maja als Erster, als sie sich an ihm vorbeidrückte. Er pfiff. Allerdings nicht anerkennend, sondern rein um zu provozieren. «Wo geht´s den hin, Kampfmaus?»

Maja wollte einfach nur weiter. Sie musste heim zu ihrer Mutter. Um zu erfahren was passiert war. Sie folgte dem Modelscout, der vor ihr ging.

David packte sie am Arm. Grob hielt er sie fest.

«Lass mich los!», donnerte Maja ihn an.

«Oh, oh. Die Kampfmaus solltest du wohl nicht provozieren», grinste Timo.

Maja wusste, dass die beiden sie nur ärgern wollten. Aber aktuell war das einfach der falsche Zeitpunkt. «Lass mich los, sonst ...»

«Sonst was?»

«Lass sie los, Junge, sonst breche ich dir das Genick!», meinte Tamara plötzlich.

David ließ tatsächlich los. Der Tonfall von Tamara war barsch und duldete keinen Widerspruch.

Einen Moment schaute Maja ihn noch einmal an. Dann blickte sie zu Tamara, die sie überraschend freundlich anschaute. Das stand durchaus im Kontrast zu dem, was sie gerade gesagt hatte. Aber lange überlegen konnte und wollte Maja nicht. Deshalb ging sie weiter. Der Modelscout wartete fünf Meter weiter.

Sie gingen nach rechts. Links von ihnen lag nun der Alte Peter. Oft war sie auf dem 91 Meter hohen Turm der Peterskirche gewesen, der ältesten Pfarrkirche Münchens. Von oben hatte man einen fantastischen Blick.

Es ging weiter zur Tiefgarage. Maja hatte Mühe dem Mann zu folgen. Er ging mit schnellen, großen Schritten. Es war nicht so, dass Maja konditionell nicht mithalten konnte, sondern eher von der Schrittfrequenz. Rennen wollte sie natürlich nicht. Tamara hatte kein Problem. Offensichtlich war sie oft mit ihm unterwegs.

Der Modelscout ging zum Automaten. Er steckte einen Fünfziger hinein und bezahlte sein Ticket. Die beiden Frauen standen nun daneben.

«Wo musst du hin?», fragte er.

«Nach Harlaching», erwiderte sie.

«Gut!», er ging auf einen schwarzen Kastenwagen zu.

Majas Telefon klingelte. Sie schaute die beiden anderen an, dann ging sie ran. «Ja?»

Ihre Mutter schluchzte. «Wo bist du?»

«Ich ... ich bin bald da.»

«Ich muss los, Schätzchen. Ich werde also nicht daheim sein.»

«Sondern?»

«Ich erzähle es dir später, okay? Ich kann jetzt nicht darüber sprechen.»

Maja hatte einen Kloss im Hals. Unsicher antwortete sie. «Okay ... Mama. Aber dir geht es gut?» Was für eine dumme Frage. Natürlich ging es ihrer Mutter nicht gut. Sie heulte. Irgendetwas war passiert.

«Es wird alles wieder gut», sagte ihre Mutter leise. «Wir reden später.»

Maja legte auf. Sie steckte das Handy weg und drehte sich dann zum Auto. Verwirrt schaute sie auf die Blondine, die sie ein nun wenig spöttisch anschaute.

«Was ist?», frage Maja irritiert.

«Tut mir leid, Kleines», sagte die Blondine.

Maja verstand nicht. Sie wollte etwas sagen, als sie plötzlich spürte, wie jemand ihr von hinten etwas auf Mund und Nase presste.

«Tief einatmen», meinte die Frau vor ihr. «Dann geht es schneller.»

Panik erfasste Maja. Ein unangenehm süßlicher Geruch stieg in ihre Nase. Sie wollte sich umdrehen. Aber viel zu rasch spürte sie eine Art Nebel, der sich in ihrem Kopf festsetzte. Für einen Moment wollte sie sich aufbäumen, wollte kämpfen, aber dann erschlafften ihre Glieder.

«Träum süß, Kleines», sagte die Frau vor ihr. Aber das bekam Maja nicht mehr mit.

06

Leichen haben etwas Friedliches an sich. Das hatte mal ein Militärpfarrer zu Daniel gesagt. Er persönlich fand das überhaupt nicht. Sie hatten etwas Lebloses und Totes an sich. Und das war es auch schon. Tot war tot.

Es war nicht das erste Mal, dass Daniel eine Leiche sah. Der Anblick der Leiche schockierte ihn auch keineswegs. Es waren vielmehr die Umstände, die ihm Sorgen machten. Die Umstände, warum hier ein Toter lag.

Er betrachtete den Leichnam. Ein Mann um die Vierzig. Vielleicht etwas älter. Aber auf keinen Fall über Fünfzig. Er trug einen Vollbart und hatte einen natürlichen Glatzenansatz.

Ein weiterer Mann stand im Raum. Es war der Rechtsmediziner. Für einen Moment blickte er Daniel an. Dann wand er sich an Philipp. «Bringt mir nichts durcheinander. Ich muss noch Papierkram erledigen.» Dann ging er hinaus.

«Du kennst ihn wirklich nicht?», fragte der Kommissar, als der Rechtsmediziner weg war.

«Nein!»

«Du bist dir sicher?»

«Herrje, wie sicher kann man sich sein. In meinem Leben sind mir viele Menschen begegnet. Wenn du fragst, ob ich ihn in irgendeiner Weise wiedererkenne oder er mir bekannt vorkommt: nein!»

«Okay. Gut», murmelte Philipp und bedeckte die Leiche.

«Was ist passiert?»

Der Kommissar seufzte. «Jemand hat ihm die Eier abgeschnitten und ihn dann gezwungen sie zu schlucken.»

«Herrgott, wirklich?», Daniel starrte auf den Leichnam.

«Ja, wirklich. Was für ein Monster macht das?»

«Keine Ahnung, sag du es mir ... du bist der Kriminelle. Verzeihung, der Kriminalist.»

«Nun, im Moment tappen wir noch im Dunkeln», murmelte Philipp.

«Er ist aber wohl nicht an seinen eigenen ... Eiern erstickt?»

«Nein. Er ist verblutet. Jemand hat ihm den Hoden abgeschnitten und ihn dann verbluten lassen. Er war an ein Bett gefesselt.»

«Ich kann mir ein schöneres Ableben vorstellen!», sagte Daniel.

«Ja, ein grausamer Tod ...»

«Das haben Morde so an sich.»

«Idiot!»

«Und ihr wisst nicht, wer er ist?»

«Doch», meinte Philipp, «ich wollte nur wissen, ob du es weißt.»

«Okay ... versuch nicht mich zu manipulieren, Arschloch. Nicht wenn du willst, dass ich dir helfe.»

«Er heißt Christoph Sauter, ist 48 Jahre alt. Handelt mit Immobilien. Beziehungsweise handelte ...»

«Ich kenne keine Immobilienhändler. Und ich kenne ihn nicht.»

Philipp schaute ihn kritisch an. «Nun gut. Ein Versuch war es wert.»

«Jetzt bring mich hier raus, gottverdammt. Hier ist die Luft stickig. Und kalt ist es hier auch.»

«Ach wirklich?»

«Keine Angst, ich werde bei holidaycheck.de keine Bewertung abgeben. Unterkunft kalt, Betten viel zu hart. Aber Pluspunkt für die klinische Sauberkeit.»

«Sehr witzig.» Der Kommissar baute sich vor ihm auf. «Was hat es mit diesem Abzeichen auf sich?»

Daniel zuckte mit den Achseln und ging an Philipp vorbei. «Woher soll ich das wissen? Vielleicht ist es Zufall. Wo habt ihr es gefunden?»

«Es lag in der Hand des Toten. Hast du Hunger? Ich lade dich zum Essen ein. Als Entschädigung für das verpasste Spiel», es klang unpassend. Sie hatten zwar bereits den Raum verlassen, aber immerhin waren sie gerade in einer Leichenhalle gewesen.

«Ich weiß, was du vorhast. Du willst im lockeren Gespräch an mehr mögliche Informationen kommen.»

«Nein. Einfach ein freundschaftliches Angebot.»

«Ach erzähl mir doch nichts.»

«Du bist das manipulative Arschloch, schon vergessen? Nicht ich ...»

Eine schluchzende Frau und ein Beamter kamen ihnen entgegen. Der Polizist blickte Kommissar Philipp Walter an, er machte eine Kopfbewegung in Richtung der Frau.

Philipp verstand sofort. Es war die Witwe. Das war ihm klar.

«Wartest du einen Moment?», fragte er Daniel.

Der ehemalige Fallschirmjäger-Offizier nickte. «Sicher doch. Ist das die ...»

Barsch wurde er unterbrochen. «Ich komme gleich!»

«Ist ja schon gut», murmelte Daniel und schaute Philipp zu, wie er mit den anderen beiden in einem Raum hinter der Leichenhalle verschwand. Daniel hingegen ging zum Ausgang.

Es dauerte rund zehn Minuten. Dann kam Hauptkommissar Philipp Walter heraus.

«Also gut, wohin gehen wir? Hofbräuhaus? Donisl? Augustiner Keller? Oder lässt dein Beamtengehalt mehr zu?», meinte Daniel spöttisch.

«Zu mir nach Hause!»

«Was?»

«Sarah macht einen ausgezeichneten Schweinebraten. Und sie würde sich sicherlich freuen zu erfahren, dass du lebst.»

«Ha ha, sehr witzig. Na ja, wenn sie nicht blasen kann, dann freut es mich für dich, dass sie wenigstens kochen kann. Aber ich passe.»

«Arschloch!», meinte Philipp. «Und nein, das war natürlich nicht ernst gemeint. Immerhin denkt sie, dass du seit sieben Jahren tot bist.»

Daniel grinste. «Hat sie denn ordentlich um mich getrauert?»

«Ich denke, sie war ganz froh drum. Eine peinliche Geschichte in ihrem Leben weniger.»

«Weil sie mir einen geblasen hat und schlecht dabei aussah?», meinte Daniel.

«Du gottverdammter Wichser», murmelte der Kommissar und ging Richtung Auto. Gefolgt von dem ehemaligen Fallschirmjäger-Offizier. «Wir gehen zu McDonalds. Das passt in jedem Fall vom Niveau her zu deinen Bemerkungen.»

«Wenn du dich nicht langsam entscheidest, dann sterbe ich hier noch an Altersschwäche.» Daniel schaut auf die Uhr.

«Nein, jetzt mal ernsthaft. Was hältst du vom Giesinger Bräu?»

Daniel nickte. «Gute Idee. Dann habe ich es auch nicht soweit nach Hause.»

07

Das Giesinger Bräu ist eine noch recht junge Brauerei im Herzen von Giesing. Vor wenigen Jahren als Garagenbrauerei ins Leben gerufen, hatte es sich nun bereits zur zweitgrößten Privatbrauerei mit eingebundener Gastronomie entwickelt.

Daniel bestellte zwei Bier, ohne den Kommissar und Freund aus alten Tagen nach dessen Wunsch zu fragen.

«Soll ich auch zwei Bier bestellen oder ist eines davon für mich gedacht?», witzelte Philipp.

Daniel antwortete darauf nicht, sondern studierte die Karte. «Bock auf Nippel-Salat?»

«Was?»

«Nippel-Salat», wiederholte Daniel und zeigte in der Karte auf die Empfehlung des Chefs.

«Ist das denen ihr Ernst? Nein, danke, ich verzichte.»

«Wie wäre es dann mit den Stierhoden? Dafür muss nicht mal ein Tier getötet werden. Ist für Vegetarier geeignet.»

«Ja sicher. Die werden kastriert und ... ach, verarsch mich doch», er zeigte auf die Karte. «Ich nehme das Braumeisterschnitzel.»

Daniel bestellte wieder für beide und lehnte sich dann zurück.

«Sieben Jahre bist du nun tot», meinte Philipp nach einer kurzen Schweigepause. «Hast du nicht Angst, dass irgendjemand hinter dein Geheimnis kommt?»

«Nein», log Daniel. Er wusste, dass sein Geheimnis kein Geheimnis mehr war. Nicht nur Philipp, auch Johnny wusste, dass er lebte. «Ich war hier in Giesing im Kindergarten und in der Grundschule. Danach bin ich mit meiner Familie nach Südafrika gegangen, das weißt du. Als Offizier bin ich dann zwar nach München zurückgezogen, aber Kontakt hatte ich mit niemanden. War auch viel zu selten hier.»

«Außer mit mir», meinte Philipp.

«Und mit deiner Frau», grinste Daniel. «Die ...»

«Erspar mir diese Geschichte!», sagte der Kommissar schnell und meinte dann weiter: «Du hast also nie in München wieder Kontakte geknüpft. Außer mit mir?»

«Mit Leuten aus der Grundschule? Nein. Warum auch?»

«Keine Freundschaften? Nichts?»

«Ich hatte Kameraden», meinte Daniel und nickte dem Kellner zu, der zwei Bier auf den Tisch stellte.

«Und mich!»

«Und dich. Aber das war Zufall. Ich hätte nie erwartet, dass ich in München nach so vielen Jahren jemand aus der Grundschule wiedertreffe.»

Philipp nickte. Er erinnerte sich an die Nacht in der Disko. Er hatte Daniel nicht wiedererkannt. Und es war reiner Zufall gewesen, dass seine Frau mit ihm ins Gespräch gekommen war. Eine Stunde hatte es gedauert, bis beide verstanden hatten, dass sie sich kennen. «Du bist ein einsamer Mensch. Und das nicht nur jetzt. Du warst es im Grunde, seit du aus Südafrika zurückgekommen bist. Ich verstehe nicht, dass du keinen Anschluss gesucht hast.»

«Ich habe mich auf meine Karriere als Soldat konzentriert. Nicht mehr und nicht weniger.»

«Die Frau, die vorher da war», meinte Philipp und wechselte damit abrupt das Thema. «Sie hat ihn identifiziert. Es ist ihr Ehemann.»

«Okay ...», murmelte Daniel und nahm einen kräftigen Schluck. «Ich kenne die Frau nicht. Und auch nicht diesen Mann.»

«Was hat es mit diesem Barettabzeichen auf sich?»

«Herrgott, ich weiß es nicht», schimpfte Daniel. «Ich habe in jedem Fall nichts damit zu tun.»

«Habe ich auch nicht behauptet. Aber ich habe das dumpfe Gefühl, dass du mehr weißt.»

«Ach ja? Und was?» Er hatte keine Ahnung, was hier los war. Aber irgendwas stimmte nicht. Er hing mittendrin, ohne bisher dabei gewesen zu sein.

Kommissar Philipp Walter seufzte. «Nun, ich weiß es nicht. Du hast doch immer gesagt, dass die Fallschirmjägertruppe klein ist.»

Das Essen kam und Daniel antwortete deshalb erst einmal nicht. Erst als der Kellner wieder weg war, flüsterte er: «Ja, sie ist klein. Aber so klein auch wieder nicht. Und die Uhren haben sich weitergedreht. Ich bin schon lange nicht mehr dabei. Ich weiß es wirklich nicht. Und du kannst dir nicht einmal sicher sein, dass es irgendwas mit Fallschirmjägern zu tun hat.»

«Es sieht mir doch wie ein symbolischer Akt aus. Dieses Barettabzeichen.»

»Lass uns essen, verdammt.»

«Ist bei euch noch Platz?», meinte ein etwa zwanzigjähriger Kerl, der leicht verlottert aussah. Die Haare wirr, im Gesicht trug er einen ungepflegten Dreitagebart. Hinter ihm stand eine junge Frau, nicht unbedingt hässlich aber auch nicht gerade eine Schönheit. Ihr Haar wirkte fettig.

«Ja!», meinte Daniel ohne auch nur annähernd Höflichkeit in seine Stimme zu legen.

Ohne ein Wort setzten sich die beiden.

«Wo waren wir stehengeblieben?», fragte Daniel.

Philipp schüttelte den Kopf. «Schon in Ordnung. Lassen wir das.»

«Gut, dann lass uns essen.»

Während die Beiden schweigsam aßen, stritten sich die junge Dame und der junge Mann. Es ging wohl um eine andere Frau.

«Könnt ihr euch kein Zimmer nehmen?», fragte Daniel.

Die junge Frau schaute ihn an. Man konnte ihr förmlich ansehen, dass sie kurz davor war wie ein Wasserfall zu reden. Und das tat sie nach einer Sekunde des Nachdenkens auch. «Wir sind nicht zusammen. Er ist mein Ex. Und ist jetzt in meine Freundin verknallt. Aber die will nichts von ihm ...»

«Stopp!», meinte Daniel und unterbrach sie barsch. «Sehe ich aus wie ein Seelenklempner?»

Der junge Kerl grinste, sie schien etwas beleidigt.

Philipp hingegen tat interessiert. «Ihr beide wart zusammen? Und nun will er Tipps von dir, wie er deine Freundin rumkriegt?»

«Das ist Giesinger Ghetto, Herr Kommissar», seufzte Daniel und steckte sich dann ein großes Stück Fleisch in den Mund.

«Wir verstehen uns halt noch gut, wo ist das Problem?», motzte die junge Frau. «Und er hat keine Ahnung, wie man eine Frau rumkriegt.»

Daniel grinste, schluckte und meinte: «Lass mich raten, wenn du nicht besoffen gewesen wärst, dann hättest du dich auf ihn gar nicht eingelassen, richtig?»

«Ich trink keinen Alkohol», meinte sie und es klang stolz.

«Sie war vollgekifft», grinste der junge Mann.

«Arschloch», blaffte sie ihn an und schaute dann zu Daniel. Mit einem Blick, der durchaus Tendenzen eines billigen Flirts hatte. «Du kennst dich doch sicherlich mit Frauen aus, oder? Hast du ihm nicht einen Tipp?»

«Du solltest ihr ein Schwanzbild schicken. So völlig aus dem Kontext heraus. Kommt gut an, glaube es mir!», meinte Daniel. Er schaute den Kerl von oben bis unten an. «Es sei denn, dein Ding ist so eine Art Mikropenis!»

Sie lachte laut. Wurde aber dann wieder ernst. «Nein, das ist eine Scheißidee. Frauen hassen das.»

«Ja, Emanzenfrauen hassen das. So richtig heiße Frauen stehen drauf», grinste Daniel.

«Das ist doch Unsinn», mischte sich Philipp nun ein. «Rede doch den Kindern nicht so einen Quatsch ein!»

«Kinder? Ernsthaft?», fragte die junge Lady.

Daniel lachte. «Herrgott, ich provoziere ja bewusst, aber du hirnverbrannter Depp meinst das auch noch so. Lernt man das auf der Polizeischule? Oder im Kommissariatslehrgang?»

«Verzeihung, ich wollte Sie nicht ...», Philipp stotterte.

«Du bist ein Bulle?», fragte der junge Kerl.

«Herrje, Giesing ist einfach geil», grinste Daniel.

Philipps Handy klingelte. Er ging ran. «Ja?»

Daniel hörte nicht hin. Er aß sein Fleisch.

Es dauerte einen Moment. «Wir haben eine weitere Leiche», meinte Philipp und stand auf.

«Eine Leiche? Gott, wie geil ist das denn?», fragte der junge Typ, der noch immer nichts bestellt hatte.

Philipp reagierte nicht drauf. Er schaute Daniel an. «Was ist? Kommst du mit?»

«Entschuldige, aber ich bin beim Essen.»

«Man hat erneut ein ...», Philipp schaute zu den beiden jungen Leuten und sprach es deshalb nicht aus.

Für Daniel war es ohnehin klar. Ein weiteres Barettabzeichen. Das musste der Kommissar nicht aussprechen. «Ich kann dir nicht helfen!»

«Ich melde mich morgen», seufzte Philipp und kramte nach seinem Geldbeutel. Er legte zwei Zwanziger auf den Tisch.

«Du isst das nicht mehr, oder?», fragte Daniel und zog schon den Teller von Philipp zu sich.

«Ich lasse es mir nicht einpacken, wenn du das meinst», dann ging er Richtung Ausgang.

Keine zehn Sekunden später klingelte Daniels Handy. Und er wusste, wer dran war. «Was willst du?»

«Oh ... du hast gut kombiniert. Der Kommissar ist weg, das Handy läutet. Dann ist wohl klar, wer dran ist!»

Daniel fröstelte. Er hielt sich selbst für einen harten Hund. Aber ihm war nun mehr denn je bewusst, dass er beobachtet wurde. Und im Endeffekt konnte das nicht sein. Johnny konnte nicht überall sein. Er atmete tief durch und sagte: «Tut mir leid. Ich bin beim Essen.» Dann drückte er den Anruf weg.

Er nahm einen weiteren Bissen. Trank dann ein Schluck Bier. Die beiden jungen Leute beachtete er gar nicht. Obwohl er ihre Blicke spürte.

Das Telefon klingelte erneut. Daniel ging ran. «Ja?»

«Du hast mich nicht wirklich weggedrückt, oder?»

«Nein, die Verbindung war weg», log Daniel.

Johnny am anderen Ende war sauer, das hörte man deutlich aus der Stimme heraus. «Verarsch mich nicht. Und wage es nicht mich wegzudrücken.»

Daniel legte auf.

Ein weiterer Schluck aus dem Bierglas und es klingelte erneut.

«Ja?», meinte Daniel rotzfrech.

«Hör mir zu Hauptmann. Du weißt nicht wirklich, mit welchen Kräften du hier spielst. Die Lage ist ernst. Es werden Menschen sterben. Und du bist schuld.»

Daniel schaute zu den beiden jungen Leuten. Dann stand er auf. Das war zu heiß in der Öffentlichkeit. Er ging hinaus und in den Hof des Giesinger Bräus. «Was willst du?»

«Ich möchte Rache! Für alles, was man mir angetan hat.»

«Wenn du dich an mir rächen willst, dann lass es doch nicht an anderen aus.»

«Oh, es geht nicht nur um dich. Jeder Tote ist ein Puzzleteil.»

«Du willst, dass ich dich aufhalte. Das hast du gesagt.»

«Du kannst es versuchen. Und das ist es, was ich will. Dass du es versuchst. Weil das zum Spiel gehört. Zu meinem Spiel. Und es sind meine Spielregeln. Du kannst nicht einfach auflegen.»

Daniel wusste, dass es gefährlich war einen Psychopathen zu provozieren. Und genau das war Johnny im Augenblick für ihn. Er hatte schon immer psychopathische Tendenzen gehabt. Auch im Einsatz. Nun brach es vollkommen aus ihm heraus. Aber was sollte Daniel tun? Er musste mehr herausfinden. «Der zweite Tote. Warst du das auch?»

«Der Kommissar hat es dir erzählt?», die Stimme am anderen Ende wurde wieder selbstbewusster und kontrollierter.

«Nicht wirklich viel. Nur, dass es einen weiteren Toten gibt. Eine weitere Leiche.»

«Vom gleichen Mörder?»

«Das hat er nicht gesagt. Aber ich schlussfolgere das daraus.»

«Nun. Ich habe dafür gesorgt, dass es eine Verbindung gibt ...»

«Das Barettabzeichen», meinte Daniel. «Hast du keine Ehre? Du entweihst die Fallschirmjäger ...»

«Ich muss mir nicht von einem Offizier, der mich im Stich gelassen hat, sagen lassen, was Ehre ist.»

Daniel wurde wütend. «Ich sage es noch einmal. Ich wusste nicht, dass du lebst. Wir waren alle sicher, dass es dich erwischt hat. Ich hätte dich sonst nie zurückgelassen. Und glaube mir, mein Leben war danach auch kein Geschenk.»

«Du hast dich feige versteckt», meinte Johnny. «Bist untergetaucht.»

«Das habe ich nicht. Nachdem wir im Feuergefecht gestanden waren, sind wir zurückgefahren. Ich bin mit der Einheit auf der normalen Route zurück Richtung Headquarter. Auf dem Weg trafen wir nach unserem Angriff auf die Siedlung auf einen Hinterhalt. Mich traf dabei etwas am Kopf. Aufgewacht bin ich bei einer afghanischen Einheit. Und ich erinnerte mich an nichts mehr ...herrje, wärst du lieber gerne mit den Anderen draufgegangen? Verdammt, sie sind alle wirklich tot!»

«Ich wäre wirklich lieber tot gewesen, als in den Händen der Taliban. Aber das ist nun ohnehin egal. Was zählt ist die Tatsache, dass du mich zurückgelassen hast.»

«Weil ich, gottverdammt, dachte, du wärst tot!», sagte Daniel laut und deutlich, mäßigte aber seine Stimme. «Lass uns das wie Männer regeln. Es müssen keine Unschuldigen sterben.»

«Sie sind nicht unschuldig. Sie sind Puzzleteile in meinem Racheplan. Nicht nur du hast dich versündigt. Jeder stirbt so, wie er es verdient», meinte Johnny. «Du solltest wieder reingehen. Es wird frisch draußen, oder?»

Daniel schaute sich um. Er wurde beobachtet. Von Johnny selbst? Er konnte nichts entdecken. Im Hof waren einige Fans des TSV 1860 München. Sie feierten den Sieg. Allerdings leerte es sich langsam, es war schon spät. «Was soll ich tun? Was erwartest du?»

«Der Mann, dem ich die Eier abgeschnitten habe, finde heraus, was seine Schuld ist.»

«Meine Güte. Das ist nicht meine Aufgabe. Und was habe ich davon?»

«Vielleicht kannst du dein Leben retten.»

Daniel schnappte nach Luft. «Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Nein, du lässt mich nicht davonkommen.»

«Wenn du gewinnst, habe ich vielleicht keine andere Wahl. Es ist ein Katz- und Mausspiel. Es ist nur die Frage, wer am Ende wen jagt», sagte Johnny. Dann legte er auf.

08

Sind wir bereit für Veränderungen? Im Leben kommt es immer wieder zu einem Umbruch. Nur selten bleibt es in einem gleichförmigen Strom. Manchmal kommen Änderungen plötzlich, manchmal führen wir sie bewusst herbei und in anderen Fällen können wir gar nichts dafür. Dann, wenn das Schicksal zuschlägt. Ein Autounfall zum Beispiel, der Verlust eines geliebten Menschen oder die Erkenntnis über eine Krankheit, gegen die wir uns nicht wehren können. Manche Ereignisse verändern unser Leben gravierend. Majas Leben würde sich verändern. Für immer. Und sie hatte keine Chance sich dagegen zu wehren.

Die junge Frau erwachte. Erschrocken registrierte sie, dass irgendetwas passiert sein musste. Sie erinnerte sich nur vage. Sie wollte in dieses Auto einsteigen und dann?

Die Siebzehnjährige blinzelte. Helles unnatürliches Licht strahlte ihr entgegen und blendete sie. Wo war sie?

«Sieh einer an, sie ist wach», meinte eine Stimme. Es war der Modefritze, in dessen Auto sie steigen wollte.

Maja schaute sich erschrocken um und blickte in die wirklich kalt wirkenden Augen ihres Entführers. Tina hatte recht gehabt. Er war nicht der, für den er sich ausgab. Doch noch hatte sie die Situation nicht gänzlich erfasst. «Wo ... wo bin ich?», fragte sie schockiert. Sie versuchte die Arme nach vorne zu tun, merkte aber schnell, dass sie gefesselt war.

«Bei mir», meinte eine andere Stimme. Es erschien ein weiterer Mann. «Hallo Klara, mein Engelchen.» Er gab dem anderen Typ, der sie entführt hatte ein Zeichen. «Verschwinde, ich brauche dich nicht mehr.»

Der Entführer verließ süffisant grinsend den Raum.

Majas Herz pochte wie wild. Sie war richtig gut gefesselt. Sowohl an den Händen als auch an den Füßen. «Ich bin nicht Klara, Sie verwechseln mich.» Unglaubliche Panik machte sich breit. Angst erfasste ihren gesamten Körper. Sie schluckte schwer, ihr Puls raste.

«Du siehst aber aus wie sie ...», murmelte der Mann, der sie anstarrte. Eine Narbe verlief quer über sein Gesicht. Seine Stimme war unheimlich.

Maja erfasste eine Gänsehaut. Ein kalter Schauer huschte über ihren Körper. Der Mann, der sie entführte hatte, hatte zwar einen unheimlich stechenden Blick gehabt, der ihr Angst gemacht hatte. Aber dieser Mann mit der Narbe wirkte mehr als bedrohlich. Seine Augen funkelten mit einer Mischung von Begierde, Hass und Machtbesessenheit.

«Klara!», sagte der Mann erneut laut.

«Meine Mutter ... sie heißt Klara», fing Maja an zu weinen. Langsam wurde ihr bewusst, dass sie in einer ausweglosen Lage war. Ihr Leben hatte eine schreckliche Wende bekommen und sie konnte nichts dagegen tun.

«Herrgott. Ja, ich weiß», meinte der Mann. «Ich war ihr Freund. Drei Jahre lang. Da war sie so alt wie du ...»

Maja schluckte. Wo war sie? Und was wollte man von ihr? Und warum sprach er nun über ihre Mutter.

Der Mann mit der Narbe setze sich auf das Bett direkt neben sie. «Hat sie nie von mir erzählt? Ich bin Johnny.»