Heilen aus eigener Kraft - Daniel M. Davis - E-Book

Heilen aus eigener Kraft E-Book

Daniel M. Davis

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Beschreibung

Revolutionäre Zellen: neue Erkenntnisse, wie sich die körpereigene Abwehr im Kampf gegen Krankheiten entfesseln lässt

Das Immunsystem ist der Schlüssel zu unserer Gesundheit. Die Fähigkeit des Körpers, Krankheiten selbst zu bekämpfen, ist eines der großen Wunder der Natur, dem man erst in den letzten Jahrzehnten genauer auf die Spur gekommen ist. Professor Daniel M. Davis, einer der führenden Immunologen, lässt uns an den Meilensteinen der Immunforschung teilhaben. Er schildert, was die Wissenschaft über das vielschichtige und komplexe Geflecht unseres Immunsystems herausgefunden hat. Und er legt dar, wie diese Erkenntnisse dazu beitragen, wirksamere Impfstoffe, neue Medikamente und vor allem bahnbrechende Therapien gegen Krankheiten wie Krebs zu entwickeln. Nicht zuletzt zeigt sein Buch, was wir selbst dafür tun können, um die natürlichen Verteidigungsmechanismen unseres Körpers zu nutzen.

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Seitenzahl: 454

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Zum Buch

Das Immunsystem ist der Schlüssel zu unserer Gesundheit. Die Fähigkeit des Körpers, Krankheiten selbst zu bekämpfen, ist eines der großen Wunder der Natur, dem man erst in den letzten Jahrzehnten genauer auf die Spur gekommen ist. Professor Daniel M. Davis, einer der führenden Immunologen, lässt uns an den Meilensteinen der Immunforschung teilhaben. Er schildert, was die Wissenschaft über das vielschichtige und komplexe Geflecht unseres Immunsystems herausgefunden hat. Und er legt dar, wie diese Erkenntnisse dazu beitragen, wirksamere Impfstoffe, neue Medikamente und vor allem bahnbrechende Therapien gegen Krankheiten wie Krebs zu entwickeln. Nicht zuletzt zeigt sein Buch, was wir selbst dafür tun können, um die natürlichen Verteidigungsmechanismen unseres Körpers zu aktivieren.

Zum Autor

Daniel M. Davis, geboren 1970, ist Professor für Immunologie und aktuell Forschungsdirektor am Manchester Collaborative Centre for Inflammation Research an der Universität von Manchester. Seine Forschung, insbesondere seine Erkenntnisse über die Biologie der Immunzellen, gilt als bahnbrechend. Heilen aus eigener Kraft wurde in England mehrfach als Buch des Jahres ausgezeichnet und war für den Royal Society Science Prize nominiert. Es ist sein erstes Buch auf Deutsch.

Daniel M. Davis

HEILENAUSEIGENERKRAFT

Wie ein

Die englische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel The Beautiful Cure. Harnessing Your Body’s Natural Defences bei The Bodley Head, London, einem Imprint von Vintage Publishing, in der Verlagsgruppe Penguin Random House UK. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 Daniel M. Davis Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Christina Kruschwitz, Berlin Umschlaggestaltung und -abbildung: Büro Jorge Schmidt, München Typografie: DVA /Andrea Mogwitz Gesetzt aus der Dante Satz und E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-19383-6V002www.dva.de

In Erinnerung an Jack und Ruby Faulkner

Inhalt

Ein Wort an Leser mit wissenschaftlichem Hintergrund

Überblick

TEIL EINSGEZEITENWECHSEL IN DER IMMUNOLOGIE

1 Schmutzige kleine Geheimnisse

2 Die Alarmzelle

3 Begrenzung und Kontrolle

4 Ein Milliarden-Dollar-Blockbuster

TEIL ZWEIDIE GALAXIE IN UNSEREM INNEREN

5 Fieber, Stress und die Macht des Geistes

6 Zeit und Raum

7 Die Wächterzellen

8 Medikamente der Zukunft

Epilog

Dank

Anmerkungen

Register

Es gibt Geheimnisse, die Menschen nur erraten können, die nur Jahrhundert nach Jahrhundert allmählich aufklären kann. Glauben Sie mir, wir sind einem solchen auf der Spur.

Bram Stoker, Dracula (1897)

EIN WORT AN LESER MIT WISSENSCHAFTLICHEM HINTERGRUND

Die Immunologie ist ein außerordentlich weites Feld, und ich kann mich nur bei allen Wissenschaftlern entschuldigen, deren Beiträge ich nicht berücksichtigt oder nur allzu kurz gestreift habe. Wie P. G. Woodhouse in Summer Moonshine (1937) so treffend schreibt: »Es ist einer der unausweichlichen Nachteile einer Erzählung wie dieser, dass der Chronist, um das Geschick gewisser Personen nachzuzeichnen, gezwungen ist, seine Aufmerksamkeit auf sie zu konzentrieren und andere zu vernachlässigen, die ihrer nicht minder würdig wären.« Ich habe versucht, anhand von Gesprächen mit den beteiligten Wissenschaftlern und der Lektüre der Originalveröffentlichungen zu beschreiben, wie es zu einzelnen Fortschritten kam, aber jedes Buch wird immer nur einen Teil der Geschichte erzählen können.

ÜBERBLICK

»Schau dir diese Blüte an; sieh nur, wie wunderschön sie ist«, sagte einmal ein Künstler zu seinem Freund. »Die Kunst ehrt und würdigt solche Schönheit, die Naturwissenschaft dagegen zerpflückt sie einfach nur. Wissenschaft nimmt der Blüte allen Reiz.«

Der Freund, an den diese Worte gerichtet waren, war der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman, und er fand den Standpunkt des Künstlers »ein bisschen hirnrissig«. Feynman konterte, auch er vermöge durchaus die Schönheit der Blüte zu würdigen, wisse aber als Wissenschaftler, dass die ihr innewohnende Struktur mit all ihren Zellen, dem ganzen chemischen und biologischen Geschehen, den vielen ineinander verzahnten Systemen nicht minder wunderbar sei. Hinzu komme, erklärte Feynman, dass der Umstand, dass die Blüte Insekten anzieht, den Eindruck erwecke, auch Insekten fänden sie ästhetisch ansprechend, was nun wieder alle möglichen Fragen zu Evolution, Wahrnehmung und Licht aufwerfe. »Naturwissenschaft«, so Feynman, »stimuliert und begeistert, vertieft das Mysterium und die Ehrfurcht vor einer Blüte nur noch mehr. Sie wirkt als Verstärker.«1

Feynman berichtete 1981 in einem Fernsehinterview der BBC über den inzwischen berühmt gewordenen Wortwechsel, ich war damals elf. Ich wusste bereits, dass ich Naturwissenschaftler werden wollte, aber Feynman mit seinem ausgeprägten New Yorker Akzent und den sich im Wind wiegenden Rosen vor dem Fenster in seinem Rücken fasste den Grund dafür weit besser in Worte, als ich es je vermocht hätte. Heute, an der Spitze eines Teams aus Wissenschaftlern, die menschliche Immunzellen bis ins kleinste Detail erforschen, erlebe ich immer wieder aus erster Hand, in welchem Maße die Wissenschaft Schönheit offenzulegen vermag, Schönheit, die andernfalls womöglich verborgen geblieben wäre. Das Innere des menschlichen Körpers ist im Laufe der Evolution vielleicht nicht so ästhetisch ansprechend geworden wie eine Blüte, aber in seinen Details offenbart sich wahre Pracht.

Zu den am intensivsten untersuchten und in ihren Einzelheiten am akribischsten charakterisierten Aspekten der Biologie des Menschen zählt die Reaktion des Körpers auf eine Verletzung oder Infektion. Die Vertrautheit der Symptome – Rötung, Berührungsempfindlichkeit und Entzündung – täuscht über die Wunder hinweg, die sich unter der Hautoberfläche entfalten, wo Schwärme unterschiedlicher Zellarten ausziehen, um Erreger abzuwehren, Schäden zu reparieren und Müll beiseitezuschaffen. Dieser Automatismus jenseits aller Kontrolle durch unser Bewusstsein ist für unser Überleben unerlässlich.

Eine stark vereinfachte Sicht auf das, was hier passiert, wäre, dass unser Körper Keime, die in eine Wunde eindringen, angreift, weil unser Immunsystem darauf programmiert ist, gegen alles vorzugehen, was nicht Teil von uns ist. Aber wenn man einmal kurz darüber nachdenkt, erkennt man, dass das nicht alles sein kann. Essen ist nicht Teil unseres Körpers, und doch darf das Immunsystem nicht auf alles reagieren, was wir zu uns nehmen. Mehr noch, das Immunsystem muss in der Lage sein, den Unterschied zu erkennen zwischen braven Bakterien, die in unserem Darm leben und in Ruhe gelassen werden sollten, und gefährlichen Erregern, die uns krank machen können und die wir in den Griff bekommen müssen.

Diese entscheidende Erkenntnis – dass nämlich eine Immunreaktion nicht einfach durch alles beliebige Fremde ausgelöst werden kann – wurde erst 1989 gewonnen, und es sollte noch viele Jahre dauern, bis ihr ein umfassenderes Verstehen folgte. In der Zwischenzeit nahm ein wissenschaftliches Abenteuer voller Mühsal seinen Lauf, dessen bahnbrechende Erkenntnisse uns das Tor zur Welt der Immunität auftun sollte, die sich nun als das offenbarte, was sie in Wahrheit ist: kein einfacher Schaltkreis, an dem ein paar Arten von Immunzellen beteiligt sind, sondern ein vielschichtiges, dynamisches Geflecht aus vielen ineinandergreifenden Untersystemen. Sie ist eines der komplexesten und wichtigsten uns bekannten Pioniergebiete der wissenschaftlichen Forschung. Wie dieses Buch zeigen wird, addieren sich die vielen Entdeckungen, die sich aus diesem Abenteuer ergeben haben, zu einer echten wissenschaftlichen Revolution in Bezug auf unser Verständnis vom menschlichen Körper, und diese ist im Begriff, die Medizin des 21. Jahrhunderts umzukrempeln.

Zunächst einmal ist uns klargeworden, dass sich die Fähigkeit unseres Körpers, sich gegen Krankheiten zu wehren, unablässig verändert. Die Stärke unseres Immunsystems schwankt unter dem Einfluss von Stress, Alter, Tageszeit und unserer seelischen Verfassung. Unser Immunsystem befindet sich ständig im Fluss; unsere Gesundheit ist ein Balanceakt auf einem Drahtseil. So ist zum Beispiel die Anzahl der Immunzellen in unserem Blut am Abend am höchsten und am Morgen am geringsten. Im Verlauf der Nacht, wenn unser Körper einen anderen Aktivitätszustand einnimmt und weniger Energie verbraucht, erfährt auch unser Immunsystem alle möglichen Veränderungen, und wie gut wir schlafen, hat offenbar Einfluss darauf, wie gut es arbeiten kann. Zu wenig Schlaf – weniger als fünf Stunden pro Nacht – geht einher mit einem erhöhten Risiko für Erkältungen und Lungenentzündungen.2 In diesem Buch sollen daher unter anderem die Auswirkungen von Nachtarbeit untersucht werden und auch, ob Praktiken wie Tai-Chi oder Achtsamkeitsübungen, die Stress zu reduzieren vermögen, uns helfen können, Infektionen zu bekämpfen, oder nicht.

Viele Frage sind noch offen, aber schon diese Entdeckungen bringen unsere lange gehegte, stark vereinfachte Sicht auf den Umgang unseres Körpers mit Infektionen und darauf, wie wir gesund bleiben, ins Wanken. Auch wenn es – sehr grob gesagt – stimmt, dass das Immunsystem angreift, was nicht Teil von uns selbst ist, so hat sich doch gezeigt, dass dieser Prozess auf jeder Stufe durch Kontrollmechanismen reguliert wird, die durch unzählige Zellen und Moleküle gesteuert werden. Je mehr wir den Geheimnissen und der Vielschichtigkeit dieser Abläufe auf den Grund gehen, desto näher kommen wir der Antwort auf Fragen, die von größter Bedeutung für unsere Gesundheit und unser Wohlergehen sind: Warum bekommen manche Menschen Krebs? Und ist unser Immunsystem womöglich in der Lage, ihn zu bekämpfen? Wie wirken Impfstoffe, und wie können wir sie besser machen? Was genau ist eine Autoimmunkrankheit, und was können wir dagegen tun? Das Gros der Leiden, die uns befallen, wird von den natürlichen Verteidigungsmechanismen unseres Körpers geheilt. Diese zu verstehen und zu lernen, wie wir sie uns zunutze machen können, wird womöglich eines der wichtigsten Zukunftsgeschenke der Wissenschaft an den Menschen und seine Gesundheit sein.

Während manche Medikamente, beispielsweise Penicillin, Krankheitserreger direkt durch ihr Wirken zum Absterben bringen, lassen sich viele menschliche Leiden von Krebs bis Diabetes unter Umständen am besten mit ganz neuen Arten von Arzneimitteln behandeln, die die Aktivität des Immunsystems stärken (oder in manchen Fällen auch unterdrücken). Im Unterschied zu Penicillin und ähnlichen Wirkstoffen, die aus natürlicher Quelle stammen – im Falle des Penicillins von einem Pilz – und von Wissenschaftlern lediglich isoliert wurden, werden diese neuen Arzneien, die in unser Immunsystem eingreifen, von Wissenschaftlern designt. Wissenschaftler, die sich mit dem Immunsystem befassen, können auf Erkenntnisse stoßen, die in Therapien und Präparaten gipfeln, die Milliarden Dollar wert sein können. Aber diese Mittel müssen mit allerhöchster Präzision zum Wirken gebracht werden. Wenn wir das Immunsystem überaktivieren, werden gesunde Zellen und Gewebe zerstört, und wenn wir es ganz ausschalten, werden wir anfällig für alle möglichen Arten von Erregern, mit denen wir normalerweise locker zurechtkämen. Der potentielle Nutzen ist unermesslich, aber wenn die Dinge aus dem Ruder laufen, können die Folgen furchtbar sein.

Das Riesenunterfangen, dem Immunsystem auf den Grund zu gehen, hat auch auf vielen anderen Gebieten der Humanbiologie neue Einsichten befördert, beispielsweise über Alterungsprozesse: 80 bis 90 Prozent aller Menschen, die an Grippeviren sterben, sind über fünfundsechzig Jahre alt.3 Warum werden unsere Verteidigungsmechanismen bei Infektionen mit zunehmendem Alter schwächer? Warum heilen Blessuren in fortgeschrittenen Jahren schlechter, und warum werden wir anfälliger für Autoimmunkrankheiten? Wir haben gelernt, dass dies damit zu tun hat, dass sich bestimmte Immunzellarten bei älteren Menschen im Blut verringern. Auch sind Immunzellen älterer Menschen nicht mehr so gut in der Lage, Krankheiten zu erkennen. Erschwerend kommt hinzu, dass ältere Menschen neben allen anderen Herausforderungen des Alterns häufig mit Schlafstörungen und Stress zu kämpfen haben, die sich beide auf das Immunsystem auswirken. Herauszufinden, in welchem Maße jeder dieser verschiedenen Faktoren unsere Gesundheit beeinflusst, gestaltet sich extrem schwierig, weil es nahezu unmöglich ist, sie gesondert zu betrachten. Stress wirkt sich negativ auf unser Immunsystem aus, korreliert gleichzeitig aber auch mit Schlaflosigkeit, so dass schwer festzustellen ist, welche Auswirkungen diese Faktoren jeder für sich haben.

Ja, so gut wie alles im Körper ist mit so gut wie allem anderen vernetzt – mehr noch, als Sie es sich vielleicht vorstellen können. Vor kurzem hat sich zum Beispiel gezeigt, dass das Immunsystem in ein Riesenspektrum an Krankheiten verwickelt ist, die mit seiner Rolle bei der Bekämpfung von Krankheitserregern nichts zu tun zu haben scheinen: Herzerkrankungen, neurologische Erkrankungen, sogar Übergewicht. Mein erstes Buch The Compatibility Gene (zu Deutsch: »Das Kompatibilitäts-Gen«), in dem es um die Gene des sogenannten Haupthistokompatibilitätskomplexes geht, handelte von einem der Elemente unseres Immunsystems, einer Handvoll Gene, die unsere individuelle Reaktion auf Infektionen beeinflussen. Heilen aus eigener Kraft befasst sich mit dem großen Ganzen: wie und warum sich die Aktivität unseres Immunsystems verändert, wie es reguliert und gesteuert wird, welche Bestandteile dazugehören – dem ganzen Drum und Dran eben.

Dies ist außerdem ein Buch darüber, wie wissenschaftliche Ideen sich entwickeln. Das Bemühen, das Wesen der Immunreaktion zu ergründen, gehört zu den größten wissenschaftlichen Abenteuern der Menschheit, und das, was wir heute darüber wissen, verdanken wir unzähligen persönlichen Entbehrungen, Triumphen und Opfern. Viele Männer und Frauen haben ihr Lebenswerk und einen großen Teil ihres Daseins dem Bestreben gewidmet, ein winziges Fragment des großen Ganzen zu verstehen. Dieses gemeinsame Ziel hat viele tiefe Freundschaften hervorgebracht – die Leidenschaft für die Wissenschaft kann ein machtvolles Band sein. Aber ein paar Forscher ertragen es bis heute nicht, sich gemeinsam in einem Raum aufzuhalten. Zahllose kluge Köpfe haben ihren Teil beigetragen, ihnen allen verdanken wir wundersame Erkenntnisse über bestimmte Zellen oder Moleküle unseres Immunsystems, am Ende aber ist der Beitrag jedes Einzelnen ein kleiner – selbst der von ausgemachten Genies –, und die Opfer, die manche Wissenschaftler dafür gebracht haben, sprengen jeden Rahmen und übersteigen alles, was die meisten Menschen zu akzeptieren bereit wären.

Bei meiner eigenen Forschung geht es darum, mit Hilfe spezieller Mikroskope zu beobachten, was an den Kontaktstellen zwischen Immunzellen passiert, wenn diese miteinander wechselwirken, und die Verbindungselemente und – strukturen zu dokumentieren, die Immunzellen untereinander ausbilden, um zu erfassen, wie gesund oder krank sie sind. Meine Erkenntnisse haben dazu beigetragen zu zeigen, wie Immunzellen miteinander kommunizieren und wie sie an anderen Zellen Anzeichen für eine Erkrankung ausmachen, was uns wiederum hilft, genau zu verstehen, wie das Immunsystem reguliert wird. Jeder von uns konzentriert sich auf einen Teil des Systems und trägt sein Scherflein bei.

Wenn wir ein ganzheitliches System auf diese Weise in einzelne Elemente zerlegen, verliert das große Ganze – anders als Richard Feynmans Freund glaubte – dadurch zwar absolut nicht seinen Reiz, aber dieses Vorgehen ist auch nicht ganz und gar zufriedenstellend. Dinge wirken zusammen, und jeder Bestandteil ist nur dann sinnvoll zu erklären, wenn er als Teil des Ganzen gesehen wird. Lehrbücher über das Immunsystem diskutieren meist hübsch hintereinander die Rollen der einzelnen Moleküle und Zellen, aber das ist ungefähr so, als beschriebe man ein Fahrrad, indem man definiert, was ein Rad, dann was ein Lenker und schließlich was eine Bremse ist. Keines dieser Elemente lässt sich ohne die anderen richtig verstehen, ihre Bedeutung erhalten sie durch ihre Beziehungen zueinander. So wie die Teile zusammen ein System ergeben, definiert das System die Teile. Wir staunen über die Details, aber wir müssen auch auf das große Bild schauen, denn nur wenn wir das tun, können wir unser Wissen über die Immunantwort nutzen, um unser Gesundheitsverständnis zu revolutionieren.

Wir werden uns dieser Revolution in der zweiten Hälfte des Buchs widmen. Als Erstes zeichnet Heilen aus eigener Kraft das weltumspannende Abenteuer nach, das dorthin geführt hat, es offenbart eine Welt von kaum besungenen Helden und Rebellen, die herausgefunden haben, wie und warum das Immunsystem so und nicht anders arbeitet. Wenn sich aus der Schönheit der Natur Glück und Trost gewinnen lassen, dann ist das, was sie entdeckt haben – die Vielschichtigkeit, Fragilität und Eleganz unseres Immunsystems –, nicht minder beflügelnd als die Erkenntnisse anderer Pioniergebiete der Wissenschaft wie die Feinstruktur von Atomen und die Geburt von Sternen.

TEIL EINS

GEZEITENWECHSEL IN DER IMMUNOLOGIE

1 SCHMUTZIGE KLEINE GEHEIMNISSE

Was braucht man, um etwas Großes zu vollbringen? Im Jahr 2008 fand ein interessantes Experiment statt: Man legte erfahrenen Schachspielern eine Partie vor, die sich in einer allgemein bekannten Abfolge von fünf Zügen gewinnen ließ. Aber es gab auch eine aufregendere, unkonventionelle Art, das Spiel in nur drei Zügen zu gewinnen. Fragte man die Experten nach der schnellsten Möglichkeit, das Spiel zu beenden, verwiesen diese zumeist auf den wohlbekannten Weg in fünf Zügen und übersahen den besseren in drei. Nur die allerbesten Schachspieler – die Großmeister – erkannten, dass der Sieg drei Züge entfernt war, die Normalsterblichen hielten sich an das Vertraute.1

Es liegt in unserem Wesen, dass wir versuchen, Problemen mit Strategien beizukommen, die in der Vergangenheit funktioniert haben. Doch zu wissen, was vormals funktioniert hat, kann uns auch blind für Erkenntnisse machen, die nötig sind, um wichtige Schritte vorwärts zu tun.2 Unsere größten Forscher waren jene, die sich aller Erfahrung zum Trotz die Freiheit vorbehielten, anders zu denken. Gemessen daran war Charles Janeway, ein Immunologe von der Yale University, einer unserer allergrößten Wissenschaftler. Man nannte ihn »einen der aufregendsten, honorigsten und aufmerksamsten Immunologen auf dem Planeten«.3

Der 1943 in Boston geborene Janeway studierte an der Harvard University Chemie und Medizin. Dass er den Weg in die Medizin wählte, war sicher seinem Vater geschuldet, einem herausragenden Kinderarzt an der Harvard Medical School und Oberarzt am Boston Children’s Hospital, aber Janeway hatte das Gefühl, dass »die Chirurgie [ihn] zu einem Leben voller Routine verdammen wird«, und verlegte sich auf die Grundlagenforschung.4,5 Er heiratete in jungen Jahren, trennte sich jedoch mit siebenundzwanzig von seiner Frau Sally, als beider Kind ein Jahr alt war. Die Folge war, dass er »sich viele Jahre einsam fühlte«,6 aber viel Zeit und Freiheit für seine Forschung hatte. 1977 wurde er Fakultätsmitglied an der Yale University, und dort lernte er seine zweite Frau Kim Bottomly, selbst eine renommierte Immunologin, kennen.

Im Jahr 1989 stolperte Janeway über das, was er das »schmutzige kleine Geheimnis« in unserem Wissen um die Immunreaktion nannte. Es ging um Impfstoffe und die Art und Weise, wie man glaubte, dass sie funktionieren. Das Grundprinzip der Impfung beruht auf der wohlbekannten Vorstellung, dass eine Infektion, verursacht durch ein Virus oder ein Bakterium, vom Organismus sehr viel wirksamer bekämpft wird, wenn dessen Immunsystem zuvor schon einmal mit demselben Virus oder Bakterium Kontakt gehabt hat. Also – so die Lehrmeinung – geht es bei Impfstoffen darum, den Organismus mit einer abgestorbenen oder harmlosen Variante des Erregers bekannt zu machen. Dies bringt das Immunsystem dazu, eine Abwehr gegen diesen Keim aufzubauen, und bereitet es darauf vor, sehr rasch zu reagieren, sollte es mit demselben Erreger erneut in Kontakt kommen. Das funktioniert, weil sich die speziellen Immunzellen, die durch einen bestimmten Erreger aktiviert werden, vermehren und noch lange, nachdem die Ursache beseitigt ist, im Körper verbleiben, das heißt bereit sind, aktiv zu werden, sollten sie erneut auf ihr vormaliges Ziel treffen. Und damit, so will es scheinen, lässt sich einer der größten medizinischen Triumphe der Menschheit in wenigen Zeilen beschreiben.

Aber graben Sie ein Stückchen tiefer, und schon zeigt sich, dass das Impfen nicht ohne einen Hauch Alchemie auskommt. Das »schmutzige kleine Geheimnis« ist, dass Impfstoffe nur dann gut wirken, wenn man ihnen sogenannte »Adjuvantien« beigibt. Adjuvantien (abgeleitet von dem lateinischen Wort adiuvare – unterstützen, helfen) sind Chemikalien wie etwa Aluminiumhydroxid, die, wie man mehr oder minder zufällig herausgefunden hat, Impfstoffe deutlich wirksamer machen. Auf einer Ebene scheint das eine technische Kleinigkeit – irgendwie hilft Aluminiumhydroxid dabei, Impfstoffe wirksam zu machen – aber für Janeway offenbarte dieser kleine technische Kniff eine Lücke in unserem prinzipiellen Verständnis von diesen Prozessen, weil niemand sagen konnte, warum Adjuvantien so etwas tun. Zu verstehen, wie Immunisierung funktioniert, ist fraglos ungeheuer wichtig – nichts außer sauberem Wasser, nicht einmal der Einsatz von Antibiotika, hat jemals mehr Leben gerettet7 –, und Janeway war entschlossen, genau zu ergründen, warum Adjuvantien notwendig sind. Er gelangte bei diesem Unterfangen zu einer völlig neuen Vorstellung davon, wie das Immunsystem arbeitet.

*

Das Impfen als medizinische Methode ist sehr viel älter als das Wissen darum, was dabei eigentlich passiert. Die ersten Beschreibungen dieser wichtigen lebensrettenden Prozedur kennen wir aus der Volkskunde.8 Lange bevor sie als medizinisches Verfahren etabliert war, hat man in China, Indien und manchen afrikanischen Ländern Menschen vorsätzlich Infektionen beigebracht, die den Empfängern Schutz bieten sollten – man nannte diese Praxis »Inokulieren«.9 Die wissenschaftliche Berichterstattung darüber beginnt allerdings erst im Jahr 1721. Damals versetzte eine Pockenepidemie die königliche Familie Britanniens in Sorge, man fürchtete vor allem um die Sicherheit der Kinder. Die Majestäten hatten von Gerüchten und Überlieferungen aus anderen Ländern gehört, denen zufolge man mit Inokulationen gegen diese Krankheit vorgehen könne, aber darüber, wie genau die Prozedur durchzuführen sei, gab es die unterschiedlichsten Angaben. Ob die Flüssigkeit der Pockenbläschen am besten wirkte? Oder waren von Hand gemahlene Pockenkrusten vorzuziehen? Es war weithin bekannt, dass Menschen Pocken nur einmal bekamen, daher lautete die eigentliche Frage, ob man jemandem eine geringe Dosis Pockenerreger verabreichen konnte, ohne ihn umzubringen. Ein Test musste her, um die Sicherheit und Wirksamkeit einer solchen Inokulation zu prüfen, bevor man sie bei der königlichen Familie riskieren konnte – eine Ehre, die Gefängnisinsassen zukommen sollte.

Die erste protokollierte »klinische Studie« in der Geschichte der Immunologie wurde an »Freiwilligen« durchgeführt, rekrutiert mit dem lukrativen Angebot, entweder an dem potentiell tödlich verlaufenden Experiment teilzunehmen oder aber den sicheren Tod durch die gerichtlich angeordnete Exekution zu sterben.10 Am 9. August 1721 wurden sechs Probanden kleine Schnitte an Armen und Beinen beigebracht, in die man Haut und Eiter von Pockenkranken rieb. Einer weiteren Frau wurden – unnötig zu sagen, zu deren größtem Unbehagen – Haut- und Eiterproben in die Nase verabreicht. Fünfundzwanzig Angehörige der wissenschaftlichen Elite des Landes verfolgten die Ereignisse als Augenzeugen, unter ihnen etliche Angehörige der Royal Society (die sich ihre Königliche Satzung im Jahr 1662 gegeben hatte, wobei die Aufnahmekriterien seinerzeit noch sehr schwammig waren).11 Genau wie es die anekdotischen Berichte aus dem Volksmund vorhersagten, zeigten alle Gefangenen ein oder zwei Tage lang Pockensymptome und erholten sich dann. Die Frau, der man die Erreger über die Nase eingegeben hatte, erkrankte schwerer als die anderen, erholte sich aber dennoch.12 Am 6. September 1721 begnadigte König Georg I. die verurteilten Freiwilligen, und sie wurden auf freien Fuß gesetzt. Ihr Immunsystem hatte sie gleich vor zwei Todesstrafen bewahrt: dem Galgen und den Pocken.

Wenige Monate später – am 17. April 1722 – ließen der Prinz und die Prinzessin von Wales, die fünf Jahre später zu König Georg II. und Königin Caroline gekrönt werden würden, zwei ihrer Töchter impfen.13 Über das Ereignis wurde von sämtlichen Zeitungen des Landes berichtet, und dies führte zu beträchtlichem Interesse an der Praxis der Inokulation (was einmal mehr zeigt, dass hochgestellte Führungspersönlichkeiten ungeheuren Einfluss auf die öffentliche Haltung zu neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen haben).14 Dennoch blieb das Verfahren umstritten, teilweise weil, wie manche behaupteten, dieser Eingriff gegen die Natur oder Gottes Willen verstoße – ein Londoner Prediger sprach 1722 von der »gefährlichen und sündigen Praxis des Inokulierens« –, aber auch weil rund 2 Prozent der vorsätzlich mit Pocken Infizierten starben.15

Achtundvierzig Jahre später begann ein einundzwanzigjähriger Engländer namens Edward Jenner unter John Hunter, einem der prominentesten Chirurgen und Anatomen des Landes, eine dreijährige Ausbildung am St. George’s Hospital in London. Hunter half Jenners kritische Beobachtungsgabe zu schulen und bestärkte ihn in seiner Leidenschaft für das Experimentieren, sollte aber nicht mehr erleben, wie sein Schützling zu Ruhm gelangte. Hunter starb 1793, drei Jahre bevor Jenner einen Weg fand, die akute Gefährdung beim Inokulieren zu umgehen, dabei aber dieselbe Wirkung zu erzielen.

Als Landarzt, der die meiste Zeit seines Lebens in seiner kleinen Heimatstadt Berkeley in Gloucestershire verbracht hatte, war Jenner hinlänglich bekannt, dass Milchmägde nie an Pocken erkrankten. Das brachte ihn auf die Jahrhundertidee, sie könnten womöglich dadurch geschützt sein, dass sie sich in aller Regel bei ihren Kühen mit Kuhpocken ansteckten (einer leichten Virusinfektion, die von Kühen auf Menschen übertragen wird), und dass daher statt des Inhalts von Pockenbläschen der Inhalt der nicht tödlichen Kuhpocken-Pusteln zur Inokulation verwendet werden könne, was weit weniger gefährlich wäre. Sein inzwischen legendäres Experiment fand am 14. Mai 1796 statt. Jenner nahm Eiter aus den Pusteln der Melkerin Sarah Nelmes, die sich bei einer ihrer Kühe angesteckt hatte, und übertrug diesen auf James Philipps, den achtjährigen Sohn seines Gärtners. Später wurde James mit Eiter von einem Pockenpatienten infiziert, ohne dass er erkrankte.

Von diesem Experiment sagt man gerne, es markiere den Beginn der Immunologie, aber seinerzeit hatte Jenner Probleme, seine Ergebnisse irgendwo veröffentlicht zu bekommen. Die Royal Society stellte sich auf den Standpunkt, die Beobachtung illustriere lediglich einen Einzelfall – was zutraf –, und schlug vor, er möge erst einmal sehr viel mehr Kinder behandeln, bevor er derlei kühne Behauptungen aufstelle. Jenner wiederholte sein Vorgehen bei anderen, darunter auch seinem eigenen elf Monate alten Sohn, unternahm aber keinerlei Versuch mehr, bei der Royal Society zu publizieren. Vielmehr brachte er sein Werk in Gestalt eines fünfundsiebzigseitigen Bandes im Selbstverlag heraus. Das Buch erschien am 17. September 1798, war zunächst nur in zwei Londoner Buchläden zu haben und wurde ein Riesenerfolg.16 Der Begriff Vakzination, abgeleitet von dem lateinischen Wort für Kuh – vacca –, zur Beschreibung des von ihm erfundenen Verfahrens wurde ein paar Jahre später von einem Freund Jenners geprägt.17 Pocken waren die erste Krankheit, die im globalen Maßstab bekämpft wurde, und gelten seit 1980 offiziell als ausgerottet.18

Jenner glaubte immer daran, dass seine Arbeit eines Tages zum weltweiten Sieg über Pocken würde führen können, aber genau verstanden, wie seine Vakzination im Einzelnen funktionierte, hatte er nicht.19 Zu dem Zeitpunkt, als Janeway im Jahr 1989 seine Erleuchtung hatte, lautete die allgemein akzeptierte Sicht, dass die Anwesenheit eines Erregers im Körper eine Immunreaktion auslöst, weil der Körper darauf getrimmt ist, Moleküle aufzuspüren, denen er bis dahin nicht begegnet ist. Mit anderen Worten, das Wirken des Immunsystems besteht darin, auf Moleküle zu reagieren, die kein Teil des eigenen Körpers, mithin körperfremd oder »nichtselbst« sind.20 Nach einem ersten Kontakt mit solchen fremden Molekülen ist das Immunsystem in der Lage, künftig sehr rasch zu reagieren, sollte es mit demselben Fremdmolekül noch einmal zu tun haben. Aber ein Experiment, das Anfang der 1920er Jahre (wann genau, ist nicht mehr mit Sicherheit festzustellen) von zwei Wissenschaftlern unabhängig voneinander durchgeführt wurde,21 passte nicht zu dieser einfachen Erklärung, und das bereitete Janeway großes Kopfzerbrechen.

Durchgeführt wurde es von dem französischen Biologen Gaston Ramon und dem Londoner Arzt Alexander Glenny. Beide stellten fest, dass ein Proteinmolekül, das von Diphtherie-Bakterien hergestellt wird – das sogenannte Diphtherietoxin –, sich durch Hitze und die Einwirkung von Formalin inaktivieren ließ. Dies konnte möglicherweise bedeuten, dass man so einen sicheren Impfstoff gegen die Krankheit in die Hand bekam. Zu beider Überraschung aber hielt die Immunität, die sich ausbildete, wenn man dieses inaktivierte Molekül Tieren injizierte, immer nur sehr kurze Zeit an. Die Beobachtung wurde seinerzeit als ein bisschen kurios empfunden und geriet ziemlich in Vergessenheit, doch Janeway erkannte Jahrzehnte später, dass es der damals aktuellen Sicht der Dinge zufolge keine Erklärung dafür gab, warum das Präparat als Impfstoff unzulänglich sein sollte: Das Protein der Bakterien war für den menschlichen Organismus ein körperfremdes Agens. Wie kam es, dass der Eiter aus den Kuhpocken-Pusteln sehr gut als Vakzin wirkte, ein anderes Proteinmolekül wie das Diphtherietoxin hingegen nicht?

Glenny war ein Workaholic und vermochte, obwohl extrem schüchtern und nicht leicht im Umgang, seine Arbeit überaus effizient zu organisieren und Verfahren so zu verschlanken, dass er und seine Mitarbeiter äußerst ökonomisch Riesenmengen an Experimenten in großem Stil durchführen konnten.22 Sorgfältige statistische Analysen waren seine Sache nicht, für ihn waren Ergebnisse entweder »klar und nützlich« oder »unklar und wertlos«.23 Diese Haltung – zupackend und flott voranschreitend – machte es möglich, dass sein Labor bei seinem Versuch, Diphtherietoxin zu einem wirksamen Vakzin zu machen, eine so gigantische Zahl an Versuchsbedingungen austesten konnte.24 Im Jahr 1926 stellten er und sein Team schließlich fest, dass aus dem Diphtherietoxin ein höchst wirksames Vakzin wurde, sobald man es über ein chemisches Verfahren aufreinigte, an dem Aluminiumsalze beteiligt waren. Glennys Erklärung lautete, dass die Aluminiumsalze dem Diphtherietoxin halfen, lange genug im Körper zu bleiben, damit sich eine hinreichende Immunantwort bilden konnte, aber niemand wusste etwas von einem Mechanismus, der hätte erklären können, wie und warum solches der Fall sein sollte.25 Im Anschluss an Glennys Arbeiten wurden weitere Substanzen – Paraffinöl zum Beispiel – entdeckt, die genau wie Aluminiumsalze Impfstoffe wirksamer machten, und man gab diesen Hilfsstoffen den Namen Adjuvantien. Doch noch immer kannte man kein gemeinsames Merkmal, das hätte erklären können, warum diese wirkten.

Im Januar 1989 diskutierten Janeway und seine Frau und Kollegin Kim Bottomly darüber, was im Körper geschieht, wenn wir uns schneiden oder infizieren. Ihnen ging auf, dass sie nicht so ohne weiteres zu erklären vermochten, wie eine Immunreaktion eigentlich ihren Anfang nimmt: Worin genau bestand der Auslöser? Bottomly erinnert sich, dass sie beide oft im Auto über Wissenschaftsthemen debattierten und später schlicht vergessen hatten, was genau gesagt worden war, aber dieses Mal waren sie auf einer Tagung in Steamboat Springs, Colorado, und hatten ihre Notizbücher bei sich.26 Die Diskussion ging Janeway nicht aus dem Kopf. Die folgenden Monate hindurch brütete er über der Frage, womit eine Immunreaktion anfängt und was eigentlich die Wirkung von Adjuvantien ausmacht, und beim Zusammendenken dieser beiden Probleme kam ihm schließlich die erlösende Idee.

Ein wichtiger Fingerzeig war für ihn, dass eine Klasse von großen Molekülen, die in der Außenhülle von Bakterien verankert sind (und den etwas sperrigen Namen Lipopolysaccharide tragen) sich als besonders effiziente Adjuvantien erwiesen hatten. Was wäre, überlegte Janeway, wenn das Vorhandensein von etwas, das sich noch nie in unserem Körper befunden hat, als Auslöser einfach nicht ausreicht, um eine Immunreaktion zu provozieren? Was, wenn noch etwas anderes – ein zweites Signal – hinzukommen müsste, damit eine Immunreaktion in Gang kommt – ein zweites Signal, das auch durch ein Adjuvans gegeben sein kann, wenn dieses das Vorhandensein eines intakten Erregers vorspiegelt? Das könnte erklären, warum manche Proteinmoleküle als Vakzine wenig wirksam sind, wenn man sie von ihrem ursprünglichen Erreger getrennt verwendet, und warum Moleküle wie die Lipopolysaccharide aus der äußeren Bakterienhülle so gute Adjuvantien sind.

Mit großem Enthusiasmus stellte Janeway diese Überlegung in einem inzwischen berühmt gewordenen Artikel vor: »Approaching the asymptote? Evolution and Revolution in Immunology« (zu Deutsch: »Annäherung an eine Asymptote? Evolution und Revolution in der Immunologie«), veröffentlicht in den Berichten zu einer hochkarätigen Tagung in Cold Spring Harbor, New York, im Juni 1989.27 Er bemerkte darin, dass allem Anschein nach jedermann, der sich mit Untersuchungen zum Immunsystem befasse, dies auf eine Weise tue, als nähere sich das Wissen darüber »irgendeiner Form von Asymptote, die künftige, technisch immer schwieriger zu bewerkstelligende Experimente vorzeichnet, und jeder hat nur das Ziel, immer höhere Grade an Genauigkeit auf dem Weg dorthin zu erreichen, statt revolutionäre Umwälzungen in unserem Denken anzustreben«.28 Die Folge sei, dass sie alle etwas essentiell Wichtiges übersehen hätten, nämlich die »Riesenlücke« im damaligen Wissen zu der Frage, wie Immunreaktionen ihren Anfang nehmen.29 Er verwies darauf, dass die Unterscheidung in »selbst« und »nichtselbst« beziehungsweise körpereigen und körperfremd nicht hinreiche: Das Immunsystem müsse schließlich imstande sein zu beurteilen, ob etwas eine potentielle Bedrohung für den Körper darstelle, bevor eine Immunreaktion in Gang gesetzt werde, und daher, so sein Argument, muss es imstande sein, Hinweise auf das Vorhandensein von echten Erregern oder infizierten Zellen zu erkennen. Er prophezeite, dass es dafür einen – noch zu entdeckenden – eigenen Zweig unseres Immunsystems geben müsse, der genau dazu da sei, und er sagte sogar voraus, wie dieser funktionieren könnte.

Wie wir gesehen haben – und Janeway ist das als Erstem aufgefallen –, hatte bis zu diesem Zeitpunkt niemand allzu viele Gedanken auf die Frage verschwendet, wie eine Immunreaktion überhaupt beginnt, und die meisten (wenn nicht gar alle) Forscher konzentrierten sich darauf, einen anderen Aspekt der Immunität zu verstehen, der mit Inokulation und Vakzination zu tun hat – namentlich: Wie kommt es, dass das Immunsystem beim zweiten Kontakt mit einem Erreger so viel rascher reagiert als beim ersten Mal? Man wusste, dass im Zentrum dieses Mechanismus zwei Zellarten namens T-Zellen und B-Zellen in unserem Blut stehen. Diese weißen Blutzellen tragen auf ihrer Oberfläche besonders wichtige Rezeptormoleküle, die man nicht allzu phantasiebegabt T-Zell-Rezeptoren und B-Zell-Rezeptoren getauft hat. Diese Rezeptoren gehören zu einer Klasse von biologischen Molekülen, die man Proteine nennt und die im Prinzip aus langen Aneinanderreihungen von Atomen bestehen, die sich zu ausgefuchsten Gebilden falten, deren Form jeweils perfekt auf ganz spezielle Aufgaben angepasst ist. Proteine tun sich, um diese Aufgaben zu erfüllen, meist mit anderen Molekülen – darunter auch anderen Proteinen – zusammen, und ihre Form gibt genau vor, mit welcher anderen Art von Molekül sie zusammenpassen; ein bisschen wie bei Puzzleteilchen, die sich nur ineinanderfügen, wenn ihre Umrisse exakt komplementär zueinander sind. Die Rezeptoren auf den einzelnen T- und B-Zellen unterscheiden sich in ihrer Form jeweils ein wenig, so dass jede davon mit einem etwas anderen Fremdmolekül interagieren kann. Sie ragen von der Oberfläche der Immunzellen nach draußen, und wenn sie in ihrer Umgebung etwas finden, das ihnen bisher nie untergekommen ist, dann binden sie daran und »schalten ihre Immunzelle an«, die daraufhin den Erreger oder die infizierte Zelle entweder auf der Stelle aus dem Verkehr zieht oder andere Zellen zu Hilfe ruft. Entscheidend ist dabei, dass die aktivierte Immunzelle sich außerdem vermehrt und den Körper mit weiteren Zellen bevölkert, die denselben passenden Rezeptor auf ihrer Oberfläche tragen. Manche dieser Zellen verbleiben über sehr lange Zeit im Körper, und so erhält das Immunsystem ein Gedächtnis für Erreger, mit denen es schon einmal Kontakt hatte – und das ist natürlich das Prinzip, das Impfen sinnvoll macht.

Ganz wichtig ist dabei, dass T- und B-Zellen nicht so gebaut sind, dass sie prinzipiell nur an Erreger binden: Ihre Rezeptorenden sind von zufälliger Gestalt, so dass sie an alle möglichen Moleküle andocken können. Die Art und Weise, wie der Körper sicherstellt, dass sie wirklich nur Erreger erwischen, ist eines der größten Wunder des Immunsystems und funktioniert folgendermaßen: Alle T- und B-Zellen werden im Verlauf ihrer Reifung im Knochenmark mit Rezeptoren versehen. Ein bisschen Herumgeschiebe bei den entsprechenden Genen sorgt dafür, dass jede Zelle einen einzigartig geformten Rezeptor bekommt. Bevor sie jedoch ins Blut gelangen und auf den Körper losgelassen werden, wird jede einzelne T- und B-Zelle darauf getestet, ob sie nicht womöglich an gesunde Zellen bindet. Wenn dem so ist, wird diese spezielle Zelle beseitigt, denn es wäre fatal, eine solche Immunzelle im Körper zu belassen. Auf diese Weise wird dafür gesorgt, dass nur T-Zellen und B-Zellen den Körper verteidigen dürfen, die keine gesunden Zellen angreifen, und das bedeutet im Umkehrschluss: Sobald ein Rezeptor auf der Oberfläche von T- oder B-Zellen an etwas bindet, muss dieses Etwas ein Molekül sein, das sich bis dahin nicht in Ihrem Körper befunden hat. Etwas formeller ausgedrückt ist das der Weg, wie das Immunsystem zwischen körpereigen, den Bestandteilen Ihres Körpers, und körperfremd, allem, was nicht zu Ihnen gehört, unterscheidet.

Janeway befand nun, dass es damit nicht getan sein könne. Er postulierte vielmehr, es müsse spezielle Rezeptoren geben (er nannte sie pattern recognition receptors – zu Deutsch »Mustererkennungsrezeptoren«), deren Gestalt nicht vom Zufall bestimmt und anschließend selektioniert werde, sondern die vielmehr bestimmte festgelegte Formen haben müssen, die spezifisch sind für Erreger oder infizierte Zellen (oder eher für molekulare Muster, die sich nur auf der Oberfläche von Erregern und infizierten Zellen befinden).30 Dies wäre eine sehr viel simplere Möglichkeit, wie Immunzellen Erreger unschädlich machen können – verglichen mit dem umständlichen Verfahren, erst Zellen mit vom Zufall bestimmten Rezeptoren zu produzieren und dann diejenigen aus dem Verkehr zu ziehen, die sich gegen gesunde Zellen richten könnten. Daher mutmaßte Janeway, dass besagte Rezeptoren von festgelegter Gestalt in der Evolution zuerst entstanden sein müssen, um Organismen gegen Krankheitserreger zu verteidigen, und dass sich erst später, als das Leben auf der Erde immer komplexer wurde, ein ausgeklügelteres Immunsystem entwickelt habe, das dann B- und T-Zellen einschloss.

Der von Janeway postulierte einfachere Mechanismus über Mustererkennungsrezeptoren ist Teil eines Systems, das häufig als angeborene Immunantwort bezeichnet wird – im Unterschied zu jenem Teil unserer Immunreaktion, der sich auf das systemeigene Gedächtnis vorangegangener Infektionen stützt und den man folglich als adaptive Immunantwort bezeichnet. Der Begriff »angeborene Immunität« oder »angeborene Immunantwort« war schon vor Janeway etabliert und beschrieb früh einsetzende Verteidigungsmechanismen von Haut und Schleimhäuten sowie die unmittelbaren Reaktionen von Immunzellen, die in eine Wunde einwandern, aber in den Lehrbüchern wurden dem Thema meist nur wenige Seiten gewidmet, das gilt auch für den von Janeway selbst mitverfassten Bestseller Immunobiology von 1994.31 Was Janeways Überlegungen so revolutionär machte, war, dass er im Grunde Leitbild und Handlungsauftrag des Immunsystems umdeutete. Vor Janeway hatte man den Daseinszweck des Immunsystems darin gesehen, gegen Dinge vorzugehen, mit denen der Körper bis dato keinen Kontakt gehabt hatte. Aber Janeway erklärte nun, das Immunsystem habe auf Dinge zu reagieren, die der Körper nie zuvor gesehen hatte – die aber gleichzeitig Teil von Erregern waren.

Rückblickend betrachtet ist es hochnotwendig, dass das Immunsystem zu mehr in der Lage sein muss, als lediglich auf Zeug zu reagieren, mit dem Ihr Körper vorher nicht in Kontakt gekommen ist. Dinge wie Nahrungsmittel, harmlose Darmbakterien oder Staub aus der Luft – allesamt kein Teil des menschlichen Körpers – stellen keine Gefahr dar und sollten daher keine Immunreaktion auslösen. Aber wie George Bernard Shaw es in den 1930er Jahren so schön formulierte: »Die Wissenschaft vermag niemals ein Problem zu lösen, ohne zehn neue Probleme aufzuwerfen.«32 Lässt man einmal das größte praktische Problem beiseite, das auf Janeways Ideen lastete – sprich: den Mangel an experimentellen Belegen zu ihrer Unterstützung –, so gab es auch ein handfestes theoretisches: Erreger vermehren sich unglaublich schnell. Es ist schwindelerregend, welch höllisches Tempo sie dabei an den Tag legen. Eine mit Viren infizierte Zelle kann hundert neue Viruspartikel hervorbringen. Das bedeutet, dass nur drei Kopien eines Virus nach vier Replikationsrunden – nach ein paar Tagen also – auf 300 Milliarden Viruspartikel angewachsen sind.33 Und nicht nur Viren verhalten sich so: Bakterien teilen sich unter optimalen Bedingungen alle zwanzig Minuten, das bedeutet, dass innerhalb eines einzigen Tages aus einem Bakterium 5 Trilliarden werden können – das entspricht größenordnungsmäßig der Anzahl an Sternen im ganzen Universum.34 In der Praxis können Erreger sich im menschlichen Körper nicht ganz so ungebremst vermehren, denn derartiges Wachstum würde eine unbegrenzte Menge an Ressourcen voraussetzen, aber auch ohne das erreichen Erreger innerhalb kürzester Zeit sehr hohe Zahlen, mit denen wir mit unserem mickrigen Schnitt von zwei Nachkommen pro Lebenszeit eines Elternpaares absolut nicht mithalten können.35 Das führt zu einem fundamentalen Problem bei Janeways Überlegungen: Jedes Mal, wenn ein Erreger sich teilt, kommt es zu zufälligen Veränderungen – Mutationen – in seinen Genen, und durch diese Veränderungen wird es wahrscheinlich, wenn nicht gar unausweichlich, dass einige Erreger die molekulare Signatur verlieren, auf die das angeborene Immunsystem so zielsicher angesprochen hat. Mit anderen Worten: Bei der Unzahl an Viren oder Bakterien werden genetische Zufallsmutationen bei einigen Exemplaren den Teil des Erregers verändern, auf den die Mustererkennungsrezeptoren eigentlich zugeschnitten waren. Mikroorganismen aber, denen ihr »molekularer Fingerabdruck« abhandengekommen ist, würden der Entdeckung durch das Immunsystem entkommen und sich bereitwillig vermehren.

Janeway war das klar, und so postulierte er, dass »das erkannte Muster des Mikroorganismus Teil eines komplexen und für den Erreger entscheidend wichtigen Prozesses sein muss«.36 Mit anderen Worten, die erkannte Erregerstruktur würde etwas für dessen Lebenszyklus so Unentbehrliches sein müssen, dass es für den betreffenden Organismus außerordentlich schwierig, wenn nicht gar unmöglich wäre, diese zu verändern. Janeway wusste, dass Erreger über solche Gegebenheiten verfügen, die einerseits für ihr Überleben unerlässlich sind, andererseits aber eine Angriffsfläche bieten, denn genau so etwas macht die Wirkung von Penicillin möglich: Jedes Mal, wenn ein Bakterium sich teilt, muss es eine neue Zellwand synthetisieren, die die beiden Tochterzellen am Ende umhüllt. Das Gute daran ist, dass der Mechanismus so komplex ist, dass das Bakterium ihn nicht problemlos verändern kann. Penicillin wirkt, indem es in einen der letzten Schritte der Zellwandsynthese eingreift. Es gibt demzufolge keine einfache Genmutation, die es Bakterien möglich machen würde, sich der Wirkung des Penicillins zu entziehen. Es ist richtig, dass Bakterien resistent gegen das Antibiotikum werden können, indem sie ihre Zellwand über einen ganz anderen Weg synthetisieren, aber das ist kein einfacher Weg, weshalb Penicillin noch immer gegen eine Vielzahl an Erregern wirksam ist: Es bindet an Bakterienproteine, die an einem lebenswichtigen und komplexen Prozess beteiligt sind.

Ein Wissenschaftler erinnert sich, dass die Zuhörer bei Janeways Vortrag »fasziniert, aber nicht überzeugt« gewesen seien. Ein anderer, dass die »Forschergemeinde für Charlies Denken noch nicht reif gewesen« sei.37 Vor den Augen einiger der größten Immunologen der Welt hatte Janeway die Stirn zu behaupten, jedermann habe einen ungeheuer wichtigen Aspekt im Wirken des Immunsystems übersehen, und das, obwohl, wie er es selbst formulierte, die »experimentelle Verifizierung … gegenwärtig noch nicht möglich ist«.38 Zu jener Zeit konnte schlicht und einfach niemand sagen, ob Janeways Ideen revolutionär waren oder versponnener Unfug.

Janeways Gedanken gerieten ziemlich in Vergessenheit und wurden in den kommenden sieben Jahren in keinem anderen wissenschaftlichen Artikel oder Vortrag zitiert.39 Doch sie inspirierten jemanden, der – siebeneinhalbtausend Kilometer weit entfernt – seine Ideen allen Widrigkeiten zum Trotz der Vergessenheit entreißen sollte. Im Herbst 1992 las Ruslan Medzhitov, ein Student an der Moskauer Universität, Janeways Artikel, und dies veränderte sein Leben.

*

Der im usbekischen Taschkent geborene Medzhitov arbeitete in Moskau an seiner Dissertation und untersuchte, wie sich die Bindungseigenschaften von Molekülen im Verlauf der Evolution entwickelt hatten, als er auf Janeways Artikel stieß. Die Sowjetunion war im Begriff, sich aufzulösen, und der Wissenschaft im Land ging es schlecht. Medzhitov erinnert sich an die Zeit »als Riesenchaos, in der es keine Mittel gab«.40 Infolgedessen fehlten ihm die Möglichkeiten, im Labor praktische Erfahrungen zu sammeln, und so verbrachte er die Zeit lesend und grübelnd, wobei ihm mehr oder weniger nur alte Lehrbücher zur Verfügung standen, die er ziemlich verwirrend fand.41 Studenten hatten eigentlich keinen Zugang zu jener Bibliothek, in der sich Schriften wie Janeways Artikel befanden, aber Medzhitov hatte seinen Charme spielen lassen und es geschafft hineinzukommen. Beim Durchstöbern der Regale stolperte er über Janeways Arbeit, die ihn in ihrer Logik sofort packte. »Es war einer von jenen Augenblicken, in denen einem ein Licht aufgeht … es fühlte sich intuitiv richtig an … schien alles zu erklären«, erinnert er sich.42 Er gab die Hälfte seines monatlichen Stipendiums dafür aus, den Artikel zu fotokopieren.43

Medzhitov brannte darauf, die Ideen darin näher zu diskutieren, und begann Janeway E-Mails zu schicken. Er durfte zu diesem Zweck das Mailkonto der Abteilung benutzen, damals aus Kostengründen auf 300 Worte pro Tag beschränkt, und erinnert sich gut daran, wie er seine Nachrichten an Janeway auf eine Floppy Disc schrieb, die er dann demjenigen übergab, der für den einzigen Computer der Moskauer Universität mit Internetzugang verantwortlich war. Jede Antwort, die zurückkam, wurde ebenfalls auf eine Floppy Disc kopiert und ihm auf diese Weise übermittelt.44

Janeway war stolz auf seine Überlegungen zur angeborenen Immunität und fühlte sich verkannt, weil sie so lange vom immunologischen Establishment ignoriert worden waren, daher freute er sich, Mails von einem Studenten aus Moskau zu bekommen, der weiter über die Dinge diskutieren wollte. Schließlich fragte Medzhitov, ob er nicht in Janeways Labor an der Yale University arbeiten könnte. Janeway besprach das Ansinnen mit seiner Frau, aber die war zunächst skeptisch. In der Zwischenzeit hatte Medzhitov für drei Monate ein Forschungsstipendium an der University of California in San Diego zugesprochen bekommen. Er lieh sich von einem seiner Cousins das Geld für den Flug und fing 1993 dort an zu arbeiten, schrieb an einer Software mit, mit der sich DNA sequenzieren ließ – ein zu jener Zeit noch junges Wissenschaftsgebiet. Irgendwann gab er in gebrochenem Englisch ein Seminar, an dem auch Richard Dutton, der Präsident der amerikanischen Immunologengesellschaft, teilnahm.

Dutton war beeindruckt von Medzhitov, und dieser berichtete, dass sein Stipendium bald auslaufe, er mit Janeway per Mail korrespondiere und liebend gerne bei ihm arbeiten würde. Also sprach Dutton Janeway auf den Anrufbeantworter und sagte ihm, dass er Medzhitov für einen guten Wissenschaftler halte. Am nächsten Morgen hatte Medzhitov eine Mail von Janeway, in der dieser ihm einen Job anbot.45

Am 2. Januar 1994 lernte Medzhitov Janeway endlich von Angesicht zu Angesicht kennen. Beide waren Menschen, die im Großen dachten, beide mit brennender Leidenschaft für ihre Ideen, und so war dies der Beginn einer lebenslangen Partnerschaft und Freundschaft. Dringlichstes Anliegen des Duos war herauszufinden, ob menschliche Immunzellen tatsächlich über Mustererkennungsrezeptoren verfügten, die imstande waren, charakteristische Strukturen von Erregern zu erkennen. Ein einziges Beispiel war alles, was sie brauchten, aber die Aufgabe war gewaltig, und es machte die Sache nicht besser, dass Medzhitov über so wenig praktische Erfahrung verfügte. Wie Roald Dahl in seinem letzten Kinderbuch so treffend schrieb, zahlt es sich immer aus, »mit blanken Augen die ganze Welt um [s]ich herum aufmerksam zu betrachten, weil die größten Geheimnisse immer an den unwahrscheinlichsten Orten versteckt sind«.46 Und so war es auch bei Medzhitov, dessen letztendlicher Erfolg sich einer wahrhaft unwahrscheinlichen Quelle verdankte: Insekten.

Nicht anders als wir werden auch Insekten massiv von Krankheitserregern wie Bakterien und Pilzen bedroht, und doch, so schrieb der Wissenschaftler Pierre Joly Mitte der 1960er Jahre, scheinen sie auch im geschwächten Zustand nie unter Infektionen zu leiden. Joly, der in Straßburg arbeitete, untersuchte dies genauer und stellte fest, dass er sogar Organe von einem Tier zum anderen verpflanzen konnte, ohne dass die Tiere irgendeine Form von Immunschwäche erkennen ließen. Er kam zu dem Schluss, dass Insekten über eine besondere Art von hochwirksamem Abwehrsystem verfügen mussten. In Jolys Labor arbeitete auch ein dreiundzwanzigjähriger Doktorand namens Jules Hoffmann, Sohn eines Entomologen, der sich schon immer brennend für Insekten interessiert hatte. Hoffmann machte sich daran, die von Joly beobachtete Immunität bei Insekten zu untersuchen, und begann mit Heuschrecken zu arbeiten.

Als Joly 1978 in den Ruhestand ging, übernahm der damals sechsunddreißigjährige Hoffmann die Leitung des Labors. Mit der Zeit verlagerte er das Hauptaugenmerk des Teams weg von den Grashüpfern hin zu einer kleinen Taufliege namens Drosophila melanogaster, die ihre Eier auf reifem oder angefaultem Obst ablegt, von dem ihre Larven sich ernähren. Taufliegen wurden bereits Anfang des 20. Jahrhunderts als Forschungsorganismen genutzt, sie sind leicht zu halten – man benötigt lediglich ein paar Nahrungsmittelabfälle –, und ihr Lebenszyklus beträgt nur zwei Wochen. Sie spielen infolgedessen seither eine extrem wichtige Rolle für die biologische und medizinische Forschung und stehen im Zentrum von nicht weniger als sechs Entdeckungen, die den Nobelpreis erhielten.47 Für Hoffmann gab es allerdings noch einen weiteren praktischen Grund, zu Drosophila zu wechseln, denn die Hälfte seiner Arbeitsgruppe hatte eine Allergie gegen Heuschrecken entwickelt. Hoffmanns Frau Danièle, eine vormalige Doktorandin von ihm, war besonders heftig betroffen.48

Hoffmann und sein Team injizierten den Taufliegen Bakterien und untersuchten in regelmäßigen Abständen das Blut der Tiere auf seine Fähigkeit, andere Bakterien abzutöten. Sobald das Fliegenblut antibakterielle Eigenschaften entwickelt hatte, konnten die Forscher davon ausgehen, dass eine Immunreaktion im Gange war. Er und seine Mitarbeiter wollten zwei entscheidende Dinge wissen: Erstens: Welche Art von Molekülen verlieh dem Fliegenblut die Fähigkeit, Bakterien abzutöten? Und zweitens: Welche Gene steuerten die Immunreaktion der Tiere? Die erste Frage erwies sich als relativ leicht zu beantworten: In Seidenspinnern hatte man spezielle Moleküle (Peptide, ihrer Struktur nach so etwas wie Miniproteine) nachgewiesen, die antibakteriell wirkten, und Hoffmanns Arbeitsgruppe fand bei ihren Fliegen ganz ähnliche Verbindungen. Außerdem stellten die Forscher fest, dass gegen unterschiedliche Erreger unterschiedliche Moleküle wirksam waren.49 Aus 100 000 Fliegen isolierten sie das Peptid, mit dem Fliegen Pilze abtöten (heute würde man dazu ungefähr zwanzig Fliegen brauchen).50

Um die zweite Frage zu beantworten – welche Gene an der Reaktion der Fliegen beteiligt sind –, erwies sich Hoffmanns Entscheidung für Taufliegen als Versuchsorganismus als Glücksgriff, denn die genetische Ausstattung dieses Organismus wurde aus den verschiedensten Gründen gerade in anderen Labors intensiv untersucht. Aus diesen Studien ergaben sich für Hoffmann und seine Mitstreiter wertvolle Hinweise. Einer davon war, dass ein Insekten-Gen aus einer Genfamilie namens Toll – tatsächlich hergeleitet von dem deutschen Wort »toll« –, das für die Entwicklung des Taufliegenembryos eine wichtige Rolle spielt, große Ähnlichkeit mit einem menschlichen Gen aufweist, und zwar dem Gen für den Interleukin-1-Rezeptor, von dem man bereits wusste, dass sein Produkt eine Rolle bei der menschlichen Immunreaktion spielt. Außerdem hatte man für bestimmte Gene, die man sowohl bei Taufliegen als auch beim Menschen gefunden hatte (den Genen für einen sogenannten Transkriptionsfaktor namens NF-kappaB), kurz zuvor nachweisen können, dass auch ihr Produkt für die Immunreaktion beim Menschen wichtig ist.51 Angeregt durch diese jüngsten Befunde, gingen Hoffmann und seine Mitarbeiter daran zu untersuchen, ob Fliegen, bei denen man gewisse Gene inaktiviert hatte, Probleme haben würden, mit Infektionen klarzukommen.52 Die entscheidenden Experimente hierzu wurden von Bruno Lemaitre durchgeführt, der im November 1992 zu Hoffmanns Arbeitsgruppe gestoßen war. Im Rahmen einer Reihe von Experimenten, die sich über die Jahre 1993 bis 1995 erstreckten, entdeckte er, dass Fliegen zur Abwehr von Pilzinfektionen auf Toll angewiesen waren.53 Das war eine spektakuläre Erkenntnis – der gesicherte Nachweis, dass Gene, die an der Embryonalentwicklung der Fliege beteiligt waren, auch einen Teil ihres Immunsystems bildeten – und wurde umgehend als solche gefeiert.54 Im September 1996 prangte auf dem Titelblatt einer der renommiertesten Wissenschaftszeitschriften der Welt, Cell, ein faszinierendes Foto von einer Taufliege mit inaktiviertem Toll, die über und über mit einem »Pelz« aus Pilzhyphen bewachsen war.

Im Juni 1992, vor dieser Entdeckung, war Hoffmann nach Connecticut zu Janeway gereist, weil er, wie er sagte, »nicht [sein] gesamtes Leben in einem Insekten-Ghetto verbringen wollte«.55 Ihre Gespräche gipfelten in einem gemeinsamen Forschungsprogramm zum Vergleich der Immunreaktionen von Insekten, Mäusen und Menschen, und 1993 organisierte Hoffmann in Versailles die weltweit erste Konferenz zum angeborenen Immunsystem.56 Auf der Folgekonferenz im Frühjahr 1996 in Gloucester, Massachusetts, berichtete Hoffmann Janeway und Medzhitov erstmals von der Entdeckung seiner Arbeitsgruppe, dass Toll von ausschlaggebender Bedeutung sei für die Immunabwehr der Insekten gegen Pilzbefall. Janeway und Medzhitov waren fasziniert.

Die genaue Abfolge der Ereignisse variiert je nachdem, wer die Geschichte erzählt. Medzhitov berichtet, er habe bereits seit geraumer Zeit an einem Toll-ähnlichen menschlichen Gen gearbeitet, während andere mutmaßen, die Entdeckung bei den Insekten habe ihn und Janeway erst dazu gebracht, beim Menschen nach etwas Ähnlichem zu suchen.57 Wie dem auch sei, Medzhitov intensivierte die Arbeit am menschlichen Äquivalent des Insekten-Gens, und wirklich wichtig an dem Ganzen ist, dass er herausfand, dass dieses menschliche Gen die Aktivität anderer Gene (insbesondere jener für den Transkriptionsfaktor NF-kappaB) anschalten konnte, von denen man wusste, dass sie an der Immunreaktion beteiligt waren.58 Zusammengenommen war die Tragweite dieser Erkenntnisse beachtlich: Sie zeigten, dass Lebensformen von so unterschiedlicher Beschaffenheit wie Insekten und Menschen über ein gemeinsames genetisches Erbe zur Abwehr gegen Krankheitserreger verfügen.

Andere Arbeitsgruppen machten sodann in Mäusen und Menschen viele weitere Gene ausfindig, die dem Insekten-Toll ähnelten.59 In ihrer Gesamtheit nennt man ihre Produkte aufgrund dieser Ähnlichkeit heute »Toll-ähnliche (englisch: toll-like) Rezeptoren«, die zugehörigen Gene heißen im Fachjargon toll-like receptor (TLR) genes, jedes davon kodiert ein Rezeptorprotein, das dem Insektenprotein ähnlich ist, beim Menschen gibt es davon zehn verschiedene. Das von Medzhitov zuerst gefundene trägt heute den Namen TLR4. Experimente mit Mausmutanten zeigten, dass die verschiedenen Toll-Gene für die Immunreaktion gegen alle möglichen Arten von Bakterien und Viren unerlässlich sind. Doch obwohl nun klar war, dass diese Gene irgendwie für die Immunabwehr wichtig waren, wusste niemand wirklich genau, wie sie funktionierten. Bis zum 5. September 1998.

Bruce Beutler, in Chicago geboren und beschäftigt am Southwestern Medical Center der University of Texas in Dallas, hatte sich die vergangenen fünf Jahre hindurch verbissen mit einer Frage herumgeschlagen: Welche Gene stemmten bei Mäusen die Immunreaktion gegen Lipopolysaccharide – kurz LPS –, den im Vorhergehenden bereits erwähnten Bestandteilen der Außenhülle von Bakterien, die ja erwiesenermaßen ein besonders wirksames Adjuvans darstellten? Dieses Problem wurde von vielen Wissenschaftlern als eminent wichtig erachtet, weil sich aus seiner Lösung mit großer Wahrscheinlichkeit wichtige Hinweise darauf ergeben würden, wie das Immunsystem es fertigbrachte, dieses bakterielle Molekül zu erkennen, Beutler befand sich bei seiner Suche daher im Wettlauf mit anderen Labors. Das Problem beherrschte sein Leben und seine Träume.60 Er vergleicht es mit der ähnlich frustrierenden Suche nach einer heruntergefallenen Münze in einem flauschigen Teppich – man weiß nie, wann und wo sie wieder zum Vorschein kommt.

Das Jahr 1998 hatte nicht gut angefangen für Beutler. Im April teilte man ihm mit, dass seine Finanzierung demnächst auslaufe, weil er bereits genug Zeit mit dem Versuch verbracht habe, dieses Problem zu lösen. Zu Hause trennte er sich gerade von seiner Frau Barbara, und ein langer Scheidungsprozess nahm seinen Lauf, der in einem Verfahren vor Gericht und letztlich dem geteilten Sorgerecht für beider drei Söhne gipfelte. »Rauhe Zeiten zu Hause fielen mit der härtesten Phase meiner Arbeit zusammen«, erinnert sich Beutler.61 Er hatte nicht nur seine Arbeitsgruppe zu leiten, sondern auch die erhaltenen Daten zu analysieren, wozu er sich ein eigenes Computerprogramm schrieb, um die Dinge zu beschleunigen.62 Am Abend des 5. September endlich stellte er voller Freude fest, dass das entscheidende Gen für die Erkennung des bakteriellen LPS bei Mäusen große Ähnlichkeit hatte mit Hoffmanns Toll-Gen bei Insekten und Medzhitovs menschlichem TLR4.

Endlich waren alle Puzzleteile an ihrem Platz, und man konnte das große Ganze erkennen: TLR4 kodiert ein Protein, das einen Bestandteil der Außenwand von Bakterien (LPS) erkennt und daran bindet – mit anderen Worten: Das TLR4-Gen kodiert einen Mustererkennungsrezeptor, genau die Art von Molekül, die Janeway einst postuliert hatte. Es gab sie also wirklich, diese Augen des Immunsystems, wie Beutler sie nannte, und sie verliehen Immunzellen, die dieses Rezeptorprotein auf ihrer Oberfläche trugen, die angeborene Fähigkeit, an Bakterien anzudocken. Und sobald TLR4 an sein LPS gebunden hat, ist das ein Signal dafür, dass irgendetwas im Körper vor sich geht, das womöglich nach einer Immunantwort verlangt. Beutler berichtet übrigens, es seien gar nicht Janeways Überlegungen gewesen, die ihn umgetrieben hatten, sondern er sei aus einer ganz anderen Richtung auf das Problem gestoßen: Er war nämlich zu dem Schluss gekommen, dass ein Gen, das es dem Immunsystem ermöglicht, auf Bakterien zu reagieren, mit großer Wahrscheinlichkeit für ein Rezeptorprotein auf der Oberfläche von Immunzellen kodieren müsse.63 Übrigens ist Beutler der Ansicht, dass die Tage der großen Denker, die die Biologie mit theoretischen Überlegungen voranbringen, lange passé sind – heutzutage ist aufmerksames Beobachten der Motor des Fortschritts.64

Der Erste, mit dem Beutler telefonierte, um ihm seine Entdeckung preiszugeben, war sein Vater – sein großes Vorbild –, selbst ein herausragender Wissenschaftler, der immer betont hatte, wie wichtig es sei, etwas Bedeutsames zu tun statt sich mit trivialen Einzelheiten abzugeben.65 Auch wenn der Vater den Sohn unablässig zu Höchstleistungen angespornt hatte, war er angesichts dieser Nachricht »einigermaßen perplex«.66 Anschließend rief Beutler seine langjährigen Mitarbeiter an – seine andere Familie –, und alle waren einhellig begeistert. Später telefonierte er auch noch mit seinen Geldgebern, erhielt jedoch die Antwort, dass deren früher im Jahr getroffene Entscheidung, die Förderung seiner Forschung einzustellen, unumstößlich sei.67

Beutlers Ergebnisse wurden im Dezember 1998 veröffentlicht.68 Auch andere Teams erreichten die Ziellinie und gelangten mit anderen Arten von Experimenten zu denselben Schlussfolgerungen wie er – aber gewonnen hatte das Rennen Beutler.69 Eine Gruppe – die Arbeitsgruppe von Danielle Malo in Montreal – veröffentlichte dieselben Erkenntnisse drei Monate nach ihm.70 In ihrem Artikel wurde Beutlers kurz zuvor erschienener nicht erwähnt, aber er drang darauf, dass dieses in einem Korrigendum zu Malos Artikel nachgeholt und bei der Gelegenheit auch klargestellt wurde, dass Beutler seine Entdeckung bereits noch früher auf einer Tagung vorgestellt hatte. Ein paar Monate nach Malo berichteten auch Forscher aus Japan über dieselben Erkenntnisse.71