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Nach über 90 Jahren praktischer Arbeit mit und an der Heileurythmie darf man fragen, warum der Durchbruch bisher nicht gelungen ist. Hängt es damit zusammen, dass die mit ihr verbundenen Aufgaben noch nicht umfassend genug ergriffen wurden? Denn die Heileurythmie ist nicht nur eine spannende und tiefgehende Heilmethode. Sie hat einen Kulturauftrag, der weit darüber hinausgeht. Eine grundsätzliche Besinnung ist gefragt. Philosophie der Heileurythmie – Glaube, Liebe, Hoffnung – Es gäbe viel zu tun …! In dreifacher Weise wird der Frage nach den Potentialen der Heileurythmie mit Esprit und Engagement nachgegangen. Vielseitige Betrachtungen und unerwartete Wendungen regen das Denken und Reflektieren an. Das Buch zeigt Perspektiven auf und könnte Lust auf Heileurythmie machen.
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Seitenzahl: 284
Veröffentlichungsjahr: 2015
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Wo der Brotgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist.
Friedrich Schiller
Vorwort
Einleitung
Die Philosophie der Heileurythmie
Heileurythmie – Ein Therapiesystem der Mitte
DAS GENIALE WORT
Eurythmie
Eurythmie oder Eurhythmie
Heileurythmie
NEUZEIT
Eine «Neue Welt» im Gesundheitswesen
Auf den Bahnen des Willens…
Vordenken und Nachdenken
Prometheisch denken
Im Verständnisse des fremden Wollens
DIE KUNST POLAR ZU SEIN
Ich bin zwei
Kein Ich ohne Seele
Die Mitte gibt es nicht
Ich Bin
Ätherschulung im unteren Menschen
Das Leonardo da Vinci Prinzip
Alle Trennung ist Maya
BEWEGUNGSPHÄNOMENE
Aufströmen – Abströmen
In die Kutsche steigen
Abgeholt werden
Schwimmen mit dem Strom
Schwimmen gegen den Strom
Vorne Sein – Hinten Sein
Die Arme steigen von alleine
Rückwärtsgehen mit Flügeln
Die Flügel
Oberschenkel – Schultergürtel – Arme
Vokale
Ballen und Spreizen – A und E
Die T-Gebärde
Loslassen und Auferstehen – Ur-A und Ur-I
TAO
PHÄNOMENOLOGIE
Ätherleib und Ich
Strom und Gegenstrom
Bewusst den Äther bewegen
Der untere Mensch will vorwärts
Der obere Mensch will rückwärts
L und R – Gleichstrom und Gegenstrom
Mit dem Ich aus sich herausgehen
Die ätherische Bewegung
Tierkreis-Gesetze
Die Konsonanten des mittleren Menschen
Vokale und Konsonanten
Heileurythmisches Atmen
HEILEURYTHMIE GROSS DENKEN
Heileurythmie
Wahrnehmen als Heilmittel
Laute – Worte – Sprache
Stufenleiter der Heileurythmie
Der frohe Herr der Welt
Ingenieurlied
Das Höchste, das Grösste, das Schönste
Glaube Liebe Hoffnung
Neu denken
LODERNDE BEGEISTERUNG
Sich mutig positionieren
Ein neuer Name
Eurythmietherapie
VERNÜNFTIGE ERNÜCHTERUNG
Ein Beruf ohne Zukunft
Auch andere Methoden anbieten?
Attraktiver werden
Wie sähe die Heileurythmie heute aus?
ABWÄGEN DER VORAUSSETZUNGEN DES GEDANKENS
Wer verantwortet die Heileurythmie?
Mann und Frau
Patriarchat
Ein neues Rollenverständnis wäre nötig
Coming Out
Wer baut die Brücke zum Klient?
DER VERSTAND
Okkulte Gefangenschaft
Doppelgänger-Phänomene
Gehirnwäsche
Es hört doch jeder nur, was er versteht
DER ENTSCHLUSS
Vertiefen, Vertiefen – Vertiefen?
Trennen Sie die Heileurythmie nicht von Rudolf Steiner!
Modelle für eine Physiologie der Zeit
AUSEINANDERSETZUNG DES GEDANKENS MIT DER WELT
Distanz zur Forschung
Wissenschaft ist das, was Wissen schafft
Heileurythmiewissenschaft
ANTRIEB ZUR TAT
Viel zu schlecht ausgebildet?
Konsekutive oder integrative Ausbildung
Die All-in-One–Ausbildung
FÄHIGKEIT ZUR TAT
Jünger werden
DIE TAT
Das Tor ist geöffnet
Keine Kurse nur für Heileurythmisten
Nicht dozieren! Arbeiten!
Der Weg des Künstlers
DAS EREIGNIS
Den Therapeuten wechseln, nicht die Therapie!
Die Medizin der Zukunft
DAS EREIGNIS IST ZUM SCHICKSAL GEWORDEN
Individueller Weg und systematische Therapie
Jenseits der Schwelle
Teufelskreise auflösen – Potentiale leben
DER IM GLEICHGEWICHT BEFINDLICHE MENSCH
Fruchtbar Sein,
Den Anschluss behalten
Es gäbe viel zu tun…
Wikipedia-Artikel
Videos
Die Epidauro - Therapiesoftware
Stunden-Aufschriebe
Die Übungsdatenbank
Die Bibliothek
Therapie-Kaffees
Gedanken-Eurythmie
Anhang
Die ersten Heileurythmistinnen
Eurythmie oder Eurhythmie
Atmen in der Heileurythmie
Heileurythmie-Videos im Netz und auf DVD
Quellen und Anmerkungen
Zum Autor
Bücher des Autors
Videos des Autors
Vorhang auf!
„Quo Vadis – Wohin gehst Du?“, das ist die Frage, die Theodor Hundhammer sich in Bezug auf die Heileurythmie stellt.
Er stellt sie sich – aber auch all denen, die die Notwendigkeit sehen und den Mut haben, kritisch hinzuschauen, Traditionen zu hinterfragen und Wege in die Zukunft zu suchen.
Das Buch will offene Fragen stellen, umfassende und auch sehr persönliche Denkanstösse i vorstellen und Diskussionen anregen.
Nach über 90 Jahren (drei Generationen) praktischer Arbeit mit und an der Heileurythmie als spirituellem Heilmittel, als Teil im System der Anthroposophischen Medizin, als therapeutischer Beruf in über 40 Ländern, darf die Frage gestellt werden:
Warum ist uns der Durchbruch bisher nicht gelungen?
An der Heileurythmie kann es nicht liegen. Ihre Möglichkeiten sind uneingeschränkt!
Bleibt die erstmal schmerzliche Feststellung, dass es an uns selber liegt. Befinden wir uns in einer Art „okkulter Gefangenschaft“, berufsgruppendynamischer Lethargie, in einem Teufelskreis, aus dem wir nur durch Erkenntnis und Mut zur Veränderung heraus kommen können?
Eine grundsätzliche Besinnung ist gefragt – und dieser wird in diesem Buch auf vielfältigen Wegen nachgegangen, bis hin zu ersten konkreten Überlegungen, die gemeinsam zu leisten wären.
Beim Lesen der zusammengetragenen Wahrnehmungen und Aussagen erlebte ich tiefe, eigene Betroffenheit. Wie viele der beschriebenen Grundsätze trage auch ich selber mit mir herum. Vorstellungen aus Tradition und Bequemlichkeit haben sich eingenistet – ohne zu fragen, ob sie heute noch in dieser Weise relevant, zeitgemäss und zukunftsträchtig sind.
Was suchen die jungen Menschen heute, wenn sie einen therapeutischen Bewegungs-Beruf erlernen wollen? Was suchen die Patienten,i die bereits viel Erfahrung mit östlichen wie westlichen Therapiemethoden mitbringen?
In der Heileurythmie liegt das Potential, junge Menschen für den ganzheitlich-spirituellen Therapieansatz zu begeistern und Patienten dafür zu interessieren, sich selbst durch die Heileurythmie neu kennen zu lernen, um für ihre Gesundheit Verantwortung übernehmen zu wollen.
Es liegt an uns, die Türen zu öffnen und - neben aller Vertiefung - den Anschluss an die Welt und was sie von uns als Heileurythmisten erwartet, herzustellen.
Theodor Hundhammer sei herzlich gedankt für den Mut und die Offenheit, diese unbequem-kritische Sicht auf uns selbst liebevoll, konkret und impulsierend zu eröffnen.
Es ist an der Zeit! Und ich bin gerne dabei – und erhoffe mir viele KollegInnen, die gemeinsam weitere Fragen stellen und nach Umsetzungen suchen werden.
Angelika Jaschke
i Hinweise zu Rechtschreibung und Sprachgebrauch: a) Gemäss Schweizer Rechtschreibung wird ss statt ß geschrieben. b) Zur einfacheren Darstellung wird bei Worten, die Mann und Frau betreffen, die männliche Form verwendet.
i Da die Autorin des Vorworts in Deutschland praktiziert, wird hier das Wort Patient gebraucht. Die folgenden Kapitel orientieren sich an der Schweizer Denkart und verwenden die Bezeichnung Klient.
Zahlreiche Persönlichkeiten haben in den letzten 90 Jahren mit hohem Einsatz für die Heileurythmie gewirkt und einen grossen Schatz an Erfahrungen und Wissen zusammengetragen. Auch heute setzen sich viele Menschen intensiv für diese wunderbare Methode ein, um ihr einen gebührenden Platz in der Gesellschaft zu schaffen.
Trotzdem hat die Heileurythmie den entscheidenden Durchbruch in der Gesellschaft noch nicht geschafft. Warum? Nach meiner Meinung liegt es nicht an der Qualität unserer Arbeit und auch nicht an einer à priori-Ablehnung der Weltgesellschaft. Ich glaube vielmehr, dass die Ursache in uns selber liegt, und zwar in unserem Denken über uns selbst und die Heileurythmie.
Im ersten Teil des Buches versuche ich, das interne und externe Umfeld der Heileurythmie wie von aussen zu betrachten. Ich lenke den Blick auf die Bedeutung des Wahrnehmens und Verstehens, des Vor- und Nachdenkens. Mit einer Beschreibung eurythmischer Bewegungsphänomene rege ich an, auf Bekanntes neu hinzuschauen. An den Beispielen von Sprache und den Angaben Rudolf Steiners zum Atem in der Heileurythmie zeige ich, dass man Bekanntes auch anders denken kann als gewohnt.
Im zweiten Teil beschäftige ich mich mit unserem Selbstverständnis im Beruf und mit unseren Umgangsformen. Vieles kenne ich aus persönlicher Erfahrung, manches habe ich gehört oder gelesen, anderes beobachtet, einiges erschlossen. Beim Durchdenken der daraus entstehenden Fragen ergab sich manchmal fast von alleine eine Umstülpung in eine Art Vision. Das war für mich selber oft überraschend und erfreulich.
Im dritten Teil stelle ich eigene Projekte vor. Wenn hier Menschen dazukämen, die ähnliche Interessen haben oder so etwas unterstützen möchten, könnten aus meiner Sicht wichtige Projekte weiter entwickelt werden.
Die Thesen und Denkansätze in diesem Buch geben ausschliesslich meine eigenen Ansichten wieder. Alle Gesichtspunkte zum Selbstverständ nis der Heileurythmie, bei denen allgemeiner Konsens herrscht, werden in diesen Betrachtungen nicht erwähnt.
Ich hoffe, Sie erleben das Buch als eine spannende Lektüre und es gelingt mir, Sie an der einen oder anderen Stelle mit einer neuen Sichtweise und Denkmöglichkeit zu überraschen. Anregungen und Verbesserungen nehme ich gerne entgegen.
Theodor Hundhammer
www.bewegteworte.ch
Mit jedem System, das in sich stimmig ist, kann man arbeiten und sogar vergleichbare Wirkungen erreichen. Jedes stimmige Therapie-System hat seine Geistigkeit, seinen «Spirit», seine Logik. In jedem System verbinde ich mich und meinen Klienten mit einem anderen Kraftfeld, mit einer anderen Energie. Und wir nehmen beide etwas von dieser Energie in unser eigenes Wesen auf.
Die Methoden, die mit Meridiansystemen, mit den fünf Elementen oder mit den Chakren arbeiten, sind hochkomplexe philosophische Systeme aus den Traditionen des Ostens. Aus Amerika stammen die eher pragmatischen Verfahren wie zum Beispiel die Chiropraktik, Osteopathie, Kinesiologie, Reflexzonentherapie, die mit wesentlich einfacheren Bildern und eher gefühlten Erklärungsmustern arbeiten.1,2,3,4 Bei der Reflexzonentherapie geht man zum Beispiel davon aus, dass Organe über vergleichbar gelegene Orte an entfernten Körperteilen angesprochen werden können.
Kurz vor der Trennung der Geistes- und Naturwissenschaften in Europa entwickelte Paracelsus (1493–1541) ein vielschichtiges medizinisches Lehrgebäude auf der Grundlage der mittelalterlichen astrologischen Anschauungen. Seine Lehre basiert wesentlich auf der Identität der im geistigen Kosmos, in der Natur und im Menschen wirkenden Kräfte. Dem Lehrsatz «wie oben, so unten» fügte er den selbstbestimmten Menschen als Mitgestalter dieses Verhältnisses hinzu.
Bei der Entwicklung der Anthroposophischen Medizin griff Rudolf Steiner die Anschauungsweise des Paracelsus, wie der individuelle, im Kosmischen beheimatete Mensch in seinem Körper lebt, wieder auf und erweiterte sie mit eigenen Erkenntnissen. In Weiterführung dessen, was Goethe mit der Entwicklung einer Wissenschaft lebendiger Systeme begonnen hatte, arbeitete Rudolf Steiner die Anthroposophische Medizin als ein eigenständiges Gedankengebäude dahingehend aus, dass Naturwissenschaft, Geisteswissenschaft und Medizin nicht nebeneinander stehen bleiben müssen, sondern sich gegenseitig herausfordern und weiterentwickeln können.
Damit ist die Anthroposophische Medizin eine konsequente Weiterführung der europäischen Medizintradition mit einem eigenständigen Wertesystem zwischen Ost und West.5
Die Heileurythmie greift das Ineinanderspiel von kosmischem und irdischem Menschen unmittelbar auf. Sie arbeitet mit diesen Kräften im Wechselspiel von Bewegung und Bewusstsein ohne auf die Vermittlung von Natursubstanzen zurückzugreifen. Das Individuum, der seelisch aktive Mensch wird zum Gestalter seiner Gesundheit. Zu den geschenkten Selbstheilungskräften treten die Heilungskräfte des Selbst hinzu, ein neues Element in der Geschichte der rationalen Medizin. Und ein wesentlicher Schritt des Menschen hin zu seinem wahren Wesen.
Will man die Anerkennung der Öffentlichkeit gewinnen, ist es wichtig, diese drei Dinge hervorzuheben. Sie grenzen die Heileurythmie erkennbar gegen andere Systeme ab.
Die Heileurythmie ist ein Therapiesystem der mitteleuropäischen Medizintradition.
Anders als die Systeme des Ostens und Westens arbeitet die Heileurythmie mit der Zwölf-, Sieben, Vier-, Drei, Zwei und Eingliedrigkeit des Menschen in ihren verschiedenen Durchdringungen. Diese Gliederung spiegelt sich unter anderem im zwölfgliedrigen Tierkreis, in den sieben Planeten, in den vier Elementen, in der Trinität von Sal, Merkur und Sulfur, in der Zweiheit von oberer und unterer Mensch.
Die Heileurythmie aktiviert die Heilungskräfte des Selbst, nicht die Selbstheilungskräfte, wie andere Therapierichtungen. Der seelisch aktive Mensch wird zum Gestalter seiner Gesundheit.
Um das Jahr 22 v. Chr. definiert der römische Architekt und Ingenieur Vitruv sechs Grundbegriffe des Faches Architektur: ordinatio, dispositio, eurythmia, symmetria, decor und distributio. Dabei steht Eurythmia für das anmutige Aussehen und das massgerechte Erscheinungsbild der Bauglieder.6
Bis ins 18. Jahrhundert ist Eurythmie ein fester Begriff auf dem Gebiet der Architektur. Neben Festigkeit und Regelmässigkeit (nach den Regeln der Symmetrie) musste ein Gebäude auch Eurythmie aufweisen. Damit bezeichnete man das sinnerfüllte Verhältnis der Teile untereinander und zum Ganzen.7
Von den Künstlern der damaligen Zeit wurde das Wort mit grosser Selbstverständlichkeit verwendet. Goethe schrieb 1789, die Gesetze der Eurythmie ordnen die Gegenstände so, dass man aus ihrer Stellung schon ihr Verhältnis abspinnen könne.8 In dieser Zeit wurde der Begriff Eurythmie zunehmend für Werke der bildenden und der literarischen Kunst verwendet, aber auch für den menschlichen Körper.9 Er bedeutete eine nicht leicht fassbare, inneren Gesetzen folgende Bezogenheit der Elemente eines Werkes aufeinander. Eurythmie allein genügte noch nicht zum Entstehen von Schönheit. i,10 Dafür musste das Geformte zusätzlich mit dem Geist der Sache übereinstimmen.11
Zu Beginn des 20. Jahrhundert wird der Begriff Eurythmie auf das Gebiet der Tanzkunst erweitert 12 und von Menschen mit neuen Impulsen aufgegriffen. 1906 entwickelte der Musiker Jacques Dalcroze die «Eurhythmik».13 1912 wurde die von Rudolf Steiner neu entwickelte Bewegungskunst auf Anregung Marie Steiners «Eurythmie» getauft. 1918 gründete die Tänzerin Suzanne Perrottet unter dem Motto Bewegung - Zeichnen - Sprache eine «Schule für Eurhythmie» in Zürich, die sie später wieder umbenannte, um sich von der Eurythmie Rudolf Steiners abzugrenzen.14
1917 schreibt Hugo Ball über die avantgardistische Schule von Laban in Ascona: „Mit der Erziehung zur Persönlichkeit umfasst sie das ganze Gebiet der Eurythmie.… Der Eleve soll… sich nicht nur als Individuum, sondern als Teil im Kosmos und im Gesamtkunstwerk empfinden.“15
Der Zeitgeist hat den Begriff Eurythmie offensichtlich zum Inbegriff einer Tanzkunst gesteigert, die eine Transzendierung der Körperbeherrschung hin zu einer universellen Menschenbildung und Einbettung in den kosmischen Gesamtzusammenhang propagierte.
Das Wort Eurythmie ist griechischen Ursprungs. Am Anfang eines griechischen Wortes wird der Buchstabe R (Rho) aspiriert gesprochen, d.h. mit einer Behauchung begleitet. In der deutschen Schreibweise drückt man das mit einem hinzugefügten h aus (Rhythmus). Im Wort wird der Buchstabe R (Rho) ohne Aspiration gesprochen, darum wird dort auch kein h geschrieben (Argonauten).
In zusammengesetzten Worten behält das Rho seinen Anlautcharakter und damit das aspirierte h. Herz-Rhythmusstörung bleibt Herzrhythmusstörung. Endet die vorgesetzte Silbe vokalisch, zieht der Vokal das R an sich heran und es besteht die Gefahr, dass das R seinen Anlautcharakter verliert. Darum wird nach vokalisch endenden Vorsilben das Rho zusätzlich zur Aspiration verdoppelt und rrh geschrieben: Aus a und rhythmia wird Arrhythmie, aus kako und rhythmia wird Kakorrhythmie.
Das Eu aber ist etwas Besonderes. Wird dieses einem Wort vorangestellt, gibt letzteres sein Eigensein auf. Statt einem zusammengesetzten Wort entsteht ein neues Wort. In diesem wird das Rho zum Binnenlaut ohne aspiriertes h. Die Betonung des Rho am Wortanfang durch die Aspiration, seine Selbstbehauptung durch Verdoppelung, wenn ihm Vorsilben vorgesetzt werden – dem Eu gibt es sich hin. Das Eu ermöglicht dem Rhovon Rhythmus, sich und sein Wort selbstlos einer höheren Harmonie einzufügen. Eu-Rhythmie wird Eurythmie.ii
Das Besondere in dem Namen Heileurythmie ist seine Vielschichtigkeit.
Das Wort «Rhythmus» deutet an, dass es um die lebendige Verbindung von Gegensätzen geht. Rhythmus entsteht nie von alleine. Das Ich muss wach dabei sein, sonst verselbständigen sich die Elemente. Rhythmus bildet den Leib des Ich.
«Eu» beschreibt die Qualität des Rhythmus, seine Harmonie und All-Verbundenheit. Es ist dieselbe Vorsilbe wie das Ai von Ai-ki-do.iii „Suche nach Ruhe, aber durch das Gleichgewicht, nicht durch den Stillstand deiner Tätigkeit“, sagt Friedrich Schiller.17
Das Wort «Heil» bedeutet ganz, gesund, unversehrt. Es weist darauf hin, dass jeder Mensch das Urbild seiner Leiblichkeit in sich hat und zur Wirksamkeit bringen kann. Transitiv bedeutet es «heil machen» und intransitiv «heil werden». Diese Doppelbedeutung finden wir auch in der Heileurythmie. Auf der einen Seite versuchen wir, den Körper so heil zu machen, dass die Persönlichkeit ungehindert durch ihn wirken kann. Im Gegenzug ist es ein Hinführen der ganzen Persönlichkeit zu ihrer ursprünglichen Ganzheit, ihrer innersten Heiligkeit, zum Heil-Werden.
i Die Schönheit der Natur wurde auf andere Prinzipien zurückgeführt. Schöne Landschaften vermeiden die Eurythmie.
ii Bei vielen Autoren der letzten Jahrhunderte (z.B. Herder, Schiller, Jean Paul, Wieland, Brockhaus) ist auch die Schreibweise Eurhythmie zu finden. Nach der griechischen Orthographie ist die Schreibweise ohne h die richtigere. Die Quelle für diese Ausführungen finden Sie im Original auf Seite 195.
iii Im Wort «Aikido» bedeutet Ai Harmonie, Ki Lebensenergie und Do Weg.
Der Gesundheitsmarkt im Wandel 18
„Immer mehr Menschen in Deutschland wollen gesünder Leben. Gesundheitstourismus, Wellness, gesundheitsbezogene Sport- und Freizeitangebote, aber auch Schönheitsoperationen, Massagen und Appetitzügler werden immer mehr zu zentralen Lebensinhalten. Sie beeinflussen Kaufentscheidungen. Ging es früher beim Gesundheitswesen vorrangig darum, Leben zu retten, spielen heute viele andere Aspekte eine wichtige Rolle. Durch den demographischen Wandel und den technischen Fortschritt steigt das Interesse an Gesundheit. Schon jetzt trägt die Erhaltung der Gesundheit einen grossen Teil zum Lebensstil bei. Die Zukunft gehört deshalb dem «Zweiten Gesundheitsmarkt».“i,19
Im Jahr 2012 beliefen sich die Gesundheitsausgaben in Deutschland auf rund 240 Mrd. Euro im ersten Gesundheitsmarkt und auf 59 Mrd. im zweiten Gesundheitsmarkt. Die Geschäftserwartungen der Unternehmen liegen seit Jahren oberhalb der Erwartungen der Gesamtwirtschaft. Jeder achte deutsche Erwerbstätige ist in dieser Branche tätig. Seit dem Jahr 2000 hat die Zahl der Beschäftigten um 25% zugenommen.20 Warum wächst der Gesundheitsmarkt so rasant?
Das Niveau des Bewusstseins in der Bevölkerung steigt. Überall klopft an, dass es mehr gibt, als an der sichtbaren Oberfläche liegt. Eine einfache Frau berät ihre Freundin bei einem Lebensproblem am Handy: „Hast du schon mal überlegt, was diese Schwierigkeit vielleicht an Positivem bringen kann?“ Die Menschen lernen, dass Probleme Schritte vorwärts einleiten können, dass sie selber Verantwortung für ihr Leben übernehmen können, dass Stärken auch Schwächen sein können und umgekehrt.ii
Der grosse Schatz der Persönlichkeit sind ihre Potentiale. Zugleich sind es schwere Aufgaben. Denn wenn man seine Potentiale nicht lebt oder halbwegs erfolgreich nach ihrer Verwirklichung strebt, wird man krank. Gerade unsere schweren körperlichen Krankheiten sind oft ein Anklopfen von nicht gelebten Potentialen. Sie fordern uns auf, uns auf die Suche nach unseren Kräften und Möglichkeiten, nach unserem spirituellen, geistlebendigen Wesen zu machen.
Aufgrund unserer kollektiven Geschichte über Jahrtausende, aufgrund von Prägungen aus früheren Leben, aufgrund unserer Erziehung und aufgrund unserer individuellen Beziehungen sind wir in vielfacher Art gefesselt. Sich aus diesen Fesseln befreien heisst, den Weg vom Gewordenen zum Werdenden zu finden. Das ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Potentiale im Leben wirksam werden können.
Die einen machen es durch aktive Selbstschulung, die anderen bekommen ihr Übfeld in Form existentieller Lebensfragen. Dabei gibt es keine Zweiklassen-Gesellschaft. Wer auf dem einen Gebiet aktiv Selbstschulung betreibt, schläft garantiert auf einem anderen. Dort bringt ihm das Leben die Aufgaben, die er freiwillig nicht gewählt hätte.
Dabei geht es grundsätzlich um zwei miteinander verknüpfte Dinge: Um ein Über-sich-Hinauswachsen und um das Auflösen von Teufelskreisen, um Loslassen und Auferstehen. Diese Fähigkeiten werden im Verband mit der Entwicklung der Bewusstseinsseele geübt und entwickelt.iii
Das Spielfeld, wo das praktiziert wird, ist die Gesundheit. Unsere Zeit will, dass die Menschen sich mit dem Thema «Wie werde ich gesund?» auf den Weg machen. Denn die bewusste Suche nach Gesundheit ist die Suche nach einem bewussten Durchdringen der Zusammenhänge von Leib, Geist und Seele.
Gesundheitsthemen sind, auf welcher Ebene auch immer, das Suchfeld danach, sich und die Welt auf einer höheren Stufe wahrzunehmen zu lernen. Darum nimmt der zweite Gesundheitsmarkt, der über die reine Grundversorgung hinausgeht, heute eine immer grössere Rolle ein. Ein Belächeln, dass so viele Menschen heute zu Psychiatern, Coaches, Masseuren, Hypnotiseuren, Paarberatern, energetisch arbeitenden Therapeuten usw. laufen, ist vor diesem Hintergrund genauso unangebracht wie das geflügelte Wort von der Therapeutenschwemme.
Wir Therapeuten sind dazu da, um Menschen beizustehen, die Fragen beantworten müssen, die ihnen das Leben bringt. Die Fragen brechen auf, weil es an der Zeit ist, und wir Therapeuten stehen parat, weil wir Zeitgenossen sind!
Die Bewusstseinsseele beruht auf einer inneren Willenstätigkeit, an deren Entwicklung heute die ganze Menschheit arbeitet. Der Mensch entwickelt auf diesem Weg ein wahrnehmendes Bewusstsein dafür, dass alles in der Natur einen geistigen Hintergrund hat, und dass auch er selbst ein geistiges Wesen ist.
Als am Beginn der Neuzeit der Glaube an das, was man empfinden kann, durch eine Wissenschaft rationalen Denkens ersetzt wurde, war das ein radikaler Bruch. Das eine schliesst das andere aus! Genauso ein Bruch besteht zwischen dem suchenden Denken der Bewusstseinsseele und dem Begreifen wollenden Denken der Verstandesseele. Sie verhalten sich wie Feuer und Wasser. Die Kommunikation zwischen diesen beiden ist ähnlich schwer wie im ersten Fall.iv
Zum besseren Verständnis der Bewusstseinsseele werden im folgenden Abschnitt verschiedene Aussagen Rudolf Steiners zu diesem Thema in zusammengefasster Form wiedergegeben.21
So wie die Empfindungsseele der Sinneswelt zugewandt ist, so ist die Bewusstseinsseele der nichtsinnlichen, geistigen Welt zugewandt. Während sich uns die Sinneswelt durch unsere Wahrnehmungen und Empfindungen von selbst aufdrängt und zur gedanklichen Verarbeitung und seelischen Stellungnahme auffordert, ist das Nichtsinnliche, das Geistige, für den Menschen zunächst nicht da. Die Bewusstseinsseele muss als das Seelenglied für deren Wahrnehmung erst entfaltet werden.
Wenn der Mensch in einer ersten Stufe der Bewusstseinsseele sein eigenes Ich ergreift, führt ihn das zu einem intuitiven Wahrnehmen des Geistes. Damit lebt er sich in das Geistselbst, in das, was geistiglebendig der Welt zugrunde liegt, hinein. Er ertastet in Intuitionen, was noch nicht geworden, was noch Zukunft, noch Potential ist.
Will er den Geist in der sinnlichen Welt wahrnehmen lernen, so muss er das so tun, wie er zuvor sein Ich ergriffen hat, und es auf die äussere Welt anwenden. Da es keine äussere Notwendigkeit dafür gibt, muss der Antrieb dazu von innen kommen. Man muss es wollen.
Da die übersinnliche Welt zunächst etwas Unbekanntes ist, ist sie für das Denken inhaltsleer. Da Denken an Inhalte gebunden, ist es zunächst hilflos. Auf dem Weg in das Nicht-Sinnliche übernehmen deshalb Gefühl und Wille die Führung. Das Denken ist das Geführte und muss loslassen.
Um zu einem Wissen über das Geistige in den äusseren Dingen zu kommen, muss der Mensch auf der Ebene des Gefühls «Liebe zum Unbekannten» und auf der Ebene des Willens «Ergebenheit ins Unbekannte» entwickeln. Diese beiden Kräfte sind es, die ihn ins Übersinnliche führen, noch bevor er dieses denken kann. Ohne diese Haltung geht die Seele an den Dingen vorüber.
Um die übersinnliche Welt in ihrer Wahrheit, Klarheit und Untrüglichkeit zu erkennen und sich nicht in der Haltung der Ergebenheit zu verlieren, muss das Denken selbst schöpferisch werden. Dazu braucht es den Willen zu einem aktiven Denken über dasjenige, dem man sich hingegeben hat.v
Bei der Heileurythmie spielen Denken und Bewusstsein eine wichtige Rolle. Auf der einen Seite hat sie ein hochkomplexes medizinischmenschenkundliches System zur Grundlage. Auf der anderen werden die therapeutischen Bewegungen auf vielfältige Weise von Bewusstsein durchdrungen. Darum ist es wichtig, die oben beschriebenen Sachverhalte noch weiter zu verfolgen.
Angelehnt an Goethes «Pandora» stellt Rudolf Steiner die Figuren Epimetheus (der danach Denkende) und Prometheus (der Vorausdenkende) gegenüber, um auf zwei grundsätzlich verschiedene Denkhaltungen hinzuweisen. Es folgt eine freie Zusammenstellung wichtiger Aussagen, aus diesem Vortrag.22
Es gibt die Wahrheit des Nachdenkens und die Wahrheit des Vordenkens. Zur Wahrheit des Nachdenkens kommt der Mensch, indem er hinschaut auf das, was uns in der Aussenwelt vorliegt. Er kann voraussetzen, dass er durch sein Denken dasjenige wiederfindet, was an der Schöpfung der Welt beteiligt ist. Da diese Wahrheit aber nur ein nachgedachtes, untätig und ohnmächtig gewordenes Spiegelbild ist, wirkt dieses Wahrheitsbild in Bezug auf die Entwickelung unseres Ich verödend und ausleerend. Rudolf Steiner beschreibt am Beispiel des Naturerlebens vier Schritte auf diesem Weg:
In der Natur haben wir eine Summe von Pflanzen vor uns, die aus der lebendigen Weisheit der Welt gebildet sind. In ihnen ist produktive Kraft.
Der Künstler stellt sich dem, was ihm das Bild der Natur gibt, mit der Seele entgegen. Er denkt nicht bloss nach, sondern er lässt ihre schöpferische, produktive Kraft in sich wirken. Er bringt ein Kunstwerk hervor, in dem nicht bloss ein Nachgedanke, sondern produktive Kraft vorhanden ist.
Der Nächste versucht, hinter den Gedanken des Bildes zu kommen. Er denkt über das Bild nach. Da ist die Wirklichkeit weiter filtriert, aber sie ist zu gleicher Zeit verödet. Dann ist der Abschluss da, und die Seele ist fertig damit.
Man könnte den Prozess noch weiterzuführen, indem man sich über diese Gedanken noch Gedanken macht. Damit käme man in das Lächerliche hinein.
Der nachdenkende Mensch nimmt mit seinem Denken nicht am Erwirken der Zukunft teil und kann zu den Schöpfungen der lebendig schaffenden Weisheit nichts aus seinen eigenen Kräften hinzufügen. Ihm bleibt nur die Hoffnung, dass die Dinge geschehen werden.
Der Mensch, der allseitig Nachdenker ist, wird versuchen, sich einen Überblick über das Ganze zu machen und nicht das einzelne auf Kosten des anderen loben. Er sorgt für das, was schon da ist und schützt es vor der Zerstörung. Da aber alles, was sich nicht mehr weiter entwickelt, zwangsläufig der Zerstörung entgegengeht, tritt paradoxerweise gerade durch das bewahrende nachdenkliche Element Zerstörendes in die Welt ein.
Die zweite Art von Wahrheit gewinnen wir durch Vorausdenken dessen, was nicht im äusseren Erlebnis und äusseren Beobachten erscheint. Wahrheiten, die nicht an äusseren Erlebnissen gewonnen werden, sind schöpferisch. Sie machen den Menschen zum Mitwirkenden an dem, was in die Zukunft hinein entsteht. Typische Vordenker sind zum Beispiel die Techniker und Erfinder, also diejenigen, die das Motto «Geht nicht, gibt’s nicht!» leben.
Vorgedachte Wahrheiten beweist man durch ihre Anwendung im Leben. Was fruchtbar ist, allein ist wahr.23 Viele Erscheinungen des Lebens treten erst dann in die Wahrnehmung und werden erst dann erklärlich, wenn man die dazu gehörige Wahrheit vorher in sich gebildet hat. Auf diese Weise entsteht echtes Interesse und Verbundenheit mit der Welt.
Anders als der peripher orientierte Nachdenker ist der prometheische Mensch relativ grob, nimmt Zerstörung in Kauf und läuft Gefahr, sich zu verlieren. Er muss sich beim Vordenken von Wahrheiten auf einzelne Gebiete beschränken und seine Schöpfungen sind nicht so vollkommen wie die seines Vorbilds, der Natur. Aber alles Geschaffene entspringt seinen eigenen Kräften und Werkzeugen.
Zwischen der Zerstörungswirkung der unproduktiven epimetheischen Haltung und der Zerstörungskraft der produktiven prometheischen Haltung bringt nur das konstruktive Zusammenwirken der beiden Pole in der menschlichen Seele eine heilsame, zukunftswirksame Lösung. Das, was epimetheisch nachdenkend aus dem Gegebenen gewonnen wird, soll seine produktive Anspannung bekommen durch das prometheisch vordenkende Element. Das prometheisch vordenkende Element soll seine richtige Kraft bekommen durch eine epimetheisch wahrheitsgetreue Aufnahme dessen, was die Götter gewähren. In den Worten von Goethe: „Was zu wünschen ist, ihr unten fühlt es; was zu geben sei, die wissen's droben.“24
Eine der Schlussfolgerungen, die Rudolf Steiner in seiner Betrachtung zieht, ist, dass sich die prometheisch schaffende Kraft mit der schaffenden Kraft in der Natur wirkungsvoll verbinden muss, um heilsam zu sein. Das haben wir auch in der Heileurythmie, wo sich der Heilerwille mit den ätherischen Kräften im Bau des Menschen verbündet.
Warum bringe ich eine so lange Zusammenfassung von Steineraussagen? Etwas, was ich bei anderen Autoren gar nicht schätze, für kontraproduktiv halte und auch hier mühsam finde! Ist es doch grundsätzlich so, dass man Steinerzitate – bewusst oder unbewusst – gerne dazu benutzt, um persönliche Überzeugungen möglichst machtvoll zu instrumentalisieren, und sie unter dem Mantel der Objektivität und Überpersönlichkeit besser durchsetzen zu können. Es geht ums Überzeugen statt ums Erzeugen! vi
Darf ich meinen im obigen Zitatemantel versteckten (prometheischen?) Willen offen aussprechen? Oder haben Sie ihn schon erraten?
Nach meinem Heileurythmiestudium machte ich von Februar bis April 2004 ein Praktikum in einer bekannten Klinik. In einer wöchentlichen Grundlagenarbeit besprachen wir unter Kollegen heileurythmische Themen, Indikationen, Laute und Übungen. Das Besondere war, dass im selben Zeitraum eine zweite Praktikantin in der Klinik arbeitete, die in vielerlei Hinsicht polar zu mir war. Eine Italienerin, eher klein, extrovertiert, impulsiv, über die Landwirtschaft mit der Erde verbunden. Ihr Motiv, Eurythmie zu studieren, war unter anderem, dass sie durch die Eurythmie Denken lernen wollte. Ich, ein Bayer, mittelgross, eher introvertiert, war Ingenieur, Segelflieger und Segelflugzeugbauer. Die Eurythmie habe ich studiert, um mit ihrer Hilfe tiefer in die Wirklichkeit zu kommen.
Zwei so unterschiedliche Konstitutionen sind ein interessantes Studienmaterial. Darum schlug ich vor, ob wir nicht die besprochenen Übungen von uns beiden machen lassen könnten, um zu schauen, ob derselbe Laut verschieden wirkt, ob man ihn bei polaren Konstitutionen verschieden machen muss usw. Mich interessierte, ob man etwas sieht und was man sieht. In diesem Fall war es das T. Wir fingen an. Nach kurzer Zeit wurde der Heileurythmie-Kurs aufgeschlagen und darin nachgelesen, was Rudolf Steiner alles über diesen Laut gesagt hat. Die verschiedenen Interpretationen und individuelle Ergänzungen haben wir dann ausgeführt. Jeder so, wie er es verstand. Ob man Unterschiede sehen kann, davon war keine Rede mehr. Ich bringe einen Wunsch nicht gerne zweimal vor, ich ziehe mich lieber zurück. Aber eingeprägt hat es sich tief. Ich staune bis heute.
Immer mehr Erlebnisse ähnlicher Art haben mich dazu geführt, mich ernsthaft zu fragen, ob die Heileurythmie in ein Gefängnis des Nachdenkens gerutscht ist. Wie studiert ein epimetheisch veranlagter Mensch den Heileurythmiekurs, wie ein prometheisch veranlagter?
Gedanken, die einmal geäussert sind, sind genauso Naturgegenstände wie alles andere, was uns umgibt. Sie stehen im Buch wie Blumen auf der Wiese! Die Blumen werden angeschaut und bewundert, die Gedanken gelesen und denkend verarbeitet. Was Rudolf Steiner vorgedacht hat, ist ein Gewordenes für uns, das wie die Natur zum Nachdenken anregt. Rudolf Steiner weist dabei explizit auf die Gefahr hin, dass bei geisteswissenschaftlichen Inhalten alles blosse Nachdenken von Übel sei und zu Täuschung führe.25
Spasseshalber habe ich die auf Seite → wiedergegebene Abfolge Rudolf Steiners für das Nachdenken über die Natur so wortlautähnlich wie möglich auf eine epimetheische, d.h. nachdenkende Ergründung des Heileurythmiekurses übertragen:
Im Menschen und im Kosmos haben wir eine Summe von Bildekräften, durch die die Weisheit der ganzen Welt wirkt.
Nun kommt Rudolf Steiner. Er lässt jene schöpferische Kraft in sich wirken und bringt eine Vortragsreihe mit Demonstrationen hervor, in der die Heileurythmie entwickelt wird. Ein System in dem produktive Kraft vorhanden ist.
Der Student des Heileurythmiekurses versucht, hinter die Gedanken dieses Systems zu kommen. Gelingt es ihm, den Gedanken zu fassen, ist der Erkenntnisprozess gelungen. Das Erkenntnisfiltrat wird Lehrmaterial, Schulungsmittel und Richtschnur für die praktische Arbeit.
Die Systematik des Kurses wird als genial erkannt, sein Aufbau wird bis in die Stellung einzelner Worte studiert und mit Erkenntniswert bedacht.
Es ist ein Versuch, bitte vergleichen Sie selbst mit Seite → oder dem Original.26 Vielleicht würden Sie es anders machen. Wie die Bewertung von Abschnitt 4 „Damit käme man in das Lächerliche hinein“ interpretiert werden kann, überlasse ich dem Leser. Die Frage ist deutlich: Wo begegnet man einem einseitigen epimetheischen Nachdenken? Wie lernt man unterscheiden, wann man nachdenkend, wann vordenkend unterwegs ist? Wie sieht Vordenken in der Heileurythmie aus?
Wenn man sich etwas vornimmt, das man mit dem Willen ausführen will, muss man sich nach seinen Erfahrungen richten. Darum beruht auch das Vordenken in gewisser Beziehung auf einem Nachdenken.27 Aber der Vordenker versucht nicht, das Gegebene zu verstehen, damit er es besser anwenden kann. Der Wille zum Neuen steht im Vordergrund. Die Wirklichkeit soll besser erklärt werden, neue Phänomene sollen erschlossen und in der Welt fruchtbar werden. Er fühlt, was man wollen kann, was wahr werden könnte.
Das Ergebnis, das ein Vordenker in seinem Denkraum findet, ist ein Produkt seines Willens. Es stammt aus einem anderen Raum als das, was an Begrifflichkeiten im Raum des Gewordenen existiert. So entstehen immer wieder paradoxe Situationen. Die Vertreter des Gewordenen haben das Bedürfnis, dass die Querdenker und Querhandler, die ihren eigenen Impulsen folgen und etwas Neues riskieren, erklären, was sie da machen, und wie ihr Tun und Lassen sich zum Beispiel zum heileurythmischen Impuls von Rudolf Steiner verhält. Logisch angeschaut ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Hätte der Fragesteller eine verwandte Willensrichtung, hätte er nicht gefragt, sondern mitgemacht. Hat er aber (noch) keine Willensregung in dieser Richtung, bleibt eine Darstellung, die eine Willensrichtung beschreibt, zwangsläufig unverständlich. Egal wie subtil und gedanklich sie ausgearbeitet ist. Der vorwiegende Nachdenker kann das, was ein Vordenker sucht oder hervorbringt, zunächst nicht verstehen. Goethe schreibt das so:
Ich habe bemerkt, dass ich den Gedanken für wahr halte, der für mich fruchtbar ist, sich an mein übriges Denken anschliesst und zugleich mich fördert.
Es ist nicht allein möglich, sondern natürlich, dass sich ein solcher Gedanke dem Sinne des andern nicht anschliesse, ihn nicht fördere, wohl gar hindere, und so wird er ihn für falsch halten.28
Die Fruchtbarkeit ist, wie oben ausgeführt, der einzig mögliche Beweis für die Wahrheit vorgedachter Inhalte. Dazu muss sich der Erfolg erst einstellen, und das braucht Zeit.
„Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens“29 dieser Satz aus Rudolf Steiners Philosophie der Freiheit wird von Anthroposophen als sogenannte Grundmaxime des freien Menschen gerne zitiert. Aber nichts ist schwerer als das! Warum?
Verstanden zu werden, ist eines der tiefsten Grundbedürfnisse des Menschen. Einen Menschen in Not, einen Freund, der trauert, einen Menschen der sich verweigert, versucht man zu verstehen. Man spricht mit ihm, tauscht sich aus, informiert sich. Allein die Tatsache, dass er sich verstanden fühlt, kann ihm eine grosse Hilfe sein. Es geht ihm besser, er kann die nächsten Schritte machen.
Wenn wir etwas nicht verstehen, beunruhigt es uns. Es ist ein Loch in unserem Weltbild. Wenn es wahr wäre, bekäme das Bild Risse. Können wir uns an der Steilwand unseres Gedankengebäudes vom Leben dann noch halten? Es fehlt plötzlich ein wichtiger Griff, um vorwärtszukommen oder zumindest so bleiben zu können, wie man ist. All die Schubladen, die wir bilden, um andere da hineinzustecken, alle einfachen Erklärungsmuster dienen dazu, Löcher und Risse zu kitten, Griffe zu setzen. Wie lange sie halten, ist zunächst egal, Hauptsache, wir stürzen nicht ab.
Jemand anderen verstehen heisst, dass ich ihn geistig zur Seite schiebe und mich selber an seinen Platz stelle (ver-stehe). Kann ich seine Umgebung aus seiner Perspektive, ja aus seinen Anlagen heraus anschauen? Kann ich aus dieser Perspektive, aus diesen Anlagen heraus, das Wollen ideell nachvollziehen, das ich aufgrund meiner eigenen Anlagen nicht wollen kann und mir deshalb fremd ist? Kann ich das Wollen, was ich nicht wollen kann? Nur dann darf ich sagen, ich verstehe das fremde Wollen.
Verstehen verlangt also, dass ich mich von meinem Platz auf einen anderen versetze. Wer sich nicht bewegt, versteht nicht! Es ist eine Willensaktivität! Und mit den neuen Perspektiven und Wahrnehmungen verändere ich mich im Prozess des Verstehens selbst. Ich werde ein anderer. Hier muss ich ehrlich entscheiden: Will ich mich auf dieses Risiko einlassen?