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Ein Arbeitsloser, der Suizid begeht, eine verlassene Limousine vor dem Gemeindehaus, eine Frau im besten Alter, die sich schon lange nicht mehr ins Schwimmbad wagt. Ein braver Beamter mit Doppelleben, eine Dreiecksgeschichte um einen vermögenden Mann, ein Hochstapler mit grossen Schulden, der alle austrickst: Dies und mehr erfährt die Auszubildende Vera im Dorfladen und erzählt es, da sie Material für die wöchentliche Beichte braucht, passend gerahmt dem Pfarrer. "Ich bin als Angestellte im Dorflasen sozusagen Spezialistin für Dorfgeschichten. Ich bin aber nicht sicher, ob ich Ihnen davon erzählen soll. Immer, wenn ich die Wahrheit gesagt habe in meinem Leben, habe ich es später bereut."
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Seitenzahl: 202
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Heilige Lügen
Khe Rubin, geboren und aufgewachsen an der Zürcher Goldküste, lebt gegenwärtig im Aargau. Liebt die Vielfalt. Diverse Studien und Tätigkeiten, etwa in Psychologie, Judaistik, Tanz und sozialen Bereichen. Wenn sie nicht mit dem Broterwerb beschäftigt ist, schreibt, strickt, rennt, musiziert oder gärtnert sie.
Heilige Lügen
Märchen und Alpträume aus dem Dorf
Khe Rubin
Verlag Khe Rubin
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Das Buchcover darf zur Darstellung des Buchs unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbilds ist nur mit Zustimmung der Coverillustratorin möglich.
Alle im Buch aufgeführten Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten sind rein zufällig.
Texte: © Copyright by Khe RubinUmschlaggestaltung: © Copyright by Khe Rubin
Verlag:Khe Rubin, Bünzen CH
Frost 9
Ihr Name war Astrid 21
Purpurtraum 44
Johanna 56
Perlmutt 59
Blue Lobster 62
Kinderwagen-Manufaktur 67
Von mir nicht 83
Die Delphine von Vorderheckenen 87
Morgenstern im
Vorderheckener Bahnhofaufzug 96
Bitte lächeln 97
Altweibertrocken 120
Frau Bietenholz 137
Gute Nacht, Leila 145
Dorfleben mit Uhr 147
Strotzis Potenz 149
Frau Schlüsselbergs Duft 161
Fragebogen für Vorderheckenerinnen und Vorderheckener 165
Milane zählen 168
Totgesagte leben besser 184
Aufmarsch der Vergeiger 204
Heilige Lügen 211
Als der Sargdeckel sich schloss, wimmerte sie, obwohl sie wusste, dass Erwin recht hatte. Vierunddreissig Ehejahre, und sie waren nicht schlecht gewesen, legte man nicht einfach zu den Akten. Er war ein guter Mensch gewesen. Wohl darum hatte es ihm an der geforderten Härte gefehlt. An Biss, wie es in den Stelleninseraten hiess. Jetzt wollte sie nur noch Begräbnis und Leichenmahl hinter sich bringen. Noch einen Nachmittag mit all den Leuten vom Dorf verbringen, die sie und Erwin schon seit ewigen Zeiten kannten, die aber doch keine Ahnung hatten und sich wunderten, Fragen stellten. Die Schande war minimiert, das wusste sie, aber immerhin. Immerhin war er im Alkoholrausch erfroren, draussen auf dem Feld, nachdem er sich auf dem Heimweg vom Löwen verirrt hatte – das war die offizielle Version – , und eben aufs Feld hinaus, in Richtung Hinterheckenen gegangen war, wo sie gar nicht wohnten, sie wohnten in Vorderheckenen, und so musste sein Rausch gross gewesen sein, sehr gross, denn er war genau in die entgegengesetzte Richtung gelaufen, Grappa habe er gehabt im Löwen, hiess es, was er sonst nie, gar nie gehabt hatte, er mochte Grappa gar nicht. Den Zettel, worauf mit roten Buchstaben «Verzeih, es ist besser für uns alle, ich liebe dich» geschrieben stand, hatte sie im Tagebuch versteckt, zusammen mit seinen knappen Anweisungen, und das Tagebuch wiederum im Tresor, dessen Code niemand je erfahren würde, damit auch nach ihrem dereinstigen Ableben nicht auskommen würde, dass er es vorher gewusst, nein geplant hatte und eben nicht zufällig in die falsche Richtung gegangen war.
Minus neunzehn Prozent, hat der Koller gesagt und diesen Lehrerblick draufgehabt, ich kann selber rechnen und habe die gleiche Zahl bekommen, neunzehnkommanull Prozent Umsatzeinbruch, im Jahresvergleich, eine Katastrophe. Was kann ich dafür, wenn alle Welt ihre Kleider nur noch online kauft? Was kann ich dafür, dass die Textilhandels-Kette es verpasst hat, auch in den Onlinehandel einzusteigen? Ich habe es ihnen vor Jahren vorgeschlagen, habe gesagt, besonders die Kleinstadtfiliale Letzlen werde es nicht schaffen, zu wenig Laufkundschaft, zu kleines Einzugsgebiet, aber auf einen unbedeutenden Filialleiter hört man ja nicht. Aber wenn das Konzept danach den Bach runtergeht, wechselt man erst mal den Filialleiter aus, damit der neue genau gleich scheitern kann, und nein, tut uns leid, in einer anderen Filiale gibt es auch nichts für Sie, nicht mal als einfacher Verkäufer. Tut uns leid, Herr Melchmeier, hat der Koller gesagt, aber wir müssen Sie auf Ende Jahr entlassen.
«Hildi … - kommst, Hildi? Es ist Zeit …» Jemand nahm sie sanft am Arm, wollte sie hinausgeleiten aus dem Friedhof, weg von dem zugefallenen, zugestossenen Sargdeckel, auf dem jetzt ein Berg Erde lag und ein Blumenmeer, weg von ihrem Erwin, weg von vierunddreissig Jahren Ehe, es war Anna, die gute Anna, Nachbarin seit vielen Jahren, eine kluge, stille Frau mit einem Herz bis zum Horizont. Und der war weit weg, in ihrem Dorf in der Ebene, man konnte bis zu den Alpen sehen und dahinter Italien ahnen, manchmal sah man sogar Blitze hinter den Bergen, ganze Kaskaden von Blitzen, die auf Italien niedersausten, es musste Italien sein, denn noch weiter sah man wohl doch nicht, bis zum Himmel über dem Mittelmeer oder gar über Afrika, es wäre verwegen gewesen, so etwas zu denken.
Heute war der Horizont aber nicht da, die Berge waren abgeschirmt von tiefhängendem Nebel, man sah kaum bis zum Ende der grossen Kirche, ihr Weiss versank in seinem Weiss, und der Kies auf dem Friedhofweg war feucht und knirschte, als sie sich unter Annas Obhut endlich in Bewegung setzte. Sie wollte vergessen, dass sie ein Geheimnis hatte, aber sie durfte sich nicht verraten, nicht einmal die Kinder sollten davon erfahren, das hatte Erwin geschrieben, niemand soll es erfahren, nur du, denn dich möchte ich nicht anlügen. Es waren nur zweihundert Meter bis zum Löwen, aber heute brauchte sie nicht zu Fuss zu gehen, Anna brachte sie zum Auto, das beim Eingang zum Friedhof wartete. Sie war froh, ins Polster zu sinken, Ruhe zu haben, nur Annas Alois sass vorne und fuhr den Wagen, und Anna sass hinten neben ihr und hielt schweigend ihre Hand.
Minus neunzehn. Nicht mal schön, diese Zahl. Wenn sie wenigstens etwas hergäbe, durch drei teilbar wäre oder eine Farbe oder die Struktur eines Gewebes hervorrufen würde im Kopf, so wie zum Beispiel hundert, hundert ist eindeutig silberfarben, in mattem Seidenschimmer, oder neun, das tiefe Blau eines Bergsees, von Leinen aufgesaugt. Aber minus neunzehn, das ist rein gar nichts, durchsichtige Plastikfolie oder weisse, ungekämmte, simpelste Baumwolle. Leichentuchbaumwolle.
Im Löwen war der grosse Saal in warmen Herbstfarben gedeckt, nicht in Silber, Gold und Rot wie an Weihnachten, auch nicht in den pastellenen, lichten Farben des Frühlings, den man gerne schon herbeigesehnt hätte, achtzig Leute, das halbe Dorf sozusagen, nur die Kinder nicht, Bettina hochschwanger und fluguntauglich in Lima, und Paul auf Montage in Alaska, was wollte man machen, Kinder wurden gross, und dann waren sie weg. Paul hatte versprochen, zum Dreissigsten zu kommen, ich kann dann dafür gleich drei Wochen bleiben, Mama. Wir müssen ja ein paar Dinge regeln, finanziell und so, und was ist mit dem Haus, bleibst du in dem Haus, Mama? Ist es nicht zu gross für dich allein, und etwas alt ist es doch inzwischen auch geworden. Du solltest dir eine moderne Wohnung nehmen, Mama.
Auf dem Mars ist es fast Höchsttemperatur, immerhin. Sagt die NASA-Sonde InSight, und die misst da auch eine Durchschnittstemperatur von minus einundsechzig Grad Celsius und eine Tiefsttemperatur von minus fünfundneunzig.Könnte man schon fast aushalten, Mars bei minus neunzehn Grad. Wenn man sich warm einpackte … Immer noch anständig kalt … Die Aufführung des Dorftheaters vor Jahren, da hat so eine echte Deutsche geflucht auf Schweizerdeutsch, läckischdaschalthütarschchalt hat die gesagt, auf Hochdeutschschweizerdeutsch mit einem ä in läck wie in Gärten, was nicht dem hiesigen Dialekt entsprach, und mit dem ch haperte es natürlich auch, aber das war ja die Absicht. Wie hat dieses Stück geheissen, irgendwas mit gefroren, genau, S gfrornig Härz, und einer ist im Suff erfroren, weil er hingefallen ist und es so kalt war. Wenn man betrunken ist, merkt man die Kälte nicht. Wieso eigentlich nicht? Jedenfalls, der arme Hund ist nicht nur verreckt, sondern es hat ihn auch keiner begraben wollen. Ein Unfall. Wenigstens ein angenehmer Tod. Es ist einem nicht kalt, wenn man betrunken ist. Deshalb erfriert man ja. Man meint, es sei einem warm, und schläft friedlich ein. Wie viel Alkohol braucht es und wie viel Kälte, damit es reicht?
Man schüttelte ihre Hand, sprach Mitgefühl aus für diesen unerklärlichen Unfall, Erwin, ausgerechnet der Erwin, kannte doch sein Dorf wie seine Hosentasche, wie konnte der falsch abgebogen sein, auf diesem kurzen Heimweg, und die Strassenbeleuchtung war auch an, wie immer, zudem war die Nacht klar, der Mond immerhin mehr als halbvoll, so viel hatte man schon nachgeforscht, ausserdem trank der Erwin eigentlich nicht, höchstens mal ein Bierchen am Feierabend, wenn es hoch kam auch mal zwei. Am Mittwoch hatte er plötzlich Grappa bestellt, der Löwen war darauf spezialisiert und hatte zwei Dutzend Sorten zur Auswahl, bring doch mal die Grappakarte, hatte er zu Franz, dem Wirt, gesagt, und Franz hatte sich gewundert, aber immerhin, Umsatz ist Umsatz, und so hatte Erwin am Stammtisch, gut sichtbar für alle, ein halbes der zwei Dutzend Sorten durchprobiert. Franz hatte gefragt, Erwin, was ist denn mit dir los, aber Erwin hatte gelacht und gesagt, nichts, ich hab was zu feiern, aber es geht euch gar nichts an, und eine Runde für alle hatte er schliesslich auch noch spendiert, von der Sorte, die ihm von den sechsen am besten gefallen hatte.
Nun sass Hildi genau an seinem Platz, was sie nicht wusste, aber der Franz, der wusste es, und es schauderte ihn. Er hatte zuerst das Leichenmahl gar nicht übernehmen wollen, es erschien ihm makaber nach dem Erfrierungstod eines alten Bekannten und langjährigen Gastes, Erfrieren bei minus vier Grad durch Alkoholeinfluss. Durch Grappa aus seinem Haus. Aber Hildi hatte darauf bestanden, der Löwen war das einzige Restaurant mit Niveau im Dorf, nicht so ein Spunten wie die anderen zwei, in denen am Stammtisch dummes Zeug gefaselt wurde, alle Flüchtlinge Schmarotzer, wer arbeiten will, findet Arbeit, die netten Linken sind an allem schuld. – Wer war an Erwins Tod schuld? Nicht Franz, aber das wusste nur Hildi, und Franz würde sich für den Rest seines Lebens mitverantwortlich fühlen. Er hatte dann nachgegeben, unter der Bedingung, das Leichenmahl wenigstens auf seine Rechnung auszurichten, ganz allein und vollumfänglich auf seine Rechnung, und der Wein, den er offerierte, war der feinste aus seinem Keller, ein Sizilianer, Nero d’Avola, er kannte da unten einen Weinbauern, den er regelmässig besuchte, mit einem kleinen Weingut, biodynamisch.
Minus neunzehn Jahre. Da war ich vierzig. Mit vierzig kann man noch eine neue Arbeit finden. Wenn man Glück hat. Es ist wenigstens nicht ausgeschlossen, nicht wie mit neunundfünfzig. Da kann man es vergessen, besonders als Fachmann für Herrenkonfektion und als Filialleiter. Mich stellen sie nicht mal in einer grossen Lebensmittelkette an: Haben Sie eine Ausbildung im Lebensmittelbereich? Oder wenigstens für Sportartikel? Wir haben keine Fachleute für Bekleidung, brauchen wir nicht, niemand kauft bei uns Massanzüge oder will etwas über die Materialien unserer Billig-Linie wissen, interessiert doch keinen, nur das Preisetikett, wir sind schliesslich kein Haute-Couture-Geschäft. – Mit neunundfünfzig soll Mann noch sechs Jahre lang arbeiten, aber gleichzeitig lassen sie einen nicht. Da helfen auch die neuen Massnahmen zur Abfederung der Altersdiskriminierung nicht – immerhin, sie füttern die Diskriminierten jetzt etwas besser durch, wenigstens die Ausgesteuerten ab sechzig, aber das ist nicht der Punkt. Der Punkt ist: Recht auf Zugang zum Arbeitsmarkt, Schutz vor Arbeitslosigkeit. Steht in der Verfassung. Das Diskriminierungsverbot ist sogar ein Menschenrecht: Recht auf Gleichbehandlung. Interessiert aber keine Sau. Neunundfünfzig, zu teuer, Pech gehabt, die Verfassung kann schliesslich nicht für jedes biblische Alter gelten, oder. Mein Herz ist auch gefroren, die freie Marktwirtschaft ist ein Tiefkühlgerät für Leute meines Alters. Hildi guckt verzweifelt, mit jeder Absage verzweifelter, und wie ich hat auch sie seit Wochen keine vier Stunden am Stück geschlafen.
Auch beim Mahl liess Franz sich nicht lumpen, mit einer tiefen Furche über der Nase servierte er mit Hilfe seiner Frau und zweier Angestellter hausgemachte Tortellini in Brodo und danach Platten mit italienischen Vorspeisen, Bresaola, Bruschetta mit Tomaten und etwas Knoblauch, sogar Prosciutto di Parma mit Melone war dabei, wo hast du die Melone aufgetrieben, fragte einer, es war Alwin, ach, sagte Franz nur und machte eine wegwerfende Handbewegung, rund um die Furche war sein Gesicht kreidebleich, Hildi sah es und holte tief Luft, sie schwieg, als Anna sie besorgt anschaute.
Niemand braucht zu erfahren, dass es kein Unfall war. Wenn ich es gleich im Januar tue, kann ich noch sagen, ich hätte Ferien, und im Januar ist es kalt genug, jedenfalls in der Nacht, jedenfalls in mindestens einer Nacht. Ich werde mich für einmal betrinken. Im Löwen, sodass es alle sehen. Nur Hildi werde ich es sagen. Es wird ihre Rettung sein, nicht nur finanziell. Es wird ihren Ruin abwenden, meinen sowieso … aber vor allem ihren. Sie wird gut durchkommen mit der Witwenrente, besser als mit der Sozialhilfe, und vor allem ohne Schande: Witwe geworden durch Unfall, der Alte sauber entsorgt – naja, verhältnismässig sauber –, nachdem seine Existenzberechtigung abgelaufen ist. Warum ist es eine Schande, wenn einer seines Rechts auf Arbeit beraubt wird, eine Schande für den Beraubten und nicht etwa für den Räuber?
Ein trauriger Unfall, hörte man es überall raunen, man schüttelte den Kopf, runzelte die Stirn, konnte es immer noch nicht glauben, wie konnte das ausgerechnet dem Erwin passieren, und was hatte er eigentlich zu feiern gehabt an dem Abend, da er plötzlich auf den Grappa-Geschmack kam? Es verbot sich, am Leichenmahl darüber zu spekulieren oder gar Hildi zu fragen. Man prostete sich mit dem Nero d’Avola zu, in Sizilien hätte so ein Unfall nie passieren können, zu wenig kalt, man merkte es dem Wein an, auf Erwin, auf dich, Hildi, auf das Leben, trotz allem. Dann fuhr Franz einen edlen Grappa auf, sein Gesicht jetzt grau, aschfahl, und Hildi dachte, armer Franz, ich kann gar nicht mehr zusehen. Erwin will, dass du nie erfährst … Sie zögerte einen Moment, bevor sie sich langsam erhob, hilf mir, sagte sie zu Anna, die neben ihr sass. Stütz mich, ich habe etwas zu sagen. Anna schaute erstaunt, nickte, schlug den Löffel ans Glas, bis alle schwiegen und zu Hildi schauten, die jetzt stand, ganz aufrecht stand sie, stolz, den Blick geradeaus, knapp über die Köpfe der Sitzenden hinweg. Zu Franz schaute sie, der inmitten der Leute stand mit seinem Tablett voller Grappagläser, Franz, sagte sie, ich muss dir etwas sagen, dir vor allem und auch allen anderen. Franz blieb stehen wie angeschraubt, Franz, du bist nicht schuld, es war keine Laune, dass er so viel Grappa getrunken hat, und du hättest es nicht verhindern können. Es war … Hildi spürte, wie ihre Beine zitterten, lieber die Beine als die Stimme, sie spürte Annas Gegenwart dicht neben sich.
Im Löwensaal in Vorderheckenen war es totenstill.
«Es war kein Unfall. Er hat es mir geschrieben. Er wünschte, dass nur ich das weiss, aber ich kann diesem Wunsch nicht entsprechen. Nicht, wenn es zu deinen Lasten geht. Und zu meinen. Er hat es gut gemeint, aber es funktioniert nicht.»
Franz starrte sie an, immer noch reglos, verstand noch nicht recht.
«Vor allem sehe ich nicht ein, warum einer, wenn er mit neunundfünfzig seine Arbeit verliert, damit auch seine Existenz verliert … Dass man in diesem reichen Land in diesem Alter keine neue Stelle mehr finden kann. Und sich auch noch dafür schämen muss.»
Nun schauten die Leute einander an, und ein Raunen ging durch den Saal.
«Und von der Sozialhilfe zu leben ist nicht nur demütigend, es gilt auch immer noch als Schande. Warum, weiss ich auch nicht. Ich weiss nur, dass Erwin sich und mir dies ersparen wollte.»
Ein Klirren zerschnitt die erneut eingetretene Stille. Franz hatte das Tablett fallen lassen.
«Deshalb mache ich hier und jetzt unseren Staat für Erwins Tod verantwortlich. Den Staat, der im Interesse der freien Marktwirtschaft gerne wegschaut, wenn reihenweise Leute ins Nichts gestürzt werden. – Und von euch allen will ich nie, nie ein abschätziges Wort hören über die Art, wie Erwin das Leben verlassen hat.»
Es war wieder still. Die Leute schauten angestrengt zu Boden, wagten nicht, sich zu rühren. Nur Franz schaute ihr direkt ins Gesicht, entsetzt, noch lange nicht erleichtert, noch lange nicht gewahr, dass die Bürde von ihm genommen war.
«Und jetzt brauche ich noch einen Grappa, Franz.»
Ihr Name war Astrid, aber hinter vorgehaltener Hand nannte man sie im Dorf nur Kugelblitz. Der Grund war einerseits augenfällig: Sie war so breit wie hoch und auf mittlerer Körperhöhe am besten gegen alle sie möglicherweise ereilende Unbill der Welt gepolstert. Um jedwede ebensolche auch weiterhin effizient von ihrem Innersten fernzuhalten, war sie stets dabei, sich irgendetwas in den Mund zu stecken, wo und wann immer man sie antraf. Kurz und gut: Astrid sah aus wie eine Kugel, von vorne, von hinten und von der Seite, von oben und von unten.
Für den anderen Teil ihres Namens war Hintergründigeres verantwortlich: Es hiess im Dorf, sie mache ihrem Mann, dem zierlichen Lukas, dann und wann mit einem häuslichen Gewitter derart zu schaffen, dass dieser sich schon mehr als einmal ins Männerhaus habe flüchten müssen. Bei den Nachbarn waren ihre Ausbrüche legendär; wurden diese von anderen Dorfbewohnern auf die Vorgänge im Hause Kugelblitz’ angesprochen, rollten sie nur mit den Augen. Nicht zuletzt hatte Astrid ihren Spitznamen aber auch dem Umstand zu verdanken, dass ein Nachbar, der seit seiner Pensionierung etwas gelangweilte, aber findige Gottlieb Almer, von Beruf Meteorologe gewesen war, grundsätzlich alles, was ihm begegnete, mit einem Wetterphänomen verglich.
Astrid nun, seit ihrer Geburt vor sechsunddreissig Jahren im selben Haus mit ihrer Mutter und seit ihrer Heirat vor vier Jahren auch mit Lukas in einem Haushalt wohnend, hatte ihr explosives Temperament auch nicht gestohlen, wie man sich hier einig war: Ihre Mutter, Annerös Strobel, geborene Lupfiger, war genau gleich gewesen und nur deshalb um einen Spitznamen herumgekommen, weil ihre früheren Nachbarn nicht so kreativ gewesen waren wie der Meteorologe Almer, und weil ihr Nachname ohnehin passend genug war, dass Kreativität gar nicht bemüht werden musste: «Die Lupfi hat es dem Otto letzte Nacht wieder ordentlich gegeben», hiess es da, und jeder stellte sich unwillkürlich so etwas wie einen Hosenlupf vor, was Augenzeugenberichten zufolge ziemlich exakt den Vorgängen hinter nachlässig zugezogenen Gardinen in dunklen Winternächten entsprach.
Klein Astrid aber wurde, ganz im Gegensatz zu ihrem Vater, von Mutter Lupfi gehätschelt und mit Kuchen und Keksen über die häuslichen Gewitter hinweggetröstet. «Geh in die Küche, Schatz, da gibt es noch von dem feinen Schokoladenkuchen. Nimm dir ein Stück und geh dann wieder in dein Zimmer», hatte die Lupfi ihrer Tochter komplizenhaft zugeraunt, mit den Augen gezwinkert und gewartet, bis Astrid ausser Sichtweite war, bevor sie ihren wehr- und bis auf den letzten Tag fassungslosen Otto abermals mit einem einfachen Judogriff zu Boden warf, sich auf ihn setzte und ihm mit Fäusten, Fingernägeln, Zähnen und dem Gift, das in vielen Wörtern steckt, erklärte, wo Gott hockte.
Astrid hätte eigentlich von dem, was dann folgte, lernen und sich für einen anderen Weg entscheiden können. Aber nein, sie wurde eine perfekte Kopie ihrer Mutter; die meisten Dorfbewohner schüttelten nur den Kopf über die Sturheit dieses Weibsgrinds, wie sie es nannten, und fragten sich, wie das noch herauskommen sollte.
Was dann gefolgt war, war nämlich dies gewesen: Otto hatte eines Tages tatsächlich die Schnauze voll davon, mit einem Koloss auf dem Bauch auf dem Rücken liegend zu winseln, nur weil er es gewagt hatte, nach einem langen und harten Arbeitstag als Staubsaugervertreter zu erwähnen, dass er müde sei, oder weil er am Sonntag den Wunsch geäussert hatte, eine halbe Stunde lang in Ruhe die Zeitung zu lesen. Als Lupfi ihn also eines Abends im März 1999 wieder auf den Rücken legen wollte, sprang er nicht nur behände zur Seite, sondern begann unverzüglich, seine längst verhasste Alte mit einer Tirade der übelsten Schimpfwörter zu besprühen; die Wörter kamen tief aus seiner Brust, wo sie sich in sechzehn viel zu langen Ehejahren angehäuft hatten. Die Brust beherbergte ein Matterhorn von gesammelten Fluchwörtern, ein Arsenal an Beleidigungen, Verwünschungen und Wüstem aller Art, und jetzt schaufelte er sie alle bis zum hinterletzten Rest der Reihe nach von innen nach aussen, nichts war mehr recht an Lupfi, und alles, was nicht recht war, schrie er der vor Überraschung und mit Gegenwehr gänzlich unbewanderten Lupfi an den Kopf, sodass diese darob das Lupfen vergass und sich mit zunehmendem Entsetzen anhören musste, was aus ihr geworden war. Als die ganze Wahrheit draussen lag, war Otto innen leer und brach zusammen. Die 16-jährige Astrid hatte das alles schweigend und kauend verfolgt, und schweigend und kauend war sie auf ihr Zimmer gegangen, als ihr Vater von der Ambulanz abgeholt und in eine Klinik gebracht wurde, aus der er nicht mehr zurückkehrte.
Die grosse verständnislose Mehrheit im Dorf behauptete, Astrid hätte schon lange eingreifen können, da sie schon seit dem Alter von elf Jahren ihrer Mutter an Grösse und Gewicht ebenbürtig gewesen sei und es mit dieser hätte aufnehmen können, aber der Kuchen sei ihr eben wichtiger gewesen. Die «Gspürschmi»-Seite hingegen hatte Erbarmen mit diesem unglücklichen Kind und schob alle Schuld der Mutter zu, die Astrid durch Kuchen und schlechtes Vorbild ihr späteres Verhalten geradezu aufgezwungen habe. Eine noch verständnisvollere dritte Fraktion im Dorf, sozialpädagogisch-psychologisch gebildet, ging noch einen Schritt weiter und meinte, nicht nur Lupfi habe ihr Verhalten an ihre Tochter weitergegeben, sondern sie selbst sei bereits Opfer einer dysfunktionalen Familiendynamik gewesen und somit eine tragische, aber unschuldige Gestalt, die gar keine andere Wahl gehabt habe, als aus ihrem Kind eine Kopie ihrer selbst zu machen.
Astrids massgefertigtes Gegenstück und mithin die Kopie ihres Vaters fand sich im Nachbardorf Hauenau, wohin Astrid sich zum jährlich stattfindenden Fasnachts-Maskenball zu begeben pflegte, seit sie Auto fahren konnte, und wo sie den dünnen und stillen Lukas seit Jahren im Auge gehabt hatte, der allerdings zuerst in mühsamer Pickelarbeit und mit beeindruckender Beharrlichkeit von seiner langjährigen Freundin losgeeist werden musste, die auch nicht gerade ein Püppchen war, aber schlussendlich gegen die Urgewalt des Kugelblitzes die Waffen strecken und Lukas seinem noch übleren Schicksal überlassen musste. Dieser zog zu Astrid, die schon einige Jahre zuvor ihre nunmehr verbitterte und zunehmend diabetische Mutter in den ersten Stock des Hauses verbannt hatte, sodass Astrid seitdem die uneingeschränkte Herrscherin des Erdgeschosses samt Küche war.
Nun, vier Jahre nach der Eheschliessung, harrte man gebannt eines noch frühzeitigeren Endes der Geschichte als bei Kugelblitz’ Eltern – indem nämlich Lukas ebenfalls zusammenbrechen und in der Klapsmühle landen würde, wo er endlich seinen Schwiegervater würde kennen lernen können, von dem man ihn mit allerlei Ausreden, etwa derjenigen, dass Besuche die Gesundheit des Versorgten zusätzlich gefährden könnten, ferngehalten hatte.
Nach dem allgemein anerkannten Grundsatz, dass psychologische Theorien desto zuverlässiger sind, je pessimistischer sie sind, darf man sagen: Das, was nun folgte, war nicht normal. Es war ein Wunder.
Eines Abends am Ende eines kalten Novembers nämlich klopfte es dreimal laut und deutlich an Kugelblitz’ Haustür, und Lupfi krähte vom ersten Stock herunter, Lukas solle gefälligst sofort öffnen gehen und den späten Störenfried dazu bringen, nullkommaplötzlich mit dem Radau aufzuhören und schnellstens zu verschwinden; sie habe schon geschlafen. Lukas, der gehorsame Esel, huschte eilig zur Tür, um den Besucher daran zu hindern, erneut anzuklopfen und so den Zorn der Alten weiter zu nähren. Astrid indessen, mit dem Rest eines Streuselkuchens beschäftigt, blätterte im Goldenen Magazin und kümmerte sich weder um den unangekündigten Besuch noch um ihre keifende Mutter. Sie las von langmähnigen Aussteigerprinzen, blonden Gräfinnen und dem siebzigsten Geburtstag einer Star-Astrologin. Wohl deshalb, weil sie so vertieft war in ihre goldenen Geschichten, fiel ihr erst nach einer ganzen Weile auf, dass Lukas nicht wieder zurückgekommen war, seit er zur Tür gegangen war. Astrid stemmte ihre wabernde Körpermasse unter beachtlicher Belastung des Wohnzimmertisches in die Höhe und schleppte sie unter Rufen nach Lukas in Richtung Wohnungstür. Von oben bellte die Lupfi, sie solle Ruhe geben, aber Astrid, die wusste, wer im Haus das Sagen hatte, rief ihrer Mutter nur zu, sie solle sich lieber ihr Insulin spritzen, als herumzukommandieren. Lukas antwortete auch nach ihrem dritten, nunmehr kläglichen Rufen nicht, und als Astrid endlich bei der Wohnungstür anlangte, stellte sie fest, dass weder hinter noch vor dieser sich irgendein Mensch befand, schon gar nicht ihr Lukas.