Heilung beginnt bei mir - Alexandra Leyer - E-Book

Heilung beginnt bei mir E-Book

Alexandra Leyer

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Beschreibung

Emma, 21 Jahre jung, ist voller Pläne und feiert das Leben auf Partys in vollen Zügen, bis sie eine Diagnose erhält: Multiple Sklerose. Sie ignoriert jede Konfrontation bei der sie in Berührung mit ihrer Multiplen Sklerose kommen könnte, denn sie will diese nicht wahrhaben. Als die Krankheitsaktivität jedoch rapide zunimmt, erkennt Emma die Kraft ihrer Erkrankung. Sie hat das Gefühl die Kontrolle über ihren Körper verloren zu haben und greift nach Strategien, um sich die Kontrolle wieder zurückzuholen. Die Absicht, ihren Körper mit gesunder Ernährung und Sport wieder in Form zu bringen, endet in der nächsten Erkrankung: einer Essstörung. Der Teufelskreis beginnt. Obwohl sie zunehmend die Kontrolle über ihren Körper verliert, braucht sie die Essstörung, um sich sicher zu fühlen. Dabei hat sie weder sich selbst noch ihren Körper oder die Multiple Sklerose unter Kontrolle. Emma hat die Kontrolle über die Kontrolle verloren und erschafft sich einen Käfig, in den sie niemanden hinein- und sich nicht mehr herauslässt. Sie verschließt dabei die Augen vor der Tatsache, dass sie nur einer vermeintlichen Sicherheit hinterherjagt. Ihre Lebensweise führt sie zunehmend in die soziale Isolation. Erst Jahre später erkennt sie, dass nur sie den Schlüssel besitzt, um sich aus diesem Käfig zu befreien. Doch trotz der Erkenntnis liegt noch ein weiter Weg vor ihr. Sie muss erst ihr Herz für sich selbst öffnen, um über die Entdeckung von tief verborgenen Wahrheiten endlich den Käfig zu entriegeln, um aufrecht in ein erfülltes Leben gehen zu können.

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Seitenzahl: 376

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Mit diesem Buch gebe ich das Wissen, welches ich während der Jahre meines Heilungsweges erfahren durfte, an Dich weiter. Denn ich hätte mir damals wirklich gewünscht zu wissen, dass Heilung möglich ist. Ich habe es geschafft, mich auf den Weg in ein friedvolles Leben zu begeben. Und Du kannst das auch! Mit Emmas Geschichte leite ich meine Botschaft an Dich weiter: Genau so wie Du bist, bist Du richtig!

Über die Autorin

Alexandra Leyer, geboren 1991, lebt in der Nähe von Münster. Dort ist sie tätig als Krankenschwester in einer Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik.

Alexandras ursprüngliche Neugier auf Wachstum in spiritueller und persönlicher Hinsicht wurde zu einer Lebenshaltung. Diese Haltung lebt sie mittlerweile leidenschaftlich sowohl als nebenberufliche Bloggerin als auch Beraterin aus.

Alexandra geht ihren Weg mit ganzheitlichem Bewusstsein, hierbei sind Achtsamkeit, Yoga und Meditation stete Heilungsbegleiter.

Nach Drucklegung dieses Buches widmet sich Alexandra ihrer nächsten Aufgabe zu, um nun als Meditationsleiterin einen Teil ihres Heilungsansatzes weitergeben zu können.

Mehr über Alexandra www.instagram.com/wunderflecken

„Nur wenn ich meine Sorgen, Zweifel und Ängste liebevoll da sein lasse und nicht mehr gegen meine Gefühle ankämpfe, werde ich wirklich frei sein.“

Laura Malina Seiler

Inhaltsverzeichnis

Wie ich verschwand

Als ich die Tür verriegelte

Und aus Angst wurde Sehnsucht

Hilfe!

Wenn Heilung doch nur einfach wäre

Weil Wahrheit heilt

Sobald ich anfing loszulassen

Danksagung

Wie ich verschwand

Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als wir im Auto auf dem Weg nach Köln waren, um eine Wohnung für mich zu finden. Ich freute mich riesig über die Studienzusage in Köln, doch alles Andere in meinem Leben fühlte sich gar nicht gut an.

Im Außen schien alles im Einklang zu sein. Der Himmel schön grau, der Regen so schwer. Der Regen fiel so stark, dass ich mich am liebsten darin verstecken wollte. Es war angenehm warm im Auto und das ungemütliche Wetter führte dazu, dass ich mich noch besser damit fühlte, mich schlecht zu fühlen. Seltsam, aber irgendwie schön. Das Wetter passt zu mir, dachte ich, während ich durch die Autoscheibe kaum etwas erkennen konnte. Genauso wenig wie ich mein Leben erkennen konnte. Die Stimmung der Welt da draußen mit der Welt in mir drin passte einfach. Es war schön. Schön grau.

Meine Mutter saß neben mir am Steuer und fuhr das Auto. Schließlich war ich gar nicht in der Lage dazu, die Autobahn zu befahren. Sie sprach nicht viel. Sie schien müde zu sein. Kein Wunder - bei so einer Tochter. Ihr Blick wirkte müde und erschöpft.

Der Regen prallte weiter laut gegen die Autoscheibe und meine Mutter konzentrierte sich auf die nasse Straße der Autobahn.

Obwohl die Wohnungssuche wieder keinen Erfolg gezeigt hatte, juckte mich das wenig. Es war mir zwar nicht egal, wieder keine Wohnung gefunden zu haben, aber ich hatte keine Kraft mehr, mich darüber aufzuregen. Ich hatte keine Kraft mehr über andere Dinge traurig zu sein, mich über andere Dinge und Menschen aufzuregen, die sowieso nichts an meiner Lebenssituation ändern konnten. Es war halt so wie es war. Ich hatte weder Lust noch Energie, mein Gehirn dazu anzutreiben, nachzudenken oder mich aufzuregen. Vielmehr dachte ich darüber nach, wie mein Leben weitergehen sollte. Ich drehte meinen Kopf seitlich nach rechts Richtung Fenster und bemerkte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten. Doch ich ließ sie nicht raus. Wie in den vergangenen Jahren beschloss ich auch nun, meine Tränen bei mir zu halten. Meine Mutter sollte nicht mitbekommen, wie es in meinem Inneren aussah, auch wenn meine körperliche Verfassung schon deutlich genug ausstrahlte, wie es mir wohl gehen könnte.

Ich steckte mal wieder mitten in einem heftigen Schub.

Danke Multiple Sklerose.

Genau wie meine Mutter sprach auch ich kaum ein Wort. Einmal legte sie ihre Hand sanft auf meinen Oberschenkel.

„Ach, Mensch, das wird alles schon, aber erstmal fahren wir wieder nach Hause.“

Sie lächelte hoffnungsvoll und konzentrierte sich weiter auf die Straße.

Ja, nach Hause, dachte ich, wo auch immer das gerade ist.

Auch wenn ich mit zwei Studenten in einer Wohngemeinschaft wohnte, fühlte sich Heimat anders an. Zu dieser Zeit wohnte ich übergangsweise jedoch in meinem Elternhaus. Denn zu dieser Zeit war mein Zuhause dort, wo meine Familie wohnte. Dort, wo man sich um mich sorgte. Dort, wo ich nicht alleine war, obwohl ich alleine gelassen werden wollte.

Ich fühlte mich während der Fahrt wie in einer Blase gefangen. Alles um mich herum schwebte und floss nur so dahin. Alles lebte und war doch irgendwie tot. Ich hatte das Gefühl, als würde alles um mich herum einfach geschehen, ohne dass ich einen Einfluss darauf haben könnte. Ich war machtlos und fühlte mich abgeschnitten von dem Rest der Welt. Also starrte ich teilnahmslos weiter in das Unwetter. Ich war nicht zutiefst traurig, aber auch nicht glücklich. Ich konnte keine eindeutige Emotion benennen. Ich konnte diesen Zustand nicht greifen oder beschreiben. Es fühlte sich einfach leer an. Ein bisschen melancholisch, aber schön. Wie ein Kind bestaunte ich die harten Regentropfen, die immer noch laut gegen die Fensterscheiben prallten. Irgendwie ähnelte das einem Zustand der Trance. Wie auch immer sich das anfühlen würde, jedenfalls stellte ich mir so eine Trance vor.

„Ich frage mich, ob das Wetter was mit den Gefühlen der Menschen zu tun hat. Passt es sich wohl an?“, fragte ich meine Mutter.

„Keine Ahnung, ist mir auch egal. Ich hoffe einfach, dass es bald aufhört zu regnen, damit ich die Straße mal wieder richtig erkennen kann. Ich bekomme hier gleich die Krise. Die scheiß Straße spiegelt sich und so langsam hab‘ ich echt keinen Bock mehr. Vor allem, wenn ich daran denke, wie viele Kilometer wir noch vor uns haben!“

Während meine Mutter weiter über das Unwetter schimpfte und einfach nur ankommen wollte, fühlte ich mich inmitten des Unwetters weiterhin wohl.

Ich saß einfach da, präsent im jetzigen Moment und ließ alles so, wie es sein gelassen werden wollte. Na gut, bis auf meine Tränen, die hielt ich zurück. Aber meine Gedanken zogen vorbei, ich hielt nicht an ihnen fest wie sonst. Ich habe keinem Gedanken meine Aufmerksamkeit durch eine Bewertung geschenkt, sondern war schon fast gedankenfrei. Ich beobachtete das Wetter und spürte die Kraft der Natur. Ich leistete weder meinen Gedanken noch meinem Gefühl Widerstand, wodurch ich zugleich frei von schweren Emotionen war. Da entsprang ein Gefühl von friedvoller Leere in mir, wodurch ich mich schwerelos fühlte. Es war schön – wirklich schön.

In diesem Moment hatte ich auch noch die Reste des Cortisons in mir. Cortison ist ein richtiges Teufelszeug. Cortison und ich kennen uns seit dem Jahr 2012. Ich spürte bei jeder Gabe Cortison zahlreiche Nebenwirkungen. Es fühlte sich an, als würde ich unter Wasser sein, als wäre ich in einer Hülle gefangen und weder meine Gedanken noch mein Körper würden an der Umwelt teilhaben. Es fühlte sich an, als wäre ich getrennt von allem, was mich umgibt. Auch das Atmen fiel mir schwer und ich schwankte als sei ich betrunken. Ich konnte mir kaum noch irgendetwas merken und meine Stimmung war sehr gedrückt. Depressionen hatte ich sowieso schon. Ich hatte außerdem extreme Wassereinlagerung, was mein Selbstbild über meinen Körper deutlich minderte. Ich musste alle halbe Stunde zur Toilette, um die überschüssige Wassereinlagerung loszuwerden, wodurch auch mein Schlaf mangelte. Obwohl ich dadurch eigentlich müde hätte sein müssen, war ich durch das hochdosierte Cortison unruhig, unkonzentriert und durcheinander. Auch das Sehen fiel mir sehr schwer.

Das sind die typischen Nebenwirkungen von einer hohen Dosis Cortison, die erfahrungsgemäß von den Ärzten leider nicht ernst genug genommen werden und sowohl unterschätzt als auch nicht kommuniziert werden.

Mein Schub bestand diesmal darin, dass meine rechte Flanke plötzlich taub wurde. Zuerst dachte ich, ich hätte mir einen Nerv eingeklemmt, aber mein Neurologe war fest davon überzeugt, dass es etwas mit der Multiplen Sklerose zu tun hätte. Seine Diagnose festigte sich, als sich die Taubheit dann in meinen Beinen ausbreitete und anfingen zu Kribbeln.

Wenn durch die MS (Multiple Sklerose) ein akuter Schub auftritt, bekommt man in der Regel fünf Tage lang je 1000 mg Cortison durch eine Infusion verabreicht. Manche Betroffene lassen sich im Krankenhaus behandeln, andere entscheiden sich für den ambulanten Weg. Ich lasse mich nur noch ambulant behandeln. Ich war mit dieser Prozedur und den Nebenwirkungen bereits so vertraut, da wollte ich nicht noch in einem Krankenbett liegen.

Es gibt verschiedene Verlaufsformen bei der MS. Bis dahin hatte ich einen schubförmigen Verlauf. Fachsprachlich: schubförmig remittierende MS (RRMS). Das bedeutet, dass die Multiple Sklerose durch das Auftreten von einzelnen abgrenzbaren Schüben kennzeichnet ist, die in der Regel direkt mit einer Cortison-Stoßtherapie behandelt werden, wodurch sich die Schübe dann teilweise oder auch ganz zurückbilden können.

Dieses Mal bekam ich allerdings nur drei Tage lang je 1000 mg Cortison, da dieser Schub u.a. nicht gravierend in meine körperliche Funktion eingriff und gut behandelbar erschien. Die Nebenwirkungen des Teufelszeugs waren schlimmer als der Schub selber. Für mich waren drei Tage also völlig okay. Sonst waren es immer fünf Tage. Fünf Tage Hölle. Aber dieses Mal nur drei. Als hätte jemand geahnt, was noch passieren würde.

Die Autobahn war mittlerweile sehr voll geworden und der Regen erlaubte es immer noch nicht, schneller zu fahren. So langsam wollte ich aber auch einfach nur ins Bett. Ich wollte nach Hause. Generell wollte ich ankommen. Endlich ankommen, wohin auch immer. Ich suchte schon seit Wochen das Weite. Eine andere Stadt, eine neue berufliche Perspektive, eine völlig neue Orientierung. Einen Ausweg. Eine Nadel, die meine Blase, in der ich lebte, zum Platzen bringen würde.

Während mir all diese Gedanken durch den Kopf gingen, bemerkte ich, dass ich plötzlich unruhig wurde. Sanft ballte ich meine Hände zu Fäusten und tippte auf meine Oberschenkel, während ich mir einredete, dass ich einfach nur gesund werden müsse. Denn dann würde ich endlich glücklich sein und alles würde perfekt werden. Den Studienplatz in Köln hatte ich ja schließlich schon. Aber warum konnte ich nicht wie all die anderen Menschen sein? Einen Job haben, körperlich fit sein, Freude an den alltäglichen Dingen des Lebens haben und mit Leichtigkeit, Spontaneität und Gelassenheit dem Alltag begegnen? Ich will einfach wieder glücklich sein, dachte ich.

Als wir zu Hause ankamen, leuchtete nur noch unten im Flur das Licht, welches mein Bruder wie immer vergessen hatte auszumachen. Vielleicht behauptete er am nächsten Tag auch jedes Mal, er hätte es vergessen, weil ihm sein eigentlicher Grund für das „Vergessen“ peinlich war: Licht könnte nachts Einbrecher abschrecken. Mein Bruder Marvin war immer schon etwas ängstlich.

Unten im Flur zog ich schnell meine Schuhe aus. Ich konnte meine Augen kaum noch offen halten und wollte einfach nur ins Bett. Ich wollte gerade über die Treppe nach oben in mein altes Kinderzimmer gehen, doch bevor ich die zweite Stufe betrat, hörte ich aus dem Mund meiner Mutter leise meinen Namen. Ich schaute zu meiner Mutter, die auf mich zulief und mich dann ohne Vorwarnung sanft in den Arm nahm. Ich reagierte sprachlos, während ich ihre liebevolle Umarmung genoss; auch wenn ich sie nicht erwiderte, ich ließ es dennoch zu.

„Emma, wir sprechen morgen, okay? Ich muss jetzt auch ins Bett. Ich muss morgen wieder früh raus zur Arbeit.“

Ihre Augen sahen glasig und klein aus. Ich verspürte beim Anblick ihres erschöpften Gesichts ein Schuldgefühl, weil sie mich schon wieder hin und her fahren musste, obwohl sie doch ihr eigenes Leben hatte, worum sie sich kümmern müsste. Auch wenn ich ihr mit meiner Körpersprache wie z.B. einer Umarmung nicht zeigen konnte, wie dankbar ich ihr mal wieder war, bedankte ich mich durch kurze Worte für ihre Unterstützung. Ich setzte ein simulierendes Lächeln auf und verhielt mich so, als würde ich mir sicher sein, dass ich bald wieder ganz fit und selbstständig werden würde.

„Danke Mama, das war auch das letzte Mal. Bald bin ich kein kleines Kind mehr. Das Cortison ist ja jetzt durch und ich bin auf dem Weg der Besserung.“

Ich hatte oft das Gefühl als sei ich immer die Hilflose, die, die nie erwachsen werden könnte, weil sie ständig einen Misthaufen voller Probleme hatte. Ich wollte endlich mal diejenige sein, die frei von Problemen war, die, die für sich selbst sorgen konnte. Vor allem mit Anfang 20! Deswegen sprach ich nie darüber, wie es mir eigentlich ging. Meiner Oma und meiner Mutter konnte ich aber nichts vormachen. Sie spürten immer, wenn etwas mit mir nicht in Ordnung war. Trotzdem sprachen wir nicht darüber.

Nachdem ich es geschafft hatte, mir im Badezimmer die Zähne zu putzen, mich abzuschminken und mir meinen Schlafanzug anzuziehen, setzte ich mich erschöpft auf mein Bett in meinem alten Kinderzimmer.

Das Haus war still. Mein jüngerer Bruder, meine Mutter und mein Stiefvater schliefen. Wenn mein aktuelles Gefühl ein Geräusch von sich geben könnte, hätte es wohl jeden in diesem Haus aus dem Schlaf gerissen. Ich dachte darüber nach, dass alle morgen früh aufstehen werden, um ihren Alltag aufzunehmen. Um zur Arbeit zu gehen, um Freunde zu treffen, um Hobbys nachzugehen und … und? … und ich? Ich werde morgen während all der sinnvollen Tätigkeiten meiner Familienmitglieder wie ein klobiger, hilfloser Sack im Wartezimmer meines Neurologen sitzen. Das ärgerte mich!

Der Vergleich meines Alltages mit dem meiner Mitmenschen sorgte in mir für Wut und Trauer zugleich. Mein Brustkorb fühlte sich eng an und ein Kloß in meinem Hals machte sich bemerkbar. Und obwohl ich schon immer Schwierigkeiten hatte zu weinen, nahm die erste Träne ihren Lauf. Danach waren es noch drei oder vier weitere. Diese Tränen machten mir hingegen schnell Angst, also beschloss ich, meine Tränen wieder in mir zu behalten - wie immer. Ich schluckte alle unangenehmen Gefühle wieder hinunter. Ich schaffte es wieder nicht, endlich mal so richtig zu weinen, obwohl mir danach war. Ich darf jetzt nicht weinen, dachte ich, ich will nur noch schlafen und nicht mehr denken müssen.

Meistens löst sich das Druckgefühl auf der Brust, wenn wir mal so richtig loslassen und heulen. Aber nicht bei mir, denn dafür waren die wenigen Tränen nicht ausreichend. Dabei wünschte ich mir, dass endlich dieses beklemmende Gefühl verschwinden würde. Doch in mir blieb das bedrückte Gefühl, es blieb. Der Druck auf meiner Brust und der Kloß in meinem Hals wurden immer größer. Tag für Tag.

Am nächsten Morgen hatte ich wieder bei meinem Neurologen anzutreten.

"Na, wie ist es? Die letzte Cortison-Gabe gut überstanden?“, fragte Dr. Schulz.

"Klar", antwortete ich, “aber viel schöner wäre es, wenn das verdammte Zeug auch mal seinen Job machen würde."

"Keine Veränderung?"

Ich regierte wie aus der Pistole geschossen.

"Nein, meine Beine und mein unterer Rücken sind immer noch taub und das jetzt schon seit mehreren Wochen. Unverändert trotz des Cortisons! Außerdem habe ich das Gefühl, das Kribbeln würde immer heftiger werden. Sobald ich nach einer Bewegung zum Stehen komme, kribbelt es wie verrückt in den Beinen und Füßen! Vor der Cortison-Therapie hat es deutlich weniger gekribbelt. Das ist echt unangenehm, nein, es ist schmerzhaft, wenn ich ehrlich bin. Wie kann das sein? Das Cortison soll die Symptome abmildern oder wegmachen, aber doch nicht verstärken!?“

„Dafür gibt es leider keine eindeutige Erklärung, Frau Walter. Cortison kann im Nachhinein aber auch noch wirken, deswegen würde ich vorschlagen, dass Sie nächste Woche wiederkommen und wir darauf hoffen, dass sich bis dahin Etwas getan hat“, antwortete mir mein Neurologe Dr. Schulz daraufhin.

Obwohl diese Antwort keine war, die ich mir erhoffte, war sie ehrlich. Dr. Schulz ist ein toller Neurologe. Er scheint fachlich, aber auch zwischenmenschlich ein guter Arzt zu sein. Ich wurde schon oft von ihm behandelt. Und da ich selber Krankenschwester bin, habe ich immer ein verstärktes Auge auf die Kompetenz meiner Ärzte.

Ich verließ seine Praxis mit einer weiteren Krankmeldung für eine Woche und ich sinnierte darüber nach, wie das alles weiter gehen sollte und was ich meiner Mutter mitteilen würde. Sie machte sich, was wohl typisch für eine Mutter ist, immer große Sorgen. Deshalb gewöhnte ich mir schon im Kindesalter an, meine Angelegenheiten so klein wie möglich zu halten. So oft denke ich an ihren Blick zurück, als sie meine Diagnose Multiple Sklerose erfuhr. Ich wünsche mir dann, sie hätte es nie erfahren müssen. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie litt mehr als ich unter meiner Krankheit Multiple Sklerose. Deswegen und vor allem zu dieser Zeit, als die Fortschritte meiner Krankheit präsent waren, hielt ich die Neuigkeiten meistens kurz, eben knapp, weil nur halb wahr. Meiner Mutter hatte ich nie genau erzählt, in welchem Ausmaß ich die Schübe der Multiplen Sklerose bemerkte. Ich hatte ihr lediglich so viel gesagt wie nötig. Oft aber auch gar nichts. Ich wohnte, als ich die Diagnose erhielt, nicht zu Hause, sodass ich mich selten erklären musste.

Die Diagnose wurde im April 2012 durch ein MRT-Bild gesichert. Zu dieser Zeit war ich auf dem Höhepunkt meiner Feierphase. Ich war im jungen Erwachsenenalter und kostete noch alles aus, was da war.

Eines Tages vernahm ich ein zunehmendes Druckgefühl in meinem linken Auge, doch ignorierte es. Party machen war mir wichtiger als meine Gesundheit. Als ich jedoch Doppelbilder sah und sich ein weißer Schleier über meinem linken Auge ausbreitete, lief ich zum Augenarzt. Der wiederum schickte mich zu einem Neurologen und der gab mir eine Einweisung ins Krankenhaus mit der Verdachtsdiagnose „Multiple Sklerose“ mit. Ich belächelte die Einweisung ins Krankenhaus. Meine Mutter beruhigte ich, indem ich ihr erzählte, dass es sehr unwahrscheinlich sei, dass mich diese Krankheit erwischt hätte und dass es sich um eine reine Ausschlussdiagnostik handeln würde. Ich war schließlich vom Fach. Ich blendete meine Angst, dass sich die Diagnose bewahrheiten könnte, aus. Die Diagnose bekam ich allerdings schon am Folgetag der Aufnahme ins Krankenhaus. Ich hatte das Glück, dass die Stationsärztin mir die Krankheit schmackhaft machte, als ich alleine in meinem Zimmer war. Um ehrlich zu sein, erinnere ich mich nicht mehr wirklich daran, was ich gedacht oder wie ich reagiert habe. Nur daran, dass ich nicht geweint habe und mir Gedanken machte, wie ich dies nun meiner gleich eintreffenden Mutter schonend beibringen sollte. Ich hatte also keine Zeit zu weinen, schließlich könnte man es ja sehen. Das wollte ich nicht. Nicht vor meiner Mutter, die meinen Gedankenstrom auch schon mit ihrem Eintreten unterbrach. Als sie in das Zweibettzimmer, in dem ich lag, hereintrat, lächelte ich sie an und sagte:

„Mama, jetzt erschrecke dich nicht und es hört sich auch alles viel schlimmer an als es ist, aber die Diagnose stimmt wohl doch. Ich habe es aber nicht so schlimm wie andere und es wird auch nichts weiter passieren. Ich bekomme jetzt Medikamente. Also, alles gut.“

Meine Mutter erstarrte und ihr schossen sofort die Tränen in die Augen. Sie setzte sich auf mein Krankenbett und wollte mich direkt in den Arm nehmen. Ich ließ es zu, konnte es aber nicht erwidern, schließlich hätte ich sonst auch noch geweint.

Ich weiß nicht wieso, aber ich hatte oft das Bedürfnis meine Mutter beschützen zu müssen. Schon in meiner Kindheit war das so, unabhängig ob die Situation lapidar oder wichtig war. Auch bei der Scheidung meiner Eltern erging es mir, der Zehnjährigen, so. Früh beschloss ich, die Dinge mit mir alleine zu klären. Obwohl meine Mutter immer die fürsorgliche und starke Mama war, wusste ich schon als Kind, dass sie es auch nicht immer einfach hat. Deshalb wollte ich ihr nie durch mein Weinen zur Last fallen. Denn dann wäre sie ja auch traurig gewesen. Das wollte ich nie, auch nicht mit zehn Jahren. Ich wollte sie immer glücklich machen. Vor allem wollte ich ihr, nachdem ich die Diagnose selber schlucken musste, nicht meine wahren Gefühle zeigen, weil ich auch dachte, alt genug zu sein, um damit alleine zurechtkommen zu müssen.

Diese Ungewissheit, wann und ob dieser aktuelle Schub sich jemals zurückbilden würde, machte mich verrückt. So gerne hätte ich Lia angerufen, aber es ging nicht. Vor ungefähr acht Monaten war sie 400km weit weggezogen. Es fühlte sich an als sei sie aus meinem Leben verschwunden. Wir hatten kaum noch Kontakt und wenn, dann wirkten unsere Telefonate und WhatsApp-Nachrichten sehr angespannt und distanziert. Das lag wohl daran, dass wir beide nicht mit der räumlichen Trennung unserer Freundschaft zurechtkamen. Wir hatten immer wieder kleine Diskussionen, die damit endeten, dass wir wieder wochenlang nichts voneinander hörten. Diese freundschaftliche Trennung fühlte sich manchmal an wie Liebeskummer. Es fühlte sich an, als sei ein Teil von mir gegangen. Lia und ich waren nicht nur Freunde. Wir waren Schwestern, Seelenverwandte, wir waren eine Familie. Aber so ist das wohl nun mal, wenn man erwachsen wird, einen Partner hat und zu ihm zieht. Manchmal trennen sich die Wege. Ich verstand das, aber es war trotzdem hart. Dass mich ihr Wegzug so verletzte, hatte ihr nie gesagt. Wer sollte sich um mein Gejammer kümmern, wenn ich sagen würde, wie traurig ich war. Wem sollte ich es überhaupt sagen? Schließlich war es doch immer Lia, die in solchen Momenten da gewesen ist. Mein Kopf war ständig voll mit Gedanken über unsere freundschaftliche Situation.

Ich musste ständig darüber nachdenken, dass sie weg war und der Grund für meine Traurigkeit war. Ich wollte ihr so vieles sagen, aber zu dieser Zeit hatte ich es nicht geschafft, mich mit ihr darüber zu unterhalten. Das hätte wahrscheinlich wieder im Streit geendet. Der Streit mit meinem Körper reichte mir da schon völlig aus.

Über 400km weit entfernt sitzt sie irgendwo mit ihrem Freund und schmiedet Pläne für die Zukunft. Sie ist weg. Für immer. Und ich bin alleine. Für immer, dachte ich.

Um ehrlich zu sein, war ich gerade sowieso lieber alleine. Ich mochte es zu dieser Zeit viel lieber, alleine zu sein als mich mit Menschen zu treffen. Ich fand Menschen anstrengend. Jedes Mal hatte ich diese Maske aufzusetzen, um dann so zu tun, als sei mit mir alles völlig okay, das war einfach zu anstrengend für mich.

„Ja klar, mir geht’s gut und dir?“, war der Satz, den ich für drei bis vier Stunden nach außen hin praktizierte und aufrechterhielt, um dann endlich nach Hause zu kommen und alleine mit mir diese Lüge wieder abzuschütteln. Wozu also all dieser Stress? In der Folge blieb ich lieber alleine. War doch logisch.

Heute weiß ich, wenn es meine wahren Freunde sind, dann muss ich nicht in die Rolle der Glücklichen schlüpfen. Wahre Freunde haben Verständnis dafür, wenn man sich zurückzieht oder ehrlich zu ihnen ist. Es gibt Menschen, bei denen ich so sein kann, wie ich mich gerade fühle, vor allem wenn ich traurig bin. Das ist Freundschaft. Eine Beziehung ohne Zweck, ohne Bedingung, ohne Mittel. So war es bei Lia und mir. Gewesen.

Am nächsten Tag wachte ich schon früh auf und da ich nichts tun konnte und wollte außer mit mir alleine zu sein, nutzte ich die Zeit, die mir zur Verfügung stand. Die tägliche Gabe von Cortison war vorerst beendet, also wartete und hoffte ich darauf, dass das Teufelszeug endlich wirkte.

Alle meine Freunde oder Familienmitglieder waren arbeiten, in der Schule oder in der Uni. Dafür war ich noch lange nicht fit genug, aber ich beschloss, ein bisschen vor die Tür zu gehen. Wenn auch langsam – sehr langsam. Schmerzend setzte ich einen Fuß vor den anderen, achtete darauf, dass ich mein Gleichgewicht behielt und machte mich auf den Weg in Richtung Natur. Mit jedem Schritt überkam mich ein unangenehmes elektrisierendes Gefühl. Es begann an der Rückseite meiner Oberschenkel und strahlte bis in meine Zehen aus. Während ich lief, nahm ich jeden Schritt achtsam wahr. So konzentriert wie ich jetzt lief, lief ich nicht mal als ich als Kind laufen lernte. Aus meinen achtsamen und fokussierten Schritten, entstand sogar eine kleine Spielerei. Ich machte aus meinem achtsamen Spaziergang eine kleine Entdeckungsreise, indem ich meinen Körper beobachtete. Vor allem konzentrierte ich mich darauf, das Gleichgewicht zu behalten, um nicht umzufallen. So einen langen „Spurt“ ohne Pause - und es waren gerade mal ungefähr 500 Meter - war ich zuletzt vor ein paar Wochen gegangen. Langsam aber sicher kam ich an mein Ziel.

Und dann stand ich da. Ich stand vor einem See. Am Ufer des Sees meiner Kindheit.

Mein Körper fühlte sich sehr träge und schwer an, meine Beine bestanden aus Blei. Und sie kribbelten wie verrückt. Kribbelndes Blei. Dann auch der Rücken. Alles an mir fing an zu kribbeln, mein Rumpf, meine Hände, meine Finger, meine Fingerspitzen.

Dabei waren es bloß ein paar Meter (die ich auch noch langsam gegangen bin), um an dem See meiner Kindheit zur Ruhe zu kommen, um Gedanken zu sammeln, um niemandem außer der Natur zuzuhören oder zuzusehen, um Kraft zu tanken und um mich aufzuladen.

Die Natur faszinierte mich schon immer. Sie lebt im Wandel, sie lebt voller Hingabe und Liebe. Sie lebt, als wäre das Leben unendlich leicht und frei von Sorgen. Die Natur vertraut auf den Prozess des Lebens. Sie hat ihren Rhythmus und richtet sich immer nach dem, was ist. Die Natur folgt ihrem Zyklus. Sie folgt den Jahreszeiten, passt sich an, verändert sich und ist doch beständig. Manchmal habe ich das Gefühl, die Natur weiß, dass alles gut wird, dass schmerzhafte Veränderungen Teil des Lebensprozesses sind und dazugehören, damit alles weiterwachsen und reifen kann. Ich vertraue der Natur.

Diese friedlichen Gedanken passten zu der Erinnerung, die mir kam, während ich auf den See starrte. An diesem See spielte ich oft mit meinen Freunden und meiner Familie. Dort verbrachte ich als Kind schön friedvolle und glückliche Momente.

20 Jahre später, völlig erschöpft, kraftlos und schmerzbeladen war ich wieder da. Ich stand da und nahm die Symptome der Multiplen Sklerose wahr. Zum ersten Mal begriff ich, dass nicht ich die Krankheit, sondern die Krankheit mich im Griff hatte. Wie gelähmt und festgenagelt stand ich da, während ich weiter auf den See starrte. Ich stellte erstaunt fest, dass ich weder traurig noch glücklich noch wütend war. Was war ich?

Hinter meinem Rücken liefen Passanten mit ihren Hunden oder Kindern um den See herum. Doch das interessierte mich kaum. Es interessierte mich nicht, was sie über mich gedacht haben könnten, indes ich wie angewurzelt am Ufer des Sees stand und mich nicht bewegen konnte. Nicht den Passanten schenkte ich Aufmerksamkeit, sondern mir. Mir und meinem Körper. Ich war ganz bei mir, stand einfach da, meinen Blick auf den See gerichtet und ich fing an, die Kraft meiner Krankheit zu bewundern. Ich spürte das schmerzhafte Kibbeln, das seinen Startpunkt in meinem Brustkorb hatte und sich bis in meine Zehenspitzen fortsetzte. Ich beobachtete es, ohne es zu bewerten. Ich ließ die Krankheit in diesem Moment das tun, was sie wollte. Ich nahm sie erstmals ganz bewusst wahr und spürte die Auswirkungen des aktiven Schubes. Ich stellte mir vor, wie die Entzündungsherde anfingen zu leuchten. Das Kribbeln in meinem Körper, das lahme Gefühl und die Schmerzen in meinen Beinen nahm ich einfach nur wahr. Es fiel mir leicht und war tatsächlich schöner, als wenn ich mich wie sonst - voller Wut- dagegen gesträubt hatte. Ich bin dankbar für diese Erfahrung.

Heute weiß ich, dass auch die Gefühle des Körpers, die unangenehm sind, gefühlt werden wollen. Auch unangenehme Dinge wie Krankheiten können erträglich, sogar friedlich werden, wenn man sie zulässt. Dieser Moment der Akzeptanz meiner körperlichen Symptome hat einiges in mir bewegt. Diesen Moment werde ich nie vergessen. Es war der erste friedliche Kontakt zwischen mir und der Multiplen Sklerose.

Auf dem Rückweg fühlte ich mich irgendwie energiegeladen. Durch den Kontakt mit meinem Körper ging es meiner Seele plötzlich endlich wieder gut. Es fühlte sich beinahe an, als wäre ich nicht mehr wütend auf die Multiple Sklerose, sondern ein wenig im Frieden mit ihr.

Zuhause angekommen, dachte darüber nach, wie mein Leben nun weitergehen sollte. Wie immer war um die Mittagszeit niemand da. Auf dem Wohnzimmersofa sitzend fragte ich mich, wie lange ich wohl noch bei meiner Mutter, meinem Stiefvater und meinem Bruder leben würde? Ich gestand mir ein, dass ich derzeit jedenfalls nicht gut alleine zurechtkam. Vor allem nicht in dieser WG, in der es das Wort Rücksicht nicht gibt! Nur Bier und Sex. Ich werde da definitiv ausziehen, das war auch schon vor der Krankheitsaktivität klar. Aber wohin will ich eigentlich?, fragte ich mich. Suche ich weiter wie geplant nach einer Wohnung in Köln, weit weg von allem, um ein Studium zu beginnen? In meinem Beruf als Krankenschwester kann ich auf lange Sicht nicht arbeiten, aber muss es deswegen direkt ein Studium in einer ganz anderen Stadt sein? Ich könnte ja auch in der Nähe meiner Heimat studieren. In Köln kenne ich niemanden.

Während die Gedanken weiter durch meinen Kopf kreisten, konnte ich spüren, dass ich gar nicht von Zuhause und meinem Umfeld weg wollte, sondern weg von etwas viel Wichtigerem. Der Moment am See sorgte für mehr Klarheit in meinem Verstand und ich fing an zu begreifen: Ich wollte weg von meiner Krankheit und allem, was sie mit mir und um mich herum angerichtet hatte!

Mir wurde klar, dass ich nicht vor meiner Familie und meinen Freunden flüchten will, sondern vor mir selber. Vor meinen Lebensumständen, vor meiner Krankheit - Multiple Sklerose. Vor meiner Krankheit, dachte ich.

„Meiner Krankheit?“ sagte ich zu mir selbst.

Erschrocken registrierte ich, dass ich die Multiple Sklerose auf meine Person bezog. Sonst nannte ich sie immer „die“ Krankheit oder „die MS“.

Sie ist zwar ein Teil von mir, aber ich bin nicht sie!, wehrte ich mich gedanklich.

Ergibt es also Sinn, dass ich weit wegziehe, wo ich keinen familiären und freundschaftlichen Halt mehr erfahren werde, dafür aber ohne bekanntes Umfeld bei null anfangen kann?

Ich diskutierte mit mir selber bis ich vom Denken müde wurde. Der Gedanke aber, dass ich das Bedürfnis hatte, vor mir wegzulaufen und dass ich mich bei einem Umzug in eine fremde Stadt ja mitnehmen würde, fühlte sich stimmig an.

Am Abend war das Haus wieder vollständig belebt. Wie früher saßen wir abends gemeinsam im Wohnzimmer, während der Fernseher lief. Es lief Tatort - wie jeden Sonntag. Wir sprachen nicht viel, vor allem nicht über mich und meine jetzige Situation. Das war aber auch ganz in meinem Interesse, denn ich wollte auch nicht über mich reden.

Obwohl ich generell nicht viel mit meiner Familie über meine Krankheit sprach, wussten alle, wie es mir ging. Mit meiner Mutter nicht, weil sie wusste, dass ich darüber nicht viel reden wollte. Mit meinem Bruder und meinem Stiefvater sprach ich nicht darüber, weil sie sich (glaube ich) nicht trauten über so ein sensibles Thema zu sprechen. Ich vermute, sie hatten Sorge, dass ich emotional werden könnte und sie dann vor der Aufgabe stehen würden, passend reagieren zu müssen. Was auch immer passend wäre. Das spielte aber auch keine Rolle, weil ich sowieso abgeblockt hätte, hätte „es“ einer von ihnen doch mal angesprochen. Niemals hätte ich zugelassen vor ihnen zu weinen. Ich weinte generell nicht vor anderen Menschen. Ich wollte es nie so weit kommen lassen. Ich wollte es ja nicht mal, wenn ich mit mir alleine war.

Als ich mich abends ins Bett legte, hoffte ich an die Decke starrend mal wieder darauf, dass das Cortison endlich wirken würde. Ich malte mir aus, wie ich am nächsten Morgen aufwachen würde und meine Beine wieder spürte.

Die letzte Cortison-Dosis mit 1000 mg war mir vor einigen Tagen injiziert worden, jetzt musste dieses Zeug doch endlich seine versprochene positive Wirkung zeigen!

Ich hatte schon oft gelesen und gehört, dass Cortison im Nachhinein wirken könnte. Schließlich sagte das auch Dr. Schulz. Vielleicht war das auch bei mir der Fall, dachte ich. Darauf setzte ich jedenfalls alle Hoffnungen. Wie gestern. Und vorgestern.

Als sich meine Mutter am nächsten Morgen im Bad die Haare föhnte, wurde ich wach. Das Badezimmer grenzte an mein altes Kinderzimmer, so dass meine angespannten Nerven dieses Geräusch nicht überhören konnten. Ich wachte gereizt auf, denn ich spürte, dass ich aufgrund der lästig lauten Unterbrechung meines mir heiligen Schlafes nicht ausgeschlafen war.

Als ich mich auf die Bettkante setzte, bemerkte ich wieder, dass sich meine Beine so wie am Abend zuvor anfühlten. Pelzig, lahm, taub und kribbelig. Meine Stimmung war alles andere als fröhlich.

Bevor ich mein Zimmer verließ, wartete ich aber noch darauf, dass alle Mitbewohner das Haus verlassen hatten. Vor allem jetzt hatte ich keine Lust irgendjemandem, auch nicht meiner Mutter, zu begegnen. Ich hatte keine Lust einen Small Talk zu halten oder die Wahrheit zu verdrehen, indem ich sagen würde, dass es mir gut ginge. Denn so war es nicht. Auch wenn ich meiner Mutter die Wahrheit sagen konnte, bekam ich es nicht hin. Genauso wenig wie die Sache mit dem Weinen.

Für den Anschein in die Welt da draußen jenseits meines Kinderzimmers blieb ich also lautlos und nicht bemerkbar auf meinem Bett sitzen, damit ich den Eindruck erweckte, als würde ich noch schlafen.

Nach wenigen Minuten fiel die Haustür auch schon zu. Das Haus war endlich leer, die Luft also rein genug, um mein Zimmer zu verlassen. Ich stand langsam auf, setzte einen Fuß vor den anderen, riss meinen Kapuzenpulli vom Stuhl und zog ihn mir über mein verwaschenes bedrucktes Kuschelbären-Schlaf-T-Shirt.

Nichtsahnend bemerkte ich eine weitere Veränderung: Mein oberer Rücken war taub. Mein kompletter Rumpf war taub!

Mein Atmen blieb stehen. Mit aufgerissenen Augen stand ich da. Mein Bauch fühlte einen imaginären Boxschlag. Ich rechnete schon damit, dass mir aufgrund des Schocks das Herz stehen bleiben würde. Ich tastete wiederholt meinen kompletten Rücken ab, aber ich spürte die Berührung kaum.

Ich lief den Flur auf und ab, fasste mir mit beiden Händen an den Kopf und fing an panisch zu werden. Streng sprach Emma zu Emma:

„Bloß nicht panisch werden. Es ist alles okay. Es ist früh am Morgen, der Körper muss erst wach werden, die Taubheit am unteren Rücken sagt gar nichts aus, alles ist gut.“

Dieses Mantra wiederholte ich bestimmt fünf Mal. Ich hatte nur ein Ziel: nicht in Panik verfallen.

Das Cortison tat seinen verdammt Job nicht! Gar nicht!

„Nein, nein, nein! Das kann nicht sein!“, fluchte ich.

Mein zuvor fast panischer Zustand verwandelte sich im Sekundenschlag in Wut. Aus Verzweiflung und dem Abwenden von Panik wurde aggressive Wut. Die Wut kam so schlagartig, dass ich die Kontrolle verlor. Ich schlug mit geballten Fäusten auf meine Beine. Ich kniff mit beiden Händen fest in meine Oberschenkel, damit ich endlich etwas spürte. Doch ich spürte nichts.

Die Wut nahm geradezu unbekannte Dimensionen an.

„Warum? Warum hört es nicht auf? Was habe ich nur getan, dass sich alles verschlechtert? Wem habe ich etwas getan? Warum ich?! Wie eine Mutter Theresa tue ich jedem Menschen, der Hilfe braucht, einen Gefallen. Auf der Arbeit wische ich jedem Pflegepatienten den Arsch ab. Als Dank dafür darf ich die Scheiße mit nach Hause nehmen?“, schrie ich durch mein Zimmer.

Die Wut überkam mich mit unglaublicher Macht und breitete sich so sehr aus, dass sie mich meine Impulskontrolle verlieren ließ. Ich begann, hilflos um mich zu schlagen. Wie irrsinnig um mich herum. In alle Richtungen. Meine Faust holte aus. Gegen die Wand. Die Wut in mir war kaum zu ertragen. Ich wusste nicht wohin mit ihr. Als die Knöchel an meiner Hand bluteten und ich einen ersten ausreichenden Schmerz vernahm, hörte ich auf gegen die Wand zu schlagen und lief ins Badezimmer.

Ich musste irgendetwas tun. Mich abkühlen. Ich betrat die Dusche und kühlte mich mit eiskaltem Wasser herunter. Doch mich holte der eigene Blick auf meinen nackten Körper wieder ein. Ich hasste in diesem Moment meinen Körper so sehr.

Du bist hässlich, fett, ekelhaft und funktionierst nicht! Diese Gedanken feuerten mich an, sodass ich wieder wütender wurde und ich schließlich nicht mehr der Wand wehtat, sondern nur noch meinem Körper. Ich schlug auf ihn ein. So bemerkte ich wenigstens, dass mein Körper etwas spürte. Ich richtete die Wut gegen mich. Gegen meinen Körper. Ich empfand eine solche Aggression gegen meinen Körper und suchte jemanden, dem ich die Schuld dafür geben konnte. Nur leider war niemand dafür da, dem ich die Schuld geben konnte. Also projizierte ich allen Hass auf meinen Körper. Ich stand unter der Dusche und wusste nicht mehr, ob das Wasser nun warm oder kalt war. Ich spürte kaum noch etwas. Die Spirale führte weiter und weiter nach unten. Ich wurde immer wütender. Die Wut beherrschte mich. Mir war egal, ob ich meinen Körper nun mit heißem Wasser verbrannte. Es war mir egal. Das Wasser lief weiter und weiter. Sekunde für Sekunde.

Langsam ließ der Druck in mir nach, die Wut folgte diesem nachlassenden Druck mit nur kurzer zeitlicher Verzögerung. Ich hatte all die Kraft, die mir zur Verfügung stand, nun selbstzerstörerisch zum Ausdruck gebracht. Die Anspannung fiel von Minute zu Minute, bis mir mein Bewusstsein mitteilte, was ich gerade getan hatte.

Ich hatte mich selbst verletzt.

Dieser Augenblick schockierte mich so sehr, dass ich mich nicht nur schuldig fühlte, sondern auch sehr, sehr hilflos. Ich war Täter und Opfer zugleich.

Ich stieg aus der Dusche, wickelte das große Badetuch um meinen Körper, setzte mich auf den gegenüberliegenden Badewannenrand und legte meinen Kopf in die Hände. Mein Atem war flach und unregelmäßig. Ich nahm wahr, wie sich Traurigkeit in mir ausbreitete. Ich verspürte den Drang zu weinen, unterdrückte aber jede Träne. Ich darf jetzt nicht weinen, sondern muss stark sein, auch wenn ich Angst habe, redete ich mir gedanklich ein. Ich hatte Angst, dass es immer schlimmer wird, Angst, dass es nie wieder weggehen wird und Angst, nie wieder richtig laufen zu können, nie wieder richtig leben zu können. Trotzdem darf ich jetzt nicht schwach werden, wiederholte ich innerlich. Ich schaffte es wieder nicht, meine inneren Tränen in die Freiheit zu schicken. Ich ließ sie unter Verschluss, ich verbot meiner Traurigkeit ihr Dasein.

Nachdem ich verzweifelt, aber ohne Träne, das Badezimmer verließ, rief ich in der Praxis meines Neurologen an und schilderte meine körperliche Veränderung. Die medizinische Fachangestellte, die mich mittlerweile gut kannte, sagte mir, dass ich mich sofort auf den Weg machen sollte. Also nahm ich den nächsten Bus in Richtung Praxis.

In der Praxis angekommen, berichtete ich mit aller Offenheit meinem Neurologen, dass meine Sensibilitätsstörung immer heftiger werden würden, dass diese mittlerweile sogar richtig weh tat und dass sich die Taubheit seit heute Morgen nun auch auf meinen oberen Rumpf ausbreitete.

Er schaute mich mit Mitgefühl an und entschloss sich ziemlich schnell dazu, eine erneute und zwar erhöhte Cortison-Dosis zu verordnen.

„Was? Die doppelte Dosis? Mich macht die Hälfte der Gabe doch schon fertig!“, entgegnete ich. „Und warum eigentlich half die erste Cortison-Gabe nicht, sondern verschlimmerte alles?“

Dr. Schulz atmete tief durch, bevor er mir antwortete.

„Es ist - um ehrlich zu sein - nicht ungewöhnlich, dass auch Ihr Rücken betroffen ist, Frau Walter. Sie haben vier große Läsionen in der Brustwirbelsäule. Wir müssen jetzt gut darauf achten, dass die Läsionen nicht weiterwachsen. Es hat den Anschein, dass die dreitägige Cortison-Gabe à 1000 mg zu schwach für ihr Krankheitsbild war, um erfolgreich die Entzündung aufzuhalten. Deswegen würde ich die doppelte Dosis verabreichen wollen. Dann jedoch auch wieder für fünf Tage.“

Ich verstand zwar, was Dr. Schulz mir sagte, wollte es aber nicht verstehen. Ich wollte es einfach nicht wahrhaben.

„Aber sonst haben doch auch immer 1000 mg ausgereicht. Als mein Sehnerv so entzündet war, dass meine Augen ganz schlecht sehen konnten, ging das relativ schnell mit Cortison zurück. Als mein Daumen taub war, ging es auch schnell zurück und als mein rechtes Bein nicht ganz stabil war und zitterte, halfen die 1000 mg doch auch. Warum also jetzt nicht? Bislang hat sich fast alles vollständig zurückgebildet. Können wir nicht noch etwas abwarten?“

Dr. Schulz nickte verständnisvoll.

„Ich verstehe Ihre Gedankengänge, aber kann Ihnen auf die Frage, warum die Therapie dieses Mal nicht wirkt keine medizinisch eindeutige korrekte Antwort geben.

Sie haben viele Entzündungen im Kopf, die für eine Störung in ihrem Nervensystem sorgen. Diese sogenannten Läsionen sind im Kopf, in der Halswirbelsäule und mittlerweile auch in der Brustwirbelsäule. Wir sollten schnell handeln. Sie spielen mit ihrem Leben, wenn Sie jetzt nichts unternehmen. Sie möchten doch kein Leben im Rollstuhl riskieren, oder?“

Dr. Schulz versuchte mir die doppelte Cortison-Gabe schmackhaft zu machen. Ich stimmte notgedrungen zu. Was sollte ich auch sonst anderes machen?

Immerhin erklärte er mir im Verlauf des Gespräches noch, dass er einer der wenigen Ärzte sei, die 2000 mg Cortison intravenös in einer Arztpraxis verabreichen würde. Somit müsste ich nicht ins Krankenhaus. Dr. Schulz wusste, dass ich mich lieber ambulant behandeln ließ als stationär in Krankenhäusern. Dennoch gab er mir wieder das Angebot, mich mit 2000 mg Cortison im Krankenhaus behandeln zu lassen. Er kannte meine Nebenwirkungen bei 1000 mg. Bei der doppelten Dosis würden die Nebenwirkungen definitiv nicht weniger werden, äußerte Dr. Schulz noch einmal.

Ich wusste zwar, wie Cortison bei mir wirkte, aber ich wollte nicht ins Krankenhaus. Als ich nur daran dachte, mit anderen Patienten in einem Krankenhauszimmer zu liegen, bekam ich auf der Stelle Beklemmungen. Ich erinnerte mich an vergangene Krankenhausaufenthalte: Meine Mitbewohner auf Zeit meckerten über alles und hatten tags zu viel Besuch. Nachts schnarchten sie, um mich wieder tags mit belanglosen Dingen vollzulabern. Nein! Nicht freiwillig und aufrecht ins Krankenhaus! Also wählte ich die Möglichkeit einer ambulanten Versorgung, ahnungslos, wie die ambulante Therapie verlaufen würde.

Zum Glück konnte ich mir auch keine großen Gedanken um die Nebenwirkungen machen, denn schon wenige Minuten später wurde ich in der Praxis an den Tropf angeschlossen.

Ich lag da, wartete 90 Minuten und schaute den Tropfen, die aus der Infusion in meinen Körper liefen, zu und überlegte, wie ich dies alles nun wieder meiner Mutter erklären könnte. Über die zunehmende Ausbreitung der Symptome wusste sie schließlich bis jetzt noch nicht Bescheid.

Ich informierte die üblichen Personen. Meinen Arbeitgeber, meine Mutter und meine Freundin Hannah. Meiner Mutter gegenüber verharmloste ich das Ganze natürlich wieder. Ich schrieb ihr über WhatsApp nur, dass Dr. Schulz sicherheitshalber nun die Dosis erhöhen würde. Von meiner körperlichen Veränderung sagte ich ihr nichts. Da hat die Multiple Sklerose ja einmal etwas Gutes: unsichtbare Symptome. Man sieht sie nicht.

Meine Mutter antwortete mir nur mit „Ach Scheiße, aber das schaffst du auch wieder.“

Die Multiple Sklerose kann sich auf verschiedene Art und Weise äußern, sie kann verschiedene Verläufe annehmen und niemand weiß, was sie als Nächstes vorhat. MS ist eine chronische Erkrankung des zentralen Nervensystems. Der körperliche Vorgang ist dabei jedoch immer ähnlich: Der Körper bekämpft sich selber. Die Immunzellen greifen die Nervenbahnen im Körper an, was zu Entzündungsprozessen im Körper führt. Diese Entzündungsprozesse können sowohl im Rückenmark als auch im Gehirn lokalisiert sein.

In den ersten Jahren nach meiner Diagnose hatte ich nur im Kopf Entzündungen, aber drei Jahre später hatte ich sie bereits in meiner Halswirbelsäule und nun auch in der Brustwirbelsäule.

Die so genannten neurologischen Ausfälle richten sich nach dem Ort der Entzündung. Diese können von Doppelbildern über Sensibilitätsstörungen bis Lähmungserscheinungen, aber auch hin zu kognitiven Störungen und starker Erschöpfung führen. Das Spektrum ist vielseitig. Von einem Schub spricht man, sobald eine Entzündung aktiv ist und zu neurologischen Ausfällen führt. Die meisten Symptome sind dabei nicht sichtbar wie z.B. Kribbeln und Taubheit.

Es gibt verschiedene Verläufe bei der Multiplen Sklerose:

achtung Fachwörter!den schubförmig remittierenden Verlauf (RRMS), den ich anfangs hatte,den sekundär chronisch progredienten Verlauf (SPMS), der sich mittlerweile entwickeltund den primär chronisch progredienten Verlauf (PPMS).

Beim ersten Verlauf (RRMS) treten die Schübe nach und nach auf und bilden sich meistens teilweise oder ganz zurück. Es gibt immer wieder Phasen, in denen keine Schübe stattfinden.

Beim sekundär progredienten Verlauf wird die Anzahl der Schübe zwar weniger, aber der Verlauf geht in einen chronischen Verlauf über. Dabei kommt es auch zu einer fortlaufenden Zunahme der Symptome. Auch bei dieser Form kann es Phasen des Stillstandes geben.

Bei dem primär progredienten Verlauf verschlechtert sich die Krankheit schon von Beginn an. Es gibt also keinen abgrenzbaren schubförmigen Verlauf, diese Form der Multiplen Sklerose wird direkt chronisch. Aber auch hier kann die Krankheit zwischendurch zum Stillstand kommen.

Multiple Sklerose zu haben, bedeutet nicht zwingend, ein Leben im Rollstuhl führen zu müssen! Das wäre der gravierendste Verlauf. Jeder Verlauf ist anders Die Verlaufsformen können sich im Laufe der Krankheit auch verändern. Einige Betroffene haben nur einen einmaligen Schub, andere wiederum haben viele Schübe direkt hintereinander. Bei manchen bilden sich die Schübe zurück und bei anderen nicht. Manche Schübe verlaufen sehr schnell und haben eine größere Auswirkung, andere hingegen verlaufen sehr mild und äußern sich kaum oder gar nicht. Aber das ist Multiple Sklerose. Multiple Sklerose - die Krankheit der Tausend Gesichter. Sie liebt es spannend.

So begannen die Tage mit täglicher Cortison-Gabe und sozialem Rückzug. Aus dem Traum von einer eigenen neuen Wohnung, einem Studienplatz und einer neuen Perspektive. Und aus dem Traum von Gesundheit. Ich dachte auf einmal wieder ständig daran, dass ich einfach nur wegwollte. Einfach weg, weit weg von allem. Die wunderbare Erkenntnis am See, dass ich bislang wegwollte, weil ich weg von meiner Krankheit wollte, gab es nicht mehr. Jedenfalls verlor sie an Gültigkeit. Ich hielt es wieder für sinnvoll, meine Sachen zu packen, um irgendwo neu anzufangen.