Heilung Nebensache - Gerd Reuther - E-Book

Heilung Nebensache E-Book

Gerd Reuther

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  • Herausgeber: Riva
  • Kategorie: Fachliteratur
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Ärzte, Apotheker und die Pharmaindustrie wollten schon immer unser Bestes – unser Geld. Der Arzt und Bestsellerautor Dr. Gerd Reuther blickt kritisch auf 2500 Jahre europäischer Medizingeschichte zurück und stellt fest, dass die sogenannte Schulmedizin schon immer nur für die Eliten systemrelevant war. Ob im antiken Griechenland oder in der Corona-Krise – unter dem Deckmantel vermeintlicher Wissenschaftlichkeit haben die Mediziner ihre Eigeninteressen stets über das Patientenwohl gestellt. Eine spannende und schockierende Pflichtlektüre für alle, die mehr über die Irrungen der Medizin wissen wollen.

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Seitenzahl: 494

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DR. MED. GERD REUTHER

HEILUNG NEBENSACHE

DR. MED. GERD REUTHER

HEILUNG NEBENSACHE

Eine kritische Geschichte der europäischen Medizin von Hippokrates bis Corona

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

Originalausgabe

4. Auflage 2022

© 2021 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89, 80799 München

Tel.: 089 651285-0, Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Tobias Prießner

Umschlagabbildung: shutterstock.com/ Luke Chambers;

shutterstock.com/Alexander Limbach

Satz: Helmut Schaffer, Hofheim a. Ts.

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978−3−7423−1776−6

ISBN E-Book (PDF) 978−3−7453−1478−6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978−3−7453−1479−3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

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»Heilen hat zwei Gesichter:Empathie und soziale Kompetenz.Geschäft mit Angst und Leiden.«

DR. MED. HELMUT JÄGERFACHARZT FÜR GYNÄKOLOGIE UND GEBURTSHILFEGANZHEITLICHER HEILER UND COACH

»(…) scheint es gut zu sein (…), sich auf neuen Wegenund in neuen Systemen zu bewegen (...) weder der Stimmedes Verleumders noch dem Gewicht der alten Kultur oderdem Gewicht der Autoritäten zu gestatten, jene zu hindern,die ihre eigenen Ansichten zum Ausdruck bringen.«

JEAN FRANÇOIS FERNEL (1497–1558)De naturali parte medicinae, PARIS 1542

Inhalt

Prolog: Ein Kampf gegen Krankheiten oder gegen die Kranken?

2500 Jahre Medizin auf 100 Seiten

Zeittafel wichtiger Ereignisse in der europäischen Medizin

Wer oder was wird behandelt – der Kranke oder die Krankheit?

Begegnung von Arzt und Patient – Geschichte eines Missverständnisses

Wo wurde behandelt? – Von der privaten Konsultation zur Klinik

Wo Behandler Krankheitsursachen lokalisierten

Diagnosen? Prognosen? Therapien? – Worauf es Ärzten ankam

Nur die Dosis? – Eine kurze Geschichte der Arzneibehandlung

Kann Nahrung heilen? – Eine kurze Geschichte ärztlicher Ernährungstipps

Wie viel Anatomie und Physiologie braucht die Medizin?

Wie viel Blut muss fließen? – Eine kurze Geschichte der invasiven Medizin

Wie viel Schmerz ist zumutbar? – Eine kurze Geschichte der Anästhesie

Mehr als ein Blick – Eine kurze Geschichte von Bildern aus dem Körper

Die Medizin in ihrem Lauf halten schon die Ärzte auf

Hippokrates verachtet Zahlen – eine kurze Geschichte medizinischer Evidenz

Mythos Placebo – kurze Geschichte einer heilsamen Täuschung

Und raus bist du! – Eine kurze Geschichte ärztlicher Stigmatisierung

Vorbeugen oder behandeln? – Eine kurze Geschichte der Prävention

Wer oder was heilt? – Eine kurze Geschichte ärztlicher Selbstkritik

Reine Männersache? – Eine kurze Geschichte der Frauen in der Medizin

Krank durch Behandlungen? – Eine kurze Schadensgeschichte der Medizin

Epilog: … und die Moral von dieser Geschichte?

Danksagung

Anmerkungen

Prolog: Ein Kampf gegen Krankheiten oder gegen die Kranken?

Lohnt es heute noch, sich mit der Medizin vergangener Jahrhunderte zu beschäftigen? Haben doch hochwirksame Pharmaka den Aderlass und minimalinvasive Hightech-Chirurgie unsterile Verstümmelungen ohne Betäubung abgelöst. Allerdings fällt auf, dass noch immer zahlreiche Ärzte aus den Zeiten der Säftelehre Säulenheilige des Berufsstandes sind. Ist es lediglich Nachsicht mit Kollegen, die zu früh geboren wurden und es nicht besser wissen konnten? Oder besteht doch eine Kontinuität darin, dass in der Medizin vorrangig die Kranken statt deren Krankheiten »bekämpft« werden?

Abwarten oder schaden?

Heilungsversuche mit Pflanzen, tierischen und mineralischen Stoffen, Ritualen und helfenden Händen waren der Anfang. Dann beherrschte die Lehre von vier Säften für mehr als 2000 Jahre die Bühne, bevor Krankheiten lokalisiert wurden. Ärzte und Quacksalber entzogen Patienten Körperflüssigkeiten – ohne Rücksicht auf Verluste – mit Aderlässen und Mitteln, die abführten, den Schleimfluss exzessiv steigerten und Erbrechen herbeiführten. Überdies gab es noch Schwitz- und Trinkkuren hinzu. Alle Krankheiten sollten damit ausgetrieben werden.

Erschwerend war, dass viele Arzneien zum Flüssigkeitsentzug Gifte wie Quecksilber und Antimon enthielten und ab dem 17. Jahrhundert sogar intravenös verabreicht wurden. Es käme allenfalls auf die Dosierung an. Transfusionen von Tierblut galten als vergleichsweise sichere Behandlungen, obwohl in Unkenntnis der Blutgruppen mindestens jeder Dritte daran verstarb.1 Bei Operationen ohne Schmerzausschaltung hatte Tempo Vorrang vor Präzision. 25 Sekunden reichten dem schnellsten Chirurgen im viktorianischen London, um ein Bein zu amputieren.2 Verstümmelnde Operationen gegen Hysterie und psychische Auffälligkeiten gesellten sich ab dem 19. Jahrhundert noch hinzu. Kein Wunder, dass die Homöopathie in den ersten 150 Jahren ihrer Existenz erfolgreicher als die Schulmedizin war – sie schadete wenigstens nicht.

Die Pharmaka des Industriezeitalters entstammten immer seltener der Welt der Heilkräuter, sondern der technischen Chemie. Ab 1818 stand sogar die hochgiftige verdünnte Blausäure als Heilmittel gegen Atemwegserkrankungen in Arzneibüchern.3 Ausgangssubstanzen und Abfallstoffe industrieller Synthesen von Farben und Kunstharzen waren bis spät ins 20. Jahrhundert die Basis symptomunterdrückender Medikamente. Noch der erste Cholesterinsenker Clofibrat fiel bei der Produktion von Phenolen an und gehört chemisch zu einer Gruppe, zu der zahlreiche Unkrautvernichter zählen!4 Viele Antibiotika und Immunsuppressiva sind ebenfalls chemisch eng mit Pestiziden verwandt und durchaus als zeitgenössische Gegenstücke zu Quecksilber und Antimon aufzufassen.

Substanzen wurden nicht unbedingt wegen bestimmter Eigenschaften gesucht. Oft war es umgekehrt: Vorhandene Stoffe klopfte man auf ihren möglichen Einsatz beim Menschen ab. Die Chemotherapeutika gingen aus dem berüchtigten Senfgas des Ersten Weltkriegs hervor. Pharmaka werden bis heute als Waffen missverstanden und degradieren Kranke damit zu Kriegsschauplätzen. Auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts steht jeder dritte Todesfall in Zusammenhang mit ärztlichen Behandlungen.5 Man kann nicht sagen, dass der Berufsstand zimperlich war und ist. Das Prinzip, es sei »besser, ein gefährliches Hilfsmittel anzuwenden, als gar keines«6 besteht fort.

Die akademische Medizin gilt heute als »systemrelevant«. Die Geschichte belehrt uns aber eines Besseren. Menschliche Zivilisationen vertrauten ganz unterschiedlichen Heilungskonzepten. Auf die Art der Heilkunde oder gar auf eine »ärztliche Kunst« kam es nicht an. Zu keiner Zeit verringerten Behandlungen die Krankheitslast oder erhöhten die Lebenserwartung.7 Wenn heute Ärzte streiken, haben Bestattungsunternehmen nirgendwo mehr zu tun.8 Ärzte beeinflussten immer nur Einzelschicksale positiv oder negativ. Kriege, Not und Umweltbedingungen bestimmten das Wohlergehen von Gesellschaften.

Die Medizin leidet bis heute unter einem blinden Fleck für Heilungsvorgänge. Seit man Tote seziert hat, weiß man zwar viel mehr über Krankheiten, aber nur wenig mehr über die Heilungsstrategien unserer Biologie. Wie Heilung funktioniert, ist nun einmal keine Botschaft der Toten an die Lebenden, sonst wären sie schließlich nicht verstorben … Um herauszufinden, warum Menschen trotz widriger Umstände gesund bleiben oder wieder gesund werden (sogenannte Salutogenese), sollten wir besser von Genesenen und Hochbetagten lernen.

Alternativen zur Schulmedizin gab es immer

Naturheilkundige haben in den vergangenen 2500 Jahren mehr zu Linderung und Heilung beigetragen und weniger geschadet als Ärzte, schon weil sich ihre Anwendungen generationenübergreifend auf praktische Erfahrungen stützten. Als der französische Chirurg Ambroise Paré (1510–90) bei einer schweren Gesichtsverletzung eine Gesichtshälfte schulmedizinisch mit kochend heißer Paste aus Holunderbeeröl und opiumhaltigem Theriak, die andere gemäß einer Kräuterfrau mit einer Zwiebelsalbe behandelte, blieben nur unter der Zwiebelsalbe entstellende Narbenbildungen aus.9 Paré schaffte es in die Ahnengalerie. Die Kräuterfrau kennt heute niemand mehr. In keiner Geschichte der Medizin dürfen daher Naturheilmittel und Pflegende fehlen.

Therapeutisches Wissen war in der Bevölkerung verbreitet. Der vor etwa 7000 Jahren verstorbene »Ötzi« hatte den Birkenporling, einen Pilz mit antibiotischen Eigenschaften, im Reisegepäck. Die Schienung von Knochenbrüchen, das Einrenken luxierter Glieder, die Reinigung von Wunden und kaltes Wasser bei Entzündungen gehörten immer zur Selbsthilfe. Abführ- und Brechmittel waren wie Pflanzenzubereitungen für Wunden, Frauenleiden, Harnwegssteine, Magen-Darm-Entzündungen oder Herzschwäche aus der Naturapotheke verfügbar. Opium, Alkohol und Klistiere hatten Apotheker im Angebot.

Bei Fortbestehen der Symptome und stärkerem Leidensdruck suchte man Kräuterkundige, Handwerkschirurgen, Schäfer oder Scharfrichter auf. Handgreifliche Therapien wurden von akademischen Ärzten nur verordnet – ausgeführt haben sie Gesundheitshandwerker. Da konnte man sich gleich von der Baderin zur Ader lassen und das ärztliche Honorar sparen. Für Ärzte verblieb lange wenig mehr als giftige Chemie, die durch kostensenkende Verfälschungen von Apothekern noch verheerender wirken konnte.10 Bis ins 18. Jahrhundert waren Ärzte »Gäste im Raum der Selbstbehandlung«.11

Dies änderte sich mit den europaweiten »Hexen«-Verfolgungen, da vorrangig heilkundige Frauen und Hebammen sowie Querdenker denunziert und verbrannt wurden. Mit dieser Ermordungswelle wollten sich nicht nur die Kirchen unliebsamer Kritiker entledigen. Es ging auch um Einkünfte. In der Wirtschaftskrise nach Abriegelung des Orients und als Folge der Kleinen Eiszeit wurde der Kuchen im Heilgewerbe kleiner. Die Ausschaltung der Konkurrenz sollte die Einnahmen für Klerus und Ärzte sichern. Damit verschwanden narkotisierende Mischgetränke aus den Hausapotheken, die so manchen Arztbesuch erspart hatten. Die Rolle von Ärzten als »Gutachter« bei Folterungen ist dabei noch weit schlechter aufgearbeitet als ihre Mitwirkung in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten.

Braucht die Medizin Helden?

Die Geschichte der Medizin ist keine Heldensaga. Die wenigsten heute noch bekannten Ärzte haben mehr genützt als geschadet. Ob Opium oder Aderlässe, Quecksilber oder abenteuerliche Operationen – alles verursachte Gesundheitsschäden und Tote. Paracelsus (1493–1541) verwarf zwar die Säftelehre, seine eigenen Krankheitstheorien waren allerdings nicht minder hanebüchen. Vermeintliche Kultfiguren der Bakteriologie wie Louis Pasteur (1822–95) und Robert Koch (1843–1910) waren keine »Retter der Menschheit«. Weder hat Pasteur die »Pasteurisierung« erfunden, noch verdanken wir Koch die Entdeckung der Erreger von Cholera, Milzbrand und Tuberkulose.

Bei genauer Betrachtung ist meist mehr Schatten als Licht. Kein Mensch taugt zum Säulenheiligen. Der Bekanntheitsgrad hat wenig mit den tatsächlichen Verdiensten zu tun. Die wichtigsten Neuerungen kamen oft genug nicht aus den »Hochburgen der Großsiegelbewahrer der Wissenschaft«,12 sondern aus dem Off und verhallten für Jahrzehnte oder Jahrhunderte. Einem Feldherrn im antiken Griechenland13 und Laien in Rom waren Ansteckungswege von Infektionskrankheiten längst bekannt, als die gelehrte Medizin noch irreführende Spekulationen anstellte.14 Laien hatten bereits 200 Jahre vor den Bakterienjägern des 19. Jahrhunderts Mikroben unter dem Mikroskop gesehen.

Die vermeintlich erste Herztransplantation, die 1967 medienwirksam inszeniert in weitgehender Unkenntnis immunologischer Vorgänge erfolgte, war keine verantwortungsbewusste ärztliche Handlung. Verpflanzungen anderer Organe hatten lange belegt, dass die medikamentöse Balance zwischen Abstoßung und Infektionsrisiko nicht beherrscht wurde. Die Installateursleistung des chirurgischen Hazardeurs war ein Himmelfahrtskommando für den Patienten. Er überlebte ganze 18 Tage. Bereits drei Jahre vor diesem Menschenversuch hatte ein amerikanischer Chirurg die Weltpremiere ohne mediale Begleitmusik gewagt und war kläglich gescheitert.15 Alles übrigens noch ohne das fragwürdige Konzept vom »Hirntod« der Organspender, das erst 1968 ganz schamlos mit kommerziellen Interessen begründet und Hals über Kopf präsentiert wurde!16

Dennoch wird die bisherige Geschichte der Medizin von Einzelaktivitäten dominiert. Vernebelt wird dadurch die katastrophale Bilanz der akademischen Ärzte. Neue Erkenntnisse in Anatomie, Physiologie und Biochemie hatten selten praktische Auswirkungen. Die Analyse von William Harvey (1587–1657), dass in uns eine begrenzte Menge Blut stetig im Kreislauf zirkuliert, hätte die Praxis des Aderlasses mindestens verändern müssen. Die Identifizierung von Krankheitserregern verhinderte oder beseitigte jahrzehntelang keine Infektion. Warum genießen Draufgänger bei Transfusionen und Infusionen noch immer Ansehen als Pioniere der Notfallmedizin, obwohl Leichen ihre Wege pflasterten? Warum nicht die Ärzte, die sich wie der Frankfurter Endoskopie-Visionär Philipp Bozzini (1773–1809) aufopferungsvoll um hochansteckende Patienten kümmerten und sich selbst dabei tödlich infizierten?

In den seltensten Fällen lassen sich maßgebliche Neuerungen und Paradigmenwechsel auf eine Person und ein Datum festlegen. Meist kamen verschiedene Menschen an verschiedenen Orten zu gleichartigen Lösungen. Auch hat nicht jeder sein Denken und Tun für die Nachwelt aufgeschrieben. Und allzu oft zeigen Recherchen, dass die vermeintlichen Pioniere es mit dem geistigen Eigentum anderer nicht so genau nahmen. Wichtiger als die Erstmaßnahme ist ohnehin die erste erfolgreiche Anwendung. So manches war anders, als es Geschichtsbücher glauben machen.17 Nur selten brachten Lehrstuhlinhaber oder Großkonzerne die Medizin weiter. Aber es waren immer Ordinarien, Institutsleiter oder Industrielobbyisten, die Entwicklungen verhinderten.

Medizin – auch ein Geschäft

Gesundheit und Heilungen waren die meiste Zeit eine Bedrohung für ärztliche Einkommen. Entwaffnend ehrlich bekannte ein deutscher Professor, der durch rassenhygienische Veröffentlichungen in den 1930er Jahren zu unrühmlicher Bekanntheit gelangte, dass »der Gesundung schwerwiegende wirtschaftliche Interessen entgegenstehen«.18 Bemüht sich die akademische Medizin daher vorrangig, Krankheiten anstatt Heilungsvorgänge zu verstehen?

Hing der Verdienst von Ärzten davon ab, ob und wie viele Leistungen sie erbrachten, war es um Indikationen und Evidenz der Therapien immer schlecht bestellt. Die »Wundermaschine der Selbstheilung«19 bescherte Erfolge und Einkünfte, egal, wie untauglich die Therapien waren. Grund für ärztliche Zurückhaltung gab es allenfalls, wenn der Tod eines Patienten unter einer Behandlung als Makel oder gar als Straftat galt und Honorareinbußen nach sich zog. Der Arzt und Politiker Joseph Dietl (1804–78) formulierte: »So lange es erfolgreiche Ärzte gibt, wird es keine wissenschaftlichen Ärzte geben.«

Inszenierte »Pandemien« bestätigen im 21. Jahrhundert, dass wissenschaftliche Methoden nichts an der kommerziellen Dominanz in der Medizin geändert haben. Messwerte, Studien und Tests wurden missbraucht, um Diagnosen in die Welt zu setzen und Menschen zu unnützen wie gefährlichen Behandlungen zu verpflichten. Das Recht auf Dienstleistungen bei Krankheit – in Deutschland seit 1883 – scheint zu einer Pflicht umfunktioniert zu werden, fragwürdige Maßnahmen über sich ergehen zu lassen.

2500 Jahre Medizin auf 100 Seiten

Wir kennen alle die Urangst, wenn sich eine Krankheit zunächst unmerklich und dann spürbar in unserem Körper einnistet. Die Erfahrung mag uns versichern – zumindest im jüngeren Lebensalter und bei bekannten Symptomen –, dass wir wieder gesund werden. Ein Unbehagen stellt sich trotzdem jedes Mal ein. Werden die Selbstheilungskräfte ausreichen? Ganz sicher können wir nie sein, ob es vielleicht der Anfang vom Ende ist. Unsere Vorfahren haben diese Bedrohung wohl ungleich intensiver empfunden. Schon immer wird es das Bedürfnis nach Linderung und Heilung gegeben haben. Konnten irgendwelche Substanzen, Gegenstände oder Handlungen die Krankheit abkürzen oder vertreiben?

Frühe Menschen haben als Heilmittel Pflanzen, Minerale, Zuwendung und mechanische Hilfen, aber auch Magie genutzt.1 Eine der frühesten Maßnahmen war die Stillung von Blutungen durch Druck mit der Hand und Kompressionsverbänden sowie adstringierendem Material. Noch heute werden von Naturvölkern Hölzer in Form von Dämonenfiguren bereitgehalten, die pulverisiert neben einer Beschleunigung der Blutgerinnung einen Placeboeffekt entfalten können.2 Das Besprechen von Wunden und das Wünschen überhaupt sind uralte Rituale (zum Beispiel der zweite Merseburger Zauberspruch).

Ob Menschen ihr Ende schon immer möglichst lange hinausschieben wollten, wissen wir dagegen nicht. Die existenzielle Bedrohung durch eine Krankheit oder Verletzung weckte jedenfalls das Bedürfnis nach wirkmächtigeren Kräften, wie sie Naturerscheinungen entfalteten. Diese frühzeitig personifizierten Mächte wurden wahrscheinlich überall angerufen. Bald dürften sich andere Menschen als Vermittler angeboten haben. Diese Heiler wollten die halluzinierten Götter und Geister veranlassen, ein gutes Schicksal zu bestimmen.

Die psychologisch und körperlich wirksamen Handlungen konnten dabei auf verschiedene Personen verteilt werden, die im Verbund wirkten. So gab es in der ägyptischen Hochkultur das Triumvirat aus Priester, Schamane und Heilkundigem. Priester und Schamanen waren auf die psychologische Aktivierung der Selbstheilungskräfte spezialisiert, die Heilkundigen besorgten die konkreten Maßnahmen mit Arzneien und Salben sowie manuelle Medizin. Frauen waren dabei als Heilerinnen hoch angesehen.

Ägyptische Papyri aus der Zeit um 1500 v. u. Z. enthalten die ältesten Beschreibungen zahlreicher chirurgischer Behandlungen: Versorgung von Wunden, Einrichten von Gliedern, Nasenrekonstruktionen und Operationen von Tumoren oder Abszessen. Abgesehen von Gewalttaten und vielleicht Unfällen oder Nahrungsmittelvergiftungen wurden in der frühen Menschheitsgeschichte Krankheitszustände auf übernatürliche Ursachen zurückgeführt. Kausalzusammenhänge waren bei inneren Krankheiten nicht offenkundig.

War am Anfang Hippokrates?

Die europäische Medizin beginnt nicht im antiken Griechenland. Heilkräuter und manuelle Therapien sind weit älter. Aber es scheint, dass im 5. Jahrhundert v. u. Z. in den kleinteiligen Gesellschaften im heutigen Kleinasien auf den vorgelagerten Inseln sowie im damals westgriechischen Süditalien und Sizilien ein Paradigmenwechsel stattfand. Galt Krankheit bis dahin als göttliche Strafe, gerieten jetzt Versäumnisse der Lebensführung in das Blickfeld. Krankheiten fielen nicht vom Himmel, sondern konnten auf die Natur und Lebensweise zurückgeführt werden. Wahrscheinlich hatten grassierende Seuchen den Glauben in die magische Tempelmedizin erschüttert.

Dieses Denken wurde zunächst von Naturphilosophen wie Alkmaion von Kroton (um 500 v. u. Z.) und Empedokles von Agrigent (ca. 495 bis um 435 v. u. Z) vorangetrieben. Sie versuchten, Vorgänge logisch zu erklären. Alkmaion erkannte, dass das Gehirn das Zentralorgan für alle höheren Fähigkeiten ist. Auf Empedokles geht die Theorie von vier Urstoffen (Feuer, Wasser, Erde, Luft) zurück, aus der der westgriechische Arzt Philistion von Lokroi (um 427 bis um 347 v. u. Z.) seine Lehre von der Mischung dieser vier Elemente im menschlichen Körper entwickelte. Er formulierte wohl als Erster, dass Krankheit aus einem Ungleichgewicht dieser vier Elemente resultieren würde. Den vier Elementen ordnete er ein Quartett von vier Grundeigenschaften (heiß – kalt; nass – trocken) zu. Dies war die Basis für die Säftelehre »hippokratischer Ärzte«.

Die unter dieser Bezeichnung zusammengefassten Heilkundigen wollten bei Kranken Gesetzmäßigkeiten der zugrunde liegenden Vorgänge erkennen. Die bekanntesten Heilerdynastien bestanden auf der Halbinsel Knidos, der unmittelbar benachbarten Insel Kos und in Kroton auf Sizilien. Der legendäre Hippokrates von Kos (etwa 460 bis etwa 370 v. u. Z.) wurde zwar zum Namenspatron einer dieser Familien, war aber nicht der einzige Heiler seiner Sippe. Es gab mindestens schon einen heilgewerblich tätigen Großvater und spätere Generationen mit wahrscheinlich sieben gleichnamigen Familienmitgliedern.

Die sogenannten hippokratischen Schriften stammen jedenfalls nicht aus einer einzigen Feder. Es handelt sich um ein nachträgliches Konstrukt aus mehr als 89 Schriftrollen, die zwischen dem 5. und 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung entstanden sind. 72 Texte sind erhalten.3 Entsprechend heterogen sind Stil und Überzeugungen. Allerdings lassen sich die Lehren einer Denkschule zuordnen, die mit den Traditionen religiöser Heilungsrituale brach und sich an zahlungskräftige Kunden richtete. Die religiöse Tempelmedizin, für die der Heilschlaf ein zentrales Element war, bestand ungeachtet dessen fort – jedoch nur für die Armen und Unheilbaren.

Die drei großen Themengebiete der hippokratischen Texte sind Innere Medizin, Chirurgie und Gynäkologie. Das Wissen, das man sich über viele Jahre angeeignet hatte, wurde dabei in geschlossenen Männergesellschaften weitergegeben. Der legendäre Hippokrates, seines Zeichens der Zweite, war vielleicht der Erste im Clan, der auch nichtverwandte Schüler unterwies, um den Wirkungsbereich zu vergrößern. Bruchstückhafte Überlieferungen einer Eidesformel lassen darauf schließen, dass diese Schüler Wissen nur gegen Loyalität und Unterhaltsverpflichtung für ihre Lehrer vermittelt bekamen.

Worauf beruhte die hippokratische Medizin?

Entstammten Krankheiten nicht länger dem Ratschluss der Götter, dann waren sie auf natürliche oder zivilisatorische (nichtnatürliche) Ursachen zurückzuführen, die Ärzte identifizieren konnten. »Wer die ärztliche Kunst richtig betreiben will, hat folgendes zu beachten: die Jahreszeiten und ihren Wechsel, die Luftströmungen, die allgemeinen wie die lokalen und drittens die Beschaffenheit des Wassers.«4 Daneben spielte aber auch die Lebensführung eine Rolle. Um gesund zu bleiben, kam es auf die richtige Art und Menge der Nahrung, der Getränke, des Schlafs und der körperlichen Bewegung an. Hierzu mussten hippokratische Ärzte ihre Klienten sorgfältig beobachten.

Schädliche Umwelteinflüsse, insbesondere des Klimas (Dürre, Hitze, Kälte, Nässe), mangelnde Sauberkeit oder schlechte Nahrung sollten durch Verhaltensänderungen wie Mäßigung, Ernährungsumstellung und Bewegung begrenzt werden. Die Erkenntnisse wurden programmatisch zusammengefasst und von Lehrern an Schüler weitergegeben. Allerdings konnten diese neuen Ärzte offenbar bei ihren Wahrnehmungen nicht zwischen wesentlichen und unwesentlichen Phänomenen unterscheiden: Haarfarbe und Sprechweise erschienen ihnen genauso bedeutsam wie Ernährung, Schwitzen oder Durchfall …

Zwei voneinander getrennte Zweige der Medizin lassen sich unterscheiden:

Eine manuelle Medizin für das Einrichten von Brüchen und Verrenkungen oder die Entlastung von Blut- oder Eiterblasen

Eine Medizin der inneren Erkrankungen auf dem Konzept des (Un-)Gleichgewichts verschiedener Körpersäfte

Eröffnungen der Körperoberfläche mit einem Messer gehörten nicht zum Kerngeschäft hippokratischer Ärzte. Aus der Schriftensammlung lässt sich rückschließen, dass es – wie später im Mittelalter – eine Trennung zwischen Ärzten und Gesundheitshandwerkern gab: »Niemals werde ich bei Blasensteinkranken den Schnitt machen, sondern sie zu den werkenden Männern schicken, die mit diesem Geschäft vertraut sind.«5 Operative Behandlungen umfassten bereits in der Antike ein breites Spektrum: Schädelfensterungen (sogenannte Trepanationen), Amputationen von Extremitäten, Leistenbruchoperationen, Blasensteinentfernungen, Luftröhrenschnitte und die Ausräumung von Gefäßaussackungen (Aneurysmen) nach Aderlässen.

Ein generelles Skalpellverbot für hippokratische Heiler wie in den späteren christlichen Versionen des »Berufseids« gab es jedoch nicht.6 Ärzte dürften bei naheliegenden Notwendigkeiten wie zum Beispiel bei Geburtskomplikationen sehr wohl zum Skalpell gegriffen haben. Die hippokratischen Schriften enthalten mehrere Rollen, in denen ausführlich Verwundungen durch Kriegsgerät und Unfälle abgehandelt werden. Äußere Schienen, zirkuläre Leinwandbinden, das Kürzen hervorstehender Knochenstücke, das Einrenken von Gliedern und eine Art externer Fixateur zum Auseinanderziehen und Einrichten offener Frakturen sind dort bereits beschrieben.

Der Paradigmenwechsel besteht in der für Europa so fatalen Irrlehre von einer Störung der Säfte als Ursache aller inneren Krankheiten. Waren es nicht immer verschiedene Flüssigkeiten, die Menschen absonderten, wenn sie krank waren? Ein kranker Körper versucht, die jeweils überschüssige Flüssigkeit loszuwerden: Erbrochenes mit und ohne Galle, Durchfall, Schleim oder Blut. Das Konzept unterstellte, dass die Körperflüssigkeiten in einer Art Schalen im Körperinneren des Menschen lagerten – eine gänzlich unanatomische Theorie. Aus Tierschlachtungen, Kampfverletzungen und Leichenöffnungen mussten anatomische Kenntnisse vorhanden gewesen sein. Das Bild der Schalen darf daher nicht allzu gegenständlich, sondern eher philosophisch aufgefasst werden. Damalige Ärzte sahen Menschen immer als integrale Person und nicht als Summe von Einzelteilen. Die heute um sich greifende Separierung eines Menschen in seine Organe und Zellstrukturen war den hippokratischen Ärzten fremd.

Obwohl Blut bei Verletzungen und der Tötung von Tieren augenfällig war, hatten hippokratische Ärzte zunächst zwei andere Körpersäfte im Blick: »Alle Krankheiten bei den Menschen entstehen durch Galle und Schleim (…), wenn sie im Körper übermäßig ausgetrocknet, verwässert, erhitzt oder abgekühlt werden.«7 Je nach Zustand des Kranken mussten Ärzte »in Entziehung des Überschüssigen, andererseits in Zufuhr des Fehlenden«8 wieder Ausgewogenheit herstellen. Blut wurde später als dritte Flüssigkeit hinzugefügt.

Die Ausweitung des Konzeptes auf schließlich vier Flüssigkeiten formulierte vermutlich ein Schwiegersohn des Hippokrates namens Polybos (um 410 v. u. Z.): »Der Körper des Menschen hat in sich Blut, Schleim und zweierlei Galle, die gelbe und die schwarze. Diese Qualitäten sind die Natur seines Körper, und durch sie wird er krank und gesund.«9 Zwar handelt es sich bei schwarz erscheinender Galle um keine eigene Flüssigkeit, sondern lediglich um eine Farbänderung der eigentlich hellgelben Galle in der Gallenblase oder bei einem gestörten Galleabfluss, aber Menschen zeigten sporadisch schwarze Absonderungen: Blut wurde schwarz, wenn es länger an der Luft stand; Stuhlgang konnte schwarz sein.

Die vierte Flüssigkeit sollte der Säftelehre eine zwingende Stellung im kosmischen Ganzen verleihen; denn nach der geltenden Weltsicht gab es vier Elemente (Feuer, Wasser, Luft und Erde) und vier Primärqualitäten (warm und kalt, trocken und feucht). Jede Flüssigkeit konnte einem Element und einer Qualität zugeordnet werden: so etwa der Schleim dem Wasser und feucht, Blut dem Feuer und warm. Ein Überwiegen eines dieser Säfte wäre für jede Jahreszeit und Lebensphase charakteristisch und würde die psychische Verfassung eines Menschen reflektieren.

Bis heute halten sich diese Bezeichnungen in unserer Sprache: Choleriker (gelbe Galle), Phlegmatiker (Schleim), Melancholiker (schwarze Galle), Sanguiniker (Blut). Und passte dies nicht zu den vier Typen der äußeren Hauterscheinung: gelb, blass, dunkel, rot? Die Schlussfolgerung schien nahezuliegen, dass man aus dem Äußeren eines Menschen auf seine Körpersäfte und Psyche und damit seine Disposition für bestimmte Krankheiten schließen könnte. In den hippokratischen Schriften sind etwa 60 verschiedene Formen eines Ungleichgewichts der Säfte beschrieben.10 Im Vergleich zu den Listen von Krankheiten anderer Völker besteht keine wesentliche Zahlendifferenz, sodass die Säftelehre keine diagnostische Verfeinerung gegenüber der undogmatischen Volksmedizin brachte.

Dieser scheinbar empirisch-rationale Zugang zum Menschen hatte eine gravierende Folge, die die Schulmedizin bis heute befangen macht. Die Menschen begannen mit einer Krankheitstheorie den Glauben an ihre eigenen Selbstheilungskräfte zu verlieren.11 Genesungen aus eigener Kraft wurden zu »Wunderheilungen« oder konnten scheinbar nur durch Heiler, Schamanen, Geistliche und Könige bewerkstelligt werden. Vor allem die späteren Wallfahrtsorte vereinnahmten Spontangenesungen als Leistungen der Obrigkeit.

Und was folgte für die Therapie?

Die Lebensführung war die wichtigste Stellschraube, um die Säfte wieder in Balance zu bringen. Wer sich zu wenig bewegte, dem wurde Bewegung verschrieben; wer zu viel aß, wurde auf Diät gesetzt; wer zu viel schlief, musste länger aktiv bleiben. Heilmittel waren für hippokratische Ärzte gegenüber Lebensstiländerungen immer nachrangig. Es blieb auch keine Wahl. Spezifische Medikamente gab es nicht. Arzneimittel wurden ohnehin nur auf die Haut aufgebracht. Und wie hätten sie sich anders im Körper verteilen sollen, da man davon ausging, dass das Blut hin und her schwappte, aber nicht zirkulierte?

Als Eskalationsstufe in diesem Konzept ist der aktive Entzug von Flüssigkeiten aus dem Körper aufzufassen: das Auslösen von Erbrechen (zum Beispiel durch Antimon), Niesen (zum Beispiel durch Nießwurz), Durchfall (zum Beispiel durch Sennesblätter oder Einläufe) sowie der Entzug von Blut durch Eröffnung einer Vene/Arterie (Aderlass) oder nach Aufkratzen der Haut, auf die mit Unterdruck ein Gefäß aufgesetzt wurde (Schröpfen). Körperflüssigkeiten zu vermindern war allerdings keine Erfindung hippokratischer Ärzte. Auch in Ägypten und anderen Kulturen wurde Blut abgezapft oder Erbrechen und Durchfall provoziert. Die hippokratische Medizin scheint nur das erste theoretische Konzept geliefert zu haben.

Daneben gab es noch eine weitere Behandlungsmethode, die im Aufsetzen erhitzter Eisen auf Körperteile (Kauterisierung) bestand und ebenfalls alles andere als neu war. Es ist eine Fortsetzung ritueller Heilpraktiken ohne Bezug zur Säftetheorie. Zahlreiche frühe Kulturen glaubten, dadurch eine Krankheit aus dem Inneren an die Oberfläche verlagern zu können. Hippokratische Ärzte bedienten sich ungeachtet ihrer Philosophie dieser Methode, wenn sie mit ihrem Griechisch am Ende waren: »Was Arznei nicht heilt, heilt das Messer; was das Messer nicht heilt, heilt das Feuer; was das Feuer nicht heilt, muss als unheilbar gelten.«12 Hitze galt schon länger als Verstärkung der Selbstheilungskräfte. »Gebt mir die Macht, Fieber zu erzeugen, und ich heile jede Krankheit«, soll der naturphilosophische Vordenker Parmenides von Elea (5. Jh. v. u. Z.) erklärt haben. Die heutigen Überwärmungen in der Krebstherapie lassen grüßen …

Ob Kopfschmerzen, schlecht heilende Wunden oder Geisteskrankheiten – die Theorie konnte Theorie bleiben, wenn es um einen Therapieerfolg ging. Hippokratische Ärzte waren weniger dogmatisch, als die Säftelehre vermuten lässt. Das psychische Befinden der Kranken war ebenso wichtig wie die Beseitigung von Symptomen. Wer Durchfall hatte, bekam Opium verordnet, um den Darm zur Ruhe zu bringen. Es gab immer Anwendungen von Heilpflanzen, die nur mit Kunstgriffen in die Theorie der Säfte eingepasst werden konnten.

Dies gilt gleichermaßen für die Heilbehandlungen griechischer Ärzte in Rom, die dort allmählich die traditionelle Volksmedizin verdrängten. Empirische Erkenntnisse wurden unabhängig vom theoretischen Konstrukt genutzt. Eine Weiterentwicklung naturheilkundlicher Mittel stand jedoch nicht auf ihrem Programm. Heiler, die aufgrund ausschließlich praktischer Erfahrungen behandelten, wurden schon damals als »Empiriker«, denen theoretisches Wissen abging, verunglimpft.

Die Eröffnung und Erkundung der Innenwelt

Im Konzept der hippokratischen Ärzte spielten menschliche Anatomie und Physiologie keine Rolle. Der Körper des Kranken war eine »black box«, über die man nur aus der Zufuhr von Substanzen (Atemluft, Speisen und Getränke) und den Körperausscheidungen (Exkremente, Blutungen, Schweiß, Schleim) spekulieren konnte. Man hatte nicht einmal ein Wort für die Muskeln oder den Magen. Aristoteles (etwa 385 bis etwa 323 v. u. Z.) scheint der Erste gewesen zu sein, der Tiere sezierte, um zu erkennen, wie deren Innenleben funktionierte. Auf ihn geht der Begriff »Organe« zurück. Diokles von Karystos (4. Jh. v. u. Z.), ein mutmaßlicher Schüler von Aristoteles, soll das erste Buch über Anatomie verfasst haben. Es ist allerdings nicht erhalten.

Die ältesten Dokumente über die menschliche Anatomie und Physiologie stammen aus Alexandria, wo zu dieser Zeit die Griechen herrschten. Dort wurde erstmals chirurgischen Eingriffen ein höherer Stellenwert eingeräumt und das Operationsspektrum erweitert. Vermutlich spielte hierbei die lange Tradition der ägyptischen Mumifizierung eine Rolle, die das Tabu körperlicher Zergliederungen nicht kannte. In der alexandrinischen Chirurgie taucht auch erstmals die Narkose auf, die vorzugsweise mit dem Saft der Alraune, der den betäubenden Stoff Scopolamin enthält, vorgenommen worden zu sein scheint.13

Der von der Insel Kos stammende Praxagoras, dessen Schüler Herophilos von Chalkedon sowie sein Zeitgenosse Erasistratos von Keos (etwa 330–255 v. u. Z.) führten um 300 vor unserer Zeitrechnung in Alexandria sowohl Sektionen an Leichen als auch an lebenden Tieren und Menschen (verurteilten Kriminellen) durch. Die ersten Fakten über die Anatomie von Gehirn, Nerven und Sehnen, der Reproduktionsorgane sowie des Herzens gehen darauf zurück. Praxagoras unterschied Arterien und Venen, Herophilos Nerven und Sehnen. Allerdings glaubte Praxagoras, dass in den Arterien Luft wie in der Luftröhre bewegt würde, da bei der Sektion von Leichen linke Herzkammer und Arterien im Gegensatz zu den Venen blutleer erscheinen. Erasistratos vermutete bereits kapillare Verbindungen zwischen Arterien und Venen.

Praxagoras ordnete die Organe erstmals zwei Systemen zu: Gehirn, Nerven, Sehnen und Muskeln bildeten das willkürliche, von uns kontrollierbare System; Herz und Blutgefäße ein unwillkürliches System. Der arterielle Puls wurde seither zur Hauptinformationsquelle für die vegetativen Vorgänge. Herophilos erkannte, dass die Herzfrequenz mit der Körpertemperatur steigt, und nutzte bereits die Pulsfrequenz mittels transportabler Wasseruhr zur Fieberbestimmung. Konsequenzen für die Therapie blieben jedoch aus. Lediglich Erasistratos lehnte im Gegensatz zu Herophilos den Aderlass als Therapie ab. Bereits dessen Lehrer namens Chrysippos von Knidos hatte Aderlässe als gefährlich verworfen. Nach diesen anatomischen und physiologischen Forschungen scheint es über Jahrhunderte keine Aktivitäten zur weiteren Aufklärung innerer Vorgänge gegeben zu haben.

Alles Galen? – Medizin zur Zeit des Römischen Reichs

Es scheint keinen anderen Arzt in der Geschichte der Medizin gegeben zu haben, dessen Einfluss auf die Heilkunde so lange und so nachhaltig angesehen wird wie der eines mutmaßlich auch in Rom tätigen griechischen Arztes, eines gewissen Galenos aus Pergamon (etwa 130 bis etwa 200). Kein anderer Arzt wurde und wird mehr als 1500 Jahre so maßlos überschätzt, obwohl es keine einzige autorisierte Originalfassung seiner Schriften gibt. Bis zum heutigen Tag sprechen Apotheker noch von »Galenik«, wenn sie Wirkstoffe zu verträglichen Medikamenten verarbeiten. Dabei findet sich in den ihm zugeschriebenen Dokumenten lediglich die hippokratische Irrlehre der vier Säfte. Galen behauptete nur von sich, dass er den von Hippokrates vorgezeichneten Weg erst begehbar gemacht hätte …14

Ein griechischer Arzt in Rom war keine Besonderheit; denn die römische Oberschicht bestand von Anfang an aus Griechen. In den ersten Jahrhunderten des römischen Imperiums gab es dort keine Ärzte. Heilungsbemühungen basierten auf der traditionellen Volksmedizin mit Heilkräutern, Diäten und Badekuren. Ausgeführt wurden sie vor allem von Heilerinnen, die ihr Wissen in Familien weitergaben: Kräuterkundige (herbaria), Giftmischerin (venefica), Hebamme (obstetrix). Viel Aufhebens wurde um Heiltränke und Arzneien nicht gemacht. Das Schicksal lag in den Händen der Götter, Einflussmöglichkeiten galten als sehr begrenzt und oblagen den Familienoberhäuptern.

Eine Zuwanderung griechischer Ärzte ist ab dem 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung nachweisbar. Julius Cäsar verlieh einer Gruppe griechischer Äskulapjünger erstmals 46 v. u. Z. das Bürgerrecht.15 Sie fungierten als Behandler der gesellschaftlichen Eliten. Die griechische Heilkunde etablierte sich wegen dieser Nähe zur Macht und keineswegs aufgrund ihrer Behandlungserfolge. Noch im Jahr 20 v. u. Z. plädierte der römische Leibarzt von Kaiser Augustus für eine Rückkehr zur traditionellen Volksmedizin.16 Auch die Ausführungen eines Marcus Terentius Varro (116–27 v. u. Z.) über Infektionen zeigten, dass Behandler ohne die griechische Irrlehre der Natur von Krankheiten näher gekommen wären: »In sumpfigen Gegenden vermehren sich winzig kleine Tiere, so winzig, dass das Auge sie nicht wahrnehmen kann, aber sie dringen mit der Atmung durch Mund und Nase in den Körper ein und verursachen schwere Krankheiten.«17 Für die Apostel der Säftelehre kamen Infektionen dagegen mit den Winden.

Die hippokratische Medizin verbreitete sich ab dem 1. Jahrhundert innerhalb zahlreicher sektenartiger Ärztegruppierungen. Aus dieser Zeit stammt die bedeutsamste Überlieferung der Frauenheilkunde von Soranos von Ephesos (etwa 98–138), die noch bis in die frühe Neuzeit als theoretische Grundlage der Geburtshilfe diente. Galen war nicht der einzige Arzt, der die Säftelehre vertrat. In lateinischen Texten wird er kaum erwähnt. Es gelang ihm offenbar nicht, eine eigene Schule zu begründen, obwohl er Oberschicht und Kaiser behandelt haben soll. Aber keiner hat diese irrigen Vorstellungen so vehement vertreten wie er. Galen unterschied zwischen »natürlichen« und »unnatürlichen« Faktoren, die Krankheiten verursachen. Die natürlichen Faktoren wie Klima, Jahreszeit, Alter und Geschlecht wären weniger bedeutsam, als seine griechischen Vorläufer angenommen hätten, und entzögen sich ohnehin menschlicher Kontrolle. Es käme daher vornehmlich auf die Lebensweise an. Jeder Mensch könne und müsse selbst für Gesundheit sorgen.

Vorschriften für eine Änderung der Ernährung und Lebensführung sollten bis ins 20. Jahrhundert feste Bestandteile des ärztlichen Repertoires bleiben. Krankheit bekam ein Schuldstigma, und eiserne Selbstdisziplin war nötig, um wieder gesund zu werden. Beides passte später der katholischen Kirche ideal in ihr Konzept autoritärer Bevormundung. Es ist keine zufällige Laune der Zeitläufte, dass gerade Galens Schriften erhalten blieben und die konkurrierender Kollegen verloren gingen.

Galen ließ nur zwei Gründe für innere Krankheiten gelten: Dyspepsie (Verdauungsstörung) und Plethora (Blutüberfülle). Die Dyspepsie entstünde durch falsche Nahrung, die Plethora durch einen Nahrungsüberschuss. Der Entzug von Blut wäre die spezifische Kur der Blutüberfülle und könnte indirekt das Ungleichgewicht der Körpersäfte als Folge der Dyspepsie wiederherstellen. Auch psychische Erkrankungen sollten damit behandelt werden. Denn das rote Blut würde die anderen drei Säfte enthalten: in stehendem Blut bilden die sedimentierten roten Blutkörperchen am Boden eine schwarze Schicht (»schwarze Galle«), darüber ist die Flüssigkeit teils gelblich (»gelbe Galle«) oder klar (»Schleim«). Der Harn wurde spätestens von Galen als Abbild des Leberblutes angesehen, aus dessen Farbe, Konsistenz und Geruch die Säftemischung eines Menschen erkennbar sei.

Tatsächlich genützt haben konnte der Entzug von Blut allenfalls bei einer Episode von Bluthochdruck und sehr seltenen Erkrankungen mit zu vielen Zellen im Blut oder bei einer Eisenüberladung. Dennoch wurde der Aderlass neben Änderungen des Speiseplans für die nächsten 1700 Jahre zum Universalheilmittel, der sogar nach Unfällen mit Blutverlust nicht fehlen durfte! Wenig verwunderlich, dass als zweites Buch nach der Bibel 1457 ein Aderlasskalender gedruckt wurde, aus dem man die beste Zeit und den geeigneten Ort für den Blutzoll auch bei einer Selbstbehandlung ablesen konnte.18

Galen unterschied drei Bereiche der Heilkunde: Ernährungstherapie, Arzneimitteltherapie und manuelle Medizin. Auf den ersten Blick erscheint dies modern. Allerdings muss man wissen, dass Aderlass, Brech- und Abführmittel zur Beeinflussung der Ernährung zählten. Nahrungsmittel waren – wie bei hippokratischen Ärzten – Behandlung und Kalorienzufuhr zugleich. Als Arznei galten nur äußerlich anzuwendende Öle, Salben und Lotionen. Dies blieb so bis in das Mittelalter.

Da alle Medikamente gemäß den vier Primärqualitäten nur wärmen oder kühlen, anfeuchten oder austrocknen sollten, spiegeln die Arzneimittelverzeichnisse dieser Zeit und auch später mit bis zu 1400 Präparaten eine Vielfalt vor, die gar nicht bestand. Verordnungen waren beliebig austauschbar, Mischpräparate an der Tagesordnung. Dazu gehörten Theriaka, die mehr als 70 Substanzen und obligat Opium enthielten. Selbst ohne Opium konnten wüste Mischungen unheilsamer Pflanzen durch einen Placeboeffekt positiv wirken (vgl. Kapitel »Mythos Placebo«).

Zu Diagnose oder Therapie hat Galen nur wenig beigetragen. Seine mehr als 1000 Seiten Pulsdiagnostik in zehn Büchern, von der sich noch Überbleibsel in der heutigen Terminologie finden (»Pulsus celer et altus«), sind nichts als eine Ansammlung subjektiver Mutmaßungen, die nicht mehr Gehalt haben als die blumigen Charakterisierungen von Weintestern. Auf den übrigen etwa 10 000 erhaltenen Seiten sieht es nicht besser aus. Weder für Diagnose, Prognose oder Behandlung findet sich Neues von bleibendem Wert. Das Gesamtwerk ist unsystematisch und von Selbstbeweihräucherung geprägt. Als die »Antoninische Pest« im Jahr 167 durch rückkehrende Soldaten nach Rom eingeschleppt wurde, suchte Galen Hals über Kopf das Weite. Er wusste nur allzu gut, wie wenig seine wortreiche Medizin in der Praxis bewirkte.

Galen und seine Zeitgenossen haben nur Tiere seziert. Diese aber auch bei lebendigem Leib, um physiologische Zusammenhänge zu erkennen. Durch die Ähnlichkeit von Menschen mit Affen stimmten viele Beobachtungen in Galens Über anatomische Prozeduren mit der menschlichen Anatomie überein. Er räumte mit dem Irrtum auf, dass in den Adern Luft statt Blut bewegt würde. Diskrepanzen waren jedoch unvermeidlich. Andreas Vesalius (1514–64), der 1500 Jahre später eine maßstabsetzende Anatomie nach menschlichen Obduktionen verfasste, beklagte mehr als 300 Fehler. Widersprüche der Tierbefunde zu den Beobachtungen an Kranken und Verletzten kümmerten Galen jedoch nicht.

Im Römischen Reich gab es bereits Kliniken – entgegen der allgemeinen Wahrnehmung mit einer regen Operationstätigkeit. Zur Schmerzlinderung und Beruhigung vor chirurgischen Eingriffen erwähnt der Enzyklopädist Aulus Cornelius Celsus (um 25 v. u. Z. bis um 50) Opium, das im Imperium eine Wohlstandsdroge war. In einem Kaiserpalast entdeckte man bei Ausgrabungen 17 Tonnen(!).19 Opium und Cannabis wurden verboten, als das Christentum im Jahr 380 zur Staatsreligion für das West- und Oströmische Reich ausgerufen wurde. Frühe Kirchenlehrer neigten zur Auffassung, dass Christen keinen Gebrauch von Heilmitteln machen sollten. Dies änderte sich in der Folgezeit. Buße, der Beistand von Heiligen und die Berührung von Reliquien schienen den Menschen als Heilbehandlungen nicht auszureichen.

Warum taugte gerade Galen als Galionsfigur der Medizin?

Nicht nur die Fülle von Galens 21 Bänden mit mehr als 10 000 überlieferten Seiten ließ die Säftelehre über Jahrhunderte zum Dogma der europäischen Medizin werden. Die lang anhaltende Wirkung erklärt sich dadurch, dass das Christentum mit dem Aufstieg der Karolinger zur Führungsmacht im 8. Jahrhundert in weiten Teilen Europas zur Staatsdoktrin wurde. Galens Lehren, dass jedes Organ eine vorbestimmte Funktion habe und Krankheiten auf Verfehlungen beruhten, passten in das Bild einer Religion mit einem allmächtigen Schöpfer, der nichts dem Zufall überlassen hat. Außerdem harmonierte der therapeutische Entzug von Körperflüssigkeiten bestens mit dem kirchlichen Exorzismus.

Der zweite maßgebliche Grund ist die Zuordnung von Krankheitsursachen zur Lebensführung. Wer krank ist, hat auch Schuld. Und Schuld war von Beginn an der Mechanismus der christlichen Religion, um Macht auszuüben. Schuld schafft Unterwürfigkeit, und natürlich gibt es dann keine anderen Schuldigen. Krank durch natürliche Faktoren wäre immer eine Kritik an der Schöpfung und damit der kirchlichen Heilslehre. Krank durch die Umwelt würde eine Schuld der Herrschenden in den Raum stellen, da sie die Umweltbedingungen maßgeblich beeinflussen. Beides durfte nicht aus den Konzepten einer Heilkunde ableitbar sein, die vor den Augen der katholischen Kirche Gnade fand.

Die unausgesprochene schockierende Wahrheit liegt aber noch tiefer: die hippokratisch-galenischen Irrlehren stellten sicher, dass die Medizin das Heilungsmonopol und -geschäft der Kirche jetzt und in Zukunft nicht gefährdete. Erfolglose Rosskuren von Säftemedizinern brauchte man nicht zu fürchten. Heilende Operationen oder spezifisch wirksame Medikamente hätten den kirchlichen Segen für die Gesundung erübrigt. Fürsprachen, Handauflegen und Wallfahrten waren schließlich eine der Hauptquellen des kirchlichen Reichtums.

Alle Wallfahrtsorte beanspruchten für die dort verehrten Heiligen den »Arzt«-Titel.20 Mindestens jeder sechste Schutzpatron eines Gotteshauses bewahrte angeblich vor irgendeinem Leiden. Heilen konnten eben nur Heilige. Wie unerwünscht außerkirchliche Therapieversuche waren, lässt sich dem Lorscher Arzneibuch (um 800) entnehmen, das als älteste medizinisch-pharmazeutische Handschrift im deutschsprachigen Raum gilt. Im Vorwort sieht sich der anonyme Autor genötigt, Vorbehalte zu entkräften, die Behandlungen als unzulässige Eingriffe in den göttlichen Plan sehen.

Nicht Gesundheit, sondern Krankheit und Tod waren und sind kirchliches Kerngeschäft. Schädliche Therapien herumstümpernder Ärzte waren daher aus Sicht der Kirche eine Idealbesetzung für die weltliche Heilkunde, wenn sie schon nicht verhindert werden könnte. Was die Kirche von Ärzten wirklich hielt, ist im Alten Testament nachzulesen: »Wer vor seinem Schöpfer sündigt, der soll dem Arzt in die Hände fallen!21

Es blieb dann nur die Pflege in kirchlich geführten Siechenhäusern und Spitälern. Sie waren Teil des Heilungskonzerns und sollten krankheitsbedingt nicht mehr arbeitsfähige Menschen von der Straße holen: eine Gegenleistung der Kirche für den Monopolanspruch, den ihr die weltliche Macht zugestanden hatte. Gleichzeitg unterband dies Selbstbehandlungen und Therapien traditioneller Heiler. Unter dem Deckmantel der »caritas« (Nächstenliebe) mit den Slogans »Fürsorge« und »Barmherzigkeit« unterhielt die Kirche ein umspannendes Netz sozialer Kontrolle.

Medizin in poströmischer Zeit

Mit dem Zerfall des römischen Imperiums bestand die griechisch-römische Medizintradition nur noch in der süditalienischen Hafen- und Badestadt Salerno. Das Kloster Monte Cassino richtete hier im 9. Jahrhundert ein Hospital ein, in dem später anlandende Kranke von Handels- und Kriegsschiffen auf dem Weg von und ins Heilige Land versorgt werden konnten. Aufgrund seiner Lage mischte sich dort griechisches, arabisches und jüdisches Wissen. Das erste amtliche Prüfungs- beziehungsweise Approbationsreglement eines medizinischen Zentrums datiert von 1140 und wurde von Roger II. (1095–1154), König von Sizilien, erlassen, um seine Untertanen vor unerfahrenen Ärzten zu schützen.22 Auf dem Programm für die Studenten standen nach drei Jahren Logik fünf Jahre Medizin inklusive Chirurgie und Anatomie sowie ein praktisches Jahr Arzttätigkeit. Für die anatomische Lehre wurden ausschließlich Schweine seziert. Im 13. Jahrhundert war Salerno als einzige Medizinschule durch den Stauferkaiser Friedrich II. (1194–1250) offiziell anerkannt.23

In dieser Zeit übernahmen die aufstrebenden arabischen Gesellschaften die hippokratische Medizin, nachdem sie Kernländer antiker Hochkulturen erobert hatten. Unter der Dynastie der Abbasiden-Kalifen (750–1258) wurden die Texte vor allem von Syrern, die die griechische Heilkunde ab dem 6. Jahrhundert aufgegriffen hatten, ins Arabische übersetzt.24 Die Bearbeiter strukturierten das erratische Werk von Galen neu und verknüpften dabei die griechisch-römischen Lehren mit der aus Babylon stammenden Astrologie. Daneben gab es in den arabischen Ländern noch eine prophetische Medizin. Diese erhob oft erfundene Aussprüche des Propheten in den Rang einer »Wissenschaft« und machte abergläubische Praktiken hoffähig. Die Überprüfung sämtlicher praktizierender Ärzte in Bagdad im Jahr 931 anlässlich eines spektakulären Todesfalles offenbarte einen tagtäglich praktizierten Hokuspokus.25

Durch arabische Ärzte kamen aber auch neue Konzepte und Erkenntnisse hinzu. Abd al-Latif al-Baghdadi (1163–1231) stellte z. B. fest, dass der Unterkiefer und das Kreuzbein jeweils aus einem Knochen und nicht, wie von Galen verbreitet, aus mehreren Teilen bestünden.26 Der syrische Arzt Ibn al-Nafis (um 1210–88) beschrieb als Erster korrekt den Lungenkreislauf. Das wichtigste Werk der Augenheilkunde, das 700 Jahre Bestand hatte, stammt vom in Bagdad praktizierenden Ali Ibn Issa (11. Jh.). Maßgeblicher Einfluss ging von Übersetzungen des Constantinus Africanus (11. Jh.) aus, der als Benediktinermönch und Kräuterhändler aus Nordafrika nach Salerno kam.

Im »barbarischen« Rest Europas heilte man weiterhin mit Pflanzen und Erden, aber auch Operationen. Therapien beinhalteten Zaubersprüche, Trance- und Massagetechniken sowie bewusstseinsverändernde Drogen und wurden von parareligiösen Heilern wie Schamanen und Druiden an Kultplätzen ausgeübt. Pflanzen wurde nicht nur Zauberkraft zugesprochen. Opiate im Mohn, Salicylsäuren in Weidenrinde und Sodebaum (Mädesüß) unterdrückten Schmerzen. Mohn ist durch Funde in Mitteleuropa schon für die Steinzeit nachgewiesen. Alraune, Schierling sowie der Fliegenpilz wirkten halluzinogen. Schimmelpilze in der Wundheilung gehörten zum Wissen der Druiden und heilkundigen Frauen. Nur weil Kelten, Etrusker und Germanen ihr Wissen nicht aufgeschrieben haben oder deren Dokumente vernichtet wurden, war Europa keine kulturelle Wüste!

Mythos »Klostermedizin«

Die sogenannte Klostermedizin wurde nicht von der Kirche oder mit dem Import der Säftelehre geschaffen. Sie war lediglich die feindliche Übernahme des keltisch-germanischen Heilwissens. Eigenständige Naturkräfte gehörten nie zum Wertekanon der katholischen Kirche. Man sollte schließlich an die Allmacht des christlichen Gottes glauben. Selbstheilungskräfte autonomer Menschen waren für die Kirche genausowenig eine Denkoption wie später für den medizinisch-industriellen Komplex. Die Mischung aus Hilflosigkeit und überliefertem Glauben an magische Kräfte wurde von der katholischen Kirche mit der Vorstellung von Krankheit als Sündenstrafe unterstützt. Zu den traditionellen Reinigungsriten und Geisterbeschwörungen gesellte sich jetzt die Beichte. Wenn irgendetwas davon einem Kranken genützt haben soll, dann allenfalls Placeboeffekte.

In den Klosterschulen wurden im Laufe des Mittelalters Rezepturen mit den griechisch-römischen Texten synchronisiert, und dabei ausgesondert, was der christlichen Lehre zuwiderlief. Der kirchliche Anspruch auf ein Heilungsmonopol beruhte auf dem Glauben an die Wirksamkeit ritueller Handlungen und der Oberhoheit über die Heilkräuter durch die »Klostermedizin«. Neben den bis heute überlieferten Pflanzen mit pharmakologisch aktiven Substanzen gab es im Mittelalter zahlreiche Gewächse, die zur Schwangerschaftsverhütung, Abtreibung oder Anästhesie taugten und kirchlichen »Säuberungen« zum Opfer fielen oder allenfalls in Klostergärten toleriert wurden.

Dies geschah im Pakt der katholischen Kirche mit der weltlichen Herrschaft. Karl der Große (747–814) verfügte in mehreren Verordnungen, dass alle Klöster Hospitäler und Gärten für Heilpflanzen einzurichten hatten, in denen 20 festgelegte Obstsorten und 75 Heilkräuter angebaut werden mussten.27 Als Gegenleistung für die Legitimation einer den Germanen fremden Zentralgewalt erließen die karolingischen Könige Vorschriften, die für eine Ausmerzung vorchristlicher Sitten und Gebräuche notwendig waren. Das Sammeln wild wachsender Kräuter war unerwünscht und unterlag immer wieder Verboten. Die Salicylate enthaltende Weidenrinde durfte mit der offiziellen Begründung, dass Weidenäste für Flechtwerk dringend benötigt würden, nicht mehr geschnitten werden. Suspekte Pflanzen dezimierte man durch Ausreißen und Ausgraben. Kräuter- und wurzelkundige Frauen lebten daher oft abseits, um weiterhin Zugriff auf verfemte Gewächse zu haben.

Pflanzen, die im Ruf standen, Schwangerschaften zu verhüten, für Abtreibungen geeignet waren wie der Sodebaum, sowie schmerzstillende und halluzinogene Mittel verschwanden aus den Arzneibüchern. Klostergärten wurden nicht nur formal streng gegliedert in christlicher Kreuzsymbolik angelegt, sondern waren in ihrer Bepflanzung entsprechend verarmt. Allein schon weil Gewächse, die eine Symbiose mit Waldbäumen und deren Halbdunkel benötigten, in den lichtdurchfluteten Gartenanlagen nicht mehr gedeihen konnten.

Die 482 Rezepturen des Lorscher Arzneibuchs werden zwar der griechisch-römischen Tradition zugeordnet, können aber genauso darauf hindeuten, dass man nördlich der Alpen bei ähnlicher Flora zu den gleichen empirischen Resultaten kam.28 Unter den Rezepten findet sich bereits Fingerhut zur Kreislaufstützung, dessen Wirkstoffe, die Herzglykoside, fast 1000 Jahre später vom englischen Arzt William Withering (1741–99) erforscht wurden und erst dann die Schulmedizin erreichten. Johanniskraut bei seelischen Befindlichkeitsstörungen stand ebenso auf der Empfehlungsliste wie ein Antibiotikum auf der Basis von Schafdung, Honig und Käse für tiefe Wunden und Geschwüre. Nicht alle Rezepturen halten einer Überprüfung stand. Viele Pflanzen oder Früchte wurden nur wegen ihrer Farbe oder Form gegen bestimmte Symptome eingesetzt. Wenn es darunter durch die Selbstheilung zu Besserungen kam, schrieb man dies auch damals gerne der Therapie zu. Die wirkungslosen Pflanzen blieben im Portfolio der Kräuterheilkunde.

Bis zum Jahr 1300 sind nur wenige deutschsprachige Medizintexte überliefert. Diese stammen ausnahmslos aus der Feder von abhängig Beschäftigten der Kirche. Einerseits wurde außerhalb des kirchlichen Einflussbereichs wahrscheinlich wenig aufgeschrieben und Wissen mündlich weitergegeben, andererseits dürften Schriften »Säuberungen« zum Opfer gefallen sein. Es ist jedenfalls mehr als auffällig, dass ausschließlich kirchenkonforme Schriften erhalten geblieben sein sollen. Die Sonderstellung der griechisch-römischen Medizin beruht auf der christlichen Ideologie, die besagt, dass die gesamten kulturellen Leistungen der Menschheit aus dem Mittelmeerraum kämen. Dieses Denken formte das Monster des »finsteren Mittelalters«.29

Das am weitesten verbreitete Arzneibuch der Kräuterheilkunde stammte übrigens nicht von der heute so populären Hildegard von Bingen (1098–1179). Es war der im 11. Jahrhundert in Versform verfasste Macer floridus, eine Beschreibung von Heilkräutern aus einem Kloster im Loire-Gebiet. Für die Apotheker blieb dieser Macer, der auch als De viribus herbarum kursierte, bis zum Ende des 15. Jahrhunderts Basis der Ausbildung. Daneben waren noch der Hortulus des Abtes von Kloster Reichenau Walahfrid Strabo (um 827), das Arzneibuch des Ortolf von Baierland (um 1220–1320), der Bartholomäus sowie das Deutsche salernitanische Arzneibuch bekannt.

Die Physica der Hildegard von Bingen enthält dagegen reichlich therapeutischen Unsinn wie Trinkeinschränkungen bei Fieber oder dass zum Beispiel rohe Zwiebeln und Brennnesseln schädlich seien.30 Andererseits hatte sie auch Opium und Aderlässe im Programm. Hildegard von Bingen war keine heilkundige Autorität. Sie wurde nur posthum dazu aufgebaut.31 Ihre therapeutischen Formeln unterscheiden sich von heidnischen Zaubersprüchen oft nur dadurch, dass Namen Heiliger die der Naturgeister ersetzten.

Die mittelalterliche »Dreckapotheke« mit pulverisierten Perlen und Mumien, gedörrten Kröten, verbrannten Maulwürfen, Bocksblut, Kuhfladen und Ziegenkot existierte trotz mangelnder Wirksamkeit weiter. Die Vorstellung war zu tief verwurzelt, dass in tierischem Material nach dem Tod Lebenskraft zurückbleibt, um Leiden zu kurieren. Diese Tradition konnte weder von der Kirche noch der aufkommenden Schulmedizin verscheucht werden. Neu war nördlich der Alpen nur das Dogma der Entleerungsbehandlungen.

Bühne frei für den Ärztestand

Mit der Zwangschristianisierung der mittel- und nordeuropäischen Bevölkerung hatte es keinerlei Fortschritte in der Behandlung gegeben – im Gegenteil, das Portfolio der Heilpflanzen verarmte. Wallfahrtskirchen und priesterliches Handauflegen wurden nur als matter Ersatz für die bewährten magischen Rituale in heiligen Hainen oder den schamanischen Zauber mit vielfältigem Räucherwerk wahrgenommen. Placeboeffekte durch kirchliche Heilsversprechen dürften wegen mangelnder Akzeptanz in der Bevölkerung keine Rolle gespielt haben. Weihrauchnebel, der nicht nur berauschend, sondern entzündungshemmend wirkt und zumindest im Reagenzglas Tumorwachstum einbremst,32 war vermutlich noch das wirksamste Angebot der neuen Geistlichkeit.

Nach der Übernahme der Heilkräutermedizin in klösterliche Obhut scheint die katholische Kirche neben ihren Heiligen und Gebeten dennoch zunächst keinerlei Notwendigkeit für darüber hinausgehende medizinische Aktivitäten gesehen zu haben. Für die christliche Religion lagen Heil und Heilung ausschließlich in den Händen eines allmächtigen Gottes. Nicht umsonst wurden Jesus Christus, Maria und Heilige als »Ärzte« tituliert und von »himmlischer Arznei« gesprochen.33 Menschen hatten keinen maßgeblichen Einfluss. Mediziner konnten bestenfalls kurieren, aber nicht heilen. Im Edikt von Clermont 1130 wurde Geistlichen jede ärztliche Betätigung verboten. Wenig später untersagte ein Beschluss des zweiten Laterankonzils 1139 Klerikern auch ein Studium der Medizin. Es ist unklar, ob es zu diesem Zeitpunkt außer Salerno noch weitere weltliche ärztliche Ausbildungsstätten gegeben hat.

Um 1150 kam es jedoch zu einem Umdenken der Kirchenoberen. Den Würdenträgern scheinen bei eigenen Erkrankungen und unter dem Eindruck von Heilerfolgen jüdischer Ärzte Gesundbeten und die fatalistische Unterwerfung unter die göttliche Vorsehung nicht mehr ausgereicht zu haben. Mehrere Konzilsbeschlüsse beschränkten sich jetzt darauf, Geistlichen nur noch manuelle ärztliche Tätigkeiten zu untersagen. Ein Verweis auf Behandlungen durch Heilige und eine angebliche Arzttätigkeit des Apostels Lukas dienten als Begründung für die neuen Heilaktivitäten, die sich an den Schriften hippokratischer Ärzte und von Galen orientieren sollten. Der neue Berufsstand der Ärzte wurde geschaffen.

Jegliche Eröffnung der Körperoberfläche musste allerdings unterbleiben: »Die Kirche schreckt vor dem Blute zurück«, lautete das Edikt von 1163. Ein Beschluss des vierten Laterankonzils verfügte wenig später, dass »kein Subdiakon, Diakon oder Priester den Teil der Chirurgie ausüben dürfe, der Kauterisation und Schneiden umfasst«.34 Die nicht seltenen Todesfälle und Gesundheitsschäden durch Operationen sollten das Ansehen der Geistlichkeit nicht beeinträchtigen. Fehlbarkeit sollte mit den delegierten Handwerkern assoziiert werden.

Mit den Beigaben orientalischer Astrologie und der Tätigkeit jüdischer Ärzte schafften Hippokrates und Galen auf dem Vehikel der christlichen Glaubenslehre die Überquerung der Alpen. Die Erstellung von Horoskopen blieb für Jahrhunderte an europäischen Hochschulen fester Bestandteil der Ausbildung. Die praktische Auswirkung bestand unter anderem darin, dass Handwerkschirurgen verpflichtet wurden, sich vor Aderlässen dafür geeignete Tage aus den Horoskopen gelehrter Ärzte mitteilen zu lassen.

Bis ins 12. Jahrhundert hatte es nördlich der Alpen35 neben wenigen jüdischen Ärzten nur Heiler, Hebammen und heilkundige Klosterangehörige gegeben. Ärzte sollten Dienstleister für die geistlichen und weltlichen Eliten sein, die bei Krankheit nicht von dahergelaufenen Heilkünstlern und ungehobelten Kräuterfrauen behandelt werden wollten – eine Art Internisten für Wohlstandsunpässlichkeiten, die es in der Bevölkerung nicht gab: Überernährung, Bewegungsmangel, Alkohol- und Drogenmissbrauch. Das einfache Volk konnte sich ein unnatürliches Leben gar nicht leisten. Bei Verletzungen, Infektionen oder Vergiftungen wandte man sich an chirurgische Handwerker und Kräuterkundige.

Päpste, Würdenträger der Kirche und weltliche Herren mussten bis zur Schaffung einer christlichen Ärzteschaft auf jüdische Ärzte zurückgreifen. Trotz des verbreiteten Antisemitismus in Klerus und Gesellschaft führte an jüdischen Ärzten in Früh- und Hochmittelalter kein Weg vorbei. Nur sie hatten umfassende Kenntnisse der antiken Medizin und praktische Behandlungserfahrungen; denn im Gegensatz zu Christen war ihnen eine Heiltätigkeit nicht verboten. Juden blieb oft sogar nur eine Tätigkeit als Geldverleiher oder Arzt, da ihnen viele Berufe verwehrt waren. Wie im antiken Rom Leibärzte üblicherweise aus Griechenland kamen, waren im Mittelalter Leibärzte meist Juden.

Dies änderte sich erst als die Kirche ab der Mitte des 12. Jahrhunderts kirchlichen Angestellten nur noch invasive Heilbemühungen untersagte. Bereits ein Jahrhundert später erfolgte 1246 auf dem Konzil in Béziers ein Beschluss, dass es für einen Christenmenschen besser sei zu sterben, als sich von einem jüdischen Arzt heilen zu lassen oder ihm gar das Leben zu verdanken. Wer sich dennoch einer jüdischen Behandlung unterzog, wurde mit der Exkommunikation bedroht.36

Und da sind wir bei der zweiten großen Veränderung der griechischrömischen Säftelehre nach ihrer arabischen Assimilation: dem Einfluss der katholischen Kirche. Die ersten Ausbildungsstätten entstanden an den kirchlichen Universitäten in Bologna, Paris, Oxford, Montpellier und Padua im frühen 13. Jahrhundert. Schon im Alten Testament ist der Anspruch nachzulesen, dass »der Herr seinen Berufsstand eingesetzt hat«.37 Erkennbar daran, dass unautorisierten Heilern die Exkommunikation drohte und weder Frauen noch verheiratete Männer bei Apothekern Rezepte einreichen konnten.38 Die Machtverhältnisse lassen sich gut aus der Zahlenrelation der Akteure ablesen: Anno 1287 gab es in Florenz 150 Klöster mit etwa 10 000 Mönchen und nur 200 Ärzte.39 Der Benediktinerorden besaß zu seiner Blütezeit etwa 37 000 Klöster.

Der Arztberuf wurde unter kirchlicher Doktrin zur Männersache. Die Universitäten blieben Frauen von Anfang an verschlossen. Lediglich in der Medizinschule von Salerno als einziger weltlicher Ausbildungsstätte in Europa konnten Frauen noch studieren und lehren (vgl. S. 313). Dennoch sind zu allen Zeiten überall Ärztinnen, Apothekerinnen und Chirurginnen belegt, die ihr Wissen und ihre Ausbildung in der Familie erwarben. Gerade für mittellose Kranke wurden Frauen als »Ärzte zweiter Klasse« geduldet und im 15. Jahrhundert sogar durch kaiserliches Dekret bestellt (vgl. S. 317).

Ärztliche Behandlungen bedurften der Zustimmung Geistlicher.40 Kranke waren gehalten, vor Beginn einer Behandlung die Beichte abzulegen. Damit blieb Ärzten und Patienten stets bewusst, dass es ohne kirchlichen Segen keine Therapieerfolge gab. Im Todesfall wurde nur der unergründliche Plan Gottes erfüllt. Allenfalls hätte ein weltlicher Arzt einen Fehler gemacht … Die Kirche konnte die Hände in Unschuld waschen. Geistliche hatten von beiden Vertragsparteien frühzeitig Kenntnis von einer ernsten Erkrankung, um beim Ableben des Patienten den kirchlichen Anspruch auf ein Lebensende nach Maßgabe der christlichen Lehre mit allen damit verbundenen Besitzübereignungen zu wahren. Das bis heute von der Kirche vehement vertretene Verbot jeder außerkirchlichen Sterbehilfe war gesichert.

Säftelehre reloaded

Der Kanon der Medizin von Avicenna (= Ibn Sina, etwa 980–1037) avancierte zum Standardwerk. Er war im maurischen Spanien in der Mitte des 12. Jahrhunderts unter kirchlicher Obhut vom Übersetzer Gerald von Cremona (1114–1187) ins Lateinische übertragen worden. In Montpellier blieb er bis 1650 und in Italien bis in das 18. Jahrhundert in Gebrauch. Andere Werke basieren ebenfalls auf der Aufbereitung durch Kirchenmänner, aber auch jüdischen Gelehrten in der Ärzteschule von Salerno und den Übersetzungsschulen von Toledo. Letztere waren polyglott und weitgereist, mit der antiken Medizin bestens vertraut und verfügten oft über empirische Erfahrungen im Gegensatz zu christlichen Ärzten.41 Vermutlich gerade deswegen waren jüdische Ärzte der Kirche ein Dorn im Auge. In Konzilsbeschlüssen ab dem Jahr 692 wurden Christen ausdrücklich Behandlungen durch jüdische Mediziner immer wieder untersagt. Allerdings durchbrachen auch Päpste regelmäßig diese Verbote.42

Als Alternative zu Avicenna hätten Bearbeitungen der Galen’schen Werke durch den persischen Arzt und Alchemisten Rhazes (um 865–925) dienen können, dessen Methode der Leichenkonservierung in Europa bis ins 18. Jahrhundert Bestand hatte.43 Aber Rhazes war ein Kritiker aller Offenbarungsreligionen und setzte auf Experimente, anstatt Dogmen kritiklos zu befolgen. Die ersten lateinischen Übersetzungen Galen’scher Schriften erfolgten erst ab 1483, und von den hippokratischen Schriften war eine umfassende Ausgabe nicht vor 1525 verfügbar.44 45

Im Vergleich zur Antike war die akademische Medizin des Mittelalters ein Rückschritt. Untersuchungen reduzierten sich darauf, den Puls zu fühlen und den Harn zu begutachten. Der Urin galt als verlässlicher Indikator für die Säftemischung eines Kranken. Entsprechend avancierte das Harnglas zum Symbol des Berufsstandes. Das Bildungsmonopol der Kirche sah keinerlei praktische Unterweisungen vor. Die Abkopplung vom realen Zustand des Kranken wurde noch durch astrologische Spekulationen vergrößert, als würden die Krankheitsvorgänge der Position von Himmelsgestirnen folgen. Das lukrative Scheinwissen der Ärzte wurde mithilfe der Kirche und unter Bezug auf antike Schriften entschieden verteidigt. Es war vorgezeichnet, dass Ärzte durch die Diskrepanz zwischen Anspruch und Behandlungsrealität in der Bevölkerung zur Zielscheibe des Spotts werden mussten.46 Den Herrschenden sollte ihr Bedürfnis nach exklusivem Heilpersonal noch teuer zu stehen kommen.

Wissenszuwachs war unerwünscht. Das galt auch für die Anatomie. Untersuchungen von Leichen sind in Europa erst wieder um 1300 nachgewiesen. Mondino dei Luzzi (1270–1326) nahm seine anatomischen Vorlesungen in Bologna mit Sektionen verurteilter Verbrecher in der Tradition Galens 1315 auf. Mit dem geistigen Korsett aus dessen Tiersektionen blieben allerdings neue Erkenntnisse aus. Antike Fehlannahmen wurden trotz des Augenscheins nicht revidiert.

Sektionen Verstorbener zur Klärung der Todesursache scheint es vor dem 14. Jahrhundert ausschließlich in Italien und Südfrankreich gegeben zu haben. Dort waren Ärzte immer chirurgisch tätig. Absolventen mediterraner Universitäten waren »Doktoren zweier Arzneien« und ihren deutschen Kollegen haushoch überlegen. In anderen Ländern ließ ein Unterricht an Leichen bis zum 15. Jahrhundert auf sich warten. An der Universität Wien sind Sektionen ab 1404, in Paris nicht vor 1407 verbürgt. Erst 1482 erteilte Papst Sixtus IV. die Erlaubnis, Körper von Hingerichteten zu öffnen, sofern sie danach ein christliches Begräbnis erhielten.

Selbst nach der Mitte des 16. Jahrhunderts blieb es allerdings schwierig, Leichen für anatomische Studien zu bekommen. Paracelsus (1493–1541), der vor seinem Abschluss in Ferrara an mehreren deutschen Universitäten eingeschrieben war, fällte ein vernichtendes Urteil über die ärztliche Ausbildung in seiner Heimat: »Eine grosse Schande ist es doch, dass die hohen Schulen solche Ärzte machen, die es nur dem Scheine nach sind; geben einem Kerl den roten Mantel, das rote Barett und der Welt einen viereckigen Narren, der bloss fähig ist, die Kirchhöfe aufzufüllen.«47 Felix Platter (1536–1614), der als einer der Ersten mikroskopische Krankheitserreger vermutete, berichtete, dass er noch 1554 frisch Bestattete nachts mit bloßen Händen auf Friedhöfen ausgrub und klammheimlich für Sektionen in die Stadt schaffte.48

Das medizinische Quintett des Spätmittelalters

In der Krankenversorgung des Spätmittelalters tummelten sich fünf Berufsgruppen: akademische Ärzte, Apotheker, Handwerkschirurgen (Barbiere, Bader, Zahnbrecher), Hebammen und Pfuscher – in den Städten streng getrennt in eigenen Gilden und Zünften. Eine Ausnahme bildeten die überregional tätigen spezialisierten Chirurgen, die als Stein- und Bruchschneider oder Starstecher übers Land zogen. Ärzte und Apotheker waren erst seit dem Edikt von Salerno 1241 getrennte Berufe. Vorher hatten Apotheker nicht nur Heilmittel verkauft, sondern auch Patienten behandelt und umgekehrt Ärzte Pharmaka hergestellt und abgegeben. Ungeachtet dessen kam es bis in das 19. Jahrhundert immer wieder zu gegenseitigen Übergriffen. Außerdem waren vielerorts bis ins 16. Jahrhundert Ärzte gleichzeitig selbst Apotheker, um ihren Patienten umfangreiche, aus mehreren Dutzend Zutaten bestehende Rezepte mit exotischen Beigaben für teures Geld verkaufen zu können. In Florenz gehörten Ärzte, Apotheker und Maler noch in der Renaissance derselben Gilde an.

Im Laufe der Zeit spalteten sich die chirurgisch Tätigen aus ihren Zünften der Barbiere und Bader ab. In London wurde 1368 mit dem »Fellowship of Surgeons« eine eigene Chirurgenzunft gegründet. In großen Städten gab es klare Trennungen zwischen den sogenannten Wundärzten und Barbieren, die sich ausschließlich um die Körperpflege kümmerten.49 Anderswo erfolgte die Trennung erst im 17. Jahrhundert. London war auch Vorreiter für die spätere Eingliederung der Chirurgie in den ärztlichen Stand, als dort 1518 das »College of Physicians« aus der Taufe gehoben wurde.

Studierte Ärzte müssen wir uns als Randgruppe vorstellen. Eine universitäre Ausbildung begann vielerorts erst im 15. Jahrhundert, und die Jahrgänge an den wenigen Hochschulen lagen im niedrigen zweistelligen Bereich. Pro 10 000 Einwohner gab es höchstens einen Arzt. Selbst in Paris waren für 200 000 Einwohner im Jahr 1292 laut Steuertabelle nur 38 Ärzte, davon acht Frauen, dokumentiert.50 Die Zahl der Handwerkschirurgen überstieg die der Ärzte auf dem Land lange um das Acht- bis Zehnfache.51

Es ist daher nicht verwunderlich, dass trotz der immer wieder angefeuerten Judenpogrome und –vertreibungen jüdische Ärzte in ganz Europa meist privilegiert waren.52 Ihnen wurde zugestanden, auf eine unterscheidende Bekleidung und einen Judenstern zu verzichten, sowie außerhalb der Ghettos Haus und Besitz zu erwerben. Bei Vertreibungen machte man für Ärzte oft Ausnahmen.

Als Akademiker gehörten Ärzte zur oberen Mittelschicht und konnten höhere Vergütungen beanspruchen.53 Ihre Honorare waren etwa doppelt so hoch wie die der Handwerkschirurgen und etwa sechsmal so hoch wie bei den Hebammen. Als Geistliche oder Angestellte der Städte waren Ärzte zunächst gar nicht auf Honorare angewiesen. Ganz oben in der Hierarchie standen die Leibärzte der Fürstenfamilien und die Universitätsprofessoren. Dann folgten die Hofärzte, die Amtsphysici, Stadt- und Landphysici, die im Angestelltenverhältnis oder in konzessionierter Praxis tätig waren. Universitätsprofessoren fungierten in Medizinalkollegien als Berater der Regierungen und übten mit den Leibärzten das Prüfwesen aus. Die Berufsordnungen trugen die Handschrift der Ärzte und führten zu stetigen Einschränkungen und Abwertungen der übrigen Heilberufe.

In den damaligen Hospizen gab es keine fest angestellten Ärzte oder Chirurgen. Etwa seit der Zeit der Kreuzzüge begannen Ärzte nach arabischem Vorbild, die Hospitäler regelmäßig zu besuchen, um dort untergebrachte Kranke, Verrückte, Krüppel, Kriegsinvalide und Notleidende für kleines Geld aus der Stadtkasse zu behandeln. Amputationen wurden auf den Fluren zwischen den Betten vorgenommen. Keine drei Prozent des knappen Etats der Hospize entfielen auf Arzneimittel.54 Hospitäler galten wie Gefängnisse als letztes Asyl.55