Heimat - Verena Schmitt-Roschmann - E-Book

Heimat E-Book

Verena Schmitt-Roschmann

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Beschreibung

Die Sehnsucht nach Halt in einer zerfließenden Zeit

- Versuch einer Annäherung an ein universelles Bedürfnis

- Ein nachdenkliches Buch zu einer neu entdeckten Befindlichkeit

»Heimat ist kein Ort – Heimat ist ein Gefühl«, singt Herbert Grönemeyer. Für Ernst Bloch war Heimat das eigentliche große Ziel des Menschen. Heimat – das sind Orte der Erinnerung. Heimat ist ein Gefühl von Beständigkeit und Halt in einer kalten Welt. Heimat will Stillstand, den es nicht gibt. Heimat ist umso schöner, je weiter weg sie ist. Heimat ist top-aktuell.

Viele Menschen fühlen sich bedroht durch die Folgen der Globalisierung und durch eine zunehmende Rastlosigkeit. Verlässliche Eckpfeiler verschwinden – Familie, Kirche, Gemeinschaft, dörfliche wie städtische Strukturen – der ersehnte emotionale Ruhezustand scheint unerreichbar. Diese Sehnsucht nach einem starken Halt ereilt unvermeidlich jede Generation. Wo komme ich her? Wo will ich hin? Was bindet mich? Die großen Lebensfragen berühren den Kern des Begriffs Heimat. Der Wunsch nach Zugehörigkeit, Gemeinschaft, Identität ist ein universelles Bedürfnis – tief und erdig. Davon erzählt dieses Buch, das zahlreiche Anstöße für Diskussionen und Debatten bietet.

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Seitenzahl: 309

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Inhaltsverzeichnis
Widmung
Einführung
I. Heimat - Was ist das und wozu braucht man das im 21. Jahrhundert?
1. Ein eigenwilliger Streit in einem Dorf in Niedersachsen
Copyright
Heimat braucht jeder.
Aber bitte ohne Hirschgeweih und Alpenglühen.
Für Caspar, Martha und Till
Einführung
Am 19. Juni 2009 war es so weit: Die Heimat hatte die »heimatlose Generation« eingeholt.1
Das sind die Leute, die auf dem Weg nach Italien unvermittelt ins Territorium des Bayerischen Rundfunks geraten und dort bei Sendungen wie »Heimatspiegel« gequält aufheulen. Es sind Leute, die in Altbauwohnungen im Prenzlauer Berg oder im Frankfurter Nordend sich mit leichtem Schaudern ihrer Jugend zwischen Resopal und Prilblümchen in, sagen wir, Fritzlar erinnern - insgeheim bedauert übrigens von ihren ehemaligen Klassenkameraden, die nun in Fritzlar ein Eigenheim mit Carport besitzen und sich beim besten Willen nicht vorstellen können, wie man im Prenzlauer Berg jemals einen Parkplatz finden soll, geschweige denn Kinder großziehen.
Es ist eine Generation, die sich in Paris oder London lieber wegduckte, wenn die schwäbelnden Touristen mit den Spiegelreflexkameras anrückten. Die wegen der deutschen Geschichte gern vor Scham im Boden versunken wäre, wenn sie auf der Upper East Side in New York Auschwitz-Überlebende traf. Die sich glücklich schätzte, dass keiner ernsthaft wagte, sie auf ein Vaterland zu verpflichten, und die dann 2006 befremdet in einem schwarz-rot-goldenen Fahnenmeer inmitten glückseliger Fußballmassen unter dem Brandenburger Tor aufwachte.
»In meiner Jugend war Heimat ein Schreckenswort«, bekannte an diesem 19. Juni 2009 die Grünen-Politikerin Renate Künast. »Es hat sich viel verändert in unserem Land seit jener Zeit.«
Ausgerechnet ins riesige Atrium des Paul-Löbe-Hauses neben dem Reichstag, in die große Halle des Volkes mit ihren staubigen Betonwänden und ihrem pompösen Hall, hatten die Grünen zum Thema Heimat geladen. Um es nicht zu heimelig werden zu lassen, fügten sie außerdem dem Konferenz-Titel den Zusatz »Wir suchen noch« bei. Aber es war klar: Die letzte Bastion ist geschleift, die deutsche Linke geläutert, selbst sie, aus ihrer multikulturellen Cosmopolis endlich zurück im Reich der deutschen Mythen: Heimat. Dort warten die deutschen Konservativen schon seit Jahren und begrüßen die reumütigen Neuankömmlinge nun mit einem genüsslichen: Siehste.
Ich sage das ein bisschen überspitzt, aber wirklich nur ein bisschen. Wenige Themen haben die Deutschen in den vergangenen 200 Jahren so nachhaltig, so wiederkehrend und dauerhaft beschäftigt, wie immer wieder: Heimat. Es treibt sie um, das beständige Sehnen nach Orten der Kindheit, Orten der Geborgenheit, der glücklichen Erinnerung, der einfachen, klaren Verhältnisse. Nach Orten der Ruhe inmitten der Beschleunigung, am besten in heiler Natur, zwischen hohen Bergen, tiefen Wäldern, klaren Seen. Nach Orten, an denen nichts fremd ist oder bedrohlich, nichts widersprüchlich, gebrochen oder zerstört. Dieses tiefe Bedürfnis nach Heimat ist etwas Urdeutsches.
Kaum ein Begriff ist so befrachtet, ideologisiert, missbraucht, so verkitscht, verhöhnt und verpönt worden, wobei nun schon mehrere Generationen von Heimat-Autoren verkünden, das mit dem »verpönt«, das sei nun vorbei, Heimat sei nun wieder hoffähig und von besonderer Dringlichkeit. »Das Wort ‚Heimat’ hat einen neuen Glanz bekommen«, meinte zum Beispiel Hans Georg Wehling schon 1984. »Die Sehnsucht nach einem Ort, in dessen Überschaubarkeit und Unverwechselbarkeit man sich wiederfinden kann, nach Geborgenheit, menschlicher Nähe und Vertrautheit, stellt wohl eine Antwort dar auf die massiven Gefährdungen unserer Existenz, die Bedrohungen unserer Umwelt und die Infragestellungen unserer Identität heute.«2 Mehr als 20 Jahre später konnte es Klaus Hofmeister kaum treffender formulieren: »Noch vor wenigen Jahren hätte man ein Buch zum Thema Heimat mit spitzen Fingern angefasst«, schrieb er 2006. »Heute ist Heimat im Kommen.« Es gebe einen wachsenden »Heimatbedarf«, meint Hofmeister: »Was fehlt, ist Nähe, Überschaubarkeit.«3
Ich will das nicht bestreiten. Heimat hat auch jetzt etwas drängend Aktuelles. Der ersehnte emotionale Ruhezustand ist bedroht - abstrakt von einer für den Einzelnen kaum greifbaren Globalisierung und konkret von einer zunehmenden Rastlosigkeit, einem Zerfall von Institutionen wie Kirche, Parteien, Gewerkschaften, einem interkontinentalen Nomadentum. Die jüngste Drehung ist die Perversion der Globalisierung: eine unergründliche Krise, die sich weitgehend im virtuellen Raum des elektronischen Handels und der unbegreiflichen Milliardensummen abspielt. Da beruhigt die Zuflucht im Realen. Noch steht das Haus, der Vorgarten, die Busse fahren noch, der Metzger die Straße rauf verkauft seine Würste. Die Kinder gehen zur Schule, noch gibt es Geld und für Geld Milch und Suppengrün. Schnell einen Schutzzaun ziehen um diesen kleinen heilen Ort, bevor er untergeht im Weltenwirrwarr. Von fehlender Gründung in einer zerfließenden Zeit wird auch in diesem Buch die Rede sein.
Aber damit sind wir noch nicht am Kern des Phänomens Heimat. Die Sehnsucht ist in ihrem Grunde eben nicht neu, sie ist uralt, und sie ereilt in schöner Regelmäßigkeit jede Generation. Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Es sind die großen Lebensfragen. Letztlich beantwortet sie jeder dann doch ziemlich konkret: Wo will ich sein? Wohin zieht es mich fort? Was bindet mich? Man stellt sich diese Fragen eher nicht mit 19 - der junge Praktikant neben mir bei der Grünen-Konferenz zog es während der profunden Diskurse der mittelalten Referenten vor, seine diversen Facebook- und Twitter-Accounts zu aktualisieren. Irgendwann klappte er dann den Laptop ein und ging. Vielleicht stellt man sich diese Fragen mit 29, wahrscheinlich erst mit 39, meist aber, wenn Kinder aufwachsen sollen, und sicher auch, sobald sich der Gedanke einschleicht, wo man begraben werden möchte. Heimat - der Wunsch nach Zugehörigkeit, Gemeinschaft, Einordnung, nach Identität - ist ein universelles Bedürfnis, tief und erdig. Kaum jemand kann sich dem entziehen. Dieses Buch erzählt davon, woran Menschen hängen, was sie hält, im Dorf oder in der Stadt, und was sie wegzieht in die Fremde, denn auch das ist ja eine Auseinandersetzung mit der Heimat.
Die psychologische Notwendigkeit von Heimat jedoch erklärt nicht das eigenartige Verhältnis, das insbesondere die Deutschen mit diesem immer wiederkehrenden Thema pflegen. Der Tübinger Ethnologe Hermann Bausinger hielt schon vor Jahrzehnten fest, »dass der Heimatbegriff bei uns eine besondere - eine besonders ‚innige’ und in dieser Innigkeit problematische - Färbung angenommen hat«.4 Das Thema beschäftigte in der Poesie einen Heine, einen Eichendorff, einen Brecht, in der Philosophie einen Nietzsche, einen Schopenhauer und Heidegger. Und sehr, sehr viele andere, die theatralisch daran verzweifelten: »Viele leben, teils freiwillig, teils unfreiwillig, außerhalb ihrer angeborenen Heimat, und es entsteht die Frage: Sind diese darum in geringerem Maß Menschen? Fehlt ihnen etwas am vollen Menschsein?« Der Philosoph Otto Friedrich Bollnow kam dann doch noch zu dem Schluss, dass Menschsein wohl auch nach einem Umzug irgendwie möglich ist.5 Aber es entsteht die Frage, wie in so mancher deutschen Debatte: Geht es vielleicht auch eine Nummer kleiner?
Während die Amerikaner fröhlich nach der Devise »The grass is always greener on the other side of the hill« immer wieder neu den Aufbruch probten, während die Franzosen die Provinz zum Makel stilisierten, sahen sich die Deutschen schon Ende des 19. Jahrhunderts genötigt, sich in einer »Heimatschutzbewegung« der bedrohten Idylle zu widmen. Der Gegensatz ist ein bisschen künstlich, natürlich. Regionalismus, lokale Verwurzelung und die Idealisierung der Natur gibt es auch anderswo. Aber der deutsche Kult, diese fast religiöse Überhöhung - das ist schon etwas sehr Eigenes.
Mit Alpentümelei und einer verquasten Blut-und-Boden-Ideologie steuerten schließlich ein rassistischer Diktator und seine Millionen Anhänger Deutschland und Europa in die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts und die ach so hehre Heimat in die Apokalypse. 14 Millionen Vertriebene aus den ehemals deutschen Siedlungsgebieten in Osteuropa quälen sich seitdem mit dem Verlust von Identität. Die Sehnsucht aber überlebte ihre schlimmste politische Ausbeutung. Und nicht nur das. Brüche scheinen den Wunsch nach Ordnung, nach »geordneten Verhältnissen«, nur zu nähren. Nach dem Zweiten Weltkrieg erblühte zwischen »Schwarzwaldmädel« und den »Egerländer Musikanten« eine Heimatindustrie, die in den vergangenen 60 Jahren noch jeder Konjunkturkrise trotzte. Auch die Philosophie nahm sich des geschundenen Konzepts wieder an und versuchte neue Deutungen, wie Ernst Bloch in seinem »Prinzip Hoffnung«: »Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.«6
Die Politik lässt sich, in Zeiten fortgeschrittener Entfremdung vom Wahlvolk, ein so emotionales Thema nicht entgehen. Im Wahlkampf kann eine konservative Kanzlerin beim »Tag der Heimat« des Bundes der Vertriebenen durchaus punkten. Was nicht bedeutet, dass ihre linken Mitstreiter diesen Boden unbeackert lassen. Allein 2009 veranstaltete neben den Grünen auch die SPD mehrere Konferenzen zum Thema. »Weil ich meine Heimat liebe«, gilt manchem Lokalpolitiker bereits als umfassende Erklärung seiner Motivation. Verkauft wird mit dem Klischee ebenfalls prächtig. Bier ist »ein guter Schluck aus der Heimat« und auch auf dem Milchkarton prangt ein: »Unsere Heimat - echt und gut.«7
Kurzum: Heimat ist in Deutschland überall, der Begriff ist allgegenwärtig, oft bis zur Unkenntlichkeit abgeschmirgelt und glatt gehobelt, platt und stumpf, weit weg von diesem tiefen Urbedürfnis. Die Folge ist ironischerweise, dass eine ganze Generation das Wort für sinnentleert und bedeutungslos hält und kaum noch in den Mund nimmt. Sie zieht sich auf Kunstbegriffe wie »Lebensmittelpunkt« zurück wie auf eine rettende Insel: emotionsarm, geschichtsfrei, unbescholten, ach. Und ist doch gekränkt, dass ihr das erdenschwere Original abhanden gekommen ist. Dieses Buch erklärt auch, wie beides zusammengeht und wieso gerade die Deutschen für diese schillernde Melange so empfänglich sind.
Vor allem aber widmet es sich einem Widerspruch, der in den Sonntagsreden und philosophischen Debatten untergegangen ist. Während die Deutschen um ihr Lieblingsthema immer neue Pirouetten drehen, den Zwang zur Heimatverleugnung durch linke Political Correctness geißeln, das »Verschwinden der Heimat« beklagen und in bittersüßem Kulturpessimismus schwelgen,8 türmen sich in diesem Land 20 Jahre nach der Vereinigung ganz reale Probleme.
15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund leben hier. Mehr als eine Million Menschen ziehen jedes Jahr nach Deutschland oder von hier weg - Deutsche, Ausländer, Menschen zwischen den Welten. Es ist ein stetes Abreisen und Ankommen, und alle werden zurückgeworfen auf die Frage nach Zugehörigkeit und Ausgrenzung. Für Menschen ausländischer Herkunft, die die alten Wurzeln längst gekappt haben und die neuen nicht geschlagen, stellen sich dieselben urdeutschen Fragen: Heimat, wo ist das eigentlich? Wo darf ich sein, wo gehöre ich hin? Nur interessiert sich die heimatbeflissene Mehrheitsbevölkerung kaum dafür. Nach einem halben Jahrhundert Migration ohne Immigration heißt es nun plötzlich, hopp, hopp, gliedert euch ein. Warum gehört ihr nicht endlich dazu? Warum seid ihr so fremd, wo wir es doch bitteschön heimelig haben wollen und gemütlich in diesem neuen großen deutschen Haus. Auch diese Geschichte erzählt dieses Buch: Die überhöhte Heimat Deutschland ist für Millionen Menschen fast unerreichbar.
Doch ist das nicht die einzige emotionale Baustelle. Während die eine Hälfte Deutschlands nach dem Untergang der DDR kaum eine Veränderung gegenüber der alten Bundesrepublik zur Kenntnis nehmen will, beklagt die andere den Totalverlust jedweder Vertrautheit. Wehmütig beschrieb die ehemalige Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley nach ihrer Rückkehr aus Kroatien, wo sie zwölf Jahre gelebt hat, wie fremd ihr altes Wohnquartier im Ostberliner Szene-Viertel Prenzlauer Berg geworden sei. »Ich trauere nicht den kaputten Fassaden hinterher, aber dem verschwundenen Lebensgefühl«, sagte die 63-Jährige Anfang 2009.9 »Mir fehlt unser Klempner, die Frau, die die Tauben gefüttert hat, oder meine Verkäuferin.« Heute gebe es im Prenzlauer Berg keine alten Menschen mehr, nur noch Mütter Anfang 40, die ihr erstes Kind spazieren fahren, und jedes zweite Geschäft sei ein Bio-Laden. »Da möchte man schon aus Protest ein Schweineschnitzel aus Markkleeberg verlangen«, witzelte Bohley.
»Wir sind emigriert, ohne auszuwandern«, bekannte eine Ostberlinerin, die der Schriftsteller Klaus Pohl interviewte.10 Und die junge Autorin Jana Kellermann, 1977 in der DDR geboren, findet, das geeinte Deutschland habe zu plötzlich ihre alte Heimat ersetzt. »Ich hatte keine Chance, mich von ihr zu verabschieden. Es ist eine Sache, seine Heimat zu verlassen. Eine andere, wenn das Geburtsland plötzlich weg ist, man selbst aber noch da ist.«11 Ein erheblicher Teil der deutschen Bevölkerung hat also gerade eine traumatische Entwurzelung durchlebt. Ohne Verpflanzung hielt sie der alte Grund plötzlich nicht mehr, der Boden unter den Füßen ging ihnen verloren, ohne dass die westdeutsche Mehrheit dies anerkannt oder auch nur bemerkt hätte.
Hinzu kommt eine Entfremdung ganz anderer Art, die sich nicht auf die Ost-West-Teilung beschränkt: die soziale und ökonomische Heimatlosigkeit von Millionen Menschen in einer Gesellschaft, die ihnen keine Arbeit und keine Teilhabe bietet. Ein Großteil von ihnen fühlt sich in einer auf Dauer angelegten Außenseiterrolle, abgekoppelt, abgekapselt, ohne Chance auf Rückkehr in die ökonomische Gemeinschaft. Wer keine Arbeit habe, büße auch seine Freiheit ein, denn er sei »an der langen Leine der Arbeitsagentur«, meint der Berliner Soziologe Wolfgang Engler. Und wer keine Freiheit hat zu gehen, für den ist die Heimat eben auch keine Idylle, sondern Grauen. »Mit dem Klientenstatus wird Heimat für viele Ostdeutsche das, was sie vor 1989 war, nämlich zum Schicksal und zum Verhängnis, zu einem Ort, den man nicht verlassen kann«, sagt Engler.12 Und das trifft nicht nur Menschen in den neuen Bundesländern.
Dieses Buch ist eine Reise durch die Heimat, nicht in großer Flughöhe, eher in Bodennähe. Es ist bevölkert von realen Menschen aus allerlei Himmelsrichtungen, die unterwegs bereit waren, aus ihrem Leben zu erzählen. Es ist auch eine Reise durch die Geschichte, um zu verstehen, warum Heimat für die Deutschen ein so übermächtiger Ort ist - Zuflucht und Popanz und Firlefanz in einem.
Es ist an der Zeit, die mystische Debatte zu erden und auf Normalmaß zurechtzustutzen. Es ist an der Zeit, sich einzugestehen, dass es sich um ein privates Bedürfnis handelt, das unterschiedliche Menschen vielleicht auf unterschiedliche Art stillen - aber doch jeder irgendwie. Nur dann können wir den alten Reflex der Überhöhung und der politischen Ausbeutung dieser subjektiven Sehnsucht überwinden. Und nur dann kann es gelingen, die Kluften dieser Gesellschaft zu überbrücken, zwischen einheimisch und zugewandert, zwischen Ost und West.
I. Heimat
Was ist das und wozu braucht man das im 21. Jahrhundert?

1. Ein eigenwilliger Streit in einem Dorf in Niedersachsen

Ganz oben unter den frisch sanierten Dachgauben stehen die alten Kinderwägen, gleich mehrere. Es sind diese ausladenden Ungetüme im Korbgeflecht aus einer Zeit, als der Kofferraum eines Polo für Kinderwägen noch kein Maßstab war, als propere Nachkriegsbabys wie kleine Könige in diesen wippenden Staatskarossen durchs Dorf kutschiert wurden. Daneben findet sich in der »Heimatstube« so ziemlich alles, was Omas Dachboden hergab: eine kuriose, geschnürte Kinderunterhose, die sehr unbequem aussieht und sehr nach wundem Po, eine Lehrkarte mit den Vögeln der Region, alte Milchkannen, pädagogisch wertvoll präsentiert neben einem rostigen Fahrrad. Durch das offene Fenster wehen stilecht Fetzen von Blasmusik vom Schützenfest herüber.
Es ist niemand da.
Auch ein Stockwerk tiefer im alten Amtshaus des Dörfchens Westen sind die meisten Räume verlassen. Nur in einer kleinen Gaststube sitzen an diesem Sonntagnachmittag einige Ältere zum Kaffee. Das ist eine Idee des Heimatvereins Westen, das »Intergenerationen-Erzählcafé« - die Alten berichten den Jungen von damals. »Das ist unsere einzige Chance: die Gemeinschaft zwischen Jungen und Alten zu fördern«, sagt die Vereinsvorsitzende Ulrike Kraul.13 Aber Junge sind keine gekommen, und so erzählen sich wohl alle wie immer nur gegenseitig die Geschichten aus der Nachbarschaft und wer im Dorf gestorben ist.
Westen liegt ziemlich genau auf halbem Wege zwischen Bremen und Hannover und ist eigentlich eine Bilderbuchheimat. Rote Backsteinhäuschen ducken sich hinter den Deich an der Aller, die die meiste Zeit des Jahres schmal und bräsig Richtung Nordsee strudelt. Daneben der stämmige Turm der 800 Jahre alten Kirche St. Annen. Mitten im Dorf grasen auf fettem Grün die Pferde, gleich neben der Volksbank. Pfingstsonntag marschiert die Jugend mit Blasmusik im Schützenumzug durch den Ort, Treffpunkt um eins bei der freiwilligen Feuerwehr. Gut, wer richtig dem Klischee entsprechen will, der braucht vielleicht noch ein paar Berge. Aber ansonsten scheint Westen schon ziemlich nah am Idealbild der deutschen Heimat: ländliche Scholle, eine enge Gemeinschaft, intakte Natur.
Ulrike Kraul, die grauen langen Haare streng nach hinten gebunden, ein müder Zug um die blassen Augen, sieht allerdings weniger die Idylle als ihre Gefährdung in einer sich rasant wandelnden Welt. Die Vorsitzende des Heimatvereins hat alle Zahlen parat. 56 Häuser stehen in der Gemeinde Dörverden, zu der Westen gehört, zum Verkauf. Sechs Bauern gibt es noch im Dorf und auch die sind in Gefahr, seit die Milchpreise so gefallen sind. Einer von zwei Krämerläden hat schon vor Jahren dicht gemacht, ebenso der alte Fahrradladen und nun auch noch das Schuhgeschäft und beide Dorfkneipen. Und Ulrike sieht noch eine Menge weiterer Probleme.
Wer hier wohnt, arbeitet in der Stadt, vielleicht in Verden oder Bremen, die Familie braucht zwei Autos und stottert wahrscheinlich dazu noch ein Haus ab. Also müssen beide Eltern arbeiten, also ist keine Zeit für die Kinder. Oma, Kirche, Vereine - alle Institutionen bröckeln. Der Männergesangsverein Concordia hat sich gerade nach mehr als 110 Jahren aufgelöst: Es kam einfach keiner nach. Hartz IV hat auch diesen entlegenen Winkel hinterm Aller-Deich erreicht, die Not allein erziehender Mütter und das Befremden über Zugewanderte, seit einige Russlanddeutsche sich in Westen niedergelassen haben. Was die Planierraupen nicht platt machen, wird von namenlosen EU-Agrarkommissaren unter Feuer genommen oder vom demografischen Wandel oder vom sozialen Abstieg und dem Zerfall der Gesellschaft.
Die Vorsitzende des Heimatvereins stemmt sich dagegen, man merkt ihr an, wie viel Kraft das gekostet hat. Eigentlich ist sie Bäuerin, mit ihrem Mann besitzt sie einen Hof. Doch ihr großes Projekt ist das alte Amtshaus: das neue Mehrgenerationenhaus - als Symbol, dass dieses Dorf noch als Gemeinschaft funktioniert, dass es eine Zukunft hat, dass die Heimat nicht untergeht.
Ohne Ulrike, das bestreitet in Westen niemand, stünde der imposante Backsteinbau wahrscheinlich noch immer bröckelnd und herunter gekommen, mit Schwamm im Gebälk am Ufer der Aller. Sie war es, die die letztlich 1,3 Millionen Euro teure Sanierung vorantrieb, die die Förderanträge für die EU schrieb und die Briefe an Ursula von der Leyen, als die noch niedersächsische Sozialministerin war. Die Ministerin war inzwischen schon drei Mal in Westen, man stelle sich das vor, in einem 1.300-Seelen-Nest auf dem platten Land. Sie ist von der Idee des Mehrgenerationenhauses genauso begeistert wie Ulrike. Nachmittags sollen die Kinder zum Spielen kommen. Frauen aus dem Ort helfen bei der Betreuung, sie können dort auch mal für ein paar Stunden auf die verwirrte Oma aufpassen. Alte für Junge, Junge für Alte. Fast so wie früher. Nur so wird Westen überleben, davon ist Ulrike Kraul überzeugt. Sie will die Menschen im Dorf aufrütteln.
Allerdings sind etliche Westener vom einsamen Kampf der Ulrike Kraul um die Heimat inzwischen mächtig genervt. »Das tragen nicht alle mit, lange nicht«, sagt sie selbst resigniert. Ausgerechnet die Streiterin für den Zusammenhalt der Generationen - in der Dorfgemeinschaft scheint sie selbst ziemlich isoliert. Die Freundlichen flüchten sich ins Nichtssagende. »Im Grunde ist das schon eine ganz gute Idee mit dem Mehrgenerationenhaus«, meint die Bäckereiverkäuferin zweifelnd. Andere geben sich offen feindselig. »Da geht doch niemand hin«, weiß der Nachbar schräg gegenüber vom Amtshaus. Er trifft sich jedenfalls lieber mit seinen Kegelbrüdern zum Dämmerschoppen als beim »Erzählcafé« mitzumachen.
In diesem Dorfzwist sind wohl einige undurchsichtige Regeln am Werke. Mag sein, dass, wie Ulrike selbst vermutet, ihre Herkunft eine Rolle spielt. Denn sie kam erst mit 18 Jahren aus einem Nachbarort nach Westen. Sie sagt, mit nur sehr schwacher Ironie, sie trage den »Flüchtlingsausweis E« - E für eingeheiratet, auch wenn das jetzt 40 Jahre her ist. Vielleicht hat sie ihre Mitbürger verprellt, als sie im Heimatverein gleich zu Beginn mal richtig grundsätzlich klarstellte, dass es hier nicht um nostalgisches Heididei gehen soll, sondern um ein »modernes Verständnis von Heimat«. Vielleicht redete sie einigen der bodenständigen Bauern zu viel grün gefärbtes Ökozeug von kleinräumiger Kulturlandschaft und Hecken, unter die sich Hase und Igel flüchten sollen, denn auch sie sind in Ulrikes Welt bedroht von jener unheimlichen Heimatlosigkeit.
Gemeindebürgermeisterin Karin Meyer übt sich in Diplomatie in diesem seltsamen Streit. Die Frage, wie es denn läuft mit dem Projekt des Heimatvereins, lässt sie einen Moment im Raum hängen, dann sagt sie: »Wenn man Frau Kraul fragt, dann sagt sie, es läuft gut.« Kleine Pause. »Nur, immer wenn ich da bin, dann ist es halt ziemlich leer.«14
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage
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eISBN 978-3-641-04761-0
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