Heimatkinder Jubiläumsbox 7 – Heimatroman - Steffi Seethaler - E-Book

Heimatkinder Jubiläumsbox 7 – Heimatroman E-Book

Steffi Seethaler

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Beschreibung

Sichern Sie sich jetzt die Jubiläumsbox - 6 Romane erhalten, nur 5 bezahlen! Die Heimatkinder verkörpern einen neuen Romantypus, der seinesgleichen sucht. Zugleich Liebesroman, Heimatroman, Familienroman – geschildert auf eine bezaubernde, herzerfrischende Weise, wie wir alle sie schon immer ersehnt haben. Während eines Sommerurlaubs lernt der junge Förster Hannes Burger die bildhübsche Städterin Sonja Rosen kennen. Obwohl er seit Langem mit Marett, einem Dirndl aus seinem Dorf, verlobt ist, folgt er der schwarzhaarigen Sonja in die Stadt und verlebt hier eine Zeit unbeschwerten Glücks. Aber dann folgt die Ernüchterung, denn er sieht Sonja an der Seite eines anderen Mannes. Voll Reue kehrt Hannes in die Heimat zurück, fest dazu entschlossen, Marett um Verzeihung und einen neuen Anfang zu bitten. Nur mit ihr, so weiß er jetzt, kann er glücklich werden. Doch kaum ist er zu Hause angekommen, erkennt er, dass er zu lange gewartet hat: Marett hat ihr Jawort einem anderen gegeben … E-Book 35: Als das Schicksal an die Tür klopfte E-Book 36: Es gibt für alles eine Lösung E-Book 37: Mit dir an meiner Seite E-Book 38: Ein Mann, ein Kind und ein Geheimnis E-Book 39: Der Junge aus dem Armenhaus E-Book 40: Das Stadtkind und die Bauerntochter

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Inhalt

Als das Schicksal an die Tür klopfte

Es gibt für alles eine Lösung

Mit dir an meiner Seite

Ein Mann, ein Kind und ein Geheimnis

Der Junge aus dem Armenhaus

Das Stadtkind und die Bauerntochter

Heimatkinder – Jubiläumsbox 7–

E-Book: 35 - 40

Steffi Seethaler Jutta von Kampen Isabell Rohde Dani Wiesinger Christi Brunner Ute Amber

Als das Schicksal an die Tür klopfte

Ein geliebtes Herz wird erobert

Roman von Steffi Seethaler

Traude Radlinger blieb abrupt vor einem der Schaufenster stehen, als sich der Schmerz in der Magengrube wieder bemerkbar machte und ihr sogar übel wurde. Sie versuchte tief durchzuatmen und – wie so manches Mal zuvor – diese Beschwerde zu ignorieren.

Passanten eilten an ihr vorbei. Es war Feierabendzeit. Jeder strebte eiligst seinem Heim zu. Auch sie wäre längst in ihrer kleinen Wohnung im Hochhaus, hätte sie nicht die U-Bahn verpaßt und den Weg zu Fuß angetreten.

Nun stand Traude da, starrte blicklos in die Auslage und wartete darauf, daß der Schmerz endlich nachlassen würde. Das geschah tatsächlich nach wenigen Minuten. Als sie langsam weiterging, hatte sie dennoch das Gefühl, wie durch eine anstrengende Arbeit zusätzlich erschöpft zu sein.

Das Hochhaus betrat sie jedoch dann mit dem gewohnten Lächeln, das ihrem kleinen Sohn galt, bevor sie ihn sah. Marcus! Wie eine zweite Sonne leuchtete er in ihrem Leben. Sobald sie an ihrem Schicksal verzweifeln wollte, richtete sie sich immer wieder an dem tröstenden Gedanken auf, trotz allem dankbar und zufrieden sein zu dürfen.

Auch heute saß Marcus am Küchentisch und hatte Hefte und Bücher um sich verstreut. Seinen dunklen Lockenkopf neigte er tief hinab, während er mit dem rechten Zeigefinger über eine Landkarte fuhr.

»Mami!« rief er, als sie auf ihn zuging, und sprang vom Stuhl hoch. Sein Gesicht war stark gerötet. Gleich fürchtete Traude, er könnte Fieber haben, und legte die Hand prüfend auf seine Stirn.

»Habt ihr heute etwas Neues in der Schule durchgenommen?« erkundigte sie sich, beruhigt darüber, daß er keine erhöhte Temperatur hatte.

»Wo warst du nur so lange?« fragte er. »Ich hab’s mit meiner Neuigkeit kaum noch aushalten können.«

Traude lächelte weiterhin, obwohl es ihr schwerfiel. Die Müdigkeit lag ihr wie Blei in den Gliedern. Daß sie Überstunden gemacht hatte, um ihrem Sohn zum Geburtstag eine besondere Überraschung bereiten zu können, verriet sie nicht. Statt dessen forderte sie ihn auf:

»Na, erzähl schon. Du bist ja so aufgeregt, als würdest du gleich platzen.«

»Rate mal, was wir in den Schulferien vorhaben, Mami«, verlangte er, und seine dunklen Augen funkelten.

»Wahrscheinlich das gleiche wie im vergangenen Jahr«, meinte sie leichthin, »lange schlafen, schwimmen gehen oder mal den Zoo besuchen.«

»Falsch!« Marcus lachte. »Die ganze Klasse wird zusammen Ferien machen – drei Wochen lang.«

Traude Radlinger Iächelte nicht mehr. Sie dachte an die Unkosten, die ein solches Unternehmen bringen würde, und unterdrückte einen Seufzer. Sich mit einem Kind durchzuschlagen, das war nicht leicht, wenn man keinen Beruf erlernt hatte und zudem noch ledig war. Seit einem Jahr arbeitete sie im Akkord in einer Keksfabrik. Sie verdiente nicht schlecht; doch es wollte nie reichen.

»Wir kriegen einen Zuschuß von der Stadtverwaltung«, berichtete Marcus weiter. »Dann haben wir noch unsere Schulkasse, und den Rest muß man selber zusteuern. Aber – aber das wird nicht viel sein. Das Geld, das ich mir für ein Fahrrad angespart habe, werde ich für diese Ferien verwenden«, setzte er hastig und mit einem ängstlichen Blick auf seine Mutter hinzu.

»Du wirst einiges anzuziehen brauchen. Vielleicht kann ich dir abends auch noch etwas stricken«, überlegte Traude laut.

Marcus war aufgesprungen. Er umarmte sie stürmisch und sagte: »Du bist die beste Mutter der Welt. Ich wünschte, ich wäre schon erwachsen und könnte Geld verdienen! Dann brauchtest du dich nicht mehr so zu plagen!«

»Und wohin werdet ihr fahren?« erkundigte sich Traude lächelnd, als sie ihn auf seinen Stuhl zurückgedrückt hatte.

»Schau... hier... ich habe es rot angezeichnet, damit ich es immer schnell wiederfinde!« verkündete er strahlend und tippte auf die Landkarte. Wie er beugte sich nun auch Traude darüber, um im selben Augenblick ungläubig auf die Stelle der Karte zu starren, die Marcus rot umrandet hatte. Nadelstichen gleich traf es sie, was sie da sah: bekannte Namen an kleinen Punkten, die Ortschaften kennzeichneten, und links unten zwei durch Querlinien markierte Seen!

»Ihr – ihr wollt dorthin?« Diese Frage brachte sie nur mit Mühe über die blaß gewordenen Lippen.

»Ja, und es sieht schon auf der Karte schön aus, nicht wahr? Die braune Farbe, das sind Berge. Je dunkler, desto höher.« Marcus strahlte. Der sonst so stille Junge war kaum wiederzuerkennen. Als er den staunenden Blick seiner Mutter auffing, wurde er ernst und beteuerte:

»Natürlich werde ich mich vorsehen und dir keine Sorgen machen, Mami. Ich kann es kaum glauben, daß mein größter Wunsch in Erfüllung gehen soll. Weißt du – ich hab die Berge schon immer mal sehen wollen – aus der Nähe. Hohe Berge, wo auf den Gipfeln nie der Schnee schmilzt und man bei klarem Wetter kilometerweit schauen kann.«

Wieder hatte Traude das Gefühl, von einem Schmerz zermalmt zu werden. Aber diesmal strahlte er nicht vom Leib her aus, sondern vom Herzen und von den Erinnerungen, die sie jäh überfielen.

»Was für eine Idee von euch, eine so lange Reise zu unternehmen! Da kann unterwegs eine Menge passieren«, sagte sie.

»Wir fahren doch mit dem Bus. Es wird bestimmt keiner von uns verlorengehen. Unser Klassenlehrer nimmt ja seine Frau mit, Mami.«

Traude kehrte ihrem Sohn den Rücken zu. Absichtlich verschloß sie sich der Bitte wie auch der Furcht, die in seinen Worten mitgeklungen hatten. »Warum macht ihr nicht an der See Ferien?« murmelte sie, während sie damit begann, ein warmes Abendessen zu machen.

Marcus jedoch redete nur noch von den Bergen, während er den Tisch deckte und sich auch sonst nützlich zu machen versuchte. Er war ein lieber, aufmerksamer Junge. Dieses wieder einmal festzustellen, trieb Traude heute keine Tränen der Rührung in die Augen. Im stillen grollte sie ihrem Sohn, weil er ahnungslos an etwas rührte, das sie unbedingt vergessen wollte.

Es traf sie dann wie ein Faustschlag, als er während des Essens gestand:

»Ich habe alle Fotos von den Bergen aus den Zeitungen geschnitten und aufbewahrt. Zwei Schachteln sind schon voll. Willst du sie mal sehen?«

Ehe sie ihn daran hindern konnte, war er schon aufgesprungen und ins Schlafzimmer gerannt. Mit glühenden Wangen und blitzenden Augen kehrte er dann mit seinen Schätzen zurück und breitete sie auf dem Tisch aus.

Traude wußte nicht, was sie sagen sollte. Zu deutlich und niederschmetternd war für sie die Tatsache, nichts von dem größten aller Wünsche ihres Sohnes gewußt zu haben.

»Ein Berg ist wie der andere«, sagte sie mit rauher Stimme.

»Aber – aber wenn man das wirklich erlebt – alles von nahem sieht…« Marcus hielt inne und lächelte verträumt. Auch das quälte Traude mehr als die Beschwerden, die sie manchmal wie aus heiterem Himmel überfielen.

»Es wird bestimmt nicht zu teuer, Mami«, redete Marcus eifrig weiter. »Ich krieg ja noch einmal Taschengeld und verdiene mir was dazu, indem ich für Frau Brauer und Herrn Köhler Besorgungen mache. Meinem Schulkameraden Ralf könnte ich bei den Rechenaufgaben helfen. Das brächte mir auch ein paar Mark ein.«

»Nichts da!« wehrte Traude mit ungewohnter Heftigkeit ab. »Kümmere dich um deine eigenen Hausaufgaben.«

»Und das Geld, das dann noch fehlt, Mami?«

Traude dachte an ihre Mitarbeiterin Ellen, die sich oft und gern vertreten ließ. Das bedeutete zwar mehr Überstunden, aber die Garantie dafür, daß Marcus’ Freude nicht getrübt wurde.

»Das Geld, das du brauchst, bekommst du von mir«, erklärte sie mit einem harten Unterton in der Stimme. »Ich habe nichts dagegen, wenn du für alte oder gebrechliche Menschen einkaufst oder ihnen sonstwie hilfst. Ich dulde es aber nicht, daß du dich dafür bezahlen läßt, Marcus!«

»Aber – wenn sie es unbedingt wollen?«

»Dann mach ihnen klar, daß du gern und kostenlos hilfst.«

»Du bist bös auf mich, Mami. Warum?« fragte er traurig.

Traude heftete den Blick starr auf den Stapel Zeitungsfotos und preßte die Lippen zusammen. Teils tat es ihr schon leid, so schroff zu ihrem Sohn gesprochen zu haben; teils wäre sie am liebsten noch härter mit ihm umgegangen, nur um ihn von dieser Reise nach Österreich fernzuhalten.

»Mami…«, klang es bittend, und eine kleine rauhe Hand legte sich auf die ihre.

Traude lächelte krampfhaft und nickte ihrem Sohn zu. »Ich bin wieder einmal zu müde – verzeih«, murmelte sie. Um etwas gutzumachen, gab sie ihm einen von den Erdbeereisbechern, die für den Nachtisch am Sonntag gedacht waren.

Marcus war schon getröstet. Während er mit Genuß das Eis schleckte, erklärte er voller Eifer:

»Ich werde keinen Groschen vom Taschengeld mehr ausgeben. Ich kann auch noch ein, zwei Jahre auf das Fahrrad warten, Mami. Das alles ist mir die Reise in die Berge wert. – Vielleicht kannst du nachkommen, Mami – wenigstens für ein paar Tage?«

»Nein«, erwiderte sie, und wieder klang ihre Stimme hart. »Nein«, wiederholte sie etwas sanfter. »In der Fabrik werden gerade während der Ferienzeit die verbleibenden Arbeitskräfte doppelt gebraucht. Mein Personalchef weiß ja, daß ich meinen Urlaub erst im Herbst nehmen möchte. Ich kann jetzt nicht alle Pläne durcheinanderbringen. Das verstehst du doch.«

»Ja – schon... Aber später, wenn ich groß bin, fahren wir immer zusammen in die Ferien und schauen uns die ganze Welt an.«

Marcus strahlte wieder, während seine Mutter sich mit heißem Schrecken bewußt wurde, wie wenig Zweck es doch hatte, vor irgend etwas fliehen zu wollen. Das Schicksal schien einen auch an der entferntesten Stelle einzuholen.

*

Österreich ist groß, hatte sich Traude Radlinger zur eigenen Beruhigung gesagt. Und sollten die Schüler einmal einen Ausflug bis vor die felsigen Mauern des Toten Gebirges machen, so muß das nicht gleich eine Gefahr für Marcus bedeuten.

Diese Ansicht änderte sich jedoch schnell. Traude war entsetzt, als ihr Sohn zwei Tage später aufgeregt berichtete:

»Unser Lehrer hat heute alles ausführlich mit uns besprochen, Mami. Wir wissen jetzt, wo genau wir untergebracht werden. Wir haben schon Fotos von der Gegend dort gesehen. Alles prima, Mami! Wie im Bilderbuch so schön!«

»Zumindest die Planung scheint gut organisiert zu sein«, erwiderte Traude lächelnd. Sie strich ihm über das zerzauste Haar und war über seine kindliche Begeisterung gerührt.

»Wir fahren bis weit über München hinaus auf der Autobahn«, berichtete Marcus aufgeregt weiter. »Danach geht es auf der Landstraße in Richtung Grünau. Stell dir vor – unser Quartier wird eine ehemalige Mühle sein. Sie liegt am Wald und nah bei einem See. Ist das nicht herrlich?«

Traude war wie unter einem Hieb zusammengeschreckt. Sie blickte ihren Sohn entsetzt an und hielt mit Mühe einen Schrei zurück.

»Mami, warum freust du dich nicht ein bißchen?« fragte Marcus enttäuscht.

»Das – das tue ich ja«, behauptete sie mit enger Kehle und versuchte zu lächeln.

»Du hast selber oft gesagt, wie unerträglich es im Sommer in einer Großstadt ist«, fuhr er leicht vorwurfsvoll fort. »Immer unter einer Dunstglocke leben, ständig Lärm um sich und den Park voller Menschen.«

»Ja, ja...«, murmelte Traude. Sie war blaß geworden, rieb sich die Hände, die zu zittern begonnen hatten. Obwohl sie ihrem Sohn schöne Ferientage in freier Natur gönnte, bereute sie jetzt ihre Zusage zu dieser Reise in die Alpen. Beinahe hätte sie geweint, als Marcus treuherzig versprach:

»Ich schicke dir auch viele Ansichtskarten, Mami. Vielleicht bekomme ich sie billiger, wenn ich gleich ein Dutzend davon nehme.«

»Du wirst kaum Zeit zum Schreiben haben, wenn es für dich so viel Neues zu sehen gibt«, meinte sie, während sie schon krampfhaft überlegte, wie sie noch etwas ändern könnte.

Marcus indes war so voller Begeisterung und Vorfreude, daß er ihren Kummer nicht wahrnahm. Eifrig sprach er weiter, und dabei strahlte er über das ganze Gesicht.

Obwohl Traude diese kindliche Freude nicht schmälern wollte, hoffte sie, eine Änderung der Reisepläne herbeiführen zu können. Daher ließ sie sich telefonisch einen Termin geben, um dann pünktlich bei Marcus Klassenlehrer zu erscheinen. Er hieß Wagner und war verhältnismäßig jung. Ein freundlicher, aufgeschlossener Mann, der auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen schien.

»Ihr Sohn, Frau Radlinger«, sagte er, »ist einer meiner besten, fleißigsten Schüler. Sie können auf seine Leistungen stolz sein.«

»Im Augenblick sorge ich mich um Marcus«, erklärte sie hastig. »Ich fürchte, die lange Busfahrt hält er nicht durch. Drei Wochen lang so weit von mir entfernt, das könnte zu Komplikationen führen, denn Marcus ist bisher ständig in meiner Nähe gewesen.«

»Es wird gut für ihn sein, einmal aus allem herauszukommen, Frau Radlinger. Die Schüler werden vor der Reise von einem Arzt des Gesundheitsamtes untersucht und während der Ferien nie völlig ohne Aufsicht sein.«

»Warum fahren Sie mit den Kindern nicht zur See?« stieß Traude hervor, die ihre Verzweiflung kaum noch verbergen konnte.

Dirk Wagner stutzte; er blickte die Frau prüfend an. Sie sah nicht nur besorgt, sondern sehr blaß aus und tat ihm leid. »An der See lauern auch Gefahren«, sagte er, ihr beruhigend zulächelnd. »Das Quartier in der alten Mühle wurde deshalb ausgewählt, weil es zu günstigstem Preis auch eine ausgezeichnete Verpflegung, gemütliche Unterkunft und eine Umgebung garantiert, die viel Abwechslung bietet. Meine Schüler werden die Natur drei Wochen lang hautnah erleben. Meine Frau und ich werden sie wie eigene Kinder hüten. Das versichere ich Ihnen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, zumal dort auch ärztliche Versorgung gewährleistet sein wird.«

»Ich hatte gedacht, nur ältere Schüler würden auf eine so weite Reise geschickt, Herr Wagner.«

»Es wird sich herausstellen, ob Ihr Sohn den körperlichen Strapazen gewachsen sein wird oder nicht«, entgegnete er leicht ungeduldig.

Traude indes erschrak schon wieder, als sie sich vorstellte, Marcus könne als einziger von diesem Ferienerlebnis ausgeschlossen werden, das ihn schon jetzt hellauf begeisterte. Beinahe trotzig erklärte sie nun:

»Mein Sohn ist zwar blaß und schmal, aber gesund.«

Dirk Wagner nickte zerstreut. Mit seinen Gedanken war er bereits bei der nächsten Unterrichtsstunde. Da er zusätzlich noch eine Klasse übernommen hatte, fühlte er sich durch das letzte Schuljahr stark beansprucht. Wie die Schüler sehnte auch er die Ferien herbei und hoffte, vorher nicht allzu viele Schwierigkeiten aus dem Weg räumen zu müssen.

»Sie werden noch Einzelheiten erfahren, Frau Radlinger«, kündigte er an. »Auch erhält jeder Schüler eine Liste, auf der verzeichnet sein wird, was unbedingt zum Reisegepäck gehören soll.«

Traude blickte den Lehrer an und schluckte. Sie wußte, daß sie vergeblich gekämpft hatte. Indem sie das Ziel der Ferienreise nicht mehr ändern konnte, fühlte sie sich schon von der Vergangenheit eingeholt.

Wie immer, wenn sie verzweifelt war, stürzte sie sich auch jetzt vermehrt in Arbeit. Es gab einiges für Marcus vorzubereiten. Er sollte nicht hinter den anderen zurückstehen müssen. Doch es heiterte sie nicht auf, seine Freude über alles mitzuerleben. Wenn er ihr mit einem Kuß für ihre Fürsorge und Liebe dankte, war sie den Tränen nahe.

Die Tage vergingen unheimlich schnell. Je zappeliger Marcus vor Ungeduld und Aufregung wurde, desto mehr schien Traude innerlich zu erstarren. Manchmal bewegte sie sich wie eine Marionette, hörte kaum zu, war mit ihren Gedanken in einer Zeit, da auch ihr Leben voller Freude und Hoffnungen gewesen war. Bei der Arbeit war sie ebenfalls zerstreut und mußte sich oft gewaltsam zusammenreißen.

»Ich werde auch jeden Abend beten, Mami«, versprach Marcus ihr am Nachmittag vor der Abreise, als sein Koffer schon bereitstand und der neue Rucksack gepackt war.

Traude nickte kummervoll, drückte ihn zärtlich an sich. Die Stimme wollte ihr nicht gehorchen, als sie bat:

»Gib immer gut auf dich acht, Marcus. Sei vorsichtig und tu, was Herr Wagner und seine Frau sagen.«

»Das ist doch klar, Mami«, erwiderte er und lachte, ehe er schmunzelnd hinzusetzte: »Ich bin doch dein bestes Stück.«

Tränen schossen Traude in die Augen. Sie barg das Gesicht im lockigen Haar ihres Sohnes und rang mühsam nach Fassung. Ja, dieser Bub war ihr bestes Stück, Inhalt und Erfüllung ihres Lebens und Trost auf dem einsamen Weg, den sie aus Liebe gegangen war.

»Vielleicht kann ich dich auch mal in der Fabrik anrufen, Mami«, sagte Marcus. Er hatte sich aus ihren Armen gelöst und sah sie mit strahlenden Augen an.

»Nein, das wäre umständlich und würde zu teuer. Mir genügt es, wenn ich weiß, daß ihr gut angekommen seid«, erwiderte sie und versuchte zu lächeln.

Dieses mühsame Lächeln behielt sie bei, obwohl es ihr von Stunde zu Stunde schwerer fiel. Sie hatte das Gefühl, sich für immer von ihrem Sohn trennen zu müssen. Es brachte neue Schmerzen, Marcus für drei Wochen loszulassen, in dieser kleinen Wohnung allein zu sein. Wie einsam man in einem Hochhaus sein konnte, das wußte sie, und davor graute es ihr immer wieder.

Nichts konnte Traude Radlinger in diesen letzten Stunden vor Marcus’ Abreise beruhigen. Im Geiste sah sie ihn bereits von Gefahren umlauert. Es fiel ihr schwer, auch daran zu denken, daß ihm diese Ferien guttun und auch eine Bereicherung für ihn sein würden.

An diesem Abend betete sie inbrünstiger denn je. Marcus indes war zu unruhig. »Ich hab ja meinen Schutzengel«, meinte er. Das klang so überzeugt, daß Traude ihn nicht tadelte, weil er so hastig gebetet hatte. Sie schloß ihn zärtlich in ihre Arme und hätte ihn gern so festgehalten.

»Mami, du erdrückst mich ja«, sagte er und befreite sich ungeduldig. Sie spürte, daß er schon weit von ihr entfernt war. Die Aussicht, ihn eines Tages für immer ans eigene Leben hergeben zu müssen, war so quälend wie der Schmerz, der sie jäh überfiel. Dieser schon bekannte, für kurze Zeit unerträgliche Schmerz. Heute strahlte er weiter aus, trieb ihr Tränen in die Augen.

Ich darf jetzt nicht schlappmachen! Nur nicht krank werden! sagte sie sich, während sie tapfer lächelte.

Marcus, der sie nachdenklich betrachtete, fragte plötzlich: »Kannst du nie richtig lachen, Mami?«

»Doch«, sagte sie schnell, »aber so ein Abschied hat mich früher schon immer traurig gemacht.«

»Seit das mit meinem Vater passierte?«

Traude nickte bestätigend. Jetzt war es ihr ein Trost, daß Marcus so einfühlsam war. An seinem letzten Geburtstag hatte sie ihm einiges von dem erzählt, was sie in diese große Stadt geführt hatte. Und Marcus hatte es aufgenommen, als wäre er schon erwachsen und ihr eine richtige Stütze.

»Du bist trotzdem nicht allein, Mami«, sagte er jetzt. »Ich werde in Gedanken bei dir sein, solange ich Ferien mache. Und ganz bestimmt bringe ich dir auch etwas Schönes mit.«

»Gib auf dich acht und bleib gesund. Mehr wünsche ich mir nicht«, murmelte sie und schloß ihn fest in ihre Arme.

Diesmal hielt Marcus ganz still. Da Traude fürchtete, auch er könne den Tränen nahe sein, lachte sie gezwungen und versuchte, ihn durch scherzhafte Worte aufzumuntern, was ihr auch schnell gelang.

*

Es war für Traude Radlinger ein schlimmer Augenblick, sich für drei Wochen von ihrem Sohn verabschieden zu müssen. Tapfer verbarg sie ihren Kummer hinter Zärtlichkeiten und liebevollen Worten. Das Herz tat ihr weh, als Marcus so erwartungsvoll in den Bus stieg und sich gleich einen Fensterplatz aussuchte.

Seine Kameraden waren noch aufgeregter. Sie drängten und knufften sich voller Übermut. Ihre Eltern waren weniger bedrückt, wie Traude feststellte. Sie hielt sich im Hintergrund, damit keiner ihre Tränen sah.

Nun saß auch der Fahrer am Steuer und startete den Motor. Während er dann hupend anfuhr, begannen einige Jungen schon heftig zu winken. Traude lächelte ihrem Sohn zu, sah ihn nur durch einen Tränenschleier. Sie hatte kaum Kraft, so lange zu winken, bis er es nicht mehr wahrnehmen konnte. Ihr »Gott behüte dich!« blieb unausgesprochen, doch um so lauter in ihrem Herzen.

Die anderen Mütter und Väter waren mit Fahrzeugen auf den großen Schulhof gekommen. Nur Traude entfernte sich zu Fuß und ganz allein. Ihr graute vor der Rückkehr in die kleine Hochhauswohnung. Dort wartete jetzt keiner auf sie, um sie froh zu begrüßen. Fast einen Monat lang würde sie nun ohne ihren Sohn sein. Das war eine bedrückende Aussicht und quälender als der Schmerz, der sie wieder überfiel und ihre Schritte schleppend werden ließ.

Derweil entdeckte Marcus Radlinger schon viel Neues. Sie fuhren durch Straßen, die er nicht kannte. Der Bus durchquerte ein Neubauviertel mit Einfamilienhäusern und Gärten. Während Marcus alles staunend betrachtete, sehnte er wieder einmal die Zeit herbei, da er endlich Geld verdienen würde. Dann, so nahm er sich heute vor, werde ich mit meiner Mami auch in einem schönen neuen Haus im Grünen wohnen.

Die Reise verlief ohne besondere Vorkommnisse. Gegen Mittag hatte sich die größte Aufregung gelegt. Sie machten viermal Rast, wobei Dirk Wagner und seine Frau Ingrid einige Mühe hatten, die Schüler beisammen zu halten. Aus zwei Parallelklassen waren nur die Jungen für diese Ferienfahrt gewählt worden, nachdem die Mädchen gestern schon ein anderes Ziel angesteuert hatten. Alles ging glatt vonstatten. Keiner verirrte sich auf der Raststätte. Verletzungen gab es ebenfalls nicht. Es wurde auch denjenigen nicht schlecht, die gleich hastig über ihren Reiseproviant hergefallen waren.

Als man die Berge endlich in der Ferne emporragen sah, waren die meisten der jungen Reisenden schon müde und gähnten immer wieder. Marcus jedoch wollte sich nichts entgehen lassen. Rechts und links schaute er durchs Fenster. Und wenn etwas gar zu interessant erschien, spähte er vom Gang zwischen den Sitzreihen aus dorthin.

So kam der schmale blasse Junge immer mehr einer Welt nahe, die für ihn voller Wunder sein sollte. Seine Müdigkeit verflog, als der Lehrer ankündigte:

»In einer halben Stunde sind wir am Ziel.«

Es war, als würden sie nun direkt auf die Sonne zufahren, die wie ein feuerroter Ball im Westen stand und die Grate zum Glühen zu bringen schien. Auch darüber wunderte sich Marcus. Er blinzelte in die Sonne, bis ihm die Augen brannten, und stieg dann als einer der letzten aus dem Bus.

Die ehemalige Mühle lag idyllisch zwischen einem breiten Bach und dem Wald. Sie hatte einen neuen Anbau mit vielen blanken Fenstern. Doch das Mühlrad drehte sich noch immer.

Im Haus gab es so viele Gänge und Türen, daß Dirk Wagner seine Schüler erst einmal anwies, sich den Weg zu ihren Schlafräumen und zum Speisesaal zu merken. Dann wurden sie in kleine Gruppen eingeteilt und landeten, jeweils zu viert, in hellmöblierten Zimmern. Die Betten waren weißblau kariert bezogen. An der Tür hing eine Hausordnung. Marcus las sie aufmerksam durch und lächelte dabei, weil für ihn manches selbstverständlich war.

Da er diesen Raum mit drei Schulkameraden teilen würde, mit denen er sich gut verstand, war er zufrieden. Flinker als sie räumte er seine Sachen ein, denn er war es von daheim aus gewohnt, Ordnung zu halten.

Zum Abendessen versammelten sie sich dann alle im Speisesaal. Hier lernten sie auch das Ehepaar Graubündner kennen, dem die Leitung des Ferienheimes oblag. Es waren kinderliebe, schon ältere Leute, die das Gefühl gar nicht erst aufkommen ließen, daß sie und die jungen Gäste einander noch fremd waren.

Es gab reichlich, doch Ungewohntes zu essen. Marcus, der seiner Mutter versprochen hatte, in den Ferien etwas zuzunehmen, langte tüchtig zu. Er hatte weder an diesem ersten Abend Heimweh noch an den folgenden. Ja, er sah richtig glücklich aus, als er allein einen kleinen Spaziergang um die ehemalige Mühle herum machte und so viel Schönes entdeckte.

Obwohl bei der Ankunft schon einige gegähnt hatten, wollte keiner früh zu Bett gehen. Unter einem schindelbeschwerten Dach, das auf vier kantigen Pfosten stand, saßen sie auf Bänken beisammen, sangen ein paar Lieder und genossen die Stimmung eines Abends in den Bergen. Lehrer Wagner erklärte ihnen, welche Vogelstimmen sie aus dem nahen Wald vernahmen. Seine junge Frau kannte sich in der alpinen Pflanzenwelt gut aus, und Xaver Graubündner erzählte viel Interessantes von seiner Heimat. Dazu plätscherte das Wasser vom Mühlrad wie eine sanfte Melodie und machte die Jungen allmählich schläfrig. Diesmal widersprachen sie nicht, als Dirk Wagner sie zu Bett schickte.

Seine drei Kameraden schliefen bereits, als Marcus einen ersten Bericht an seine Mutter schrieb.

»… man nennt es hier pfundig, wenn einem etwas gefällt«, teilte er ihr in seiner sauberen Schrift mit. »Es ist sehr, sehr pfundig, Mami. Ich hätte am liebsten vier Augen, um alles auf einmal sehen zu können. Nichts kann schöner sein als Ferien in den Bergen. Es riecht und schmeckt alles anders, aber besser. Im Augenblick ist es so still, daß ich meinen Herzschlag hören kann. Die anderen schlafen schon. Ich bin jetzt auch müde. Aber ich wünschte, Du wärst auch hier und könntest Dich mit mir über alles freuen!«

Ja, Marcus Radlinger freute sich von der ersten Stunde an über diese Ferien, die seine ersten überhaupt waren. Aus Mangel an Geld war er bis dahin mit seiner Mutter nie verreist. Daß sie ihm diese Fahrt ermöglicht hatte, dafür war er ihr von Herzen dankbar, ohne jedoch darüber sprechen oder gar schreiben zu können.

Er schlief in dieser ersten Nacht zwar gut, doch nicht lange. Noch ehe die Sonne zum Fenster hereinlachte, war er aufgestanden und im Freien.

Xaver Graubündner lächelte dem blassen Jungen zu. »Schau, Lisa«, sagte er schmunzelnd zu seiner Frau, »sogar ein Frühaufsteher ist unter unseren jungen Gästen.«

»Darf ich mich an dem Brunnen dort waschen?« fragte Marcus artig.

Xaver sah ihn überrascht an, während seine Frau warnte: »Das Wasser ist eisig kalt. So etwas kennt ihr Stadtkinder nicht. Die meisten laufen kreischend davon.«

Marcus blickte zu dem schönen alten Brunnentrog hin und lächelte versonnen. »Ich habe manchmal davon geträumt, mich einmal so morgens waschen zu dürfen«, gestand er.

Das Ehepaar tauschte einen verblüfften Blick. Marcus nahm es nicht wahr, da er, die neue schwarze Kulturtasche unter den linken Arm geklemmt, schon entschlossen auf den Brunnen zuging.

»Wär der Bub net so blaß«, raunte Lisa Graubündner ihrem Mann zu, »könnt er einer der hiesigen sein. Er hat so schwarze Haare und Augen wie sie. Aber er schaut aus, als wär er lange krank gewesen.«

»Zimperlich scheint er net zu sein«, stellte Xaver mit Genugtuung fest. »Das solltest du mit einem Glas frischer Milch anerkennen, Lisa. Der Bub muß a bisserl aufgepäppelt werden. Er wirkt zwischen seinen Kameraden wie ein zartes Pflanzerl unter üppigem Gewächs.«

So kam es, daß Marcus Radlinger an diesem Morgen schon Freunde gewann, ohne sich dessen bewußt zu werden. Er erfüllte sich prustend den Traum einer morgendlichen Brunnenwäsche und war glücklich.

»Ich werde Ihnen helfen, Frau Graubündner«, bot er dann an, als das Klirren von Geschirr ihm den Weg in die Küche gewiesen hatte.

»Aber net allein – zumal es keine Männerarbeit ist.«

»Zu Hause decke ich auch immer den Tisch«, verriet Marcus. In seinem Eifer, seinen Dank für diesen ersten schönen Ferientag durch fleißige Hilfe kundzutun, bemerkte er nicht, daß Lisa Graubündner ihn ein wenig ausfragte. Sie tat es nicht aus Neugier, sondern aus herzlichem Interesse an dem blassen schmalen Jungen.

Die Tische waren sämtlich gedeckt, als seine Schulkameraden nacheinander und sichtlich hungrig in den Speisesaal kamen. Der Lehrer folgte als letzter mit seiner Frau und konnte die vielen Fragen kaum beantworten, mit denen er gleich bestürmt wurde.

Marcus hielt sich zurück. Er hörte still zu und genoß die Seltenheit, in großer Runde zu frühstücken. Zwei Becher warme Milch hatte er bereits getrunken. Und die freundliche Frau Graubündner hatte energisch angekündigt:

»Die kriegst du jeden Morgen vor dem Frühstück. Das macht die Wangen rot und Appetit, Bub.«

»Ich hab’ meiner Mutter versprochen, daß ich zunehmen werde. Sie hätte sich sonst noch mehr Sorgen um mich gemacht«, hatte Marcus ihr anvertraut und damit endgültig ihr Herz gewonnen.

*

In einer der schönsten Waldlandschaften Österreichs war Marcus Radlinger durch diese Reise geraten, der Natur und dem Wild nun hautnah, was für ihn einem Wunder gleichkam. Es störte ihn kein Straßenlärm. Es gab keine schädlichen Abgase, vor denen er nachts das Fenster schließen mußte. Die Sonne wurde nicht durch Rauch oder Smog verdeckt, und Langeweile kam gar nicht erst auf. Jeder Tag brachte etwas Neues. Jeder Schritt von der alten Mühle weg konnte zu einem kleinen Abenteuer führen. Marcus kam zwei Tage lang nicht dazu, den Brief an seine Mutter zu beenden. Als er sich dessen schuldbewußt klar wurde und es Frau Graubündner gegenüber erwähnte, beruhigte ihn diese mit den Worten:

»Euer Klassenlehrer hat ja am ersten Abend schon mit dem Direktor telefoniert. Inzwischen werden alle Eltern wissen, daß ihr gut angekommen seid und euch wohl fühlt. Deine Mutter wird sich auch keine Sorgen mehr zu machen brauchen.«

»Sie hat ja nur mich«, sagte Marcus. »Und sie glaubt’s eher, daß es mir gutgeht, wenn ich ihr das selber schreibe.«

»Dann warte nicht länger mit deinem schriftlichen Bericht«, riet Lisa Graubündner und schenkte ihm die dafür notwendige Briefmarke.

Marcus zog sich für eine Weile in den Schlafraum zurück und brachte seine begeisterte Schilderung über diese Ferien rasch zu Ende. Dabei zählte er gewissenhaft auf, was sie bereits unternommen hatten und alles noch planten. Begeisterung schwang zwischen den Zeilen mit.

»… sie nennen die Gegend hier Kinderland«, schrieb er zum Schluß. »Aber ich fühle mich schon richtig erwachsen, wenn ich mich mit Herrn Graubündner unterhalte oder seiner Frau helfe. In der Nähe ist ein Tierpark. Den wollen wir Donnerstag besuchen. Vielleicht gibt es dort auch eine Ansichtskarte für Dich, die Dir zeigt, wie schön es hier ist…«

Ans Ende seiner Zeilen malte Marcus ein rotes Herz und umgab es mit einem Kranz blauer Blumen. Weil er es plötzlich mit einer Nachricht an seine Mutter sehr eilig hatte, bat er Dirk Wagner um die Erlaubnis, den schon frankierten Brief zum Postamt bringen zu dürfen.

Der Lehrer schaute erst auf seine Armbanduhr und dann prüfend auf den Stand der Sonne. Dann sagte er:

»Wenn du durch den Hohlweg gehst, sparst du Zeit und bist pünktlich zum Mittagessen zurück. Ich verlasse mich darauf, daß du dich nicht aufhältst und auf direktem Weg zurückkommst.«

»Mein Ehrenwort«, versprach Marcus rasch. Dann war er wie der Blitz davon. Den Brief gab er absichtlich am Schalter ab. Dabei strahlte er so vor Freude, daß der Beamte augenzwinkernd scherzte: »Für Liebesbriefe sollte ich eigentlich ein Extraporto berechnen, junger Mann, denn sie wiegen schwerer.«

»Ich habe an meine Mutter geschrieben«, erklärte Marcus; doch er lachte und fand es auch in diesem kleinen Postamt anheimelnd.

Die Uhr an der nahen Kirche zeigte halb elf, als Marcus den Rückweg antrat. Weil er noch viel Zeit zu haben meinte, ging er quer über den Kirchplatz und dann neugierig durch eine der Gassen. Diese endete vor einem Wiesenhang, auf dem sich gerade zwei Männer laut stritten.

Marcus blieb erschrocken stehen, als er den einen schreien hörte: »Erwisch ich dich noch ein einziges Mal bei solcher Schluderei, prügel ich dir die Vernunft ein, du Saufloch!«

Der andere sagte nichts mehr. Erst wich er schrittweise zurück. Dann warf er sich herum und rannte davon. Der Mann, der ihm gedroht hatte, lachte zornig hinter ihm her. Er zerrte ein Taschentuch hervor und tupfte sich damit über Stirn und Nacken.

Marcus schaute zu und zögerte. Er wollte nicht deutlich machen, daß er Zeuge dieses heftigen Gespräches geworden war. Am liebsten hätte er sich unbemerkt davongeschlichen. Doch dann beobachtete er etwas, das ihn ganz anders handeln ließ.

Der Mann hatte sein Taschentuch eingesteckt und zog die grüne Jacke aus. Als er sich diese über die rechte Schulter warf, fiel etwas heraus. Das schien er nicht wahrzunehmen, denn er ging mit weit ausholenden Schritten bergauf.

»Hallo!« rief Marcus spontan.

Der Mann reagierte nicht. Er stapfte mit gesenktem Kopf dahin und bewegte die Arme, als wollte er etwas abwehren.

Marcus rannte auf die Stelle zu, wo der Mann zuvor gestanden hatte. Er sah die Brieftasche sofort, die aufgeklappt dalag und ein Bündel Geldscheine enthielt.

Nie zuvor hatte Marcus Radlinger so viele Scheine auf einmal gesehen. Er erschrak des Mannes wegen, der davoneilte, ohne den Verlust bemerkt zu haben.

Nur kurz zögerte Marcus. Dann bückte er sich, nahm die Brieftasche hoch und folgte dem Mann, so schnell es möglich war.

»Hallo, Sie – halt!« schrie er, als sich der Abstand nicht zu verringern schien.

Erst auf dem Pfad droben blieb der Mann stehen und blickte sich um. Obwohl sich Marcus mit einemmal fürchtete, hastete er weiter und hielt die Brieftasche hoch erhoben.

»Hier – Sie haben das auf der Wiese verloren«, sagte er, als er dem Mann atemlos näher gekommen war.

»Wer bist du? Was willst du?« fragte Alois Stallwanger, der meistens gleich mißtrauisch wurde, wenn ein Fremder ihn ansprach.

»Ihr Geld – die Brieftasche«, keuchte Marcus und blieb nun stehen.

In den Augen des Bauern zuckte es wie von Blitzen. Mit langsamen Bewegungen nahm er an sich, was er verloren hatte. Er blätterte die Geldscheine durch und sah dem Jungen dann prüfend ins Gesicht.

»Du scheinst ein ehrlicher Bub zu sein«, sagte er.

Marcus antwortete mit einem entrüsteten Blick. Er hatte seiner Mutter ebenfalls versprochen; stets höflich zu sein und nicht zu widersprechen. Das einzuhalten fiel ihm jetzt schwer.

»Wenn man arm ist, muß man nicht gleich ein Dieb sein«, erklärte er mit einem Stolz, der einem Erwachsenen Ehre gemacht hätte.

Jetzt faßte Stallwanger den Jungen schärfer ins Auge. Es war, als wollte er ihn zentimeterweise erforschen. »Was treibst du hier?« fragte er plötzlich in barschem Ton.

»Ich gehöre zu der Schulklasse, die in der alten Mühle Ferien macht.«

»Ach, du bist einer von denen, die kreischen und lärmen, ohne auf andere Rücksicht zu nehmen.«

»Wir freuen uns halt, weil wir hiersein dürfen«, erwiderte Marcus ernst und sah dem grimmigen Mann furchtlos in die Augen.

»Wie kann ein Bürscherl wie du hier Urlaub machen?« fragte Alois Stallwanger leicht spöttisch. »Beim ersten Windhauch wirst du fortgeblasen, du Fliegengewicht.«

»Meine Mutter sagt, daß es nicht immer die Körperkräfte sind, die siegen.«

Erst stutzte der Bauer; dann begann er schallend zu lachen. »Du gefällst mir, Kleiner«, sagte er.

»Ich bin nicht mehr klein. Ich werde bald zehn und mag es nicht, wenn man mich auslacht.«

»Du hast recht. So was kann ich auch net vertragen.« Alois Stallwanger nickte nachdenklich. Sein Blick ruhte auf dem fremden Jungen und wurde zusehends sanfter. »Hoffentlich erholst du dich hier a bisserl!« sagte er etwas freundlicher. »Du bist wohl lange krank gewesen, wie?«

»Ich bin gesund, nur zu blaß und zu schmal. Aber ich werde zunehmen und meiner Mutter damit eine Freude machen.«

»Aha! Soso! Ist deine Mutter auch hier?«

Marcus hatte plötzlich ein Würgen in der Kehle. Zum erstenmal vermißte er seine Mutter sehr. Sie hatte ihn stets vor Begegnungen wie dieser bewahrt und sich oft schützend vor ihn gestellt.

»Sie arbeitet, damit ich es einmal besser habe«, stieß er hervor.

»Und was macht dein Vater?« wollte Alois Stallwanger wissen, der sich über dieses Interesse selber wunderte.

»Ich weiß nichts von meinem Vater und er nichts von mir.«

»Sakrament!« entschlüpfte es Alois Stallwanger. Sekundenlang sah er ratlos und verlegen aus.

»Und jetzt muß ich schnell zur Mühle zurück«, erklärte Marcus. »Es wird nämlich pünktlich gegessen, und ich möchte keinen Ärger machen.«

Stallwanger staunte schon wieder. Für seine Begriffe drückte sich dieser blasse Bub recht merkwürdig aus. Aber er hatte etwas an sich, das faszinierend war. Jedenfalls empfand Stallwanger es so und geriet prompt ins Grübeln.

»Wie lange macht ihr denn beim Xaver Ferien?« erkundigte er sich.

»Nur drei Wochen.«

»Nur? Soll das heißen, du würdest gern länger bleiben?«

»Ich muß dankbar sein, daß ich überhaupt herkommen durfte«, antwortete Marcus ernst und sah unruhig bergan.

Alois Stallwanger wußte diesen Blick zu deuten. Er entnahm der Brieftasche einen Geldschein und hielt ihn dem Buben hin.

»Hier – dein Finderlohn«, sagte er freundlich.

Marcus wich zurück. Jetzt färbte Entrüstung sein schmales Gesicht dunkelrot. »Für das, was ich zufällig fand, lasse ich mich nicht bezahlen«, sagte er mit dem verletzten Stolz eines Erwachsenen.

Ehe Stallwanger sich soweit von seiner Verblüffung erholt hatte, um darauf zu reagieren, war es für eine Entschuldigung schon zu spät. Der Junge rannte in Richtung Hohlweg davon. Stallwanger wußte nicht, ob seine Worte: »Vielleicht sehen wir uns bald wieder«, noch gehört wurden.

Eine Weile stand er verdutzt da und sah dem Jungen nach. Es imponierte ihm, wie dieser sich verhalten hatte. Viel Geld in einer Brieftasche, das konnte schon eine große Versuchung sein. Dieser schmächtige, ärmlich wirkende Bub jedoch hatte sich nicht einmal durch einen Finderlohn danken lassen wollen!

»Daß es so was heutzutag noch gibt!« wunderte sich Stallwanger laut. Kopfschüttelnd ging er nun weiter, das Bild eines fremden Kindes in seinem Herzen, dem er mehr Achtung zollte als manch einem Bekannten.

*

Dirk Wagner fand schnell heraus, daß sein Schüler Marcus Radlinger Lisas auserkorener Liebling war. Obwohl er dem Jungen eine solche Bevorzugung gönnte, warnte er freundlich:

»Verwöhnen Sie Marcus nicht zu sehr, Frau Graubündner. Ihm könnte sonst die Heimkehr schwerfallen.«

»Ein lieber, aber so stiller, blasser Bub!« meinte Lisa und seufzte. Die zwei Becher Milch jeden Morgen scheinen überhaupt nichts zu bewirken. Da sie Marcus keine Extraportionen zukommen lassen durfte, setzte sie nun den Mahlzeiten mehr zu, als für sie wirtschaftlich tragbar war. »Es sind ja nur drei Wochen, Xaver«, pflegte sie zu sagen, sobald ihr Mann sich über diese Großzügigkeit besorgt zeigte. Und nun kam auch der Lehrer noch an, um über etwas zu sprechen, das ihr selber schon klargeworden war.

»Kennen Sie Marcus’ Mutter näher, Herr Wagner?« erkundigte sie sich.

»Nein«, mußte er ehrlich bekennen und lächelte verlegen. Es weckte ein leises Schuldgefühl in ihm, daß er sich bis jetzt keine Gedanken um Frau Radlinger gemacht hatte. Als müßte er sich entschuldigen, sagte er schnell: »Marcus ist ein guter Schüler, dazu brav und folgsam. Es gab für mich noch keinen Anlaß, seine Mutter zu einem Gespräch in die Schule zu bitten.«

»Dazu hätte sie bestimmt auch keine Zeit«, meinte Lisa Graubündner. »Die arme Frau hat ja sogar dieser Ferien wegen Überstunden gemacht, damit ihr Bub net zurückstehen muß.«

Das traf Dirk Wagner nun doch wie ein Vorwurf. Er zog sich unter einem Vorwand zurück, um nach Marcus Ausschau zu halten. Der Junge befand sich nicht unter denen, die im Wiesengrund Fußball spielten und von Ingrid beaufsichtigt wurden. Dirk begab sich eiligst zu ihnen und flüsterte seiner Frau zu:

»Schau mal nach, wo der kleine Radlinger steckt. Auch wenn er sich nicht für Fußball interessiert, sollte er dabeisein.«

»Er ist in der Nähe – hat mich um Erlaubnis gebeten, bis zum Ende des Hohlweges hinaufgehen zu dürfen«, erklärte sie. »Du kannst mich jetzt hier ablösen. Mich begeistert das Fußballspielen nämlich auch nicht. Außerdem paßt es nicht in diese schöne Landschaft.«

»Ich wollte den Schülern nur einen Gefallen tun, Ingrid. Das weißt du.«

Sie nickte, lächelte ihm zu und ließ ihn mit der Schar lärmender Jungen zurück. Nach Marcus brauchte sie nicht zu suchen. Er saß oberhalb des Hohlweges auf einem Baumstumpf und zeichnete. Da sie ihn nicht stören wollte, ging sie zur Mühle zurück und setzte sich auf die Bank vorm Haus.

Marcus war so in seine Arbeit vertieft, daß er nur das wahrnahm, was er sehen wollte. Er hatte keinen Fotoapparat wie die meisten seiner Schulkameraden. Aber er besaß Zeichentalent und benutzte es fast täglich dazu, für seine Mutter das festzuhalten, was ihm selber gut gefiel.

Die Zeichenmappe wurde von Tag zu Tag voller. Gerade bannte Marcus das friedvolle Bild einer zwischen Nachmittag und Abend träumenden Berglandschaft auf das letzte Blatt. All seine Freude und Liebe zur Natur legte er hinein und wurde erst dann aufmerksam, als auf der Landstraße drunten Pferde wieherten.

Sofort legte Marcus den Zeichenblock ins Gras und erhob sich. Seine Augen leuchteten nicht auf, als er zwei Apfelschimmel vor eine Kutsche gespannt sah, sondern blickten voller Entsetzen. Die Pferde bäumten sich nämlich auf, weil ein Auto sie in rasender Fahrt überholte und dazu noch anhaltend hupte. Bis zum Hohlweg herauf war das Fluchen des Mannes zu hören, der die Tiere lenkte.

Ohne zu überlegen, rannte Marcus los. Er wollte wieder einmal helfen und wirkte vor den prächtigen Apfelschimmeln dann doch wie ein Zwerg. Trotzdem zeigte er keine Furcht. Bevor es jedoch zu einer Berührung kam, blieben die Pferde plötzlich ruhig stehen. Nur ihre zitternden Flanken verrieten, wie erschrocken sie waren.

Alois Stallwanger ließ die Zügel sinken und starrte den Jungen ungläubig an. »Das bist du ja schon wieder«, sagte er mit rauher Kehle. »Verfügst du über Zauberkräfte, daß du überall auftauchst, wo es notwendig erscheint?«

»Grüß Gott!« sagte Marcus höflich. Doch er sah nicht den Mann an, sondern begeistert auf die Pferde.

»Wie heißt du eigentlich?« wollte Alois Stallwanger wissen.

»Marcus. Haben die Pferde auch Namen?«

»Ja, das linke ist die Rosa, das rechte Stine.«

»So nennt man doch keine Pferde!« stieß Marcus empört hervor.

»Ich hab sie mit solchen Namen übernommen – und damit basta!«

Jetzt trafen sich die Blicke des jungen und des alten Menschen. Sie kreuzten sich wie scharfe Degen.

»Willst du ein Stück mitfahren?« fragte Stallwanger plötzlich.

»Ich möchte schon – aber ich darf nicht, weil ich nicht weit weggehen darf.«

»Gut, dann lad ich dich ein andermal zu einer Spazierfahrt ein. Damit wir dazu einen Termin vereinbaren können, solltest du deinen Lehrer um Erlaubnis bitten.«

»Meine Kameraden würden auch Kutsche fahren wollen«, gab Marcus zu bedenken.

»Je, bist du schwierig!« tadelte der Bauer, doch es war nun ein Lächeln in seinen Augen. Sekunden später stand er neben Marcus und sagte: »Ich werde die Schimmel hier anbinden und persönlich mit deinem Lehrer reden. In den Ferien sollte der net so streng mit euch sein.«

»Das ist Herr Wagner gar nicht.« Das klang wieder empört. Alois nahm es mit Genugtuung zur Kenntnis und wandte sich dem Hohlweg zu. Ehe er diesen erreichte, entdeckte er die Zeichenutensilien.

»Du malst?« fragte er überrascht.

»Für meine Mutter damit sie sich später anschauen kann, wie wunderschön es hier ist.«

Eine schlichte Antwort, doch zum Herzen des Bauern wie ein Schlüssel wirkend. Menschen, denen seine Heimat gefiel, waren ihm gleich sympathisch. Nachdenklich sah er sich nun an, was der Bub mit wenigen Strichen gekonnt zu Papier gebracht hatte. Das Natürliche, Charakteristische dieser Landschaft kam dabei voll zur Geltung.

»Du bist ja ein kleiner Künstler!« staunte Alois schließlich.

»Hoffentlich freut sich meine Mutter!« Das hörte sich sehnsuchtsvoll an.

Es war lange her, seit Alois Stallwanger mit Kindern zu tun gehabt hatte. Sein einziger Sohn war inzwischen erwachsen und nach vier Ehejahren kinderlos als Witwer zurückgeblieben.

»Haben Sie es sich anders überlegt?« fragte Marcus, der ihn beobachtet hatte.

»Anders? Wieso? – Nein, ich staune nur über deine Begabung«, antwortete Alois hastig.

»Dann – dann werden Sie jetzt mitkommen?«

Alois sah Zweifel in den Augen des Buben und nickte grimmig. »Ich red net viel, ich handle«, erklärte er. »Drum gehen wir jetzt zur Mühle und machen a bisserl Wirbel.«

Zu letzterem kam es nicht, denn Schüler und Lehrerpaar befanden sich zum Umziehen in ihren Schlafräumen. Lisa Graubündner schmeckte gerade die Gemüsesuppe ab; ihr Mann dengelte neben dem Haus die Sense. Diese entfiel ihm beinahe, als er den Bauern kommen sah.

»Ist was passiert?« erkundigte er sich, mit einem forschenden Blick auf Marcus.

»Wo steckt der Lehrer?« wollte Alois wissen.

»Ich werd ihn holen«, sagte Xaver und war im Nu im Haus verschwunden.

Es dauerte nicht lange, da hatte Alois Stallwanger alles geregelt. In vier Tagen wollte er sich mit Marcus oberhalb des Hohlweges treffen. Er begründete es kurz damit:

»Irgendwie muß ich mich ja für seine Hilfe revanchieren.«

Dirk Wagner war das nicht recht. Als er aber die Freude seines Schülers sah, stimmte er zu.

Stallwanger hielt sich nun nicht länger auf. Er schritt davon wie einer, der es gewohnt ist, nirgends ein Hindernis anzutreffen. Dirk Wagner indes fragte seufzend:

»Wie bist du denn zu dieser Bekanntschaft gekommen, Marcus?«

Ein Lächeln stahl sich in das Gesicht des Jungen, das inzwischen eine leichte Bräune erhalten hatte. Ohne Verlegenheit erzählte er von der ersten und der heutigen Begegnung mit dem Mann, dessen Namen er erst erfahren hatte, als er sich dem Lehrer vorstellte.

»Obwohl ich anerkenne, daß du helfen wolltest, solltest du nicht jedem Fremden gleich vertrauen, Marcus«, sagte Wagner.

»Das tue ich sonst auch nicht, aber… aber bei diesem Mann war alles ganz anders«, gestand der Junge.

»Na gut – machen wir mal eine Ausnahme. Doch fortan sonderst du dich nicht mehr von den anderen ab. Verstanden?«

»Ich muß aber allein sein, wenn ich zeichne. Ich möchte meiner Mutter später Bilder von dieser schönen Gegend hier zeigen können!« Zum ersten Mal widersprach Marcus, ohne sich dessen bewußt zu sein.

Dirk Wagner nahm es leicht gerührt hin. Er wußte nicht mehr, als daß dieser Schüler aus bescheidenen Verhältnissen stammte und mit seiner Mutter in einem Hochhaus lebte.

»Einen neuen Zeichenblock brauche ich auch«, sagte Marcus und blickte fragend.

»Den werde ich dir morgen mitbringen«, versprach Dirk Wagner. »Jetzt aber rasch ins Haus mit dir! Ich will alle meine Schüler pünktlich und sauber zum Abendessen sehen.«

Marcus nickte und wandte sich ab. Er rannte nicht ins Haus, sondern ging langsam hinein. Von der Tür aus blickte er sich um. Sein ernstes Gesicht hellte sich auf, als er den Lehrer lächeln sah.

Auch an diesem Abend brachte Marcus wieder begeisterte Zeilen zu Papier. Er beschrieb seine täglichen Erlebnisse jedesmal so anschaulich, daß Traude beim Lesen seiner Briefe dabeizusein glaubte. Inzwischen hatte sie sich auch ein wenig beruhigt. Das Schicksal, so meinte sie, schien sie nicht zu verfolgen. Im Gegenteil, es gönnte ihrem Sohn ein paar herrliche, unbeschwerte Wochen im Alpenland. An seiner Freude nahm sie aus der Ferne teil; und wenn er glücklich und zufrieden war, würde sie es auch sein.

*

Marcus’ Gedanken wurden schnell von seiner neuen Bekanntschaft abgelenkt, da sie am nächsten Tag einen Ausflug ins sogenannte Kinderland machten. Marcus hätte am liebsten pausenlos gezeichnet, um für seine Mutter eine Märchenwelt mitten im Wald festzuhalten. Fantasien und Wunschträume schienen sich hier vielfältig zu erfüllen. Eine kleine Eisenbahn und elektrisch betriebene Autos luden zu Spazierfahrten ein. Die Jungen jubelten vor Freude und waren kaum zu bändigen.

»Ich habe gedacht, das gäbe es alles nur in den Geschichten, die meine Mutter mir abends erzählt hat«, sagte Marcus zu seinem Kameraden Ralph, der das genaue Gegenteil von ihm war – nämlich ein springlebendiger, eigenwilliger, stets zu Streichen aufgelegter dicker Junge.

»Du könntest mich mal fotografieren, wie ich auf dem Knusperhäuschen sitze«, schlug Ralph vor.

Das tat Marcus. Er machte drei Aufnahmen und ließ es auch zu, daß Ralph dann einen Schnappschuß von ihm und der Hexe machte.

Mittags hielten sie alle im Schatten hoher alter Bäume ein ausgiebiges Picknick. Das gestaltete Ingrid Wagner aus dem Inhalt der Körbe, die Lisa Graubündner gepackt hatte.

Später suchte Marcus eine Weile vergebens nach Ralph. Als er ihn endlich fand, wurde es Zeit zum Aufbruch. Müde, aber glücklich kehrte Marcus in die alte Mühle zurück und schrieb gleich wieder einen kleinen Bericht für seine Mutter. Um Geld zu sparen, wollte er einmal in der Woche einen langen Brief an sie schicken. Ansichtskarten, das hatte er bereits festgestellt, waren zu teuer.

Anderntags gab es wieder eine Fahrt ins Blaue. Der Bus fuhr sie über eine Bergstraße ins herrliche Wandergebiet der Kasbergalm. Hier hatte Marcus so viel zu sehen und zu bestaunen, daß er gar nicht zum Zeichnen kam. Er meinte wie zwischen Himmel und Erde zu schweben, während seine Schulkameraden herumtobten und immer wieder ermahnt werden mußten.

Ralph indes machte sich im Alleingang ans Bergsteigen. Als sein Fehlen bemerkt wurde, war er schon eine Stunde fort. Dirk Wagner geriet zwar in Sorge, doch nicht in Panik. Er teilte seine Schüler in drei Suchgruppen ein. Eine führte er selber, die anderen seine Frau und der Busfahrer.

Marcus sah keine schicksalhafte Fügung darin, daß ausgerechnet er dann Ralph fand. Dieser lag blutend und ohne Bewußtsein am Fuße eines Felsens. Wie abgesprochen, pfiff Marcus nun um Hilfe. Die anderen hatten sich bereits zu weit zerstreut. Sie hörten ihn nicht. Statt dessen tauchte ein buckliger alter Mann auf.

»Bitte, helfen Sie mir!« flehte Marcus ihn an.

»Allmächtiger! Den hat’s aber arg erwischt!« sagte der Mann. Dann deutete er auf das Anwesen, das als einziges in der Nähe lag, und sagte: »Wir müssen ihn schnellstens hinunterschaffen. Dort haben sie Telefon und ein Auto.«

Marcus nickte; vor Verzweiflung war er den Tränen nahe. Er schluchzte kurz auf, als er endlich seinen Lehrer kommen sah. Es war ein trauriger kleiner Zug, der sich dann talwärts auf den großen Hof zu bewegte.

Zensi, die betagte Magd, entdeckte ihn zuerst. »Da ist wer verunglückt!« schrie sie ins Haus.

Viktor Stallwanger, der gerade Abrechnungen machte, stand sofort auf. »Es handelt sich wieder mal um Touristen«, sagte er in grollendem Ton, als er sich zu Zensi gesellte.

Sie hörte kaum hin, eilte dem Zug entgegen, schlug entsetzt die Hände zusammen, als sie den blutverschmierten Buben in den Armen eines Fremden sah.

Dirk Wagner stellte sich vor und berichtete kurz. Es war eine Sache von zehn Minuten, bis der Dorfarzt erschien. Er hatte in der Nähe eine Entbindung gehabt und kümmerte sich nun um Ralph. Der Junge war gottlob wieder bei Bewußtsein und prahlte mit seinen Künsten als Bergsteiger.

»Du hättest uns allen beinahe die Ferien verdorben, Ralph«, sagte Wagner in strengem Ton zu ihm. »Es war ebenso ungehorsam wie leichtsinnig, sich von den anderen abzusondern. Zur Strafe bleibst du die nächsten beiden Tage in der Mühle und nimmst an keiner Unternehmung teil.«

»Ach – die paar Kratzer!« wehrte Ralph ab, obwohl er mit den Verbänden am rechten Arm und Knie wie schwerverletzt aussah.

»Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein«, sagte Dirk Wagner. Und dann zu Viktor Stallwanger gewandt: »Kann ich den Jungen so lange hierlassen, bis wir ihn mit dem Bus abholen?«

»Ich werd mich um die zwei kümmern«, mischte sich Zensi ein. Doch sie blickte dabei Marcus wie gebannt an.

Viktor Stallwanger ging ins kleine Büro zurück, um die schriftlichen Arbeiten zu Ende zu führen, die er sowieso ungern erledigte. Es war für ihn nicht ungewöhnlich, daß man ab und zu einen Verletzten herbrachte oder einen Urlauber, der sich beim Kraxeln übernommen hatte.

Dagegen fegte Zensi wie ein Wirbelwind durchs Haus. Magd und Knechte machten sich über ihr aufgeregtes Getue lustig. Und als eine halbe Stunde später Alois Stallwanger heimkam, hieß es gleich:

»Zensi hat sich Küken zugelegt wie eine Glucke. Sie sitzt in der Stube und fragt fremden Kindern Löcher in den Bauch.«

Das machte den Bauern nicht neugierig, sondern ärgerlich. Er stapfte in die Stube, als wollte er Feinde einschüchtern. Aber schon auf der Schwelle glättete sich sein Gesicht, blitzte es erkennend in seinen dunklen Augen auf.

»Da schau her! Das bist du ja schon wieder!« rief er überrascht.

Zuerst war Marcus erschrocken vom Stuhl hochgeschnellt. Jetzt lächelte er dem Mann zu, mit dem er übermorgen verabredet war. Zensi indes fragte aufs höchste verblüfft:

»Du... du kennst den Buben, Bauer?«

Stallwanger lachte dröhnend. »Ich bin allen immer a bisserl voraus«, erwiderte er.

Als Zensi ihm nun rasch Bericht erstatten wollte, wehrte er mit beiden Händen ab. »Ich weiß bereits alles. Die Sache hätte übel ausgehen können. Sähen die Bürscherl net so blaß und mitgenommen aus, würde ich sie beide verdreschen.«

Nun geschah etwas Sonderbares. Ralph, der sonst nicht auf den Mund gefallen war, schwieg und blickte ängstlich. Marcus dagegen lächelte zu dem Mann auf, dessen Drohung er nicht ernst nahm.

»Wir werden gleich abgeholt, Herr Stallwanger«, erklärte er höflich. »Mein Schulkamerad wird nie wieder so leichtsinnig handeln.«

»Du solltest nix für einen anderen versprechen«, entgegnete der Bauer. Und da er wieder dröhnend lachte, begann Zensi an seinem Verstand zu zweifeln.

Aber erst als die Jungen vom Hof waren, wagte sie zu fragen: »Ist es dir auch aufgefallen, Bauer?«

»Was?« fragte er, schon wieder mürrisch, zurück.

»Wie dieser Bub, Marcus heißt er, ausgesehen hat.«

»Wie jeder Bub halt, der aus der Stadt kommt – blaß und mager.«

»Das mein ich doch net, Bauer.«

»Dann drück dich gefälligst deutlicher aus!«

Zensi furchte die Stirn; wie tief in Gedanken versinkend, stand sie da und schien den Bauern nicht mehr wahrzunehmen. Das wurde diesem schnell zuviel. Er versetzte ihr einen derben Stoß und riet:

»Jetzt erblick net am Tag schon Gespenster. Es reicht, daß du die Nase zu tief in deine Karten steckst.«

»Die haben mich noch nie falsch beraten!« erklärte sie hitzig.

»Aber deine Gedanken oft so in die Irre geführt, daß du kaum zu gebrauchen gewesen bist.«

»Willst du’s leugnen, daß meine Karten damals vor der Heirat gewarnt haben, zu der du deinen einzigen Sohn überredet hast?«

»Die blöden Karten haben net gewußt, daß meine Schwiegertochter kein gesundes Kind zur Welt bringen und beim zweiten Versuch schon sterben würde!« fuhr er auf.

»Doch – das haben sie angekündigt. Du aber hast damals nix davon hören wollen. Wie blind und taub bist du in deinem Stolz gewesen, daß Viktor eins der reichsten Bauernmadln zur Frau bekam.«

»Stad bist! Ich brauch keine Hex hier auf dem Hof! Solche kann ich mir im Kinderland anschauen, wenn’s mich danach verlangt!« schrie Alois Stallwanger. Er wurde immer laut, wenn man ihn an den größten Fehler seines Lebens erinnerte. Daran hatte sich Zensi längst gewöhnt. Sie nahm auch seine Drohungen gelassen hin.

»Er könnte dein Enkel sein – dieser Bub, der so ausschaut wie ein Einheimischer«, sagte sie.

»Kannst du net mehr rechnen?« fragte Alois Stallwanger in gereiztem Ton. »Dieser Marcus ist neun Jahre alt. Mein Enkel aber wär erst sechs, hätte Gott ihn net schon zwei Tage nach der Geburt zu sich geholt.«

»Neun Jahre…«, wiederholte Zensi gedankenvoll.

»Ja, und ich kann mir net vorstellen, daß du auch mal so jung gewesen bist!« spottete er.

»Wir sind beide alt geworden, du allem Anschein nach aber net viel gescheiter«, konterte sie.

Viktor, der gerade aus dem kleinen Büro trat, lachte gezwungen und bat:

»Zankt euch nicht. Es schadet dem Magen, wenn man sich aufgeregt oder voller Ärger ans Essen macht.«

»Ach ja – was gibt’s denn heut Gutes?« erkundigte sich sein Vater, mit einem verstohlenen Augenzwinkern zu ihm hin.

»Aufgewärmtes!« antwortete Zensi wütend und ließ die Männer allein.

Die sprachen nun über geschäftliche Angelegenheiten. Daß sein Vater den Schüler namens Marcus wiedersehen wurde, erfuhr Viktor erst später, und zwar durch Zensi. Er konnte es kaum glauben, verzichtete jedoch auf die Fortsetzung dieser Unterhaltung, als Zensi vorwurfsvoll sagte:

»Ja, ja – nun rächt sich alles. Dein Vater hat gemeint, nichts zu brauchen und zu vermissen. Nun bringen fremde Kinder ihm die Erkenntnis, wie arm er doch in Wirklichkeit ist.«

*

In der Nacht, nachdem die fremden Jungen dagewesen waren, hatte Zensi einen merkwürdigen Traum. Sie sah Gestalten über dem Almsee schweben, dessen Wasser blutrot leuchtete. Eine davon meinte sie zu kennen, obwohl deren Gesicht durch einen weißen Schleier verhüllt war. Als sie diese beim Namen rief, schwebte sie davon und senkte sich dann über den großen Hof. Im Traum schrie Zensi angstvoll nach dem Bauern. Dadurch wurde sie wach und fand sich schweißgebadet in ihrem Bett wieder.

»Das hab ich net nur zufällig geträumt«, murmelte Zensi verwirrt vor sich hin. An Schlaf war nun nicht mehr zu denken. Deshalb stand sie auf, schlüpfte in die Hausschuhe und langte nach ihrem schwarzen Fürtuch. Das schlang sie sich um die Schultern, verknotete es vor der Brust und schlich sich in die Küche hinunter.

Hier holte Zensi ihre geliebten, schon ziemlich abgegriffenen Karten hervor, um herauszufinden, was dieser Traum zu bedeuten hatte. Ein Mensch, so meinte sie, würde ihr nämlich keine Antwort auf die Fragen geben können, die ihr durch den Traum gestellt worden waren.

Ihre knochigen Finger verteilten die Karten schnell und geschickt. Dann warf sie einen prüfenden Blick darüber hin und tippte mit dem rechten Zeigefinger auf die für sie wichtigsten Karten.

»Karo-Sieben mit dem Herz-König«, sagte sie, »das kündigt eine Veränderung in Herzensangelegenheiten an, die das ganze bisherige Leben umkrempelt. Da ich aber aus dem Alter heraus bin, wo Liebe noch eine Rolle spielt, muß es sich um Stallwangers handeln. Die Karten darüber weisen ja deutlich auf männliche Personen hin. Ihr Schicksal aber ist inzwischen auch meins geworden. Daher will ich wissen, was uns in naher Zukunft bevorsteht…« Zensi starrte eine Weile grübelnd auf die Karten und seufzte hin und wieder. Dann plötzlich raffte sie alle zusammen, machte aus dem Haufen drei gleich große Stapel und legte aufs neue Karten aus.

»Beinahe so wie vorher!« stellte sie überrascht fest. »Jetzt ist net mehr dran zu zweifeln, daß Veränderungen ins Haus stehen. Ich werd nun noch mehr achtgeben müssen, denn die Männer reagieren oft gleichgültig und nehmen manches net so ernst, wie’s angebracht wär.«

Eine halbe Stunde später schlich Zensi in ihre Kammer zurück. Alois Stallwanger, der ebenfalls wach geworden war, hörte die Stiege knarren. Er schaute auf die leuchtenden Zifferblätter des Weckers, der auf dem Nachtschränkchen stand, und seufzte verhalten.

»Jetzt geistert sie sogar nachts herum«, brummelte er und nahm sich vor, Zensi noch vor dem Frühstück zu sagen, was er von solcher nächtlichen Herumschleicherei hielt.

Kaum hatte er dann morgens in dieser Sache das erste energische Wort gesprochen, als Zensi ihn mit der Ankündigung unterbrach:

»Du wirst bald eine Veränderung erleben, die dein Leben auf den Kopf stellen könnt, Bauer.«

»Ich steh jetzt schon kopf, wenn ich dich so spinnert reden hör«, erwiderte er.

»Träume sind net immer Schäume«, fuhr sie unbeeindruckt fort. »Zudem kann ich mich auf meine Karten verlassen – auf die Menschen weniger.«

»Ich werd den ganzen Papierkram verbrennen!« drohte er. »Du machst mir sonst auch noch Viktor narrisch.«

»Was man ist, kann man net mehr werden«, erklärte Zensi und blickte ihn furchtlos an. »Dein Bub hat sich vor Jahren schon zum Narren machen lassen und findet ohne Hilfe net mehr aus diesem Zustand heraus. Das ist kein richtiges Leben, wie er es führt. In seinem Alter schließt man noch net so mit allem ab.«

»Was willst du eigentlich? Uns geht es doch gut. Wer auf dem Stallwangerhof lebt und schafft, dem mangelt es an nichts – wenn man vom gesunden Verstand des einen oder anderen absieht.«

»Den Schuh zieh ich mir net an«, sagte Zensi gelassen. »Ich hab meine sieben Sinne noch bestens beisammen, was ich von dir net immer behaupten kann.«

»Jetzt mach aber einen Punkt!« fuhr er sie an.

»Lieber ein Ausrufungs- oder vielleicht sogar ein Fragezeichen sollt ich machen«, entgegnete sie in einem Ton, der ihn bis zur Weißglut reizte.

»Treff ich dich noch ein einziges Mal dabei an, wie du Karten legst«, begann er erneut zu drohen, »lasse ich dich von einem Arzt untersuchen!«

»Geh, du schwatzt ja nur drauflos, weil’s dir selber net ganz geheuer ist. Meinst, ich wüßt net, warum du zu einem fremden Buben so freundlich gewesen bist?«

»Daß mir Marcus gefällt, denke ich net zu verheimlichen. Deswegen brauchst du deine blöden Karten net erst zu befragen. Hab ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Nein!« antwortete Zensi, und jetzt war Trotz in ihren von vielen Fältchen umgebenen Augen.

»Der Kaffee ist lauwarm«, beschwerte sich Stallwanger, als könne dies sie ablenken.

»Du hättest ihn gleich trinken sollen, anstatt mit Drohungen über mich herzufallen, die eh nix nutzen.«

»Zensi! Was soll das alles? Willst du mich unbedingt auf die Palme bringen?« brauste er auf.

»Bei uns wachsen solche Bäume net.«

Stallwanger ertrug diese Unterhaltung nicht länger. Er sprang so heftig auf, daß der Kaffee in die Untertasse schwappte und auch die schöne Leinendecke mit dem blauen Stickmuster bespritzte. Wortlos ließ Alois die Magd allein, aber sein Schweigen war grimmig genug.

Das schien Zensi heute nicht zu beeindrucken. Sie hatte viel zu denken und blickte nur flüchtig zu Viktor hin, als dieser erschien, um zu frühstücken.

»Nanu?« staunte er. »Ist Vater schon fertig?«

»Mit den Nerven vielleicht, net mit dem Frühstück«, gab Zensi achselzuckend zur Antwort.

Da sie heftig hantierte und es dabei gefährlich klirrte, versuchte Viktor sie mit den Worten zu beruhigen:

»Du kennst Vater doch lange genug, um zu wissen, daß er sich schnell aufregt und keinen Widerspruch verträgt. Es ist ratsam, ihn niemals absichtlich herauszufordern, denn dann hat man meistens das Nachsehen.«

»Soll ich ihn vielleicht blind ins Unglück rennen lassen?« fragte Zensi mehr empört als besorgt.

Nun beging auch Viktor den Fehler, sie ablenken zu wollen. »Jö, ist der Kaffee heiß!« stieß er scheinbar erschrocken hervor und schob die Zungenspitze über die Unterlippe, als wollte er sie rasch abkühlen.

»Euch Stallwangers kann man immer seltener etwas recht machen«, beschwerte sich Zensi. »Ihr solltet euch eine Magd suchen, die zu allem ja und amen sagt und der es Wurscht ist, was mit euch geschieht.«

Während Viktor noch verdutzt blickte, ging sie hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Die Brust war ihr seltsam eng, das Atemholen plötzlich mühsam. Daher begab sich Zensi ins Freie, um frische Luft zu schnappen.

Der Ärger durchglühte sie gleich wieder, als sie den Bauern neben dem Haus stehen sah. Er hatte die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und starrte auf die Landstraße, die kurvenreich zum Tal hinausführte.

»Sie wird nie mehr zurückkehren«, sagte Zensi, als sie neben ihm stand.

»Fang net schon wieder mit deinen sonderbaren Reden an!« befahl er in barschem Ton.

»Für mich war’s und bleibt’s eher traurig als sonderbar, was du mitverschuldet hast, Bauer.«