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Nach sechs langen Jahren, in denen Reesh Neraphin die Liebe seines Lebens für tot gehalten hat, trifft er den verschleppten Soldaten Leo Dra'Ev wieder. Verloren geglaubte Gefühle erwachen in ihm, als er Leo erneut gegenübersteht. Und einer Wiedervereinigung steht nur eines im Weg: Nick "Sunny" Rows, der Mann, der Leo gerettet hat – Reeshs Lebensgefährte.
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Seitenzahl: 317
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Alissa Sky
© dead soft verlag, Mettingen 2017
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com/
Bildrechte:
© theartofphoto – fotolia.com
© Angela Harburn – shutterstock.com
1. Auflage
ISBN 978-3-96089-112-3
ISBN 978-3-96089-113-0 (epub)
Nach sechs langen Jahren, in denen Reesh Neraphin die Liebe seines Lebens für tot gehalten hat, trifft er den verschleppten Soldaten Leo Dra’Ev wieder. Verloren geglaubte Gefühle erwachen in ihm, als er Leo erneut gegenübersteht. Und einer Wiedervereinigung steht nur eines im Weg: Nick „Sunny“ Rows, der Mann, der Leo gerettet hat – Reeshs Lebensgefährte.
Es konnte nur ein Scherz sein. Ein grausamer, bösartiger Scherz. Aber es gab keine andere Erklärung. Nichts anderes schien realistisch genug dafür. Seit der Nachricht vor fünf Tagen hatte er an nichts anderes mehr denken können. Reesh hatte diese Zeit auch gebraucht, um zu realisieren, was sie tatsächlich bedeutete – wenn sie denn stimmte. Er zweifelte immer noch an dem Wahrheitsgehalt der Übertragung. Wenn man ihm aber tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte, änderte das alles. Sein gesamtes Universum würde dann auf den Kopf gestellt werden.
Der Raumgleiter landete punktgenau auf dem dafür bestimmten Landefeld. Natürlich. Olean MirMir war die beste Pilotin in der Föderation und nicht umsonst mit einer Tapferkeitsmedaille geehrt worden, um sich für ihren heldenhaften Einsatz im Krieg erkenntlich zu zeigen.
Die Lichter an der Maschine erloschen eines nach dem anderen. Die Hydraulikbrücke dockte an. Vom Landefeld 4 bis zum inneren Kontrollpunkt brauchte man ohne Komplikationen oder Trödeln vier Minuten. Danach führte ein kurzer Gang zum „Kleinen Empfangsraum“. Das bedeutete, dass es nur noch knappe vierhundert Sekunden dauern würde, ehe die Luken aufgingen und Leonardo Dra’Ev hereinmarschiert kam.
Leo.
Sein bester Freund, sein Förderer, sein Beschützer.
Leo.
Seine erste große Liebe.
Leo.
Der Mann, den er sechs Jahre lang tot geglaubt hatte.
Die Zweifel kehrten zurück. Reesh konnte es einfach nicht glauben. Es war nicht möglich! Man hatte ihnen gesagt, dass Leonardo beim Angriff auf Therto ums Leben gekommen war. Zwei Kameraden hatten ihn sterben sehen – so hatte man es ihnen mitgeteilt.
Wenn es aber stimmte … wenn es wirklich so war … dann musste er Leo sagen, dass seine Eltern seine Heimkehr nicht mehr miterlebt hatten.
Seine Heimkehr!
Reesh atmete schneller und weit tiefer. Er dachte trotzdem nicht, dass er überhaupt Luft bekam. Alle Muskeln schienen sich zur selben Zeit anspannen zu wollen.
Wie sollte er Leo erklären, dass es kein Heim mehr gab, zu dem sie zurückkehren konnten? Wie erklärte man einem zurückgekehrten Kriegsgefangenen, dass nicht einmal mehr das Viertel stand, in dem er gelebt hatte?
War das aber von Bedeutung? Leo lebte! Wenn er wirklich noch am Leben war, dann hatte das gesamte Universum sich ins Gegenteil gekehrt – ein zweites Mal.
Als sie die Nachricht von seinem Tod erhalten hatten, war Leonardos Mutter zusammengebrochen. Ihr Mann war stoisch geblieben, als hätte er nicht verstanden, was man ihm mittgeteilt hatte. Und er selbst? Er hatte sich so fest auf die Lippe gebissen, dass er zu bluten begonnen hatte. Auch wenn Leos Eltern vermutet hatten, dass sie ein Liebespaar gewesen waren, so war es damals doch unmöglich gewesen, es zu sagen oder gar zu zeigen. Schon gar nicht vor Fremden. Um sich nicht zu verraten, hatte er seine Hände so fest zu Fäusten geballt, er hätte beinahe auch an den Ballen geblutet. Die Welt war ihm mit einem Schlag nicht mehr real erschienen, mehr wie eine Simulation auf einem der Trainingsdecks. Das Geschrei der unglücklichen Mutter hatte die Situation aber erneut glaubhaft gemacht und verdammt wahrhaftig.
Wie viel wusste Leo bereits? Was hatten sie ihm auf dem Weg zur Basis erzählt?
Reesh dachte, dass sein Magen sich verknotete. Seine Nägel gruben sich noch einmal tief in seine Handflächen.
Nein, zumindest diese Sorge war unbegründet. Die Mannschaft war über jeden Verdacht erhaben. Wenn Leo tatsächlich die letzten sechs Jahre in Kriegsgefangenschaft verbracht hatte, dann wusste er nichts über die politischen und sozialen Veränderungen in ihrem Dominion. Die sechs Soldaten hätten ihn nicht mit derartigen Informationen überschüttet und damit überfordert. Vor allem würden sie niemals in Reeshs Privatsphäre eingreifen und ohne Rücksprache mit ihm handeln. Sie waren alle Militärs mit psychologischer Grundausbildung. Sie hatten auch ausreichend Empathie. Noch wichtiger: Sie waren seine Freunde. Sie würden ihm mit Sicherheit die Möglichkeit geben, Leo selbst über all die Dinge aufzuklären, die in den letzten Jahren passiert waren – politische ebenso wie private.
Dieser Moment war so surreal! Er konnte nicht echt sein. Irgendetwas stimmte nicht. Reesh konnte nicht sagen, was es war … aber all das konnte einfach nicht real sein. Er hatte gedacht, dass die letzten Tage ihn auf diesen Augenblick vorbereitet hätten. Dem war offenkundig nicht so. Natürlich nicht. Was waren fünf Tage, wenn sie eine so gewaltige Zäsur in seinem Leben bedeuteten?
Am ersten Tag hatte er die Nachricht noch nicht erfassen können. Zuerst hatte er gedacht, dass es ein Test war, wie er auf einen derartig emotionalen Stress reagieren würde. Dann hatte er darüber nachgedacht, ob es nicht doch eher ein grausamer Scherz war. Es war immerhin nicht besonders klug, sich mit Persönlichkeiten anzulegen, die gute Verbindungen zur Obrigkeit hatten. Nur weil es zu absurd gewesen wäre, dass sich seine Rivalen so an ihm gerächt hätten, hatte er diese Möglichkeit wieder ausgeschlossen. Den größten Teil des zweiten Tages hatte er sich nur Sorgen darüber gemacht, wie viel man Leonardo erzählt hatte oder was er durch aufmerksames Zuhören oder Beobachten selbst herausfinden könnte. Der dritte Tag war buchstäblich nicht in seinem Gedächtnis vorhanden. Er wusste noch, dass er morgens erwacht und die Termine abgesagt hatte, die er sonst an seinem freien Tag so genoss. Aber danach? Nur gähnende Leere. Am vierten Tag war es zu einem Systemabsturz in der Basis gekommen, und sie hatten bis spät in die Nacht daran gearbeitet, alles wieder in Gang zu bringen, ehe eine der Maschinen überhitzen und sie alle in die Luft sprengen konnte. Als er in den frühen Morgenstunden ins Bett gefallen war, hatte er keine Kraft mehr zum Nachdenken gehabt und war sofort eingeschlafen. Er war schon zuvor emotional ausgelaugt gewesen, aber erst die körperliche Erschöpfung hatte ihn nach den ersten schlaflosen Nächten zusammenklappen lassen. Am darauffolgenden Tag war er innerlich wie leer gewesen. Und auch in diesem Moment war er beinahe schon apathisch.
Die Luke öffnete sich, mehrere Menschen traten hindurch. Leo war einer von ihnen. Er begrüßte die Umstehenden, die ebenfalls auf die Rückkehr ihrer Truppe gewartet hatten. Es wurden erste Fragen gestellt und beantwortet. Selbst als Reesh von Leo direkt begrüßt wurde, war die Welt noch entrückt.
„Du warst so lange fort“, hörte er sich selbst sagen.
„Sechs Jahre, zehn Monate, drei Wochen, vier Tage … und … Entschuldige! Das ständige Zählen gewöhnt man sich in Gefangenschaft so an.“
Leo hielt ihm die Hand entgegen. Reesh ergriff sie. Ein Schock fuhr ihm durch den ganzen Leib. Er atmete ein und zum ersten Mal, seit er seine Wohnung verlassen hatte, dachte er, dass sie sich auch wirklich mit Luft füllte, dass er wieder atmen konnte.
„Der Zugskommandant kommt nach. Wir sollen derweil in der Lounge warten“, erklärte eine weibliche Stimme.
Reesh war so sehr von der Hand in der seinen geschockt, dass er später nicht mehr sagen konnte, welche seiner Freundinnen es gewesen war, die das Wort ergriffen hatte.
„Gibt es da auch eine Bar? Ich kann es nicht erwarten, endlich wieder Alkohol zu trinken!“ Leo ließ ihn wieder los, lächelte ihn aber an, ehe er sich der Person zuwandte, die ihn gerade angesprochen hatte. „Rows hat gesagt, er gibt mir einen aus.“
Das konnte nicht wahr sein! Und doch passierte genau das!
Leo ließ sich von seinen Freunden mitziehen. Reesh folgte ihnen stumm. Auch die Bewegung fühlte sich echt an. Das war kein Traum. Das war Realität. Es wurde ihm erst wirklich bewusst, als Leo sich zurückfallen ließ, um an seiner Seite zu gehen.
„Wie seid ihr überhaupt auf dieses Lager gestoßen?“, fragte Kazlina ihre Schwester.
„Hast du die Berechtigung, das zu fragen?“, wollte Olean wissen und in ihrer Stimme klang nur ein wenig Schalk mit. „Verwandtschaft hin oder her, ich will nicht wieder Ärger mit Eleo kriegen.“
„Was macht Nick noch gleich?“
„Was weiß ich? Der Zugskommandant musste plötzlich ganz dringend irgendwas mit der Kommandantin klären. Wahrscheinlich sprechen Sie sich noch einmal ab, ehe sie zum General gehen.“
Reesh hörte nur bedingt zu. Er bemühte sich, der Unterhaltung zu folgen, aber so einfach war das nicht. Leo ließ seinen Handrücken beim Gehen immer wieder über den seinen streifen. Das passierte nicht zufällig, auch wenn kein Anwesender es anders interpretiert hätte. Der Krieg und die dadurch neu gewählte Regierung hatten weitreichende soziale Veränderungen mit sich gebracht. Zwei Männer konnten nun gefahrlos in der Öffentlichkeit zu ihrer Liebe stehen – aber davon wusste Leo offenkundig noch nichts. Reesh schämte sich, aber im Moment war er dankbar dafür. Sonst hätte er ihm vor versammelter Mannschaft das Herz brechen müssen. So war es nur sein eigenes, das zu zerreißen schien.
Leo so nahe zu sein! Nach all den Jahren, die er ihn für immer verloren geglaubt hatte! Es konnte aber keine Illusion sein. In seinen Träumen schmerzte seine Brust nicht so sehr. Darin war nichts klar und außer Leo kaum etwas anderes vorhanden.
Solange sie den Gang bis zur Lounge entlanggingen, konnte er die Energieschübe genießen, die bei jeder Berührung dieser Hand durch seinen ganzen Körper zu fließen schienen. Anfangs wagte er nicht, Leo auch nur anzuschauen. Erst nach mehreren Metern erinnerte er sich daran, wie vorsichtig dieser stets gewesen war. Er würde ihm trotz der sechs Jahre Trennung keine Blicke zuwerfen, solange er unauffällig Zärtlichkeiten wie diese austauschte. Als Reesh das Risiko einging, wandte sich Leo aber ebenfalls zur Seite und schenkte ihm ein Lächeln.
Er hatte sich getäuscht. Sein Herz zerriss nicht. Es war nur zu groß für seine Rippen geworden. Deswegen fiel ihm wohl auch das Atmen so schwer. So musste es sein und nicht anders.
Am Ziel angekommen, löste sich die Gruppe nicht auf. Es war eine lieb gewonnene Tradition, dass die Einsatzkräfte zusammen mit den Zurückgebliebenen einen trinken gingen, um auf die sichere Heimkehr anzustoßen. Auch wenn der Krieg vorbei und das Dominion mit sich im Einklang war, konnte jeder Abflug der letzte sein. Nicht nur feindliche Angriffe oder Meteoritenschauer stellten eine Gefahr für Leib und Leben im All dar, sondern auch die Technik, die sie dort am Leben halten sollte. Obwohl sich in den letzten beiden Jahren so etwas wie Alltag eingeschlichen hatte, waren alle Mitglieder seines Zirkels sich dessen stets bewusst.
Dieser Tag war allerdings alles andere als gewöhnlich. Reesh hatte es noch immer nicht geschafft, seine Atmung zu drosseln. Wenn das so weiterging, würde es den anderen nicht nur auffallen, sondern er würde zusammenklappen. Ihm war bereits schwindlig.
Reesh warf unauffällige Blicke zu seinen Freunden. Ein paar von ihnen hatten sich an die Bar gelehnt und erzählten wild mit den Händen gestikulierend von irgendeinem Vorfall mit dem Notfallaggregat, das ohne ersichtlichen Grund mehrmals angesprungen war. Reesh bevorzugte, bei den Personen stehen zu bleiben, die zu den bunten Flaschen schauten. Er liebte das Spiel der bunten Lichter im Glas. Nur an diesem Abend hatte er keine Augen dafür. Natürlich war sein Blick an Leos Gesicht geheftet.
Es hatte sich nicht verändert. Ein paar Fältchen um die Augen vielleicht … aber so schön hatte er es nicht einmal in seinen Träumen in Erinnerung gehabt. Sein Herz schlug so kräftig, zusammen mit seiner Atmung würde er das nicht lange mitmachen, ehe es für alle Anwesenden erkennbar wurde.
Er brauchte einen Drink. Reesh trank sonst selten Alkohol, aber gerade deshalb würde es helfen. Er kippte sein Glas also, ohne abzusetzen, hinunter. Ob es half oder nicht, konnte er noch nicht sagen. Stattdessen versuchte er, sich auf die Erzählungen der Heimkehrer zu konzentrieren. Wenn er später mit Nick redete und dieser bemerkte, dass er keine Ahnung von den Ereignissen an Bord hatte, würde er zu Recht unangenehme Fragen stellen.
In just dem Moment, in dem Reesh über den Zugskommandanten nachdachte, kam dieser mit einem unerträglichen Strahlemannlächeln hereinmarschiert.
„Mein Retter“, erklärte Leo ganz so, als wüsste die versammelte Mannschaft das nicht längst. „Auf ihn!“
Olean hob ihr Glas und prostete dem Neuankömmling zu.
„Zu viel der Ehre!“
„Ach komm, Sunny! Du bringst uns zwar immer in Schwierigkeiten, aber dieses Mal hat uns deine impulsive Ader zumindest einen charmanten Gast beschert.“
Das glaubte Reesh ungefragt. Seine erste Liebe war immer ein charmeur extraordinaire gewesen. Es gab nicht eine Frau in ihrem alten Bezirk, die nicht ein oder mehrere Male von ihm becirct worden war. Und nicht eine von ihnen hätte vermutet, dass dieser lebenslustige Rosenkavalier sich jede Nacht zu ihm ins Bett gelegt hatte.
Er betrachtete Leo aus den Augenwinkeln. Sein Gesicht wirkte fröhlich, aber sein Lächeln erreichte seine Augen nicht. Das war nach Jahren der Kriegsgefangenschaft wohl auch nicht zu erwarten. Es schnürte ihm die Kehle zu. Er zwang sich zumindest dazu, Nick zuzuhören.
„Zugegeben, es war ein wenig waghalsig, das Lager ohne Verstärkung auszuheben“, stellte dieser gerade ohne übermäßigen Stolz klar, „aber ich kann nicht zulassen, dass Kriegsgefangene wie Sklaven behandelt werden. Auf welcher Seite sie gekämpft haben, macht da für mich keinen Unterschied.“
„Der General hat da bestimmt eine andere Meinung!“, rief Olean mit einem sarkastischen Grinsen auf den Lippen.
„Dann können wir ja froh sein, dass die meisten von uns auf der richtigen Seite gestanden haben“, redete Leo in die Runde. Sein Blick war aber nur an Reesh geheftet und plötzlich voll Wärme. Er machte nun auch einen Schritt auf ihn zu. „Meine Dankbarkeit ist so groß … grenzenlos. Ich weiß nicht, wie ich mich jemals bei Zugskommandant Rows revanchieren kann. Ehe wir in die Stadt zurückkehren, müssen wir ihm unbedingt …“
„Ja, so ist mein Freund“, schnitt Reesh ihm das Wort ab. „Er kann einfach nicht wegschauen, wenn er eine Ungerechtigkeit zu Gesicht bekommt. Das ist sein bedeutendster Charakterzug … neben seiner Verlässlichkeit und seiner Eitelkeit natürlich.”
Die Betonung war offensichtlich eindeutig. Leo erstarrte in seiner Bewegung. Er schaute ihn nur sprachlos an, dann flog sein Blick zu Nick, und dann begriff er. Seine Augen verfinsterten sich, und sein Blut wich aus seinen Wangen.
Nein, das musste Einbildung sein, dachte Reesh. Nach allem, was Leonardo widerfahren sein musste, hatte er, frisch in die Freiheit entlassen, bestimmt mit anderen Dämonen zu kämpfen, als der Treuelosigkeit seines Ex-Freundes.
„Unsinn! Ich bin im Alltag völlig unzuverlässig!“ Nick lachte. Man sah ihm allerdings an, dass er sich trotzdem über das Lob freute und den kleinen Seitenhieb wohlwollend überhörte. „Ich denke nur deshalb immer an alles, weil mich Kaz ständig daran erinnert.“
„Das tue ich doch gerne“, erwiderte die hübsche Frau, ehe sie weniger charmant hinzufügte: „Sonst geht meine Schwester noch wegen dir drauf!“
Reesh war dankbar für das belanglose Gerangel, das daraufhin einsetzte. Er schämte sich, nach seinen Worten auch nur zu Leo zu schauen – aber etwas zwang ihn doch dazu. Sechs ganze Jahre hatte er geglaubt, niemals wieder dieses Gesicht zu sehen, den eleganten Schwung seiner Lippen, das Grübchen an seinem Kinn, das Strahlen seiner Augen … Was bedeutete es da schon, wenn ihm ein wütendes Starren zugeworfen werden sollte? Zorn wäre ihm auch weit lieber gewesen als Enttäuschung. Er wappnete sich für beides, als er den Blick schüchtern nach oben wandern ließ. Leo schaute allerding nicht mehr in seine Richtung. Natürlich nicht. Er musste die ihm entgegengeschmetterten Worte erst verdauen.
Wieso fürchtete er sich vor Blicken? Es stand ihm ein Gespräch wie kein zweites bevor. Leo würde ihm vorwerfen, ihn aufgegeben und einfach weitergelebt zu haben – und er hatte jedes Recht dazu. Reesh graute vor den Anschuldigungen, die er wohl über sich ergehen lassen musste, aber er würde nicht den für sich einfachen Weg wählen. Leo sollte alle Zeit haben, die er sich wünschte – und wenn er sich zwei Tage ohne Pause von ihm anschreien lassen musste.
„Ach, Leo, ich begleite dich später zu deiner Übergangsunterkunft“, stellte Kazlina, nach einem Blick auf ihr Pad, fest. „Es gibt zwar noch eine Verzögerung … Macht aber nichts! Wir wollen ohnehin noch einen mit dir trinken.“
„Stimmt genau! Wo ist der Barkeeper schon wieder hin? Wir brauchen Nachschub.“ Matthio gab sich gern spendabel. Dank seiner Herkunft konnte er sich das auch leisten. Er setzte sich allerdings mit Absicht vom Rest seines Standes ab. So hing er in diesem Moment mit bis zum Bauchnabel aufgeknöpfter Uniform regelrecht über dem Tresen. Niemand hätte bei diesem Anblick vermutet, dass über dreitausendfünfhundert Jahre Adelsgeschichte in diesem umgänglichen Burschen kulminierten. „Sebastian, komm schon! Ich gebe einem Freund einen Hlasmisch aus!“
Leo wusste wahrscheinlich nicht einmal, dass es sich dabei um eines der teuersten Getränke nicht nur ihres Dominions, sondern aller mit ihnen politisch verbundenen Regierungsgebiete handelte. Er hätte auch nicht besonderen Wert darauf gelegt, das grüne Getränk zu probieren. Sie waren in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen, und ein Hlasmisch kostete beinahe so viel, wie sie zu zweit im Monat verdient hatten.
„Schenk deiner Freundin lieber etwas mit dem Geld“, schlug Olean vor und nickte Leo entschuldigend zu. „Das Zeug ist furchtbar! Ich rette dich hier. Nur, damit du das weißt.“
„Genau, schenk deiner Freundin lieber etwas um diesen Wert“, stimmte Kazlina zu, die natürlich besagte Freundin war.
Unter normalen Umständen hätte Leonardo an dem freundschaftlichen Gerangel teilgenommen und eine mehr unpassende als komische Bemerkung gemacht, aber nach Reeshs Geständnis – so kalt und ohne Vorwarnung noch dazu – war ihm verständlicherweise nicht danach zumute, sich in die Beziehung eines glücklichen Paares einzumischen.
Reesh hätte sich selbst mit einer der überdimensionalen Flaschen gegen die Stirn schlagen können. Wie konnte er es wagen, sich so wichtig zu nehmen, dass Leo sich seinetwegen anders benahm als in seinen Erinnerungen? Sechs Jahre Kriegsgefangenschaft hatten mit Sicherheit tiefere Narben hinterlassen, als seine Unfähigkeit zur Treue es je tun könnte.
„Na also!“ Matthio klopfte dem Barkeeper auf den Rücken, als er an ihnen vorbeihuschte, um endlich das bestellte Getränk einzuschenken.
Leo beäugte das scheinbar nach einer Seegurke geformte Glas, ehe er skeptisch einen Schluck daraus nahm. Es lag mit Sicherheit an der grotesken Mode, redete sich Reesh eilig ein. Er wollte nicht daran denken, dass sein Freund bei jedem Schluck darüber nachdachte, ob man ihn vergiften wollte. Was hätten die Wärter auch davon gehabt, ihre Gefangenen zu ermorden? Sie hätten irgendwann ja Rechenschaft dafür ablegen müssen.
„Wie war es in dem Lager?“, fragte Kaz mit einfühlsamer Stimme, fast so, als hätte sie seine Gedanken gelesen. „Ich habe schreckliche Dinge von denen in Karber-3 gehört.“
Reesh hätte ihr am liebsten den Mund zugehalten. Natürlich war die Frage legitim, natürlich interessierte er sich ebenso für die Antwort, aber es war der falsche Ort und vor allem der falsche Moment dafür. Er wusste also nicht so recht, welche Reaktion er von Leo erwarten sollte.
Als sein Gegenüber den Mund zum Sprechen öffnete, wirkte er plötzlich wie der charmante Kerl, der keiner Dame jemals einen Wunsch abgeschlagen hatte. Die Erinnerung an ihr früheres Leben raubte Reesh einmal mehr den Atem.
„Vielleicht hatte ich Glück. Ich weiß nicht, was man so von den anderen Lagern hört. Man hat uns nach den … man hat uns vergleichsmäßig gut behandelt.“
Im Vergleich zu wem? Jedes einzelne Wort schmerzte wie ein Messerstich ins Herz.
„Hattet ihr ausreichend medizinische Behandlung?“, fragte Reeshs Arbeitskollege Lane Tobinski.
„Es ging so, denke ich. Die meisten von uns haben überlebt. Das sagt schon so einiges aus.“
„Die meisten“ bedeutete, dass eine nicht unwesentliche Zahl Gefangener im Lager verstorben war. Reesh würde sich erst genaue Daten beschaffen müssen, um sich ein Bild der Umstände machen zu können. Derartige Themen bedrückten ihn schon, wenn nicht die – frühere – Liebe seines Lebens ein Teil davon war. Er machte bestimmt einen kläglichen Eindruck deswegen, denn Nick ließ seine Hand zärtlich über seinen Arm streifen. Falls Leo es bemerkt hatte, wartete er höflich ein paar Minuten ab, ehe er verständlich bitter fragte: „Zwei Männer miteinander ist jetzt normal? Status quo?“
„Dafür war der Krieg auch hierzulande gut“, erklärte die junge Frau, die in jedem Filmstudio hätte Karriere machen können. Vielleicht hatte sie gerade deswegen das Leben als Soldatin gewählt. Olean wollte ernst genommen werden. „Jeder hat danach zwanghaft versucht, sich so gut wie möglich von den Kriegstreibern abzugrenzen. Dazu gehörte dann natürlich auch zu hundertundein Prozent ausländerfreundlich, nicht-heteronormativ und alternativen Lebensweisen gegenüber aufgeschlossen zu sein. Schande über den, der nicht zumindest den einen oder anderen Bekannten hat, der unserer ehemaligen Norm widerspricht.“
Leo warf Reesh einen prüfenden Blick zu. Es konnten nur wenige Sekunden sein, aber er hatte das Gefühl, dass er eine Ewigkeit andauerte und sich in seine Seele fraß. In seiner Brust fand scheinbar eine Hitzeexplosion statt, während ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief.
„Wechseln wir lieber das Thema!“, schlug Nick vor und setzte das Lächeln auf, das ihm den Spitznamen „Sunny“ erst eingebracht hatte. „Der erste Abend zurück in der Heimat soll besonders schön sein!“
„Das ist eine gute Idee! Leonardo, erzählen Sie doch mal Kindheitsanekdoten über sich und Reesh! Wir kennen so viele davon! Aber wir bezweifeln, ob sie stimmen oder ob sie auch wirklich so passiert sind. Sie wissen schon! Von wegen alle Seiten kennen … Und manch einer übertreibt ja gerne.“ Lane grinste Reesh von der Seite an. Er ahnte gar nicht, dass er tot umgefallen wäre, wenn Blicke hätten töten können. „Wir kennen den Planeten auch noch gar nicht recht. Von dieser Station aus kommen wir nur selten in Kontakt mit den Einheimischen.“
„Davon abgesehen, sind wir alle Offizierskinder. Vom harten Leben in den Städten hat von uns keiner eine genauere Vorstellung“, stimmte Matthio zu. „Und Reesh schämt sich immer noch für seine Herkunft, also spart er die wirklich spannenden Details aus.“
„Das ist nicht der Grund!“, widersprach Reesh mit Nachdruck. Ihm war danach, seinem Freund eine zu knallen, dass er so bald nicht wieder aufstand. „Ich würde mich niemals für meine Herkunft oder mein Leben vor dem Krieg schämen!“
„Darauf trink ich einen!“, rief Nick und hob sein nur noch halb volles Glas, ehe er es mit einem Schluck leerte. „Auf alte Freunde, die Vergangenheit und Neuanfänge ebenso!“
„Hört, hört!“, riefen die Schwestern im Chor und erhoben ebenfalls ihre Gläser.
Reesh umklammerte das seine mit so viel Kraft, dass er befürchten musste, dass es zwischen seinen Fingern zerbarst.
„Stimmt eigentlich! Was planen Sie denn für die nahe Zukunft?“, fragte Kazlina und warf Leo ein freundliches Lächeln zu. „Sie können es bestimmt kaum erwarten, ihre Familie und ihre Freunde wiederzusehen.“
Er war nicht religiös. Das Konzept einer Trost spendenden Vorstellung begriff er zwar, aber seine Logik hatte es ihm immer verweigert, sich selbst einer der gängigen Glaubensrichtungen anzuschließen. In diesem Moment schickte Reesh allerdings ein Stoßgebet zu welcher Gottheit auch immer. Kaz sollte nur aufhören, Fragen zu stellen, deren Antworten Leo den letzten Halt unter den Füßen wegreißen würden.
„Ich …“ Leo drehte den Kopf ein wenig zur Seite. Wenn er Reesh aber fragend anschauen wollte, zog er es nicht bis zum Ende durch. Sein Blick blieb an Nick hängen. „Sobald es geht, will ich natürlich raus aus dieser Basis.“
„Das wird noch dauern. Erst müssen alle Daten überprüft werden“, erklärte Matthio, aber Reesh konnte sich nicht vorstellen, dass man das ihrem Gast nicht schon mehrfach erklärt hatte. „Und dann muss auch noch ein Gutachten eines Psychologen her. Wir wollen ja nicht, dass jemand auf dem Planeten Amok läuft.“
„Stimmt.“ Leo nickte und seine Augen schienen erneut düster zu werden. „Das will man nur auf dem Schlachtfeld.“
Für wenige Sekunden trat Schweigen ein. Das Gelächter kam nur noch von den einige Meter entfernten Gästen. Es war Olean, die ihrem Schwager in spe aus der misslichen Lage half – und dem Rest der Mannschaft gleich dazu.
„Ich lehne mich jetzt nicht allzu weit aus dem Fenster, wenn ich behaupte, dass du in Nullkommanichts die Bescheinigung vom medizinischen Fachpersonal bekommen wirst. Wir waren immerhin für die Dauer des gesamten Fluges auf engstem Raum zusammengepfercht, und es hat keinerlei Auffälligkeiten gegeben.“
Es wurden kurz Blicke zwischen den einzelnen Mitgliedern des Einsatzteams ausgetauscht. Wäre Reesh nicht zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, er hätte sich vielleicht mehr dafür interessiert, was das genau zu bedeuten hatte.
Leo lehnte sich zurück – er imitierte Matthio fast ein wenig – und stieß einen Atemzug aus. Er leckte sich über die Unterlippe, ehe er niemanden direkt ansprach: „Vielleicht wäre ein längerer Aufenthalt hier gar nicht schlecht. Nachdem Sektor 7 nur noch ein Trümmerhaufen ist …“
Das wusste er? Woher wusste er das? Und welches Arschloch ohne psychologische Fachausbildung hatte ihn damit so kurz nach seiner ohnehin traumatisierenden Gefangenschaft belastet? Aber dann unterschätzte er Leo vielleicht. Leonardo Dra’Ev war bekannt dafür gewesen, zu erreichen, was er sich vornahm. Das war in ihrem früheren Alltag überlebenswichtig gewesen.
„Das ist leider wahr. Es gab auch unter der Zivilbevölkerung dieses Planeten große Verluste. So mancher hat sich während der Kämpfe aber als Held erwiesen.“
Wenn das ein Lob an Reesh sein sollte, dann bewirkte es das Gegenteil der freundlichen Intention. Er war von Natur aus bescheiden, aber vor Leo beweihräuchert zu werden, der sechs Jahre lang in Kriegsgefangenschaft gelitten hatte … das war schon fast obszön! Darauf konnte er verzichten.
„Sie stammen ursprünglich aus Sektor 7? Das tut mir furchtbar leid für Sie. Das wirft Ihre Pläne dann natürlich völlig über den Haufen“, rutschte es Lane raus, ehe ihm einer der Umstehenden einen Hieb in die Seite verpassen konnte.
„Ja und nein“, antwortete Leo und trank das grüne Glas doch noch aus. „Wir hatten keine genauen Pläne für die Zukunft. Reesh und ich haben nur von einem Tag in den nächsten hineingelebt. Das war schwer genug in der aufgeheizten politischen Lage damals. Man hat also mitgenommen, was mitzunehmen war. Ob das jetzt ein sich zufällig auftuendes ‚Unternehmen‘ war oder ein erotisches Abenteuer, man hat die Chance ergriffen, weil man nie so genau wusste, wann sich die nächste bieten würde!“
Das schmerzte. Mehr als es das hätte tun dürfen. All das lag so lange zurück. Inzwischen lebte er zufrieden ein völlig anderes Leben. Reesh war mit einem der attraktivsten und mutigsten Männer des gesamten Militärs zusammen und er hatte sich eine Karriere erarbeitet – und ein angenehmes Privatleben dazu. Keine seiner Entscheidungen hatte er je bereut.
Und dennoch …
Hatte sich Leo wirklich niemals ein gemeinsames Leben vorgestellt? Sie waren trotz der Umstände so glücklich gewesen. War es nicht doch vielleicht die Vorsicht früherer Jahre, die Leo noch in den Knochen steckte? Oder wollte er ihm mit diesen Worten wehtun? War das ein gezielter Hieb gegen ihn? Wollte ihm Leo zurückzahlen, dass er ihm nicht treu geblieben war?
Es war nicht ungewöhnlich, dass ihm dieser Gedanke wie eine kalte Hand die Kehle zuschnürte. Sie mochten kein Paar mehr sein, aber sie waren immer schon die besten Freunde gewesen. Selbst während ihrer schlimmsten Auseinandersetzungen hatte Leo sich so weit im Griff gehabt, dass er nicht verletzend geworden war. Das hatte sich offenbar geändert. Es war ein Schlag unter die Gürtellinie, dass er das herunterspielte, was sie zusammen geteilt hatten. So etwas tat ein Freund nicht. Reesh wurde schlecht.
„Ich muss noch ein paar Vorbereitungen für morgen treffen“, meldete sich Nick plötzlich zu Wort. Reesh wäre beinahe zusammengezuckt. „Das heißt nicht, dass ich später nicht wieder herkomme. Wenn mir jemand zur Hand geht, bin ich schneller zurück. Ich entführte euch also mal einen aus der Runde … Nicht, dass das die Stimmung drosseln würde. Mein kleiner Freund trinkt ja ohnehin nie mehr als ein Glas.“
Reesh blinzelte seinen Partner verdutzt an. Er nickte ihm zu, aber er konnte nicht verhindern, dass sein Blick zu Leo schweifte. Dieser schaute nicht in seine Richtung, spielte aber mit seiner Wangenmuskulatur. Diese Bemerkung hatte ihm also nicht gefallen – ebenso wenig wie ihm selbst. Sie war bestimmt nicht sexuell gemeint gewesen, aber in ihrer Situation war sie durchaus so zu deuten. Reesh ging aber nicht davon aus, dass Nick das so beabsichtig hatte.
Um zu verhindern, dass die Lage noch unangenehmer wurde, schleuderte er sein Glas regelrecht auf die Barfläche und erklärte weit detailreicher als nötig: „Dieses ganze Zettelwerk nach einem Einsatz ist so mühsam! Wenn man für jeden einzelnen Schuss den Energieverbrauch berechnen muss, wundert es mich, dass es überhaupt noch so viele Kampfhandlungen in unserem System gibt.“
Kazlina und Olean warfen ihm entrüstete Blicke zu. Bei der älteren der beiden war das verständlich, aber die jüngere war für ihren heißblütigen Charakter und ihre „Erst-Angreifen-dann-nachfragen“-Mentalität bekannt. Es konnte also nicht an dem leicht antipazifistischen Charakter seines Witzes gelegen haben. Es lag an Leo! Er hatte vor einem eben erst befreiten Kriegsgefangenen einen Scherz übers Kämpfen gemacht.
„Ich bin müde“, brachte er zu seiner Verteidigung heraus, ohne diese als solche explizit zu machen. „Auf mich braucht niemand zu warten. Nach dem Papierkram gehe ich ins Bett.“
Als er zur Tür marschierte, bat er Nick mehrmals in Gedanken, nicht seine Hand auf seinen Rücken zu legen, wie er es manchmal tat, wenn sie zusammen unterwegs waren. Das musste Leo nicht sehen. Er hatte ihm genug für einen Abend angetan. Er musste nicht auch noch mit seiner neuen Beziehung vor ihm prahlen.
Reesh hatte sich nie zuvor so sehr gehasst.
Die beiden Männer schwiegen, bis die Aufzugstür sich hinter ihnen schloss und sie unter sich waren. Wenn es nach Reesh gegangen wäre, hätte das Schweigen auch weiter anhalten können. Es war sehr viel einfacher, sich selbst zu verabscheuen, wenn man nicht mit der Freundlichkeit anderer konfrontiert wurde. Und „Sunny“ hatte diese unverschämte Art, jedem Lebewesen ein gutes Gefühl zu verschaffen, wenn er sich nur genug ins Zeug legte. Es würde ihm auch dieses Mal gelingen, wenn er ihm eine Chance dazu gab. Und ihm war nicht danach, sich gut zu fühlen. Er verdiente das nicht. Zumindest nicht an diesem Abend.
„Ich hoffe, es war für dich okay. Dass ich dich aus dieser Lage befreit habe, meine ich.“ Nick lächelte ihn mitfühlend an. Er blieb allerdings einen Schritt von ihm entfernt stehen und suchte keinen Körperkontakt. „Ich hatte das Gefühl, dass du so schnell wie möglich von dort verschwinden wolltest.“
Reesh stieß einen Atemzug aus und rieb sich die Nase. Er war sich durchaus bewusst, welchen Eindruck das machte. Es war ihm allerdings recht egal.
„Sag es ruhig! Ich bin ein Arschloch.“
„Blödsinn! Du bist vielleicht ein Streber, Spaßverderber und Moralapostel, aber ein Arschloch bist du mit Sicherheit nicht.“
„Warum fragst du nicht Leo nach seiner Meinung?“
Nick musterte ihn fragend, schaute dann aber weg und kaute an seiner Unterlippe. Er schien genau über seine nächsten Worte nachzudenken, was ihm Reesh hoch anrechnete. Sonst warf sein Lebensgefährte schon mal Bemerkungen raus, die er zuvor nicht durchdacht hatte. Zu oft. Nickolan Rows war vielleicht einer der besten Männer, die das Militär im Dominion hatte, aber leider legte er beim Ausloggen nach Dienstschluss nicht nur die Uniform ab, sondern auch jeglichen gesunden Menschenverstand.
„Ich glaube, dass er genauso von der Lage überfordert ist wie du. Kann sein, dass ich mich irre, aber dir nicht die ganze Nacht gegenübersitzen zu müssen, ist für ihn bestimmt auch eine Erleichterung.“
„Scheiße!“ Reesh lehnte sich an das Glas. „Was für eine verdammte …“
„Geh zurück! Wenn im nächsten Stockwerk jemand zusteigt, fällst du sonst raus.“
Er war zu wütend auf sich selbst, um Nick einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. Nach einem Moment gehorchte er sogar. Weitere Kommentare ließ er aber bleiben, bis sie vor der Eingangstür zu ihrer Wohnung standen. Natürlich musste er antworten, als Nick ihn fragte: „Wie nahe habt ihr euch wirklich gestanden?“
„Sehr nahe“, antwortete Reesh, und ein Gefühl der Verwirrung überkam ihn bei dem Gedanken, wie lächerlich untertrieben diese Beschreibung war. „Für mich war er der wichtigste Mensch im gesamten Universum.“
„Das waren meine Schwestern für mich. Deswegen wäre ich trotzdem nicht mit einer von ihnen ins Bett gegangen. Davon abgesehen, dass sie mir den Arsch versohlt hätten, wenn ich das auch nur im Scherz angedeutet hätte.“
Nick zwinkerte ihm zu. Es war gut zu wissen, dass selbst ein notorischer Schürzenjäger wie er seine Grenzen hatte. Sehr gut sogar. Reesh hatte ihm sein reges Sexleben der ersten Jahre nie vorgeworfen. Zu den Alphatruppen gehörend, die im Krieg zu den Helden ganzer Völker geworden waren, hatte sich natürlich allerorts ein sexuelles Abenteuer für Nick ergeben. Es wunderte ihn ohnehin, dass ausgerechnet ein Langweiler wie er derjenige gewesen war, der diesen Lauf beendet hatte.
Reesh hatte zu lange geschwiegen. Nick legte seinen Kopf auf die fragende Weise schief, die echtes Interesse und doch schon Sorge widerspiegelte. Er hasste diesen Blick, denn er schien ihm bis in die Seele zu dringen.
„Ich dachte, dass wir für immer zusammen sein würden“, fügte Reesh ehrlich hinzu.
„Autsch! Dann war sein ‚Ich habe nur von einem Tag zum nächsten geplant!‘ nicht gerade das, was du hören wolltest.“
„Es ist nicht so, dass ich etwas von ihm erwarte. Er war sechs Jahre lange von jeglicher Kultur abgeschnitten … Und ich … ich habe dich.“
Reesh legte einen Arm um Nicks Hüfte und schmiegte sich an ihn. Normalerweise hatte diese Zärtlichkeit eine beruhigende, fast schon beglückende Wirkung auf ihn. In diesem Moment wurde ihm aber klar, wieso dem so war. Früher hatte er so an Leo gelehnt. Als er noch jünger und weit schmaler gewesen war, hatte er so bei ihm Schutz gesucht. Das erschreckte ihn. Sein Körper versteifte sich.
„Was ist los? Frierst du?“
„Ich bin nur von den Ereignissen heute erschlagen …“
Nick schnappte nach seinen Händen und drückte sie.
„Du bist wirklich kalt. Schau mal! Deine Handflächen haben kaum Farbe.“
„Ich bin nur zum Umfallen müde.“
Nick grinste ihn an, als er fragte: „Kann ich dich aufwärmen, ehe ich mich wieder mit den anderen treffe?“
Richtig! Die Truppe hatte ihr Ritual. Ein ganz anderes, weit persönlicheres war aber, dass Nick mit ihm schlief, ehe er sich ins Getümmel stürzte – mit oder ohne ihn. Nur an diesem Tag wollte Reesh die Tradition brechen. Wie er das seinem Gegenüber erklären sollte, war ihm aber noch nicht klar.
Er ließ sich zu viel Zeit mit seiner Antwort, denn Nick wartete nicht länger darauf und ergriff erneut das Wort: „Du kommst alleine klar heute Nacht?“
„Was?“ Er brachte das Wort vor Verwirrung kaum heraus.
„Ich gehe unter die Dusche, ziehe mich um und dann gehe ich und kippe ein paar Gläser mit meiner Mannschaft. Und du … bleibst wirklich lieber hier?“
Nick war so viel besser, als er sich bewusst war. Sein Geliebter erkannte, dass ihm nicht nach Sex oder Feiern zumute war und ging darauf ein, ohne dass er auch nur ein Wort sagen musste. Reeshs Brust fühlte sich vor Dankbarkeit und Liebe warm an. Er legte die Hände an Nicks Schultern. Dafür bekam er ein Lächeln geschenkt.
„Ich bin leise, wenn ich zurückkomme.“
Bestimmt wollte Nick ihm nur einen unschuldigen Gutenachtkuss geben, aber Reesh warf die Arme um seinen Hals und küsste ihn leidenschaftlich. Als er nach einer halben Minute allerdings alleine im Zimmer stand, wischte er sich über den Mund und biss sich auf die Lippe. Es war nur ein Kuss gewesen so wie viele Male zuvor. Der Gedanke, dass Leo sich aber im selben Gebäude aufhielt, raubte ihm fast den Atem.
Was für ein Monster war er nur?
* * *
Er lag tatsächlich noch wach, als Nick in den frühen Morgenstunden sturzbesoffen, aber wie versprochen leise zu ihm zurückkam. Reesh stellte sich nicht schlafend. Er weigerte sich nur, sich seinem Lebensgefährten zuzudrehen oder ihn anzusprechen. Er wusste nicht, was er ihm hätte sagen sollen. Nick hätte ihm in seinem Zustand ohnehin nicht folgen können.
Reesh war krank vor Sorge, was Leo betraf. Er musste mit ihm reden, aber es war zu früh dafür. Er musste ihm etwas mehr Zeit geben, um den Schock zu verdauen. Nachdem er ihm untreu geworden war und ihn verlassen hatte …
So war es ja gar nicht! Er hatte Leo für tot gehalten. Ein Vertreter des Militärs hatte seinen Eltern ein offizielles, abgestempeltes Schreiben überreicht, in dem ihnen sein Tod bescheinigt worden war. Wieso hätte er dieses Dokument anzweifeln sollen? Zwei Kameraden hatten Leo fallen sehen … oder es sich eingebildet, wie sich nun herausgestellt hatte.
Es war also Feigheit. Er lag stumm in seinem Bett, weil er sich vor beiden Männern schämte. Und das überraschte niemanden mehr als ihn selbst. Wenn es seine Biologie erlaubt hätte, in den Weltraum zu gehen und mit den anderen Soldaten zu kämpfen, hätte er es getan. Sein Leben in die Waagschale zu legen, war ein Klacks für ihn, wie er es während der Kampfhandlungen auf ihrem Heimatplaneten auch unter Beweis hatte stellen können.
Sich Leo zu stellen, war etwas völlig anderes. Diese Schlacht konnte er nicht gewinnen. Es war sein völliges Versagen gewesen, einem Stück Papier mehr zu glauben als seiner Intuition. Das war die nächste niederschmetternde Tatsache. Seine Intuition hatte ihn betrogen! Er hatte so gelitten, als er von Leos „Tod“ erfahren hatte! Wenn er Leonardo wirklich geliebt hätte, dann hätte sein Herz wissen müssen, dass er noch am Leben war.
Reesh fletschte die Zähne. Er musste schlafen. Mit einem so wirren Geist konnte er seine Lage nicht überdenken. Ein paarmal musste er auch eingenickt sein, denn als Nick aus dem Bett kletterte, wurde ihm bewusst, dass er sich nicht erinnern konnte, wann er überhaupt hineingeschlüpft war.
Die Uhr zeigte eine unerfreulich späte Stunde an. An normalen Arbeitstagen wäre er bereits seit einer Stunde aufgestanden. Er fühlte sich erschlagen und todmüde, aber weil es ihm ohnehin nicht gelingen würde, noch einzuschlafen, setzte er sich auf und rieb sich die Stirn. Ihm war etwas mulmig zumute, aber dieses Mal war es nur Müdigkeit. Wie er den Tag so überstehen sollte, wusste er selbst nicht genau, aber irgendwie würde es schon gehen.
Reesh betrachtete seinen Partner, als er ins Zimmer zurückkam – triefend nass und natürlich ohne Handtuch. Nick wusste, welchen Körper er hatte. Er trainierte ja wie besessen dafür. Reesh war sicher, dass eine Menge Selbstverliebtheit dazugehörte, denn die anderen Soldaten in seiner Einheit hatten zwar ebenfalls massive Muskeln, hielten dabei aber keine strengen Diäten, um auch noch die Taille zu schmälern, bis ihr Körper einem Dreieck glich.
Reesh atmete von sich selbst enttäuscht aus, als ihm klar wurde, dass er sich ebenso harten Trainingseinheiten unterwarf, nur um bei Nick sein zu können. Besonders viele Hobbys konnte er sich neben seinen Fitnessübungen und seinen gelegentlichen Sauftouren nämlich nicht leisten. Entweder leistete man ihm also dabei Gesellschaft oder man bekam ihn kaum zu Gesicht.
