Heimkehr Vol. 2 - Alissa Sky - E-Book

Heimkehr Vol. 2 E-Book

Alissa Sky

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Beschreibung

Nach sechs langen Jahren, in denen Reesh Neraphin die Liebe seines Lebens für tot gehalten hat, trifft er den verschleppten Soldaten Leo Dra'Ev wieder. Verloren geglaubte Gefühle erwachen in ihm, als er dem Inhalt seiner geheimsten Wünsche erneut gegenübersteht. Einer tränenreichen Wiedervereinigung steht nur eines im Weg: Nick "Sunny" Rows, der Mann, der Leo gerettet hat – Reeshs Lebensgefährte.

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Seitenzahl: 292

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Alissa Sky

Heimkehr

Vol. 2

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2020

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte: Yakobchuk Olena – stock.adobe.com

Vadim Sadovski – shutterstock.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-409-4

ISBN 978-3-96089-410-0 (epub)

Inhalt:

Wenige Monate nachdem sich Reesh, Nick und Leo zu einer polygamen Beziehung entschlossen haben, scheint das Beziehungsexperiment bereits gescheitert zu sein. Obwohl sie noch eine orgastische Nacht zu dritt verbringen, brechen alte Rivalitäten zwischen den Männern auf und erschweren sowohl ihr Privatleben als auch ihre Arbeit für die Föderation.

Alles wird noch um einiges schwieriger, als sich Nick Hals über Kopf in Leo verliebt. Vor allem, weil sich auch Leo immer mehr zu seinem Lebensretter hingezogen fühlt …

NUR IM TRAININGSRAUM zu sitzen, würde keinem von ihnen zu körperlichen Höchstleistungen verhelfen. Lane war aber nicht so fit wie Reesh und deswegen mussten sie öfter pausieren, als es ihm lieb war – oder auch nicht. Sich mit seinem liebsten Arbeitskollegen zu unterhalten, machte Reesh Spaß und es lag bestimmt nicht daran, dass er Lane immer öfter als Sorgenkasten missbrauchte.

Es war seltsam. Noch vor einem halben Jahr hätte er, ohne zu zögern, Kazlina als seine seelische Stütze gewählt. Es konnte aber viel in einem Halbjahr passieren und manchmal stellte sich die ganze Welt in dieser Zeitspanne auf den Kopf. Reesh hatte es bereits zweimal erlebt und gewöhnte sich langsam daran. Bei seinem Entschluss blieb er aber: Er brauchte einen eigenen Freundeskreis. Nicks Clique konnte er nicht in all seine Sorgen einweihen – und es fühlte sich komisch an, sich nur auf den Freundeskreis seines Geliebten verlassen zu können.

„Ist es noch komisch?“, fragte Lane derart passend zu seinen Gedanken, als hätte er sie gelesen.

„Oh, ja.“ Reesh rieb sich den Nacken. „Du kannst es dir nicht vorstellen!“

„Wird schon stimmen. Für mich klingt ein Dreier nämlich heiß.“

„Ein Dreier und eine polygame Beziehung sind zwei völlig unterschiedliche Dinge.“

Lane grinste unverschämt. „Gehört aber irgendwie zusammen oder nicht?“

„Beides ist … nicht das, was wir haben.“ Reesh seufzte und rieb sich die Stirn. Kopfschmerzen kündigten sich an. Sie hatten sich in den letzten Wochen als unerfreulich loyale Begleiter erwiesen. „Stell es dir eher wie eine Dreiecksbeziehung vor!“

„Das Bild trifft es auch nicht.“ Lane zeichnete mit dem Zeigefinger in der Luft. „Eher wie eine Linie. Sie beginnt mit Leo hier, endet mit Nick da und irgendwo in der Mitte bist du und trennst die beiden voneinander.“

„Also eine ‚Linienbeziehung‘?“ Reesh schmunzelte. Es tat gut, ohne Tadel oder Schwere über seine Lebenssituation zu sprechen. Sein Arbeitskollege war oft kindisch oder sogar oberflächlich, aber auf seine Art war er unschlagbar. So locker hätte er niemals mit Olean oder Kazlina reden können. „Das kommt hin. Es macht mich nur nicht besonders glücklich, weil ich sie nicht glücklich machen kann. Ich liebe sie beide und will keinen von ihnen verlieren.“

„Musst du ja auch nicht. Soweit ich mich erinnere, kam der Vorschlag für den Rudelbums von Nick.“

Reesh verschluckte sich beinahe bei dieser Bezeichnung. Tatsächlich hatten sie noch nie zu dritt miteinander geschlafen. Nicht, dass er es sich in einer Minute der Schwäche nicht vorgestellt hätte … In Wahrheit führte er mit keinem seiner beiden Männer eine richtige Beziehung. Es wäre zu seltsam gewesen, solange die Lage zwischen ihnen nicht völlig geklärt war.

Wieso nur fiel es ihm so verdammt schwer, sich fallen zu lassen?

„Da kommt Leo“, flüsterte ihm sein Sparringspartner im Verschwörerton zu.

„Wenn man vom Teufel spricht“, erwiderte Reesh und spürte, wie sich Wärme in seiner Brust ausbreitete, nur weil er seinen Geliebten wiedersah. „Er sieht fröhlich aus … obwohl wir zu zweit hier sind.“

„Alles klar, alles fein.“ Lane sprang von der Geräteablage und klopfte ihm zum Abschied aufs rechte Knie. „Wir sehen uns morgen bei der Arbeit!“

Reesh hatte keine Andeutung gemacht, dass sein Freund gehen sollte. Seine Worte waren nur als Bemerkung gemeint gewesen, so wie er vieles ohne nachzudenken beschrieb – wie etwa: „Die Sonne geht schon unter!“. Oder: „Dieses Lied kenne ich!“. Es war mit Sicherheit kein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen, dass Lane verschwinden sollte. Reesh wollte den Irrtum aber nicht aufklären, weil es wohl keiner war. Sein liebster Arbeitskollege galt als Fachidiot, aber er hatte durchaus ein Gespür für die Gefühle jener, die ihm wichtig waren. Es war Reesh eine Ehre, zu diesem erlesenen Kreis zu gehören. Darüber hinaus, war er natürlich dankbar, dass er Leo so länger für sich haben konnte.

„Bis morgen, Tobi!“

Lane zwinkerte ihm zu und hängte sich das Handtuch über die Schulter, ehe er in Richtung Duschen davonmarschierte. Er klopfte allerdings auf Leos Schulter, bevor er sich wirklich aus dem Staub machte. Reesh mochte ihn und an manchen Tagen mochte er ihn besonders. Es war einer dieser Tage. Lange hing er diesem Gedanken allerdings nicht nach, denn als Leo näher kam und ihm einen seiner liebevollen Blicke schenkte, war in seinem Kopf kein Platz mehr für einen anderen.

„Hast du nach mir gesucht?“, rief Reesh dem Ankömmling auf halben Weg zu.

„Du bist nicht so geheimnisvoll, wie du denken magst.“

Leo blieb vor ihm stehen und grinste ihn an. Reesh saß immer noch auf der Ablage, auf der sonst Bälle und andere Turngeräte lagen, die Leo für kindisch hielt. Aber vielleicht hatte er aus Eleos letzter Bemerkung gelernt und machte sich nicht mehr darüber lustig. Immerhin war die berühmt berüchtigte Kommandantin eine gefürchtete Kämpferin, die sich nicht mit kindlichen Dingen abgab. Sie hatten beide Respekt vor ihr. Vielleicht hatte Leo sich ihre Worte deswegen zu Herzen genommen.

„Du sitzt auf der Ablage für Kinderkram?“

Oder auch nicht.

„Leo …“ Reesh schüttelte den Kopf. Sein Lächeln sabotierte seinen Tadel allerdings. „Nicht mal so kurz vor meinem Geburtstag kannst du lieb zu mir sein?“

„Ich sage ja gar nichts. Aber weil du unheimlich süß bist, passt es zumindest.“ Ein verschmitztes Lächeln huschte über sein Gesicht. „Und bin ich nicht immer lieb zu dir?“

 Reesh spürte Hitze in seine Wangen kriechen. Er wurde rot, als Leo seine Knie auseinanderschob und sich zu ihm lehnte, um ihn zu küssen. So sehr die weichen Lippen auf seinen – und der Hauch von Zunge dazwischen – ihm auch gefielen, er wäre vor Scham gestorben, wenn jemand hereinstolziert wäre. Es kam zur Mittagszeit zwar selten vor, aber sie waren ja auch hier. Sie konnten sich nicht einfach so küssen, als wären sie in einem privaten Quartier.

„Ich wünschte, deine Eltern wären noch am Leben, um das zu sehen“, flüsterte er Leo zu, nachdem er seine Arme um seinen Nacken geschlungen und ihn sanft an sich gezogen hatte. „Wie glücklich wir sind und dass wir es sein dürfen … auch in der Öffentlichkeit.“

„Aber nur wenn keiner zusieht.“

„Weil ich es peinlich finde“, widersprach Reesh und strich Leo doch sanft durchs Haar. „Ich bedauere so sehr, dass sie nicht mehr erfahren haben, dass du am Leben bist … dass du zu uns heimkehren würdest.“

„Du hast nichts zu bereuen. Es war nicht deine Schuld. Und pst! Ich will keine Widerworte hören, denn es war nicht deine Schuld.“ Leo lehnte sich zurück, damit sie sich in die Augen schauen konnten. Er wollte ihm wohl zeigen, dass er jedes Wort genauso meinte, wie er es sagte. „Ich bereue es nämlich nicht, in den Krieg gezogen zu sein. Es war gut. Es war wichtig. Es war die einzig richtige Entscheidung.“

„Aber du hast so sehr deswegen gelitten …“

„Niemand hat gesagt, dass es einfach ist, das Richtige zu tun. Gut zu sein, kostet manchmal eben Schmerz und Blut und viele, viele Tränen.“

Reesh änderte seine Meinung. Er hätte an Ort und Stelle mit Leo geschlafen und es wäre ihm egal gewesen, ob jemand sie ertappt hätte. Die ganze Basis hätte sie dabei begaffen können und es hätte ihn erst danach gejuckt. Sollten sie doch alle sehen, dass er den besten, edelsten und großzügigsten Mann von allen erobert hatte.

Natürlich erstarb dieser Vorsatz schon einen Moment später.

„Du erzählst mir nie, was dir während deiner Gefangenschaft alles zugestoßen ist.“

Es war ein Reizthema. Es war ebenso gefährlich. Leo hielt dem aber ein weiteres Mal mit völliger Ruhe stand. „Weil es nicht wichtig ist.“

„Wie kannst du auch nur denken, dass irgendetwas für mich nicht wichtig ist, wenn es dich betrifft? Selbst wenn es das kleinste, für dich unbedeutendste Detail wäre?“

„Eines Tages erzähle ich dir alles“, versprach Leo wohl zum hundertsten Mal. Reesh hatte nicht mitgezählt, was er inzwischen bereute. Sein Geliebter versuchte einmal mehr, ihn von seinen Worten abzulenken: Er strich liebevoll über die Finger, die an seiner Wange lagen. „Kannst du es fassen? Dass all das hier unser Leben ist? Ab und zu befürchte ich, es ist nur ein Traum.“

Ein Fiebertraum während einer Folter? Reesh dachte manchmal, dass sein Kopf zerspringen würde, so viele Gedanken machte er sich über das, was er von seinem Lebensgefährten nicht wusste. Dieser hatte es ihm aber schon einmal vorgeworfen: dass Reesh seine Neugierde über die Gefühle seines Geliebten stellte. Und es stimmte auch! Hätte er Leo zum Reden gezwungen, hätte er von ihm verlangt, all die Jahre in Gefangenschaft noch einmal in Gedanken zu durchleben. Er musste ihm die Zeit zum Heilen lassen.

Es fiel ihm nur so verdammt schwer!

Reesh zog Leo zu einem weiteren Kuss zu sich. Dieses Mal nahm er die Zügel in die Hand und öffnete die geliebten Lippen weiter. Er bekam ein genüssliches Stöhnen zu hören. In der sicheren Zweisamkeit ihrer Unterkunft hätte es einen Schauer der Lust durch seinen Leib getrieben. So öffnete er nur die geschlossenen Augen, um sicherzugehen, dass sie noch alleine waren. Nein, er wäre nicht vor Scham gestorben, wenn man sie ertappt hätte. Er wäre vor Eifersucht grün geworden. Selbst die lüsternen Laute wollte er nicht mit einem anderen teilen. Nicht einmal mit Nick.

Nick.

An ihn zu denken, schmerzte immer noch. Reesh sah keinen Ausweg, wusste nicht, wie er beide Leben, beide Lieben miteinander verbinden sollte, ohne dass einer von ihnen auf der Strecke blieb. Der Versuch einer Beziehung zu dritt war bisher kläglich gescheitert – und das lag nicht nur an der Antipathie, die stets zwischen Leo und Nick zu herrschen schien. Es lag auch – und wohl vor allem – an Reeshs Unfähigkeit, sich an die Situation zu gewöhnen … Und doch spielte das Verhalten seiner Liebschaften eine nicht unwesentliche Rolle dabei. Er war davon ausgegangen, dass die beiden enger zusammenwachsen würden, nachdem Leo sich von der Föderation anwerben hatte lassen und Eleos Truppe unterstellt worden war. Vielleicht war aber genau das Reeshs Denkfehler gewesen. Wer arbeitsbedingt Tag und Nacht zusammen verbrachte, wollte nicht auch noch in der Freizeit unentwegt aufeinanderhocken. Dieser Umstand brachte ihn in die unangenehme Situation, stets zwischen ihnen wählen zu müssen. Das begann schon unmittelbar nach der Rückkehr der Truppe aus dem Weltraum oder zumindest am gleichen Abend. Ihre traditionelle Wiedersehensfeier fand ja trotz allem mit ihrem ganzen Freundeskreis statt.

Leo löste ihre Lippen voneinander, lehnte seine Stirn gegen Reeshs und behielt die Augen weiterhin geschlossen. Er atmete tief durch. Der Anblick ließ sein Herz übergehen.

„Das nächste Mal hinterlässt du mir gefälligst eine Nachricht, wohin du gegangen bist, klar?“

 Reesh lachte auf, aber sanft und liebevoll. Sein Gefühl klang ebenso in seiner Stimme mit: „Soll ich dir etwa wegen jeder Kleinigkeit Notizen hinterlassen?“

„Nein, so meinte ich das nicht. Nur, wenn du länger fort bist. Ich will nicht einen Moment mit dir verlieren.“

Sein Herz pochte kräftig. Leo hätte es trotz Trainingsanzug gespürt, wenn er sich an ihn gelehnt hätte. Reesh wünschte sich nichts mehr, als ihn ebenso glücklich zu machen, wie er es immer wieder allein durch seine Worten tat. Wenn Liebe wahnsinnig machen konnte, stand er wohl kurz davor, den Verstand zu verlieren.

„Okay“, gab Reesh klein bei. „Ich besorge eine Tafel. Kannst du dich daran erinnern? Die kleine Tafel, die meine Mutter bei uns in der Wohnküche aufgehängt hatte? Sie hat mir immer Nachrichten hinterlassen, wenn sie außer Haus musste und mir nicht mehr Bescheid geben konnte.“

„Eines Tages will ich sie sehen“, erklärte Leo und öffnete die Augen, ohne etwas bewusst zu betrachten.

Reesh wusste, dass er ihre alte Heimat meinte. Den zerstörten oder neu aufgebauten Sektor 7 zu sehen, war ein rotes Tuch, das er selbst noch nicht angepackt hatte. Es war so lange her und doch nicht lange genug. Alleine bei der Erinnerung stellte sich jedes Haar an seinem Leib auf. „Eines Tages … ja. Zusammen.“

Leo suchte erneut Blickkontakt zu ihm und einen Moment später zwang er sich ein Lächeln auf. Es war ehrlich, aber nicht fröhlich, denn es erreichte die strahlend blauen Augen nicht. „Ich muss wieder los.“

„Los?“, fragte Reesh bedrückt, weil er den Unterton in der tiefen Stimme durchschaute. „Ich dachte, ihr fliegt erst in …“

„Du willst dich bestimmt noch bei meinem Retter verabschieden.“

Da klang keinerlei Ironie oder Schalk mit. Was bedeutete das?

„Aber ich … Ja, gut.“ Reesh zog Leo am Kragen zu sich und küsste ihn lange auf den Mund. „Pass ja gut auf dich auf!“

„Das werde ich. Du hast mein Wort. Keine dummen Alleingänge, keine Himmelfahrtskommandos … Ich meine, ich bin ja nicht du.“

Reesh verpasste ihm einen Schlag in die Seite. Danach verpuffte sein Widerstand und Sorge schlich sich in seine Brust. „Und bitte fang keinen Strei…“

„Du musst es nicht aussprechen“, schnitt ihm Leo das Wort ab. „Ich weiß , was du sagen willst. Auch darauf gebe ich dir mein Wort. Ich werfe sogar einen Blick auf Nickolan. Natürlich tue ich das. Ich schulde ihm das.“

Reesh musste sich zusammenreißen, nicht nach Leo zu fassen und ihn festzuhalten. Es war alles gesagt und jedes weitere Wort hätte ihren Abschied vielleicht verdorben. Er hielt sich also zurück und beobachtete stumm, wie die erste Liebe seines Lebens mit überraschend schnellem Schritt zum Ausgang marschierte. Seine Gedanken konnte er aber nicht so einfach beherrschen wie seinen Körper.

Er hasste, dass Leo erneut in den Weltraum flog!

* * *

„Hey, Außenteam! Ich habe wieder vollen Empfang. Die Kommunikationsstörung ist mit den Wolken verschwunden.“ Matthios Stimme war glockenklar zu hören. „Alles cool bei euch? Oder heiß? Wegen Erderwärmung und so? Hier oben ist alles cool. Also wirklich … mit – 454.81 Fahrenheit.“

„Du sagst Fahrenheit?“, fragte Olean spöttisch. „Was für ein Loser bist du denn? Benutz Grade!“

„Ihr seid alle beide Versager!“ Lyrn schüttelte den Kopf. „Fahrenheit … Grad … Wie Steinzeitmenschen!“

„Könnt ihr blöden Arschlöcher vielleicht mal das Maul halten und euch auf eure Arbeit konzentrieren?“, mischte sich die Kommandantin ungefragt ins Gespräch ein. „Wir sind hier im Einsatz! Es kann hinter jeder Ecke eine Gefahr auf uns lauern! Jede Sekunde ist dann kostbar! Also Mund zu und nur noch Standardkommunikation, wenn ich bitten darf!“

„Ist das jetzt eine Bitte oder ein Befehl?“

„Was denkst du wohl, Olean?“

„War nur eine Frage … Ich meine: Es war nur eine Frage, Kommandantin!“

Nick grinste, enthielt sich aber der Stimme. Er liebte sein Team und er hätte sein Leben für jedes einzelne Mitglied riskiert. Deswegen funktionierten sie als Einheit und konnten im Notfall unkonventionelle Lösungswege einschlagen. Sie kannten die jeweils anderen wie ihre eigene Signationsnummer, die sie im Falle einer Gefangenschaft als Einziges von sich preisgeben durften.

Es gab nur eine Ausnahme: Leo.

Und Nick war nicht sicher, ob sich das jemals ändern würde. So hervorragend sich der junge Mann in Kampfsituationen oder beim taktischen Denken auch machte, er schien immer ein wenig abseits zu stehen und kein Teil ihrer Mannschaft werden zu wollen. Charaktere waren nun einmal unterschiedlich und manche passten beim besten Willen nicht zusammen, aber wenn sich jemand mit Absicht – egal, aus welchem Grund – gegen eine Synchronisation mit der Truppe wehrte, stieß Nick das auf. Gerade weil Leo ansonsten gut in ihr Team passte. Seine stummen Betrachtungen und sein genaues Abwiegen aller Möglichkeiten harmonierten mit Lyrns eher passiven Ader und stellten ein gutes Gegengewicht zu den impulsiven Persönlichkeiten wie seiner eigenen dar.

Ob es an ihm lag? Hasste Leo ihn, weil seine bloße Existenz dem Leben mit Reesh im Weg stand, nach dem er sich zurücksehnte? Nun, daran konnte und wollte Nick nichts ändern. Zumindest noch nicht. Es würde sich ohnehin nicht allzu bald eine Möglichkeit für ein klärendes Gespräch ergeben. Das tat es seit zwei Tagen nicht.

Nach drei weiteren Stunden des Patrouillierens durchschritten sie die Tore zur gewählten Hauptstadt des Planeten und nickten den blauhäutigen Bewohnern mit einem Lächeln zu, die sie mit Blütenblättern bewarfen oder mit ihren hufbesetzten Fingerspitzen klapperten – „klatschen“, wie der Schiffsarzt diese Handlung beim ersten Beobachten interpretiert hatte.

Beim Lehmgebäude, das im Moment das Ratsgebäude darstellte, kam ihnen der Bürgermeister entgegen und vollführte mit seinen Schultern den Tanz, der von Lyrn als die hiesige Version einer Verbeugung gedeutet wurde. Die herzerwärmenden Freundschaftsbekundungen widersprachen seiner Theorie zumindest nicht.

 Eleo nahm eine weniger freundschaftliche Pose ein. Es war ihre Aufgabe als Kommandantin, Selbstvertrauen auszustrahlen und alle Umstehenden damit zu beruhigen. „Wir haben das Gebiet mit all unseren technischen Möglichkeiten noch einmal abgesucht. Es ist keiner der Sklavenhändler mehr in der Nähe. Natürlich werden wir die Geschehnisse der letzten Tage weiterleiten und die Patrouillen durch ihr Sonnensystem verstärken. Die Föderation nimmt den Schutz ihrer einzelnen Mitglieder sehr ernst. Natürlich auch jener, die sich uns noch anschließen wollen.“

Lyrn war es erlaubt, kameradschaftlicher mit den Planetenbewohnern umzugehen. Er sollte freundschaftliche Gefühle in ihnen wecken. „Bevor wir uns auf den Heimweg machen, stehe ich jedem von Ihnen, der medizinische Hilfe braucht, für eine Untersuchung zur Verfügung.“

„Wir wissen nicht, wie wir Ihnen jemals danken können“, wiederholte der alte Mann wohl zum hundertsten Mal in der veralteten Lor-Sprache, die man vor der intergalaktischen Ausbreitung von Nars als Lingua franca verwendet hatte.

Es war eine glückliche Fügung, dass Eleo sie fließend beherrschte – ebenso wie mehrere andere lebende und ausgestorbene Sprachen. Ihre Familie war seit unzähligen Generationen der Ansicht, dass man die Schritte seines Feindes nur dann voraussagen konnte, wenn man seine Denkweise verstand. Der Schlüssel dazu lag in der Sprache eines jeden Volkes – und die Aichingers waren die Kriegerelite ihrer Heimatgalaxie gewesen. Nick schämte sich nicht im Ansatz dafür, dass es ihn mit Stolz erfüllte, unter Eleo zu dienen. Es half ihm schließlich, selbst ein besserer Soldat zu werden.

„Mir werden die Bewohner dieser Welt fehlen“, meinte Olean, als sie in ihren Gleiter kletterten, um ihren Auftrag zu beenden und die Heimreise anzutreten.

„Sie sind sehr freundlich und liebevoll“, stimmte Lyrn zu. „Vielleicht besitzen sie gar nicht die mentale Fähigkeit zu Boshaftigkeit oder Gefühlen wie Hass.“

„Na, ob ich die als ‚Fähigkeit‘ bezeichnen möchte …“

„Natürlich nur von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus gesehen.“

„Ich bleibe bei meiner Meinung! Wissenschaftlich oder nicht.“

Nick und Eleo warfen sich einen Blick zu und zogen zur selben Sekunde einen Mundwinkel hoch. Normalerweise waren es der eher nüchterne Doktor und der leidenschaftliche Matthio, die über Stunden derartige Diskussionen führen konnten. Wie es schien, färbte der Schwager in spe langsam auf ihre Pilotin ab.

„Ich bin übrigens stolz auf Sie“, erklärte die Kommandantin ihrem Zugskommandanten mit einem zufriedenen Blick. „Nicht nur für Ihre beruflichen Entscheidungen der letzten Tage.“

„Jetzt machen Sie mich aber neugierig! Wofür habe ich dieses Lob denn verdient?“

„Weil Sie Ihren Hosenstall dieses Mal zugelassen haben. Oder waren Ihnen die Mitglieder dieser Gesellschaft nicht humanoid genug?“

Nick grinste. Er wusste, dass es nur freundschaftliches Necken war. Es sprach nichts dagegen, auf den Scherz einzugehen: „Sie wissen doch, dass es ‚nicht humanoid genug‘ für mich nicht gibt.“

„Dann liegt es an Dra’Evs Anwesenheit?“

Nick versteifte sich. Steckte doch mehr hinter Eleos Fragen? Wieso sonst brachte sie Leo ins Spiel? Sie hatte ihn aus der Reserve gelockt und Nick wusste, dass sie es bemerkt hatte. Natürlich hatte sie es. Von ihrem Scharfsinn hing ihr Überleben in gefährlichen Situationen ab.

„Sagen wir so: Ich habe derzeit einiges an Denkarbeit zu leisten.“

„Ich mische mich nicht weiter in Ihr Privatleben ein. Nur … Klären Sie das so weit, dass wir im Notfall auf die volle Unterstützung aller Besatzungsmitglieder zählen können, verstanden?“

„Das habe ich so geplant.“

„Gut!“

Danach hielt Eleo ihr Wort und unterhielt sich nur noch mit Matthio, der das Andocken des Gleiters einleitete. Nick war das recht. Die kurze Strecke war eine willkommene Pause, um die Eindrücke der fremden Welt zu verarbeiten. Er hatte zwar schon viele seiner Art gesehen, aber die indigene Flora und Fauna war auf allen Planeten unterschiedlich, selbst wenn sich die naturgegebenen Voraussetzungen des Lebens überall im Universum glichen. Nick würde niemals sein Erstaunen vergessen, als er in der Schule zum ersten Mal vom „Lebenskreis“ gehört hatte, der die Entfernung eines Planeten von seinem Gestirn gemäß dessen Größe und Ausstrahlungsfaktor beschrieb, in dem das Entstehen von Leben möglich war. Ebenso erinnerte er sich an seine Tränen, weil er fest geglaubt hatte, dass es auf einem der Drillingsplaneten seiner Heimat ebenfalls Leben geben würde. Wie er in einer höheren Schulstufe erfahren hatte, war sein Planet überhaupt nur wegen der Opfer seiner Geschwisterplaneten erblüht, denn Karzia und Olnopi hatten den Hauptanteil des „Großen Meteoritenschauers“ abbekommen.

Nick wischte sich über die Stirn und lehnte sich in seinem Sitz zurück. Das waren Überlegungen, die ihm im Hier und Jetzt nicht weiterhalfen. Eleo hatte durchaus recht! Er musste die Situation mit Leo klären. Es war zumindest eine Genugtuung, dass die angespannte Lage dieses Mal nicht an ihm lag.

Als sie erfolgreich angedockt hatten und alle Maßnahmen für eine Rückkehr aufs Schiff beendet waren, marschierte das Außenteam geschlossen zur Schleuse. Es gab Gewohnheiten, die man auch ohne Zwang beibehielt. Dies war eine davon. Solange sie ihre Uniformen trugen, waren sie ein eingeschworenes Team.

„Ich werde mich heute gleich an einen genauen Bericht meiner Beobachtungen setzen.“ Lyrn klang zu euphorisch für einen meist emotionslosen Menschen. „Während ich die Wunden behandelt habe, konnte ich viel Neues über diese Rasse lernen.“

„Wie konnten Sie eigentlich helfen, wenn Sie noch so wenig über die Gh’rm wissen?“, fragte Olean mit einer hochgezogenen Augenbraue.

„Ich habe nicht gesagt, dass ich bisher nur wenig wusste. Obwohl es im Vergleich zu anderen Spezies natürlich so ist … Aber manche Wunden sind bei allen gleich zu heilen. Knochenbrüche, zum Beispiel. Man muss den Knochen einrichten und fixieren, damit er wieder richtig zusammenwächst. Das ist Allgemeinwissen, keine Zauberei.“

„Dann viel Spaß bei Ihren Aufzeichnungen! Ich weiß ja, wie sehr Sie das Niederschreiben lieben.“

Sie hatten den kurzen Weg hinter sich gebracht und wurden an der Tür zum Steuerungsbereich von Matthio empfangen. Er fiel seiner zukünftigen Schwägerin beinahe um den Hals. Sie ließ die überschwängliche Begrüßung über sich ergehen, meinte aber auf ihre gewohnt nüchterne Art, dass sie es nicht erwarten könnte, endlich ihren Anzug loszuwerden und in saubere Sachen zu schlüpfen.

„Eine weitere heldenhafte Aktion des besten Teams des uns bekannten Universums!“, wandte sich Matthio an Eleo und deutete scherzhaft den Militärgruß an der Schläfe an. „Wenn wir zurück sind, will die Arten sicher wieder neues Bildmaterial von uns – inklusive unseres Maskottchens.“

„Sag das nicht zu laut!“, warnte ihn Olean in dem Moment, in dem die Kommandantin ebenfalls zum Sprechen ansetzte.

„Frau Arten ist die beste PR-Chefin, die wir uns vorstellen können. Wenn sie ein Fotoshooting anordnet, will ich gefälligst die ganze Mannschaft in Paradeuniform antreten sehen. Wehe ich entdecke auch nur schmutzige Fingernägel! Nur dass das klar ist.“

„Apropos Maskottchen … Wo ist unser neuer eigentlich?“

Matthio zeigte mit dem Daumen über seine Schulter. Nick empfand es als kleinen Sieg, dass Leo nicht in seiner Kabine hockte und sich vom Rest der Mannschaft abkapselte – auch wenn der Rest der Mannschaft nur Matthio gewesen war. Vielleicht war das ein erster Schritt zum Händereichen. Sie waren noch lange genug unterwegs, um diese Theorie zu prüfen.

„Gut, dann schmeißen wir unser Mädchen mal an und machen uns auf den Weg!“ Eleo marschierte zum gewaltigen Bildschirm hinter der Steuerzentrale und lächelte. „Am besten noch ehe einer von uns diesen Erfolg irgendwie beschmutzen kann.“

Nick fühlte sich nicht im Ansatz angesprochen.

* * *

Leo schmollte. Es gab einfach kein anderes Wort dafür. Und wäre die Situation auch nur ein wenig entspannter gewesen, Nick hätte den Anblick von Leo in voller Kampfmontur, aber demonstrativ mit dem Rücken zum Rest des Teams, unterhaltsam gefunden. Das war sie aber nicht. Sie befanden sich mitten im Weltraum und das Überleben des Teams hing im Notfall vom reibungslosen Zusammenspiel aller ab. Er traute Leo zwar zu, sich darauf zu besinnen, wenn es sein musste, aber woher wollte er es wissen? Er kannte den jungen Mann mit dem schönen Gesicht nicht. Er kannte nur die Geschichten, die Reesh von ihm erzählt hatte und diese waren inzwischen nicht nur veraltet, sondern wohl auch von den romantischen Gefühlen seines Berichterstatters verfälscht.

  Wodurch auch immer das rebellische Verhalten ausgelöst worden war, er musste Leo wieder auf Spur bringen. Eleonora Aichinger, die hochdekorierte Kriegsheldin und seine direkte Vorgesetzte, hatte ihm ja auch mehr oder weniger befohlen, die Sache zu klären – ohne zu wissen, was diese „Sache“ war. Nick war deswegen nicht wohl dabei. Immerhin stand Reesh zwischen ihnen und er war davon überzeugt, dass sie ihn beide liebten. Im Gegensatz zu Nick war Leo aber nicht bereit, ihn zu teilen. Er hatte es ihn kurz glauben lassen. Aber in den letzten Wochen hatte sich deutlich herauskristallisiert, dass sein Vorschlag einer polygamen Beziehung nicht so einfach in die Tat umgesetzt werden konnte, wie er sich das vorgestellt hatte. Er war nicht einmal sicher, ob es wirklich an Leo scheiterte. Reesh hatte sich schließlich dazu entschieden, ein eigenes Quartier zu beziehen. Deswegen lebten sie – anstatt zu dritt – plötzlich alle drei alleine.

Irgendetwas in Nick sagte ihm allerdings, dass es nicht ihre verworrene Dreiecksbeziehung war, die das im Raum schwebende Problem verursacht hatte. Was es aber auch sein sollte: Er würde es nicht erfahren, wenn er sich nicht mit Leo darüber unterhielt.

Nick gab das Spiel mit Olean auf und erhob sich aus seinem Sitz. Die schöne Soldatin ließ es sich nicht anmerken, aber dem Leuchten in ihren Augen war anzusehen, dass sie sich über ihren Sieg freute. Digitales Quartokk machte nicht halb so viel Spaß wie das analoge Spiel mit seinen unterschiedlichen Steinen. Aber nach dem „Vorfall“, bei dem beinahe ein Kampf ausgebrochen war, weil sich die Parteien nach einem Ausfall der künstlichen Schwerkraft nicht auf das Rekonstruieren der letzten Züge einigen hatten können, riskierte man keine Neuauflage des Streits.

Bei Leo angekommen, räusperte sich Nick und gab ihm die Zeit, sich ihm zumindest halb zuzudrehen, ehe er das Wort ergriff: „Komm! Hör jetzt auf zu schmollen! Ich verstehe deinen Einwand, aber du musst dich an die Entscheidungen deiner Kommandantin oder deines Zugskommandanten gewöhnen. Solange wir hier an Bord sind, bin ich nicht dein Rivale, sondern dein Vorgesetzter.“

„Das hat überhaupt nichts mit dir zu tun! Nickolan, das war gefährlich! Das war hirnrissig! Es hatte nichts mit irgendeiner Entscheidung zu tun! Das war Nervenkitzel des Nervenkitzels wegen! Und ich weiß, dass ich gehorchen muss! Das habe ich ja auch getan, oder nicht? Obwohl es hirnverbrannt war und hochgradig idiotisch! Du hast dich trotz der Überzahl an Gegnern alleine in die Stadt geschlichen! Und als die Scheiße am Dampfen war, musste ich … obwohl ich bei weitem der beste Schütze auf diesem Raumschiff bin … hier untätig sitzenbleiben, anstatt das Außenteam zu begleiten!“

„Ich brauche keinen Nervenkitzel und ich lege es auch nicht darauf an. Mich alleine anzuschleichen, war die beste Möglichkeit, die Sklavenhändler vielleicht lebend gefangen zu setzen. Auch als ich entdeckt wurde, habe ich noch eine Chance gesehen, zumindest ein paar von ihnen am Leben lassen zu können.“

„Am Leben lassen?“, fragte Leo ungläubig, ehe seine Wut erneut aufflackerte. „Wenn man angegriffen wird, tötet man, oder man wird getötet!“

„Das ist Kriegsdenken. Wir waren heute aber nicht im Krieg.“

„Tu doch nicht so, als ob du anders denken würdest als ich!“

„Doch, das tue ich“, widersprach Nick ruhig. „Oder hätten wir uns auch damals nur selbst schützen sollen und euch im Lager verrecken lassen?“

„Als ob du nicht froh wärst, wenn alles noch so wäre wie davor! Streite nicht ab, dass du es bereust, mich gerettet zu haben!“

„Das bereue ich ganz und gar nicht. Ich bin froh, dass ich dich gerettet habe. Selbst wenn meine Beziehung zu Reesh deswegen zerbrechen sollte, werde ich es nie bereuen. Du musst es mir nicht glauben: Das macht keinen Unterschied. … Aber ich bin froh, dass du lebst.“

Leo schwieg. Was konnte man auf solche Worte auch erwidern? Man konnte nur bedrückt kleinbeigeben oder sich zornig aus der Affäre ziehen. Wie sich herausstellte, wählte sein Gegenüber die zweite Strategie. „Steck dir dein ‚Blaue Felsen‘-Geschwafel sonst wo hin … Zugskommandant!“

Wäre es nicht so traurig gewesen, Nick hätte gelacht. Leos Widerstand ließ zumindest ein Lächeln über seine Lippen huschen. Ihm war ein kratzbürstiges Teammitglied lieber als ein verzweifeltes Opfer. Eine Erinnerung an den Tag ihres ersten Treffens flammte vor seinem inneren Auge auf. Leo war damals mehr tot als lebendig gewesen. Weil er sich dazu entschlossen hatte, ihn zu retten, wollte er ihn nicht aufgeben – auch wenn der Vorwurf nicht von der Hand zu weisen war. Hätte er Leo im Gefangenenlager verrotten lassen, wäre seine Beziehung zu Reesh nicht auf den Prüfstand geraten.

Waren sie eigentlich noch ein Paar?

Nick beschloss, die nächsten Stunden über nichts Bedeutsames nachzudenken. Die vergangenen Tage waren anstrengend und nervenaufreibend gewesen und hätten durchaus seine letzten sein können, wären Eleo und der Rest seines Teams nicht unschlagbar gewesen. Wenn die Scheiße am Dampfen war, wie Leo es so schön genannt hatte, konnte er sich auf seine Leute verlassen.

Olean lächelte ihn an, als er wieder an seinen Platz kam und das E-Board ergriff, um sich erneut an ihrem Spiel zu beteiligen. Natürlich freute sie sich darüber. Je mehr Mitspieler, desto mehr Spaß – und Olean war eine ebenso gute Verliererin wie euphorische Gewinnerin.

„Was hat er gesagt?“, fragte Matthio beim genauen Studieren seines Displays. Es war eindeutig, dass er am Verlieren war. Deswegen hatte er wohl schon die Muße für andere Gedankengänge … Oder wollte er Nick damit aus dem Konzept bringen? „Wurden schon die ersten Friedensschwüre gegeben?“

„Hör auf, mich abzulenken! Du verlierst so oder so.“

„Das ist mir klar. Nein, mich interessiert es einfach.“

Nick erlaubte sich ein Seufzen und schüttelte den Kopf. Die Geste war so gut wie jede andere Antwort. Olean spielte trotzdem unerbittlich weiter. Sie verlor nicht gerne.

„Ach, verdammt! Ich hätte noch eine Chance gehabt!“, rief Matthio plötzlich und schlug sich mit der Linken gegen die Stirn. „Ich habe eine Kombination übersehen!“

„Merk es dir fürs nächste Mal!“

Nick beobachtete Eleo und Lyrn aus den Augenwinkeln. Die Kommandantin stand mit einem Arm an die Decke gehoben neben dem sitzenden Mediziner und hörte sich irgendeine Schilderung an. Der Autopilot manövrierte sie derweilen sicher wie ein Baby im Kinderwagen durch die Unendlichkeit des Alls.

„Nick?“

„Was?“ Er sah zu Olean auf, die ihn mit gerunzelter Stirn anschaute. „Entschuldige! Ich habe einen Moment nicht zugehört.“

„Ob du bei der nächsten Runde noch mitmachen willst.“

Nick betrachtete die digitale Abbildung eines Spieltisches mit den darauf verteilten Steinen. Er hatte nicht wesentlich besser gespielt als Matthio. Es gehörte eben auch etwas Glück dazu.

„Nein, ich lasse es für heute gut sein. Ich muss mir ja noch eine passende Ausrede für den General zurechtlegen.“

„Wirklich?“, fragte der andere Mann in der Runde und grinste ihn unverschämt an. „Dieses Mal probierst du es nicht mit ‚General, bei allem Respekt, aber nicht sofort einzugreifen wäre beschissen gewesen‘? Das erwartet er inzwischen doch schon von dir.“

Nick unterdrückte ein Lachen, als ihm klar wurde, dass er nur seinen Freunden solche Frechheiten erlaubte. Diese durften sich dafür eine Menge herausnehmen. Er liebte sie eben. Das Team war seine Familie.

Das Team und Reesh.

Wie er ihre Beziehungsprobleme kitten sollte, war eine ganz andere Sache. Vielleicht würde er sich nach einer ausgiebigen Generalreinigung doch mit ein paar wesentlichen Fragen auseinandersetzen.

„Wir sehen uns ‚morgen‘ in alter Frische.“

„Schlaf gut!“, erwiderten Matthio und Olean im Chor, ohne von ihren Boards, die schon die neue Runde anzeigten, aufzusehen.

„Morgen“ war im Weltraum ein weit gefächerter Begriff, der nur durch eine Übereinkunft aller Anwesenden definiert werden konnte. Ohne auf einem Planeten zu sein, der sich um sein Gestirn drehte, konnte der Tag lediglich durch Geräte gemessen und eingeteilt werden. Im All hielten sich alle Reisenden ihres Planetenbundes an die interplanetar vereinbarte Zeittabelle von 23 n.K., da man den Heimatplaneten des damaligen Sitzes der Föderation als allgemeingültige Basis jeder Berechnung herangezogen hatte. Nick fiel die Umstellung leichter als anderen, denn er stammte von einem Planeten, dessen Tage und Nächte denen des ursprünglichen Basisplaneten glichen. Olean hatte eigenen Angaben nach damit gekämpft, ehe ihr Körper sich an die längeren Wachzeiten gewöhnt hatte. Lyrn hatte das lapidar mit der Bemerkung bedacht, dass diese Umstellung zumindest einfacher sei, als sich auf kürzere Tage umzustellen.

Was auch immer der Wahrheit entsprach: Um sich ausruhen zu können, musste man sich auch Ruhe gönnen. Nick spürte erst in diesem Moment, wie erschöpft er war. Seine Glieder wurden mit jedem Augenblick schwerer. Deswegen zog er in seinem Quartier angekommen nur den Anzug aus und setzte sich im Tanktop auf seine Pritsche.

„Ich werde zu alt für diesen Scheiß“, murmelte er sich selbst zu, obwohl er sich das niemals eingestanden hätte, wenn es tatsächlich so gewesen wäre. Er liebte, was er tat, und er war gut darin. Das Universum brauchte ihn und er brauchte das Universum. Das hatte Reesh immer verstanden … und er akzeptierte im Gegenzug, dass Reesh Leo brauchte.

Wie die Luft zum Atmen.

Das sachte Klopfen ließ seinen Gedankengang verpuffen. Es war bedeutungslos. Er würde in dieser „Nacht“ ohnehin nicht auf einen grünen Zweig kommen.

„Herein!“

Sein Besucher betätigte das Türfeld und ließ die Metallkonstruktion zur Seite schnellen. „Kann ich kurz mit dir sprechen?“

„Leo!“ Nick schaute ihn überrascht an. Er hatte mit jedem anderen gerechnet, aber nicht mit dem Liebhaber seines Lebensgefährten. „Leo … Kann ich etwas für dich tun?“

„Das kommt darauf an.“ Er war ungewohnt kleinlaut. Das war Nicks ganze Aufmerksamkeit wert. „Vielleicht …“

In seinem Quartier gab es nicht viel Platz. Genau genommen war es für zwei hochgewachsene und muskulöse Männer beinahe zu klein, denn Nick hatte allerhand Andenken darin verstaut, die das ungeschulte Auge für Möbel gehalten hätte. Wieso aber auch nicht? Nick missbrauchte sie ja auch dafür.

„Schließ die Tür und setz dich …“ Nur wo? „… gleich hier auf die Krönungstruhe.“

„Krönungs…truhe?“, fragte sein Besucher verwirrt.

„Ein Geschenk von der Gilde der Kunsthandwerker auf Smar 2. Das Design stammt noch aus der Zeit, als ihr Wanderpapst von einem Reich ins nächste gezogen ist, um die verwaisten Prinzen und Prinzessinnen zu krönen.“ Nick brach mitten in seiner Erzählung ab, obwohl er noch so einiges zu berichten gehabt hätte. Im Gegensatz zu Reesh war sein Gast aber vielleicht an allem anderen mehr interessiert als der Geschichte eines fernen Planeten, den er noch nie betreten hatte. „Es ist ein schönes, aber unpraktisches Geschenk, wenn man es nicht als Bank oder Kasten missbraucht.“

Verwirrt blickte Leo ihn mit seinen strahlenden Augen an. Dann fing er sich wieder und nahm vorsichtig Platz. Es war ihm anzusehen, dass er sich unwohl dabei fühlte. „Also …“

„Sag einfach, was du mir sagen willst! Wir sind unter uns und ich verspreche, dass nicht ein gesagtes Wort diesen Raum verlassen wird, wenn du es nicht willst.“

„Das wäre mir ganz recht.“

„Dann ist es so. Aber nun los! Was kann ich für dich tun?“