Heimkehr bei Nacht - Loida Maritza Pérez - E-Book

Heimkehr bei Nacht E-Book

Loida Maritza Pérez

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Beschreibung

Eine Familie von Einwanderern in Brooklyn: Papito, Vater von vierzehn Kindern, ist Akkordnäher in einem «Sweat Shop». Aurelia, seine Frau, hält zu Hause im Slum mit rigider Moral und nie ermattendem Kampfgeist die Familie zusammen. Doch ihre Kinder kommen in der neuen Heimat viel schlechter zurecht als sie. Rebecca hat einen gewalttätigen Mann geheiratet, Gabriel seinem Bruder die Frau ausgespannt, und die schizophrene Marina versucht ständig, das Haus anzuzünden. Aurelia ist kurz davor, bei den von der Mutter geerbten Voodoo-Künsten Zuflucht zu suchen, denen sie bei der Flucht aus der Dominikanischen Republik abgeschworen hat. Doch nun kehrt Iliana, ihre jüngste Tochter und größte Hoffnung auf eine bessere Zukunft, von der Universität zurück – Stoff für zahllose neue Konflikte. Pérez zeigt eine Familie zwischen den Kulturen, die außer dem Gefängnis der Konvention keinerlei Sicherheit kennt. Die Kraft dieses anrührenden Romans liegt in seiner Wahrhaftigkeit und in seiner Sprache, die klar ist, kraftvoll und erdig.

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Loida Maritza Pérez

Heimkehr bei Nacht

Aus dem Englischen von Ursula Grawe

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Eine Familie von Einwanderern in Brooklyn: Papito, Vater von vierzehn Kindern, ist Akkordnäher in einem «Sweat Shop».

Aurelia, seine Frau, hält zu Hause im Slum mit rigider Moral und nie ermattendem Kampfgeist die Familie zusammen. Doch ihre Kinder kommen in der neuen Heimat viel schlechter zurecht als sie. Rebecca hat einen gewalttätigen Mann geheiratet, Gabriel seinem Bruder die Frau ausgespannt, und die schizophrene Marina versucht ständig, das Haus anzuzünden. Aurelia ist kurz davor, bei den von der Mutter geerbten Voodoo-Künsten Zuflucht zu suchen, denen sie bei der Flucht aus der Dominikanischen Republik abgeschworen hat. Doch nun kehrt Iliana, ihre jüngste Tochter und größte Hoffnung auf eine bessere Zukunft, von der Universität zurück – Stoff für zahllose neue Konflikte.

Pérez zeigt eine Familie zwischen den Kulturen, die außer dem Gefängnis der Konvention keinerlei Sicherheit kennt. Die Kraft dieses anrührenden Romans liegt in seiner Wahrhaftigkeit und in seiner Sprache, die klar ist, kraftvoll und erdig.

Über Loida Maritza Pérez

Loida Maritza Pérez wurde 1963 in der Dominikanischen Republik geboren und lebt heute in New York. «Heimkehr bei Nacht» ist ihr erster Roman.

Inhaltsübersicht

Für meine Eltern – ...PrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33Kapitel 34Kapitel 35Kapitel 36Kapitel 37Kapitel 38Kapitel 39Kapitel 40Danksagung

Für meine Eltern – danke für alles!

 

Natürlich für Bruce

 

Und für Melody, die, wäre ihr die Chance gegeben worden, wild gelebt hätte.

Prolog

Bienvenida riss die Augen auf, als die letzte Strophe des Liedes verklang, das an ihrem Totenbett gesungen werden sollte. Sie fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen und winkte ihre Kinder näher zu sich heran: Isidrio, Digna, Benite, Aurelis, Eliazer, Obidia, Altagracia, Quintino, Rojelio und – ihr Blick schweifte suchend durchs Zimmer – Aurelia. Als man ihr mitteilte, dass ihre jüngste Tochter nicht anwesend war, wandte sie den Kopf zu den Heiligen auf ihrem Nachttisch. Vor Anstrengung legte sich ihr Gesicht in Falten. Stumm bewegten sich die Lippen. Dann ließ sie wie erschöpft den Kopf in die Kissen zurücksinken und schloss die Augen.

In der Provinz Azua schrak Aurelia aus dem Schlaf, zog an der Lampenschnur und sah eine schwarze Katze blitzartig unter der Bettdecke hervorschießen und aus dem Zimmer flüchten. Aurelia sträubten sich die Nackenhaare. Ihr Herz klopfte stürmisch.

In der ländlichen Gegend, in die sie gezogen war, wurden alle neugeborenen schwarzen Katzen bei ihrer Geburt getötet.

Da sie ihren Mann nicht beunruhigen wollte, stand sie auf und ging von Zimmer zu Zimmer, suchte unter den Betten der schlafenden Kinder und in Schränken und Kommoden. Aber die Katze war nirgends zu finden.

Zurück im Schlafzimmer, umgab sie der herbe Duft von frisch gemähtem Gras. Sie schmeckte ihn auf Lippen und Zunge, vertraut wie die Erde, nach der sie sich seit Beginn ihrer Schwangerschaft sehnte. Dabei tauchte ein Bild ihrer Mutter vor ihr auf, die den Garten hinter ihrem Elternhaus umgrub.

«Du bist noch zu jung, um vom Sterben zu sprechen, Mami», hatte sie bei ihrem letzten Besuch gesagt, als sie Bienvenida ins Haus gefolgt war. «Außerdem glaube ich nicht an Geister.» Das als Antwort auf die Behauptung ihrer Mutter, falls eins ihrer Kinder in ihrer Todesstunde nicht anwesend sein sollte, würde sie schon einen Weg finden, ihm Bescheid zu geben.

«Jeder muss sterben», hatte Bienvenida gemurmelt, ohne auf die letzte Bemerkung ihrer Tochter einzugehen, und die Baumwollsocke ausgewrungen, die sie als Kaffeefilter benutzte. «Wenn nicht jetzt, dann später.»

Ein stechender Schmerz durchzuckte Aurelias Körper. Obwohl sie wusste, dass sie locker lassen sollte, hielt sie den Atem an, bis sich der Schmerz gelegt hatte.

«Madre mía, ayúdame», betete sie und stürzte auf das Bett zu.

Die Katze kam ins Zimmer gelaufen, haschte wie wild nach ihrem eigenen Schwanz und stieß dabei gegen Wände und Stühle. Aurelias Gebärmutter zog sich krampfhaft zusammen – nicht, als bewege sich das Kind in ihrem Leib, sondern als schrumpfe die Gebärmutter selbst. Aurelia krallte die Finger ins Bettzeug und versuchte, ihren Mann zu wecken.

«Papito», rief sie durch zusammengebissene Zähne. Die nächste Wehe war so heftig, dass sie sich krümmte. «Papito!»

Kapitel 1

Die gespenstischen Spuren des Wortes NIGGER auf dem Schild an ihrer Zimmertür im Studentenheim, das Iliana beim ersten Mal so schockiert hatte, konnten sie nun nicht mehr erschüttern. Nur noch ein paar Stunden, und sie würde zu Hause sein. Schon atmete sie leichter. Sie schloss die Tür ab und zurrte ihre Koffer auf einer Karre fest, die ihre Eltern ihr überlassen hatten, als sie sie vor anderthalb Jahren zum Busbahnhof in Manhattan gebracht hatten. Sie fasste die Karre am Griff, zog sie den Flur entlang und ließ sie von Stufe zu Stufe die breite Treppe hinunterpoltern. Normalerweise wäre sie rücksichtsvoller gewesen. Aber heute bei ihrem Auszug aus dem Studentenheim, dessen hohe Räume und blasse Gewölbe sie an ein Museum erinnerten, genoss sie es geradezu, ihre Schritte laut durch die morgendliche Stille hallen zu hören.

Als sie ihre Schlüssel im Briefkasten des Hausmeisters hinterlegte, trat sie in die Kälte unter einen grauen, tief hängenden Himmel hinaus. Die Farbe des Himmels war einer der Gründe, warum sie ging. Seine Unerbittlichkeit machte sie fertig. Sie hatte sich diese Universität ausgesucht, weil sie fünf Stunden von New York entfernt lag – zu weit für ihre Eltern, sie so oft zu besuchen wie ihren Bruder in Albany. Zudem galt der Campus als einer der hübschesten Amerikas. Aus den glänzenden Fotografien der umliegenden Seen und Täler hatte sie geschlossen, dass diese Universität der ideale Ort sein würde, den wachsamen Augen ihrer Eltern zu entkommen. Sie hatte nicht geahnt, dass der Himmel, stürzte er nicht gerade in Regen oder Schnee zusammen, immer die gleiche bedrückende Schattierung haben würde.

Außerdem ging sie wegen der Stimme, die sie nachts geweckt und ihr mitgeteilt hatte, was zu Hause vorging. Diese Stimme hatte sie zum ersten Mal vor einigen Monaten gehört, und je nach Inhalt der Mitteilungen war sie oft erst bei Tagesanbruch verstummt. Schließlich hatte Iliana kaum noch geschlafen. Sobald ihr Kopf das Kissen berührte, schlich die gespenstische Stimme in ihr Zimmer. Beim ersten Mal hatte sie die Augen aufgerissen, und ihr Herz hatte dumpf gegen ihre Rippen gehämmert. Hatte ihr Vater sie nicht gewarnt?

«Such dir eine Kirche, mi’ja», hatte er auf Spanisch gesagt – die einzige Sprache, die er und Aurelia beherrschten – und sie beiseite genommen, als sie gerade den Überlandbus besteigen wollte. «Es muss dort eine Kirche geben. Lass dir nicht das Gleiche antun, das deiner Schwester Nereida angetan wurde.»

«Ich werde mich mal melden» war alles, was ihre Mutter gesagt hatte.

Iliana hatte die beiden umarmt und ihnen versichert, dem Glauben treu zu bleiben.

«Sieben Geister», hatte Papito nachdrücklich hinzugefügt. «Sieben böse Geister an deinen Fersen, wenn du Gott untreu werden solltest. Merk dir das!»

In ihrem einzelnen Zimmer, bei dem sie noch froh war, es überhaupt bekommen zu haben, hatte sie sich erinnert. Nicht nur hatte sie den Bus verschlafen, der sie in die Stadt zu den Siebentags-Adventisten bringen sollte, sie war auch in die Bar gegangen und zum ersten Mal in ihrem Leben im Kino gewesen, wo Satan auf Seelenfang ging.

«Heb dich hinfort, Satan», hatte sie der Stimme befohlen, halbherzig auf die Beschwörung vertrauend, mit der sie gelernt hatte, böse Geister zu vertreiben.

«Lass den Unsinn, Iliana María!»

Das war die Stimme ihrer Mutter – gebieterisch und zugleich so verschmitzt, wie sie sich an einem Sabbatmorgen, während der Rest der Familie in der Kirche war, beigebracht hatte, Merengue zu tanzen.

Mit zitternden Händen stolperte Iliana aus dem Bett, um die Nummer ihrer Eltern zu wählen.

«Iliana María?», fragte Aurelia, die das Schweigen ihrer Tochter sofort erkannte.

Iliana schlug den Hörer auf die Gabel.

«Hab keine Angst, mi’ja», sagte die Stimme über die Entfernung hinweg, die Iliana zwischen sich und ihrer Mutter geschaffen hatte. «Den Teufel gibt es, aber ich bin es nicht.»

Iliana lief es kalt den Rücken hinunter. Sie wollte die Stimme zwingen zu verschwinden, aber sie blieb und verfolgte sie wie die Stimme ihrer Mutter zu Hause. Sie sprach vom Besuch ihres Bruders Emanuel aus Seattle, von den beiden Ältesten, Mauricio und Chaco, die mit ihren Familien in die Dominikanische Republik zurückgegangen waren, von dem Traum, der Nereida bewogen hatte, sich nach jahrelanger Abwesenheit von der Kirche zum zweiten Mal taufen zu lassen, von den Blumen in ihrem Brooklyner Hinterhof und von dem Gemüse, das so gut gedieh, dass der Mais Papito über den Kopf gewachsen war.

«Der Herr ist mein Licht und mein Heil. Wen sollte ich fürchten?», deklamierte Iliana, und ihre Kehle war plötzlich so trocken, dass sie kaum mehr als ein Flüstern herausbrachte. «Der Herr ist die Kraft meines Lebens.» Ihre geweiteten Augen durchsuchten den verdunkelten Raum. «Vor wem sollte ich Angst haben?»

Ganz schwach, sodass sie angestrengt hinhören musste, meldete sich die Stimme wieder.

«Verzeih, mi’ja. Ich habe nicht gedacht, dass du dich fürchten würdest. Du weißt ja, wir können nicht so oft miteinander telefonieren. Es ist zu teuer. Dein Vater würde böse sein.»

Während Iliana an ihrem Bett kauerte, sah sie die Ohren ihrer Mutter vor sich. Mit den Ohrlöchern, gestochen in einer vergangenen Zeit, von der sie selten sprach. Die Löcher hatten Iliana als Kind geängstigt und fasziniert. In einer Religion erzogen, die das Durchbohren von Körperteilen als heidnisch verdammte, hatte sie sich vorgestellt, ihre Mutter würde sich in eine tanzende Zauberin verwandeln, sobald die verstopften Ohrlöcher freigelegt würden, nicht nur heimlich am Sabbath, wenn sie zu Hause blieb und so tat, als sei sie krank, sondern ganz frei, alle Lebenskräfte entfesselnd, die Papitos Religion unterdrückt hatte. Dieses Bild wurde ihr jedes Mal deutlich, wenn Aurelia ihre streng um den Kopf gewundenen Zöpfe gelöst hatte. In diesen Augenblicken, ehe die bedrängenden Blicke ihrer Tochter sie zwangen, die üppig wallenden Locken wieder in gefügige Zöpfe zu flechten, hatte Aurelia ihr eigenes Spiegelbild angelächelt und sich von einer alternden Matriarchin in ein junges Mädchen mit baumelnden Ohrringen verwandelt.

Diese Erinnerung rief andere wach, denen Iliana davor keinerlei Bedeutung beigemessen hatte: Aurelia ruhelos vor Sonnenaufgang auf den Beinen, um die ohnehin sauberen Fußböden zu schrubben; Aurelia Bettlaken mit einer Energie auswringend, die jeder Erschöpfung Hohn sprach; und Aurelia Zwiebeln schneidend, wobei ein gefährlich scharfes Messer so schnell auf ihren Daumen zuschwirrte, dass jeder andere dabei einen Finger verloren hätte. Diese unablässige Betriebsamkeit, selbst in Augenblicken, in denen sie sich hätte Ruhe gönnen können, zeigte, wie mühsam sie die Energien beherrschen musste, die aus ihr herausbrechen wollten.

Anfangs hatten die Stimmen Iliana nur sporadisch heimgesucht. Doch als die rassistischen Schmierereien an ihrer Zimmertür auftauchten, nahmen sie zu. Obwohl sie sich das Phänomen nicht erklären konnte, war sie überzeugt, dass es die Stimme ihrer Mutter war. Wenn sie zu Hause anrief, begann Aurelia die Gespräche da, wo die Stimme am Abend zuvor aufgehört hatte. Wenn sie nach Ereignissen gefragt wurde, von denen am Telefon nie die Rede gewesen war, antwortete sie ohne Zögern.

Nach allem, was man Iliana zu glauben beigebracht hatte, konnte aus der Stimme nur das Böse sprechen. Doch ihr Instinkt widersprach dem. In den Nächten, wenn die Heizung in ihrem Raum nur ein wenig Wärme abgab, führte die Stimme sie in eine Dominikanische Republik, wo die Sommertage endlos waren, Wolken in der glühenden Hitze verdampften und sich Palmen entlang der Sandstrände wölbten. Sie sprach von ihrer Geburt unmittelbar nach dem Tod ihrer Großmutter; dass sie ein Junge hätte werden sollen, nachdem man ihr Geschlecht aufgrund von Aurelias spitz zulaufendem Bauch vorhergesagt hatte und alle ihre Geschwister abwechselnd in gleichgeschlechtlichen Paaren geboren worden waren, eine Folge, die nur Iliana unterbrochen hatte; und dass sie, obwohl Mauricio und Chaco, Rebecca und Zoraida, Caleb und Emanuel, Nereida und Asucena, Vicente und Gabriel, Marina und Beatriz jeweils im Abstand von zwei Jahren geboren worden waren, darauf bestanden hatte, erst drei Jahre nach Beatriz und drei Jahre vor dem jüngsten Kind, Tico, auf die Welt zu kommen.

Dort oben in dem Mansardenzimmer der Universität, deren Hügellage Iliana den Rest der Welt vergessen ließ und deren Kurse sie dem Leben, wie sie es gekannt hatte, entfremdeten, sodass sie sich unsichtbar fühlte, versicherte die Stimme sie ihrer Existenz und ihrer Wurzeln. Sie erfuhr, dass beide Eltern seit ihrer Abwesenheit unter alarmierend hohem Blutdruck litten und dass Papito aus Angst vor dem Tod nicht nur seine eigenen, sondern auch die Pillen seiner Frau schluckte, während sie alle Medikamente ablehnte; dass Aurelia nach Rebeccas Berichten über Pasións Misshandlung einen Herzanfall erlitten hatte; dass Marina, um sich die Zukunft voraussagen zu lassen, einen Astrologen aufgesucht hatte, um später zu behaupten, er hätte sie vergewaltigt; dass Beatriz von zu Hause fortgelaufen war und man seitdem nichts mehr von ihr gehört hatte; dass Vicente sein Studium abgebrochen und seine Frau die Sachen gepackt hatte und fortgegangen war; dass Tico kaum noch sein Zimmer verließ; dass Laurie sich angeblich geweigert hatte, während der ersten zwei Jahre ihrer Ehe mit Gabriel zu schlafen, und Gabriel bei einer seiner häufigen, aber kurzlebigen Anwandlungen von religiösem Eifer dem Pastor und anschließend seinem Bruder Caleb seine Affäre mit Linda, Calebs Frau, gebeichtet hatte; dass Caleb seinen Eltern sein Gewehr übergeben hatte, aus Angst, er könnte seinen eigenen Bruder umbringen; und dass Marina einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte.

Es waren eher diese Ereignisse als ihre Enttäuschung über die Universität, die Iliana dazu bewogen hatten, ihr Studium zu unterbrechen.

Sie mied den vereisten Fußweg und überquerte den Rasen. Zerbrechliches Gras knirschte unter ihren Füßen, als sie auf die Gebäudegruppe auf dem Nordcampus zusteuerte. Abgesehen von ein paar anderen Studenten, war der Campus wie ausgestorben. In solchen Augenblicken gefiel er ihr am besten. Sie konnte herumlaufen, ohne sich über ihren Gang zu schämen, der sie seit ihrer Kindheit ärgerte und den sie sich verdammt nochmal hatte abgewöhnen wollen. Aber was sie auch tat, ihre Hüften stießen nach vorn und wiegten sich, als seien sie ausgerenkt. Ihr Freund Ed beschrieb ihren Gang als königlich, ihre Schwestern als nuttenhaft. Und ihnen glaubte Iliana eher. Um selbstbewusst zu wirken, hatte sie sich angewöhnt, mit erhobenem Kopf zu gehen und gerade nach vorn zu starren. Verbunden mit ihrer sonstigen Schüchternheit, galt sie so als arrogante Schlampe. Nicht einmal auf Partys, die von Minderheitenorganisationen veranstaltet wurden, hatte sie jemand zum Tanzen aufgefordert. Und wenn Ed sie begleitete, kam gleich das Gerücht auf, sie würde nur etwas mit Weißen haben.

Hätte Iliana das Gerede nicht so wehgetan, sie hätte darüber gelacht. Denn nicht nur hatte niemand – ob schwarz, weiß, gelb oder rot – sie jemals eingeladen. Ed war außerdem Mexikaner und zog es obendrein vor, mit Männern zu schlafen.

Iliana stieg die Stufen zu Eds Wohnheim hinauf und rief ihn über die Sprechanlage an. Es klingelte endlos, bevor sich sein Mitbewohner meldete.

«Paul, ist Ed da?»

«Verdammte Scheiße! Wie spät ist es?»

«Gleich halb acht. Wir müssen den Bus um acht bekommen.»

Am anderen Ende ließ Paul den Hörer baumeln. «Ed, steh auf. Iliana ist da. Ed, ich sag’s nicht zweimal!»

Minuten vergingen, bevor er ans Telefon zurückkam. «Ich lass dich beim Rausgehen rein», sagte er und legte auf, bevor Iliana antworten konnte.

Sie stampfte mit den Füßen, um sie warm zu halten. Als sie gerade nochmal klingeln wollte, stürzte Paul an ihr vorbei und ließ ihr kaum Zeit, die Tür aufzufangen.

«Ich kann jetzt nicht reden. Ich bin am Schreibtisch eingeschlafen und hab um acht eine Prüfung.»

«Also dann auf Wiedersehen», sagte Iliana.

Er wirbelte herum und kam zurückgelaufen. Mit verlegenem Lächeln nahm er sie in die Arme und küsste sie auf die Wange. «Entschuldige. Das hatte ich ganz vergessen. Du kommst ja nicht wieder, oder?» Er machte sich los und rutschte im Weiterlaufen auf einer vereisten Stelle aus. «Vielleicht überlegst du es dir ja noch», rief er. «Zu Hause zu sein ist nie ein Spaß.»

Iliana sah ihm nach: Seine Gliedmaßen schlenderten ungelenk umher; seine grünen Haare flatterten wie Grasbüschel im Wind. Vor einiger Zeit hatte er sie gebeten, ihm die Haare zu bleichen und blau zu färben. Er hatte darauf bestanden, das Wasserstoffsuperoxyd länger als vorgeschrieben einwirken zu lassen, sodass sich seine Kopfhaut gewellt und sein dunkles Haar sich erst gelb und mit der blauen Farbe dann grün verfärbt hatte.

Sie würde ihn vermissen, wenn er auch verrückt war.

Iliana zog die Karre in das Wohnheim und betrat den wartenden Fahrstuhl. Vom Aufenthaltsraum im dritten Stock sah sie durch den Türspalt, dass Ed noch im Bett lag.

«Scheiße, Ed. Kannst du nicht einmal rechtzeitig aufstehen?»

Er blinzelte sie aus halb geschlossenen Augen an. «Wie spät ist es denn?»

«Da steht eine Uhr direkt neben dir.»

«Oje, was ist denn heute Morgen in dich gefahren?»

«Was wohl? Du! Es ist halb acht, und du liegst noch im Bett!»

«Reg dich ab, ja? Ich bin in ein paar Minuten fertig.»

«Wessen Idee war es denn, den frühen Bus zu nehmen? Wer hat darauf bestanden, dass ich pünktlich bin?»

«Ay, mujer! Ya!»

Der bestimmende Ton ließ Iliana verstummen. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht hatte sie überreagiert. Was machte es schon, dass sie die halbe Nacht mit Packen verbracht hatte und wegen ihm früh aufgestanden war. Wozu musste sie sich so aufspielen, bloß weil er aus Versehen verschlafen hatte.

Sie sah zu, wie er aus dem Bett kletterte. Während er an ihr vorbei in den Waschraum schlenderte, grinste er sie augenzwinkernd an. Das Gönnerhafte daran spürte sie wie Kletten auf der Haut. Da dämmerte es ihr, dass, hätte sie ihn warten lassen, er bestimmt einen Anfall bekommen hätte. Doch er hatte ihre Verstimmung kurzerhand mit seinem «Ay, mujer!» abgetan. Umso schlimmer, da er genau wusste, dass sie diese beiden Wörter hasste, weil sie sie an das «Mira, muchacha!» ihres Vaters erinnerten.

Als wäre es gestern gewesen, erinnerte Iliana sich an eine der wenigen Situationen, in denen sie ihrem Vater getrotzt hatte. Er hatte ihrer Mutter einen Karton Seife gekauft und Iliana stolz ein Stück unter die Nase gehalten.

«Mhmm», hatte sie gesagt und sich geschmeichelt gefühlt, dass er ihr das Geschenk zeigte, bevor er es Aurelia überreichte. «Riecht nach Zimt.»

«Mira, muchacha! Siehst du nicht die Erdbeeren auf der Verpackung?»

Iliana nahm ihm die Seife aus der Hand und roch daran. «Ich weiß, Papi, aber sie riecht nach Zimt.»

Papito riss die Seife wieder an sich und hielt sie sich selbst unter die Nase. «Erdbeeren», wiederholte er. «Eindeutig Erdbeeren.»

«Erdbeeren duften aber nicht.»

«Willst du damit sagen, dass ich mein Geld für Schund rausgeschmissen habe?»

«Vielleicht wurden sie falsch verpackt», sagte Iliana. «Woher solltest du das wissen? Und Zimt ist nicht schlecht.»

Papito hielt ihr die Seife gewaltsam unter die Nase. «Erdbeeren! Dies ist eine Seife mit Erdbeerduft!»

Iliana musste noch einmal an der Seife riechen, an der sie beinahe erstickte. «Für mich riecht sie nach Zimt.»

Ehe sie sich versah, hatte die schwielige Hand ihres Vaters ihr ins Gesicht geschlagen.

«Muchacha de la porra! Gib’s zu! Sie riecht nach Erdbeeren!»

«Zimt», flüsterte Iliana.

«Wonach riecht sie?»

Trotzig machte sich Iliana auf einen weiteren Schlag gefasst. «Zimt!»

Und wieder flog Papitos Handrücken in ihr Gesicht. Entschlossen, nicht zu weinen oder wegzuzucken, blieb Iliana stehen.

«Sie riecht nach Zimt! Wenn du’s nicht wissen willst, wozu fragst du mich dann?»

Ihr Vater machte den Gürtel auf und zog ihn aus den Schlaufen seiner Hose. «Sinvergüenza! Ich werde dir beibringen, mir zu widersprechen!»

«Zimt –», hatte Iliana geschrien, um den ihr entgegenzischenden Gürtel zu übertönen, und ihrem Vater mit der ganzen Verachtung, die sie aufbringen konnte, in die Augen geblickt. «Zimt, Zimt –», hatte sie triumphiert, während ihr die Beine brannten und der Lederriemen, der immer wieder gegen ihre Schenkel schlug, rote Striemen hinterließ. «Sie riecht nach Zimt, nicht nach Erdbeeren!»

Iliana zog den Mantel aus und ließ sich auf Pauls Bett fallen. Nun war sie schon anderthalb Jahre von zu Hause fort, und noch immer lösten bestimmte Worte Selbstzweifel in ihr aus und ließen sie verstummen, noch immer fürchtete sie die Konsequenzen, wenn sie sich zu behaupten versuchte. Ihr Blick schweifte zu den Koffern hinüber, die an der Tür auf sie warteten. Widerstrebend hatte sie beim Packen die Dinge zurückgelassen, die sie sich nicht traute, mit nach Hause zu nehmen: Röcke, die als unanständig gegolten hätten, obwohl sie nur knapp die Knie freiließen, alle flachen Schuhe, außer den matronenhaften Stiefeln, wie ihre Schwestern sagen würden, die sie ohnehin für eine alte Jungfer hielten; Ohr-Clips, die sie heimlich angefangen hatte zu tragen; und alle ihre Bücher, Universitätslektüre und die Bücher, die sie verschlungen hatte, ohne zu fürchten, dass ihr Vater sie wegwerfen würde.

Erst jetzt wurde ihr die Bedeutung des Entschlusses, nach Hause zurückzugehen, klar. Bei allem Pläneschmieden hatte sie eigentlich nur daran gedacht, ihre Familie zu überraschen. Keinen Augenblick hatte sie bedacht, dass sie mit der Rückkehr auch ihre Unabhängigkeit aufgab. Nicht nur musste sie nach den Gesetzen ihres Vaters leben. Zudem musste sie beim Bibelstudium mitmachen, am Sonntag in die Kirche gehen und sich seine Moralpredigten anhören, sobald sie ein Gesicht machte, hinter dem man Auflehnung leise vermuten könnte. Wenn sie sich auch nur irgendetwas zuschulden kommen ließ, würde die Gemeinde aufgerufen werden, für sie zu beten.

Noch jetzt überkamen Iliana Gewissensbisse beim Gedanken an das erste Mal, als man für sie gebetet hatte. Sie war erst sieben gewesen und hatte beschlossen, nicht zur Schule zu gehen. Wohl wissend, dass ihre Mutter ihr auf die Schliche kommen würde, wenn sie erst morgens mit dem Krankspielen begann, hatte sie sich schon während der Nacht stöhnend im Bett gewälzt. Eine ihrer Schwestern hatte der Mutter Bescheid gesagt. Als Iliana ahnungslos auf den Blinddarm gedeutet hatte, um den Schmerz anzuzeigen, hatte Aurelia besorgt Papito geweckt. Die beiden hatten Hand in Hand neben Ilianas Bett gekniet und zu Gott gebetet, dass er seine Hand über sie halten und sie heilen möge.

Am folgenden Morgen hatte Aurelia darauf bestanden, ihre jüngste Tochter zum Arzt zu bringen. Aus Angst, ihre Lüge könnte ans Licht kommen, und beim Gedenken an den schmerzhaften Gürtelriemen ihres Vaters hatte Iliana Fieber bekommen. Als sie in der Praxis ankamen, hatte sie solche Schmerzen und schwitzte so heftig, dass der Doktor nach flüchtiger Untersuchung tatsächlich auf eine Blinddarmentzündung tippte. Da er befürchtete, der Blinddarm könnte platzen, bevor der Krankenwagen eintraf, fuhr er Mutter und Tochter selbst ins Krankenhaus.

Während sie über die Williamsburger Brücke fuhren, verstärkte der Anblick von Manhattan – einer Stadt, die Papito oft mit Sodom und Gomorra verglichen hatte – llianas Angst. Obwohl sie nicht recht begriff, was Papito gemeint hatte, als er sagte, dass Männer auf der Insel mit anderen Männern und Frauen mit Frauen schliefen (sie hatte doch auch mit ihren Schwestern geschlafen!), hatte sie fest geglaubt, dass die Stadt zerstört werden würde. Die Vorstellung, in dieser Hölle gefangen zu sein und mit anderen Sündern zu verbrennen, war so lebendig, dass sie anfing zu weinen.

Mit mehr zu einem Grinsen als zu einem Lächeln gezogenen Lippen drehte sich der Arzt hinterm Steuer nach ihr um. «Du musst tapfer sein», sagte er. «Du bist doch ein großes Mädchen.» Dann fiel er von gebrochenem Spanisch ins Englische, als wollte er ihr ein Geheimnis anvertrauen, das Aurelia nicht hören sollte, und fuhr fort: «Das werden die reinsten Ferien. Du brauchst nicht zur Schule zu gehen. Kannst so viel fernsehen, wie du willst, und sogar im Bett essen. Klingt das nicht verlockend?»

Sein verschwörerischer Ton verriet ihr, dass er sie durchschaute und sich über sie lustig machte. Sie misstraute seinen blauen Augen, die eiskalt, stumpf wie Metall und ohne Tiefe waren, als hätte er keine Seele. Sie sah, wie sein Haar in der schräg durchs Autofenster fallenden Sonne golden schimmerte, und war überzeugt, dass er ein Engel Satans war, der sie in die Hölle mitnehmen sollte.

«Er darf mich nicht mitnehmen», schluchzte sie. «Bitte, Mami, er darf mich nicht mitnehmen. Ich fühl mich schon besser. Es tut auch gar nicht mehr weh.»

«Schscht. Nicht weinen. Es wird alles gut», sagte Aurelia und drückte sanft die Hand, die sie nicht losgelassen hatte, seit sie die strampelnde und schreiende Iliana auf den Rücksitz bugsiert hatten.

Iliana lag vier Tage im Krankenhaus, während Familie und Gemeindemitglieder für ihre Heilung beteten. Ohne Anzeichen einer Blinddarmentzündung finden zu können, entließen die Ärzte sie vier Tage später nach Hause. Davon überzeugt, dass Gott ein Wunder an ihr vollbracht hatte, stiftete Papito der Kirche noch ein Jahr nach ihrer Heilung jeden Samstag Blumen. Obendrein stellte der Pastor sie seitdem ständig als lebendiges Beispiel für Gottes Sorge um diejenigen dar, die in einer verderbten modernen Welt an Ihn glaubten.

Später fragte sich Iliana, warum ihre Lüge niemals entdeckt worden war. Entweder war sie eine hervorragende Schauspielerin, oder ihre Eltern waren entschlossen gewesen, ihr eine unvergessliche Lektion zu erteilen. Das Erste schien ihr wahrscheinlicher. Wenn das Zweite zutraf, hatte sie jedenfalls nicht die beabsichtigte Lehre daraus gezogen. Zwar hatte sie begriffen, was für verhängnisvolle Folgen das Lügen haben konnte, aber noch eher war ihr aufgegangen, dass Respektspersonen wie ihre Eltern, die Ärzte und der Pastor längst nicht so allwissend waren, wie sie geglaubt hatte. Und da ihr Vater im Laufe der Jahre jede seiner Lebensauffassung widersprechende Stimme zum Schweigen gebracht hatte, hatte sie gelernt, allem zuzustimmen und sich ihren Teil zu denken. Nur indem sie von zu Hause fortgegangen war, hatte sie gelegentlich den Mut gefunden, ihre Meinung zu äußern, und fürchtete deshalb, mit ihrer Rückkehr wieder verstummen zu müssen.

«Das hat doch nicht zu lange gedauert, oder?»

Iliana nahm ihn kaum zur Kenntnis.

«Hör mal, ich hab eine Idee», sagte er. «Warum kommst du nicht mit mir, ehe du zu deinen Eltern zurückgehst? Sie erwarten dich sowieso nicht, und ich habe Susans Wohnung den ganzen Monat für mich allein.»

Iliana schüttelte den Kopf.

«Warum nicht? Dann kannst du dich langsam daran gewöhnen, zurück zu sein.»

«Das geht nicht, Ed. Ich könnte einem meiner Brüder oder meiner Schwestern über den Weg laufen.»

«Hast du nicht gesagt, die wohnen alle in Brooklyn?»

«Die meisten ja, aber einige arbeiten in Manhattan, und sie würden sich ihr Teil denken, wenn sie mich mit dir sähen.»

«Ach, komm. Es würde so viel Spaß machen. Wir könnten in die Museen und Galerien gehen und abends durch die Nachtclubs ziehen. Es ist eine riesige Stadt. Wie groß ist da wohl die Chance, dass dir jemand über den Weg läuft?»

Der Ärger über Ed kam wieder hoch. Sie ließ ihn stehen und trat ans Fenster. Er benahm sich, als könne er jeden Augenblick ohne Schuldgefühle oder Angst vor den Folgen genießen. Sie dagegen entriss jedes noch so bescheidene Vergnügen einem immer wachsamen Gott. Jedes Mal, wenn sie der Musik erlaubte, ihren Körper zu wiegen, wenn sie ins Kino ging oder sich auch nur ein Schlückchen Kaffee gönnte, peinigte sie der Gedanke, dass sie ihre Seele für immer aufs Spiel setzte. Es spielte keine Rolle, dass sie längst aufgehört hatte, an Gott zu glauben, oder wenigstens an den Gott, auf dem ihr Vater bestand. Die Möglichkeit einer Verurteilung durch Gott fürchtete sie trotzdem. Jede Nacht, bevor sie in den Schlaf sank, kniete sie widerstrebend neben ihrem Bett nieder, um für ihre Seele zu bitten, falls er wirklich existierte.

«Das verstehst du nicht, Ed. Ich wäre so paranoid, dass ich überhaupt keinen Spaß hätte. Der Gedanke zurückzugehen macht mich ohnehin schon so nervös, dass ich mir bestimmt nicht noch mehr Ärger mache.»

«Du bereust deinen Entschluss doch nicht etwa?»

Iliana starrte mürrisch aus dem Fenster. Sie ließ den Finger über die staubige Fensterbank gleiten und wischte den Staub am Glas ab.

«Is’ was?»

«Ich habe so ein komisches Gefühl, das ist alles.»

«Weswegen?»

«Ach, ich weiß auch nicht. Ich glaube, ich mache mir was vor. Ich meine – mittlerweile hasse ich diesen Ort so sehr, dass ich mir eingeredet habe, ich müsste unbedingt ein Jahr aussetzen und mich um die ganze Scheiße kümmern, die sich zu Hause abspielt. Ich habe mir sogar eingebildet, dass sie mich mit offenen Armen empfangen. Aber das ist wirklich witzig, schon allein wenn man bedenkt, dass wir nie eine große, glückliche Familie waren.»

«Dann bleib hier», sagte Ed trocken.

Iliana drehte sich abrupt zu ihm um. «Zu Hause ist der Teufel los! Und da soll ich verdammt nochmal hier bleiben und so tun, als wäre alles okay?»

Eds ohnehin schmales Gesicht zog sich vor Überraschung noch in die Länge. «Entschuldige. Ich dachte nur –»

Sein zerknirschter Ton beschwichtigte Ilianas Ärger. Mit hängenden Schultern ließ sie sich auf den Boden gleiten und die Tränen strömen, die sie sich vor Jahren aus Verachtung für die Schläge ihres Vaters geschworen hatte, um jeden Preis zu unterdrücken.

«Bist du sicher, dass du nicht bei mir bleiben willst?», fragte Ed und versuchte, sie an sich zu ziehen, wogegen sie sich jedoch mit erhobener Hand wehrte. «Wenigstens für ein paar Tage?»

Iliana wischte sich die Tränen ab, die er gar nicht hatte sehen sollen. «Aufschieben macht die Sache auch nicht leichter.»

Ed sah sie an, ratlos, was er sonst noch sagen oder tun sollte.

«Es geht schon», sagte Iliana leise. «Du weißt, irgendwie geht es immer.»

Kapitel 2

Das Geräusch war so schwach, dass Marina glaubte, sie hätte es sich eingebildet. Aber nein – wenn sie sich auf irgendetwas verlassen konnte, dann auf ihre Sinne. Sie hatte es geübt, sie zu benutzen. Sie ließ sich nackt aus dem Bett gleiten, verließ den Kellerraum und folgte im Dunkeln dem Geräusch die Kellertreppe hinauf. Dann stieß sie die Küchentür auf und trat leise ein. Wieder hörte sie ein Geräusch wie von schurrenden Füßen so deutlich, dass sie sich fragte, warum ihre im Nebenzimmer schlafenden Eltern es nicht gehört hatten. Es bestätigte, was sie seit langem vermutete: Ihre Wachsamkeit ließ nach.

«Sei nüchtern, sei wachsam: Denn der Teufel geht umher und sucht, welchen er verschlinge», ermahnte sie sich, während sie nach dem Lichtschalter tastete.

Was sie sah, als ihre Augen sich an das plötzlich grelle Licht gewöhnt hatten, jagte ihr Schauder über den Rücken. Sie riss ein Handtuch vom Stuhl und schlug damit auf die Wand zwischen der Tür zum Hinterhof und der zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Einige der riesigen schwarzen Spinnen fielen auf den Boden; aber noch mehr quollen unter der Hintertür hervor, um ein Netz weiterzuspinnen, das bereits bis zur Decke reichte. Mit einer für ihren massigen Körper überraschenden Behändigkeit stürzte Marina zum Waschbecken, unter dem ihr Vater Kanister mit Benzin aufbewahrte. Darauf bedacht, sich nicht selbst damit zu bespritzen, übergoss sie die Wand und warf ein brennendes Streichholz hinterher. Die Flammen ergriffen die dunkle Holztäfelung wie Zunder und wanderten im Nu bis zur Decke.

«Dios mío! Das Haus brennt», schrie ihre Mutter.

Marina stürzte zur Tür, die ihr Vater aus einem abgerissenen Gebäude besorgt hatte. Sie schob den Riegel vor, den er extra angebracht hatte, damit seine Frau die Tür von der Küche aus schließen und Essensgerüche vorm Eindringen ins Schlafzimmer hindern konnte, und sperrte die beiden in ihrem Zimmer ein.

Aurelia rüttelte an der Tür. «Papito, wach auf!»

«Keine Sorge. Ich habe alles im Griff», sagte Marina beruhigend, als sie das entsetzte und vom Licht der Flammen verzerrte Gesicht ihrer Mutter hinter dem kleinen Glasfenster in der Tür sah.

«Mach die Tür auf, Marina Elena!», befahl Papito. «Marina Elena!»

Marina aber fachte die Flammen an, damit sie weiter um sich griffen. «Ich glaube, ich habe die meisten umgebracht!», verkündete sie mit vor Erregung bebender Stimme.

Die Faust ihres Vaters schlug durch das Fenster. Seine blutenden Finger tasteten nach dem Riegel. Als die Tür aufflog, warf Marina sich auf ihn und riss ihn zu Boden. Sie hockte rittlings auf seinem Rücken und griff gleichzeitig nach ihrer Mutter. Mit einem Ruck warf Papito sie von sich ab. Seine Frau stürzte an ihm vorbei zum Waschbecken. Sie ließ Töpfe mit Wasser voll laufen und schleuderte es auf die Flammen.

«Seid ihr verrückt geworden?», schrie Marina und versuchte, sich aus dem Griff ihres Vaters zu befreien. «Könnt ihr sie denn nicht sehen? Seid ihr blind?»

Rauch wirbelte durchs Zimmer, als Aurelia Wände, Decke, Möbel und sogar Mann und Tochter, die weiter auf dem Fußboden miteinander rangen, mit Wasser überschüttete. Gabriel und Laurie stürzten ins Zimmer. Im Glauben, seine Schwester habe ihren Vater überfallen, hievte Gabriel Marina von seinem Rücken. Laurie, peinlich berührt vom Anblick der üppigen Brüste ihrer Schwägerin, legte die Hand vor den Mund und lachte.

«Was gibt’s da zu lachen?», keifte Marina sie an.

Aurelia füllte einen letzten Topf mit Wasser und löschte weiter die Flammen. Papito erhob sich schwerfällig vom Boden und schloss sie in die Arme. «Ya, Aurelia. Du hast das Feuer gelöscht.»

Sie machte sich von ihm los und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Ihr Körper zuckte unter dem plötzlichen Adrenalinschub. «Vielleicht haben die Ärzte ja Recht», keuchte sie. «Wir können – wir können nicht ständig ein Auge auf sie haben.»

»Marina hat das Feuer gelegt?», fragte Gabriel ungläubig.

Laurie näherte sich ihm von hinten. «Seht sie doch an. Die ist nicht verrückt. Sie will nur Aufmerksamkeit erregen», sagte sie.

«Du hättest uns umbringen können! Ist dir das klar?», rief Gabriel.

Die Augen seiner Schwester flammten auf wie der Brand, den sie gerade entfacht hatte. «Ihr werdet alle in der Hölle verbrennen! Verbrennen! Und wenn das Böse nochmal in dieses Haus kommt, dann kann es euch meinetwegen alle verschlingen! Besonders dich!», kreischte sie Gabriel an. «Du bist der Schlimmste von allen! Fickst die Frau deines Bruders und tust auch noch fromm!»

«Das reicht, Marina Elena!», warnte sie ihr Vater.

«Glaubt ihr etwa, ich weiß nicht, was für eine Scheiße ihr alle gemacht habt? Ich kann alle eure Sünden aufzählen, eine nach der anderen, und sie jedem von euch direkt ins Gesicht sagen.»

Gabriels linkes Auge, das seit dem Zusammenstoß mit einem verirrten Baseball kleiner war als sein rechtes, wurde zu einem Schlitz. «Die braucht eine anständige Tracht Prügel. Dann wäre sie schnell wieder bei Verstand.»

«Hab ich’s nicht gesagt?», mischte Laurie sich ein. «Die weiß genau, was sie sagt.»

«Und ob ich weiß, was ich sage! Im Gegensatz zu deiner verrückten Familie, der du nur durch die Heirat mit Gabriel entkommen bist, weil dich nämlich sonst keiner haben wollte!»

Lauries grüne Augen weiteten sich. Ihr Gesicht lief hochrot an. Unfähig, dem etwas entgegenzusetzen, sah sie zuerst Gabriel und dann seine Eltern an, als erwartete sie Hilfe von ihnen. Als sich keiner rührte, warf sie so heftig den Kopf zurück, dass sie Gabriel ihr Haar ins Gesicht schleuderte, und stürmte aus dem Zimmer.

«Und dann fragt ihr euch, warum sie nichts mit dieser Familie zu tun haben will», rief Gabriel empört. «Was erwartet ihr denn, wenn sie in diesem Haus nur beleidigt wird, kaum dass sie nach unten kommt?»

Aurelia erhob sich vom Stuhl und richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. Sie war einige Zentimeter kleiner als alle ihre Kinder, aber groß genug, um auch den Ältesten einzuschüchtern. In einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass sie unbedingten Gehorsam erwartete, befahl sie Marina, nach unten zu gehen.

«Ich geh ja schon», sagte Marina mit boshaftem Funkeln in den Augen. «Aber spart es euch, vorm Einschlafen für mich zu beten. Denkt lieber an die eigenen verdammten Seelen und die eurer anderen Kinder.»

Als Marina gegangen war, wandte Aurelia sich an ihren Sohn. «Wie alt bist du?», fragte sie.

«Sechsundzwanzig», erwiderte er, als wäre sein Alter Grund genug, ihn nicht mehr wie ein Kind zu behandeln.

«Und seit wie vielen dieser Jahre kennst du deine Schwester?»

«Vierundzwanzig.»

«Und Laurie?»

«Was?»

«Wie lange kennst du sie schon?», wiederholte Aurelia.

«Was soll der Unsinn?»

«Du kennst sie seit höchstens fünf oder sechs Jahren, stimmt’s? Aber du hast die Nerven, hier in meinem Haus zu stehen und dir von einer Fremden – und es ist mir egal, ob sie deine Frau ist – erzählen zu lassen, wer und was deine Schwester ist. Glaubst du, Marina würde sich schamlos bloßstellen oder sich wie eine Irre benehmen, wenn sie bei Verstand wäre? Glaubst du, sie würde absichtlich versuchen, uns oder sich selbst zu verletzen?»

«Man sollte sie einsperren», entgegnete Gabriel. «Sieh doch nur, was sie getan hat.»

Aurelia blickte Gabriel lange und unverwandt an. Als müsse sie sich mühsam zusammennehmen, um nicht etwas Falsches zu tun, schob sie ihn zur Tür hinaus. «Wenn du selbst Kinder hast, kannst du mir gute Ratschläge geben. Bis dahin gehst du besser nach oben und kümmerst dich um deine Ehe. Da hast du ja deine eigenen Probleme.»

 

Marina erkannte ihn sofort: seine große, schlanke Gestalt, die die Dunkelheit im Zimmer aufsog, sodass sie nur als reglose, tiefschwarze Silhouette neben ihrem Bett zu sehen war. Ihr Instinkt riet ihr davonzulaufen. Doch sie konnte kaum atmen, geschweige denn sich rühren. Und sie wusste, wenn sie schrie, würden ihre Eltern behaupten, sie wäre verrückt, und niemand wäre da. Während sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, verfluchte sie die beiden, weil sie ihre Warnungen nicht beachtet hatten. Sie hatten sie verraten. Sie zweifelten an dem Bösen und hatten es so in ihr Haus geführt. Da stand es nun: die Verkörperung ihrer schlimmsten Ängste. Sie hatte gewusst, es würde kommen. Aber nicht so schnell, nicht ihretwegen, nicht in Gestalt des Mannes, der sie vergewaltigt hatte. Sie erkannte die Umrisse seines Körpers und seinen Geruch – ein Gestank nach verrottendem Gemüse, den sie nicht hatte vergessen können.

Gelähmt vor Furcht sah sie, wie er die Arme hob. Als er nach ihr griff, schwand ihr ganzer Wille, und sie brach am Boden zusammen. Eine Hand presste sich auf ihren Mund. Eine andere hielt sie fest.

«Du willst dein Schicksal erfahren?», hatte er das erste Mal gefragt. «Hier ist es!»

Das kalte Metall seines Reißverschlusses schnitt sich in Marinas Hüfte. Sein Penis fand eine Öffnung. Sie schloss die Augen gegen den brennenden Schmerz und versuchte, ihn abzuschütteln.

«Sie mich an!», schrie er, verstärkte den Druck seiner Schenkel und stieß in sie, dass sie das Gefühl hatte, er würde durch den Mund wieder herauskommen. «Sieh mich an, du scheiß Schlampe!»

Marina fühlte, wie sie zerbrach und ihre Gliedmaßen vor ihrem geschändeten Fleisch zurückschreckten. Sie nahm alle Kraft zusammen, die sie aufbringen konnte, und schlug ihm die Zähne in die Handfläche. Unbeirrt von dem von seiner Hand tropfenden Blut, drang er weiter in sie ein. Der Schmerz war so heftig, dass sie fürchtete, ihre Seele würde den Körper verlassen. Doch die Reserven an Energie, die sie jedes Mal aufgebracht hatte, wenn sie sich die Pulsadern aufgeschnitten oder eine Überdosis Tabletten geschluckt hatte, ließen sie nicht sterben.

Der Mann hielt mit einem Mal still. Als sie zu denken wagte, dass er fertig war, packte er sie an den Hüften und stieß sich noch tiefer in ihren Leib. Vor Ekel drehte sich ihr der Magen. Ihre Gedanken lösten sich auf. Unfähig, sein Gesicht zu sehen, setzte sie seine Züge aus dem Gedächtnis zusammen, um aus ihrem Hass Mut zu ziehen.

Kein plattnasiger, wulstlippiger Nigger würde ihre Seele holen. Kein Wilder mit Glasperlen um den Hals. Sie würde das alles überleben. Sie hatte nichts zu verlieren. Nichts zu fürchten.

Marinas Gedanken verdrängten die Schuld, die sie mit ihrem Besuch bei einem Wahrsager auf sich genommen hatte, wo sie auch geblieben war, als sie gemerkt hatte, dass statt einer Frau mit Turban ein Mann mit steifen, drohenden Dreadlocks vor ihr saß: ein Schwarzer, der ihre Einsamkeit voraussah und ihr den Besuch eines dunklen Fremden angekündigt hatte wie er selbst; ein Seher, der in Wut geraten war, als sie darauf bestanden hatte, dass ein Weißer oder wenigstens ein hellhäutiger Lateinamerikaner wie sie selbst in ihr Leben treten würde.

Ihr Schicksal ließ sich noch abwenden. Sie hatte die Gefahr darin erkannt, sich mit dem Bösen einzulassen und nicht darauf zu vertrauen, dass Gott die Antwort auf ihre Fragen bereit hielt. Sie würde Ihn um Verzeihung bitten und mit unerschütterlichem Glauben weiterleben. Sie würde ihr Leben in Seinen Dienst stellen und das Böse erkennen, wo immer es ihr begegnete. Ihr Körper mochte geschändet sein, aber nicht ihre Seele. Und ihr Körper war nichts als Staub. Er bestand nicht aus dem, was sie war.

Marina öffnete die Augen und durchsuchte das Zimmer. Alles blieb dunkel, sodass sie vom Fußboden aufstand. Als sie ins Bad ging, vermied sie sorgfältig, dass ihre Schenkel sich berührten oder ihre Arme ihren Körper streiften. Hinter der geschlossenen Tür und im grellen Licht einer Neonlampe betrachtete sie sich in einem großen Wandspiegel. Auf ihrer Unterlippe gerann Blut. Ihr Körper war von Schwellungen übersät. Doch sie wusste genau, wenn sie ihren Eltern davon erzählte, würden sie alles für einen bösen Traum halten und behaupten, sie hätte sich, von einem Albtraum gequält, auf die Lippen gebissen und wäre aus dem Bett gefallen. Aber der Beweis für die Folter waren ihr schmerzender Körper und der hartnäckige, faule Geruch. Bei jedem Atemzug versuchte sie mit geweiteten Nasenflügeln der Quelle des Gestanks auf den Grund zu gehen. Von überall her kam der Geruch – aus ihrem Haar, ihrer Haut, ihrem Gaumen, wenn sie mit der Zunge daran stieß – und bestätigte ihr, dass etwas Verfaultes in sie eingepflanzt worden war und der Gestank ihr aus allen Poren drang.

Je länger sie sich betrachtete, desto widerlicher kam sie sich vor. Bisher hatte sie ihr Spiegelbild so manipulieren können, dass sie nur ihre blasse Haut wahrgenommen hatte, die sehr viel heller war als die ihrer Schwestern und kaum dunkler als die von Gabriels Frau. Diese Hautfarbe hatte sie über ihr krauses, schmutzig-rotes Haar, ihre platte Nase und die breiten, wulstigen Lippen hinwegtäuschen können. Jetzt erschienen ihr diese Züge vergröbert und machten ihr klar, dass sie nicht die war, für die sie sich gehalten hatte.

Voller Selbstekel stellte Marina das heiße Wasser in der Dusche an. Als der Wasserdampf ihr Spiegelbild verdeckte, holte sie einen Rasierapparat, eine Dose Reinigungsmittel und ein paar Stahlwolleschwämmchen unter dem Waschbecken hervor und stieg in die Dusche. Selbst in der Kabine verbreitete sich der Gestank, scharf, penetrant, wie von Gemüse, das zu lange an einem dunklen, feuchten Ort gelegen hatte. Um den Geruch loszuwerden und ihren besudelten Körper rein zu waschen, griff sie mit seifigen Fingern in die Falten zwischen ihren Beinen. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb sie den Seifenschaum tief in ihre innersten Wände und rasierte sich Schamhaar und Achselhaare. Die drahtigen Härchen blieben juckend und auch dem heißen Wasserstrahl widerstehend an Schenkeln und Brüsten kleben. Sie musste sie einzeln abziehen. Als ihr Körper unbehaart wie der eines Säuglings war, stellte sie den Duschkopf so ein, dass das heiße Wasser auf sie niederprasselte. Sie bearbeitete ihren Körper mit Stahlwolle, besonders in den Kniekehlen, unter den Armen und in der Armbeuge. Als ihre Haut rot gescheuert war und sie den Schmerz nicht länger ertragen konnte, trat sie aus der Dusche und sprühte sich mit Reinigungsmittel ein.

Kapitel 3

Aurelia beschwichtigte die Vögel, die hartnäckig an ihrem Küchenfenster pickten. Sie öffnete das Fenster gerade so weit, dass sie eine Hand voll gekochten Reis auf den Schnee werfen konnte. Trotz der Kälte ließ sie die Hand eine Weile auf der Fensterbank ruhen und den Wind durch die ausgestreckten Finger streichen, als wollte sie erfühlen, was der Tag bringen würde. Sie war später als sonst aufgewacht. Die Sonne war schon aufgegangen und warf ein trübes graues Licht auf den Hinterhof. Sie konnte die Tauben erkennen, die unter dem Fenster gierig nach Reis pickten, und dahinter die inzwischen verdorrten Blätter der Maisstauden, die ihr Mann im vergangenen Frühjahr gepflanzt hatte. Sie war wütend gewesen, als er die wilden Sonnenblumen herausgerissen hatte und nur die Rosen stehen ließ, die sie sorgfältig am Drahtzaun hochgezogen hatte. Aber inzwischen verstand sie ihn. Als Papito mit bloßen Händen die Erde umgegraben, das Unkraut entfernt und den Samenkörnern beim Wurzelschlagen zugesehen hatte, konnte er die Probleme vergessen, die trotz seiner Umsicht aufgetaucht waren und sein eigenes Leben und das seiner Kinder belasteten. Es spielte keine Rolle, dass der Garten klein und von den Nachbarn einzusehen war oder dass seine Kinder ihn für verrückt erklärten, weil er in einem Brooklyner Hinterhof Gemüse zog. Der Garten hatte für ihn den gleichen Zweck wie für sie das Füttern der Tauben.

Sie kratzte die Reisreste vom Topfboden und streute den Tauben eine letzte Hand voll hin. Wie um ihren Unmut über die verspätete Fütterung zu demonstrieren, hüpfte nicht eine auf die Fensterbank, um ihr aus der Hand zu fressen. Sie ließ den Reis durch die Finger rieseln und schloss das Fenster. Ein paar Tauben starrten sie aus ihren Knopfaugen an, bevor sie sich über die Körner hermachten.

Undankbare, dreiste Vögel. Taten, als wäre es ihre Pflicht, sie zu füttern. Aurelia hatte sich darüber geärgert, dass sie zu abhängig würden und kein Futter fänden, wenn sie einmal starb. Aber die Tatsache, dass sie so genial waren, sie jeden Morgen zu wecken, hatte sie beruhigt. Sie würden sich sehr gut allein durchschlagen können.

Der hartnäckige Brandgeruch drang ihr noch in die Nase, und Aurelia wandte sich vom Fenster ab, um den Schaden in der Küche genauer zu betrachten. Die Wände waren an mehreren Stellen rauchgeschwärzt und verbrannt. An den Fußleisten wölbten sich die versengten Linoleumvierecke wie Pergament. Sie hob einen Fuß und trat auf die Kanten. Als sie zerfielen, presste sie die Asche in den schmutziggrünen Fußboden. Bei dem Anblick wäre sie am liebsten wieder ins Bett gegangen und hätte getan, als wären die Ereignisse der vergangenen Nacht gar nicht passiert. Aber diesen Luxus versagte sie sich. Es gab so viel im Haus zu tun, und sich einzubilden, dass das Leben ihr nur übel genug mitgespielt hatte und sie sich eine Ruhepause gönnen konnte, war nicht ihre Art.

Als ihr Mann das baufällige, abrissreife Gebäude vor fünf Jahren mit den dreihundert Dollar gekauft hatte, die in einer Frauenhandtasche unter dem Bett versteckt waren, wäre Aurelia nicht im Traum auf den Gedanken gekommen, dass eins ihrer Kinder einmal versuchen würde, es in Brand zu stecken. Wo es ihnen doch ein Dach über dem Kopf gewährt hatte. Wo es doch das einzige Haus in ihrer neuen Heimat war, das sie ihr Eigen nennen konnten. Stattdessen hatte sie damit gerechnet, dass alle Familienmitglieder beruhigt sein würden, sich nie wieder wie zuerst in eine enge Dreizimmerwohnung drängen oder sich wie zuletzt vor die Tür setzen lassen zu müssen. Aber Marina hatte ihnen mit der Brandstiftung zu verstehen gegeben, dass ihr das Haus und ihr eigenes Leben, das sie sich schon einmal hatte nehmen wollen, obwohl ihre Eltern alles getan hatten, damit sie es besser hatte als sie selbst, so gut wie gar nichts bedeuteten.

Oft genug hatten Aurelia und Papito erwogen, in die Dominikanische Republik zurückzukehren, waren aber dennoch in den Vereinigten Staaten geblieben, um in der Nähe ihrer verheirateten Kinder zu sein, und weil der Jüngste, der sich kaum an sein Geburtsland erinnerte, ihre Heimat für rückständig und verarmt hielt. Nun fragte sie sich manchmal, ob sie ihre Kinder mit der Auswanderung nicht unabsichtlich dazu verleitet hatten, einem Reichtum nachzujagen, der in Amerika als leicht erreichbares Ziel aller galt. Die Gewissheit, dass Papito und sie ihr Bestes getan hatten, bot ihr wenig Trost. Es hatte zu viel gegeben, worauf sie als Eltern keinen Einfluss gehabt hatten, zu viel, worauf ihre Kinder hatten verzichten müssen.

Als Aurelia die Flammen durch das Fenster der Schlafzimmertür beobachtet hatte, war ihr die staubige Luft bei ihrem Einzug eingefallen. Die durch die zugenagelten Fenster undurchdringliche Dunkelheit, die nur von flackernden Kerzen durchbrochen wurde, das unvergessliche und unverwechselbare Rascheln der Ratten wenige Zentimeter von ihrer Schlafstelle entfernt. Es war weniger die Furcht, bei lebendigem Leib zu verbrennen, als diese Erinnerungen, die sie in Panik versetzt hatten. Fünf Jahre unermüdlicher Arbeit hatten das Haus in ein Zuhause verwandelt. Sie glaubte nicht, die Kraft aufbringen zu können, noch einmal von vorn anzufangen oder andere Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen, nachdem sie und Papito alles in dieses Haus gesteckt hatten, das der Trost ihres Alters und der Anker im Leben ihrer Kinder sein sollte.

Niedergeschlagen nahm Aurelia eine Flasche Milch aus dem Kühlschrank und goss etwas in einen Topf. Während die Milch sich auf kleiner Flamme erhitzte, fuhr sie fort, die Küche zu fegen. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, wäre es ihr so vorgekommen, als bröckelte das Haus langsam über ihrem Kopf zusammen. Egal, wie oft am Tag sie die Küche fegte, jedes Mal wanderte ein Berg Staub von der Größe eines stattlichen Ameisenhaufens in den Mülleimer. Erst am Vortag hatte Papito ihr gesagt, dass die Decke im Schlafzimmer aufgerissen werden müsste, um die Rohre zu ersetzen, durch die es ins Zimmer tropfte, wenn oben die Toilette benutzt wurde. Zum Glück konnte Papito die Reparaturen selbst vornehmen, sonst hätten sie sich den Aufwand gar nicht leisten können.

Die Milch zischte an den Topfwänden und begann zu steigen. Schnell stellte Aurelia das Gas ab und wusch sich die Hände in dem Spülbecken voll Geschirr, das Marina sich geweigert hatte, vorm Zubettgehen abzuwaschen. Dann trocknete sie sich die Hände, bröckelte halbbittere Schokolade in den Topf und rieb Muskat darüber, bis auf der Oberfläche der Milch eine dünne Schicht schwamm.

Sie vermisste das morgendliche Ritual des Kaffeekochens. Vor ihrem Übertritt zu den Siebentags-Adventisten, als sie noch bei ihrer Mutter wohnte, hatten Bienvenida und sie morgens hinterm Haus ein Feuer gemacht. Während die Dämmerung anbrach und die Hähne krähten, hatte Bienvenida Kaffeebohnen geröstet, die Aurelia in einem fest zwischen die Knie geklemmten Mörser zu feinem Pulver gemahlen hatte. Und während das Feuer verglühte, hatten sie dagesessen und Kaffee getrunken, dessen Duft sich mit dem frischen, feuchten Geruch der Morgendämmerung vermischte.

Immer häufiger verlor sich Aurelia in Erinnerungen an die ferne Vergangenheit. Mitten in einem Gespräch oder während der Predigt in der Kirche fielen ihr plötzlich Begebenheiten ein, ein paar hingeworfene Worte, manchmal ein Duft, ein Geschmack, ein Gefühl – und alles so, als erlebte sie es im selben Augenblick. Als wäre das Gebäude verdrängter Erinnerungen schließlich eingestürzt und zwänge sie nun, eine Bestandsaufnahme ihres Lebens zu machen. Während sie ihre Gedanken in die Vergangenheit zurückschweifen ließ, wurde ihr bewusst, dass der Gegenwart etwas fehlte – etwas, was ihre Mutter besessen und ihr vermacht hatte, das ihr aber abhanden gekommen war und das sie deshalb nicht an ihre Kinder weitergegeben hatte. Sie konnte nicht erkennen, was es war, aber seine Abwesenheit quälte sie wie Hungergefühle. Sie war entschlossen herauszufinden, was den Verlust verursacht hatte und wie sie in die gegenwärtige Lage hineingeraten war, damit sie sich in Zukunft zu helfen wusste.

Aurelia romantisierte nicht etwa die Vergangenheit oder glaubte, früher wäre alles besser gewesen. Sie war auch in der Dominikanischen Republik arm gewesen, doch gedieh in ihr eine seelische Stärke, wodurch sie jeden Tag freudig begrüßte, statt sich voll Grauen von ihm abzuwenden. Mit nackten Füßen fest auf vertrautem Boden stehend, hatte sie sich auf ihre Instinkte verlassen können. Doch unter dem Ansturm des Unbekannten hatte sie in einer Welt aus hartem Beton und drohenden Gebäuden eine Verletzbarkeit entwickelt, die nicht einmal das Trujillo-Regime hatte erzeugen können.

Alles war ihr düster und brutal vorgekommen: die Gesichter, die ihr auf den New Yorker Straßen begegneten; der schmutzige, zu Eis verharschte und – wo jemand verletzt worden war – blutbefleckte Schnee; die Nachrichten in den spanischsprachigen Zeitungen, Radio- und Fernsehsendern; das entnervende Geräusch kreischender Autoreifen, dröhnender Hupen, trampelnder Füße über ihrem Kopf. Zu verschreckt, das Haus zu verlassen, und gleichzeitig unter Platzangst in der Dreizimmerwohnung leidend, die sie mit Papito und den Kindern bewohnte, war sie zu einem Skelett von achtzig Pfund abgemagert. Nur die Angst, dass ihre Kinder mutterlos in einem Land zurückbleiben würden, dessen Sprache und Gewohnheiten ihr immer noch fremd waren, hatte sie den vernichtenden Prognosen der Ärzte zum Trotz auf den langsamen Weg der Genesung gebracht. Doch obwohl sie sich wieder erholt hatte, war sie nach neunmonatigem Krankenhausaufenthalt nicht mehr die Alte gewesen. Ihr Selbstvertrauen und ihre Selbstachtung waren verschwunden. Wie konnte sie sich noch selbst trauen, wenn sie sich wissentlich an den Rand des Todes gebracht hatte? Ja, wie konnte sie von ihren Kindern Stärke und Unabhängigkeit erwarten, nachdem sie ihren seelischen Zusammenbruch und ihre zunehmende Abhängigkeit von Papito miterlebt hatten, der nichts tat, als seine Sorgen in die Hände Gottes zu legen?

Verfolgt von diesen Fragen, rührte Aurelia die Milch um, bis die Schokolade geschmolzen war. Dann füllte sie zwei Becher, stellte sie auf den Küchentisch und ging ins Schlafzimmer, um ihren Mann zu wecken. Selbst im Schlaf war seine Stirn gerunzelt, und hinter seinen halbgeöffneten Lidern lagen bange Augen.

«Was? Was ist passiert?», rief er, als Aurelia ihn schüttelte.

«Nichts. Es ist Zeit, dass du zur Arbeit gehst.»

Papitos Blick irrte durchs Zimmer, als fürchtete er etwas Grausames. «Ich fühle mich, als hätte ich gar nicht geschlafen.»

«Das kann gut sein. Du hattest die Augen offen, als ich hereinkam.»

Papito stand auf und ging in das angrenzende Badezimmer. «Das würde mich wirklich nicht wundern», sagte er.

Ein strammer Urinstrahl schoss in die Toilette. Als er fertig war, stand seine Frau an der offenen Badezimmertür. «Ich hatte keine Zeit, Frühstück zu machen, aber ein Becher Kakao wartet in der Küche auf dich.»

«Gut.» Papito drückte Zahnpasta auf seine Zahnbürste. «Ich kann mir auf dem Weg zur Arbeit etwas zu essen besorgen.»

«Ehe ich’s vergesse», fügte Aurelia hinzu. «Leticia hat gestern angerufen. Sie möchte, dass du nach Feierabend wegen der nächsten Zahlung vorbeikommst. Hermana Torres und Hermano Rodríguez sind auch fällig.»

Papito putzte sich die Zähne, nahm Wasser in den Mund und gurgelte laut. «Von denen weiß ich Bescheid», antwortete er und spuckte ins Waschbecken. «Ich will auch noch ein paar andere treffen, von denen der Pastor gesagt hat, sie könnten vielleicht interessiert sein. Wer weiß?» Er zwinkerte seiner Frau neckisch zu. «Vielleicht verkaufe ich ja einen Satz Bibellexika und kann dir einen Mantel aus echtem Kaninchenfell kaufen, so einen, wie der Pastor seiner Frau gekauft hat.»

Zum ersten Mal an diesem Morgen lachte Aurelia. «Wenn ich einen Pelzmantel bekomme, dann aber einen Nerz und kein räudiges altes Karnickelfell.»

Lachend tätschelte Papito Aurelia den Hintern und schob sie ins Schlafzimmer vor sich her. «Erwarte mich heute Abend nackt, dann will ich’s mir überlegen.»

«Na hör mal! Erst redest du von frommen Büchern, und im nächsten Moment denkst du an mich ganz ohne Kleider.»

«Willst du etwa behaupten, dass du mir ohne Hintergedanken ins Bad gefolgt bist?»

«Das könnte dir so passen!»

«Gib’s zu, puchungita. Du bist scharf auf mich.»

Aurelia legte die Arme um ihren Mann und ließ die Finger an seinem Rückgrat entlanggleiten. In der sicheren Erwartung eines Kusses schloss Papito die Augen.

«Da hast du dich geirrt, viejo!», erklärte Aurelia mit einem triumphierenden Lachen und machte sich von ihm los. «Du bist der Grund, warum ich häufiger schwanger war, als ich nachzählen kann.»

Papito tat, als wollte er sie festhalten, besann sich aber und zog die Sachen an, die sie ihm am Abend vorher auf dem Stuhl zurechtgelegt hatte. «Glaubst du, dass sie sich heute zusammennimmt?», fragte er plötzlich, ohne Aurelia anzusehen.

Seine Frau saß auf der Bettkante, um ihm zuzusehen, wie er sich anzog. «Das hängt davon ab, wie lange sie im Bett bleibt. Je weniger sie schläft, desto schlechter scheint es ihr zu gehen.»

«Es tut mir Leid, dass ich dich mit ihr allein lassen muss, wenn sie so ist.»

«Sie ist unsere Tochter, Papito. Wir können es uns nicht leisten, Angst vor ihr zu haben.»

«Als wenn ich das nicht wüsste.»

Aurelia seufzte. «Wenn es dich beruhigt – ich glaube nicht, dass ich heute mit ihr allein zu sein brauche.»

Verdutzt drehte Papito sich zu ihr um. «Was soll das heißen?»

Aurelia lächelte geheimnisvoll. «Dass dich vielleicht eine Überraschung erwartet, wenn du von der Arbeit zurückkommst.»

Ihr Mann zuckte die Achseln, um anzudeuten, dass man nicht von ihm erwarten konnte, das zu verstehen. «Ich trinke jetzt besser mal den Kakao, bevor ich zu spät zur Arbeit komme.»

Kapitel 4

Das Haus sah völlig anders aus, als Iliana es in Erinnerung hatte. Es war jetzt gelb – ein helles Kanarienvogelgelb, das im Gegensatz zu der früheren stumpfen, ziegelroten Backsteinfassade ins Auge sprang. Auch der weiß gestrichene Zaun und das Tor, die zur Eingangstreppe hinführten, waren neu. Iliana, die nichts von diesen Veränderungen wusste, war völlig überrascht. Sie hatte erwartet, ein Trauerhaus vorzufinden und schon beim Näherkommen einen Vorgeschmack von dem zu bekommen, was sie drinnen erwartete. Doch trotz der Nachrichten, die sie erreicht hatten, sah das Haus ihrer Eltern beinahe festlich aus und wirkte gegen die Nachbarhäuser, die grau und gebückt wie Greise dastanden, geradezu neu.

Sie machte das Eingangstor auf und ging die Stufen zur Haustür hinauf. Als sie die Hand nach der Klingel ausstreckte, verdrängte sie ihre Befürchtungen. Dies war ihr Zuhause, sicher und vertraut trotz seines Aussehens. Es gab nichts darin, wovor sie Angst haben musste.

Sie bedauerte, ihre Schlüssel in den Koffer gepackt zu haben, und drückte zögernd die Klingel.

«Wer ist da?», fragte eine Stimme von drinnen.

Iliana zog ihren Kofferkarren näher an die Tür. «Ich bin’s. Iliana.»

Die Tür wurde gerade so weit geöffnet, dass sie ein Gesicht sehen konnte. «Was willst du?», fragte das Gesicht, ohne dass die leblosen Augen ein Zeichen von Erkennen oder Überraschung verrieten.

Iliana starrte wie gelähmt. Sie fing einen Hauch von Marinas Lieblingsparfum auf und versuchte, die Fremde vor ihr mit dem vertrauten Bild ihrer Schwester in Einklang zu bringen. Doch nicht einmal die tiefe, hohl klingende Stimme kam ihr vertraut vor. Marinas Gesicht war wie ein Pfannkuchen aufgedunsen, die Haut über Nasenrücken, Kinn und Stirn straff gespannt, ihre Lippen waren gesprungen und schorfig, die braunen Augen eingesunken und von fast undurchdringlichem Schwarz. Ihre Haut wirkte unrein und fleckig. Das Haar war zu ausgefransten Büscheln verfilzt. Es sah aus, als wollten ihre einzelnen Züge in verschiedene Richtungen zerren, um dem Gesicht zu entfliehen. Der Hals darunter war fest und gedrungen, sodass trotz Marinas Gewichtszunahme nicht der Eindruck von überschüssigem Fett, sondern von bis zum Zerreißen gespannter Haut entstand.

Bemüht, sich den Schock nicht anmerken zu lassen, zwang Iliana ein Lächeln auf ihre Lippen. «Willst du mich nicht reinlassen?»

Ihre Schwester starrte sie feindselig an.

«Wer ist denn da?», rief ihre Mutter aus dem Innern des Hauses.

Plötzlich wurde Iliana die Tür vor der Nase zugeschlagen. Reglos stand sie davor. Das Lächeln zitterte ihr auf den Lippen, während sie nicht wahrhaben wollte, was gerade passiert war. Natürlich war sie zu Hause willkommen. Jeden Augenblick würde ihre Schwester die Tür weit öffnen und laut über ihren gelungenen Streich lachen.

«Also liegst du doch nicht im Sterben.» Aurelia riss die Tür auf und zog ihre jüngste Tochter an sich.

Iliana klammerte sich an sie wie an einen Rettungsring. «Natürlich nicht. Was ist das denn für eine Begrüßung?»

»Du bist mir den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gegangen, mi’ja. Und wenn ich sonst an Leute denke, die weit weg sind, dann liegen sie entweder in den letzten Zügen oder kommen zu Besuch. Aber mein Herz hat mir gesagt, dass du nach Hause kommst.»

«Titi!»

Mehrere Arme rissen Iliana von ihrer Mutter los.

«Wo bist du denn die ganze Zeit gewesen?», fragte Esperanza in vorwurfsvollem Ton.

«Du hast uns nicht ein einziges Mal besucht!», rief Rubén gleichzeitig.

Lachend umarmte Iliana ihren Neffen und ihre Nichte. «Was soll das denn heißen? Keine Küsse? Nur Vorwürfe?»

«Iiiih! Dein Gesicht ist ganz kalt!»

«Ich weiß. Ein Glück, dass eure Oma mich hereingelassen hat.»

«Bleibst du jetzt hier?»

«Wenn ihr mich lasst.»

Die Kinder stießen ein Freudengeheul aus. «Ja! Dann können wir bei dir und Oma bleiben!»

«Das lasst nicht eure Mutter hören», sagte Aurelia, zog das Gepäck ihrer Tochter ins Haus und schloss die Tür hinter sich. «Ich glaube nicht, dass sie darüber sehr glücklich wäre.»