Heimlich - James Ellroy - E-Book

Heimlich E-Book

James Ellroy

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Beschreibung

Frauen und Golf - am liebsten frönt der jungen Streifenpolizist Fred Underhill beiden Leidenschaften zugleich. Bis ein brutaler Frauenmörder seine blutige Spur durch Los Angeles zieht, und Underhill die Chance seines Lebens wittert: Er will nach oben, und zwar um jeden Preis. "Ellroy ist ein amerikanisches Phänomen, eine Kultgestalt zwischen Thomas Pynchon und Jeff Koons." Die Zeit "Ellroy ist der wohl wahnsinnigste unter den lebenden Dichtern und Triebtätern der amerikanischen Literatur." Süddeutsche Zeitung "Er schreibt die blutigsten Krimis Amerikas." Zeit-Magazin "Anarchisch kaputt, sexbesessen und mit einem unheimlichen Gespür für alles Pathologische, Zerstörerische ... Aus seinen Büchern weht der Wind des Bösen." Bücherjournal "Ellroy ist der wichtigste zeitgenössische Kriminalautor... seine Romane beginnen da, wo die Recherchen der Polizei nicht mehr weiterführen, und wenn sie enden, sind die Morde zwar geklärt, aber nichts wird dadurch besser." Der Spiegel "Einer der größten amerikanischen Autoren aller Zeiten." L.A. Times

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Heimlich

Der Autor

JAMES ELLROY, Jahrgang 1948, begann seine Schriftstellerkarriere 1981 mit Browns Grabgesang. Mit Die Schwarze Dahlie gelang ihm der internationale Durchbruch. Unter anderem wurde Ellroy fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet, zahlreiche Bücher wurden verfilmt, darunter L.A. Confidential.

Das Buch

»Ellroy schneidet in die amerikanische Kultur wie eine Kettensäge« Time 

Los Angeles, 1951. Frauen und Golf – für den jungen Streifenpolizisten Fred Underhill gibt es fast nichts Schöneres. Bis auf seinen Job, in dem er die Straßen der Pazifikmetropole von Alkoholikern, Junkies, Gaunern und Dieben säubert und daraus einen beinahe metaphysischen Kick zieht. Als dann ein brutaler Frauenmörder seine blutige Spur in der kalifornischen Metropole hinterlässt, wittert der ehrgeizige Underhill die Chance seines Lebens: Er will nach oben, und zwar um jeden Preis.

James Ellroy

Heimlich

Roman

Aus dem Amerikanischen von Wolfgang Determann

Ullstein

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Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Februar 2022© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2022© 2000 für die deutsche Ausgabe by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München© 1986 für die deutsche Ausgabe by Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M. – Berlin© 1982 by James EllroyTitel der amerikanischen Originalausgabe: Clandestine (Alfred A. Knopf, New York)Umschlaggestaltung: zero-media.net, München Titelabbildung: gettyimages / © Leonardo Cendamo / KontributorAutorenfoto: © Marion EttlingerE-Book powered by pepyrusISBN 978-3-8437-2591-0

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Inhalt

Titelei

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

 

PROLOG

I DIE LETZTE SAISON

1

2

3

4

5

II TOD DURCH ERWÜRGEN

6

7

8

9

10

11

12

13

14

III DIE ZEITLOSE ZEIT

15

16

IV DAS VERBRECHEN AN MARCELLA

17

18

V WISCONSIN-WELSCH

19

20

21

22

VI SPIEL UMS LEBEN

23

24

25

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

PROLOG

Widmung

FürPenny Nagler

PROLOG

Während des dunklen, kalten Winters 1951 arbeitete ich auf Streife in Wilshire, spielte viel Golf und suchte für die eine oder andere Nacht die Gesellschaft einsamer Frauen.

Die Nostalgie betrügt die Unwissenden – sie flößt ihnen Sehnsucht nach einer Schlichtheit und Unschuld ein, die sie nie erreichen können. Die Fünfzigerjahre waren keineswegs unschuldiger. Die dunklen Mächte, die heute unser Leben beherrschen, gab es damals auch, nur waren sie schwerer auszumachen. Deshalb war ich Cop, deshalb stieg ich den Frauen nach. Golf war lediglich ein Reservat der Reinheit, etwas, das ich außerordentlich gut beherrschte. Ich konnte einen Golfball fast dreihundert Meter weit schlagen. Golf war atemberaubende Sauberkeit und Schlichtheit.

Mein Streifenkollege war Wacky Walker. Er war seit fünf Jahren mein Seniorpartner, obwohl er genauso lange in der Abteilung war wie ich. Wir stießen das erste Mal im Mannschaftsraum des Wilshire-Reviers aufeinander; jeder von uns trug eine Golftasche. Wir grinsten einander breit an und verstanden uns augenblicklich – und vollständig.

Für Wacky galt: Gedichte, Wunder und Golf; für mich galt: Frauen, Wunder und Golf. »Wunder«, das war für uns beide dasselbe: der Job, die Straßen, die Leute und das wandelbare Ethos, das wir hatten. Wir, die wir täglich mit Betrunkenen, Junkies, Strichern, Schwanzwedlern, Nutten, Kiffern, Einbrechern und dem namenlosen, einsamen Abfall der menschlichen Gesellschaft zu tun hatten. Wir wurden die besten Freunde und später Partner während der Tagschicht.

Die Tagschicht leitete Lieutenant William Beckworth, ein Golfnarr – und ein hoffnungsloser Ballschläger. Als er hörte, dass mein Handicap null war, versetzte er mich in die Tagschicht, und im Gegenzug gab ich ihm Unterricht. Es war ein fairer Tausch, aber Beckworth war unbelehrbar. Ich konnte den Lieutenant um den kleinen Finger wickeln. Samstagmorgens, wenn ich mit Volldampf in Country Clubs und auf öffentlichen Plätzen golfte, spielte er sogar den Caddy für mich. Also war es leicht, Wacky von der Nachtschicht loszueisen und ihn auf die Tagstreife zu schicken, mit mir als Partner. Was uns noch enger verband.

Herbert Lawton Walker war zweiunddreißig Jahre alt, vom Tod besessen und Alkoholiker. Er war ein echter Held – im Zweiten Weltkrieg hatte er die Tapferkeitsmedaille des Kongresses erhalten. Sie war ihm verliehen worden, weil er auf Saipan zwei MG-Nester voller Japse weggeputzt hatte. Er hätte jeden Job kriegen können, den er wollte. Als er in Kriegsanleihen reiste, überschütteten ihn Versicherungsgesellschaften mit Angeboten, aber er entschied sich für das Los Angeles Police Department, eine blaue Uniform, eine Knarre und das Wunder.

Für einen Suffkopp wie ihn wurde die Vorstellung vom Wunder natürlich irgendwie von der Menge des konsumierten Alkohols bestimmt. Ich war sein Wachhund, der ihm morgens den Sprit vorenthielt und sein Quantum kontrollierte, bis unsere Tour endete und wir auf die Wache zurückkamen.

Früh am Abend, bevor ich mich auf die Suche nach Frauen machte, pflegten Wacky und ich in seiner Wohnung ein paar zu kippen und über das Wunder zu reden oder den Krieg, den ich gemieden und in dem er sich einen Namen gemacht hatte. Wacky war überzeugt, dass ihn das Töten der fünfzehn Japse auf Saipan zu einem Wundersüchtigen gemacht hätte und dass der Schlüssel zum Wunder im Tod läge. Ich widersprach. Wir stritten. Ich sagte, das Leben wäre gut. Wir waren uns einig. »Wir sind eingeschworene Beschützer des Lebens«, sagte ich. »Aber der Schlüssel liegt im Tod«, sagte er. »Verstehst du das nicht? Solltest du je töten müssen, wirst du’s wissen.« Wir kamen immer bis zu diesem Patt. Dann brachte Wacky mich gewöhnlich zur Tür, schüttelte mir herzlich die Hand und zog sich in sein Wohnzimmer zurück, um zu trinken und Gedichte zu schreiben. Mich, Frederick Upton Underhill, sechsundzwanzig Jahre alt, ein zu groß geratener Cop mit Bürstenschnitt, ließ er auf dem Treppenabsatz stehen und über Nacht und Neon nachsinnen. Und darüber, was ich mit dem anfangen sollte, was ich später die letzte Saison meiner Jugend nennen würde.

Jene Zeit sollte ein Ritus des Übergangs werden, bestehend aus Fehlstarts und Trugschlüssen. Ich würde in der Liebe versagen und sie tausendmal verfluchen; ich würde den Annehmlichkeiten des Lebens hinterherhecheln und ein letztes Aufwallen nackter Gewalt spüren. Ich würde schließlich töten – und Wackys These letztlich widerlegen. Denn selbst mit dem Blut des Helden an meinen Händen und dem Lorbeerkranz zu meinen Füßen würde das Wunder in seinem letzten Stadium nicht mehr auf mich einwirken als das starre Licht einer Leuchtbake, umtobt vom Meer in seinem ständigen Wechsel zwischen Tod und Selbsterneuerung.

Es war jenes Meer, das mich packte und mich viele Jahre später wieder freigab. Wenn man allen Verbindungen im Eddie-Engels-Fall zeitlich vorwärts und rückwärts nachgeht, wird man keinen Anfang und kein Ende finden. Als mich mein gieriger Ehrgeiz 1951 in ein furchtbares Labyrinth von Tod, Schande und Verrat hineinzog, war das nur mein Anfang. Und als die Sache 1955 endlich entwirrt wurde, war mir klar, dass meine Bereitwilligkeit, mich mit einer Horde von der Hölle gelenkter Leute einzulassen und an ihrem einem heimlichen Übergang geweihten Leben teilzunehmen, das Wunder war – und genauso meine letztliche Erlösung.

I DIE LETZTE SAISON

1

Wacky und ich waren seit drei Monaten zusammen, als Night Train in unser Leben trat. Der Wachhabende erzählte uns von ihm, als wir in unseren schwarz-weißen 48er Ford einstiegen, der vor der Wilshire-Wache geparkt war.

»Walker. Underhill. Kommt mal kurz rüber«, rief er uns zu. Wir gingen zu ihm. Er hieß Gately; er war unrasiert und lächelte. »Der Lieutenant hat was Tolles für euch. Ihr Golfspieler habt immer Glück. Mögt ihr Hunde? Ich hasse Hunde. Da iss ’n Hund, der kleine Kinder terrorisiert. Er klaut ihnen ihr Mittagessen. Drüben in der Grundschule Ecke Orange Drive und Olympic Boulevard. Ein böser alter Mülleimer-Hund. Gehörte früher einem Penner. Der Hausmeister der Schule hat ihn geschnappt. Sagt, er würde ihn umbringen oder ihm die Eier abschneiden. Die Kerle vom Städtischen Tieramt ham was gegen das Gequieke, die denken, der Hausmeister ist verrückt. Ihr zwei bringt den alten Köter ins Tierheim. Erschießt ihn ja nicht, da sind lauter kleine Kinder. Könnten sich erschrecken. Ihr Golf-Kerle habt immer Glück.«

Wacky lenkte den Schwarz-Weißen auf den Pico Boulevard; er lachte und redete in Versen, was er manchmal tat, wenn der Kaffee den Restalkohol der letzten Nacht reaktivierte.

»Verbleiche denn, du edles Biest, das, was wir tun, uns nie verdrießt, o edler Hund, bald unser Fund, auf Zwingers Grund schlägt dir die Stund!«

Ich lachte, während Wacky weitermachte und dem Straßenpflaster seine Verse einhämmerte. Der Hausmeister war ein dicker Japaner um die fünfzig. Wacky schaute ihn an und wackelte dabei mit den Augenbrauen, was das Eis brach und ihm einen Lacher einbrachte. Er führte uns zu dem Hund, der in einem transportablen Baustellenklo eingeschlossen war. Als wir näher kamen, konnte ich hören, wie sich aus dem dünnwandigen Gebilde ein durchdringendes Jaulen erhob. Auf das verabredete Zeichen von Wacky trat ich ein Loch in die Seite der Toilette und schob unser Mittagessen hinein – zwei Schinken-Käse-Sandwiches, ein Sardinen-Sandwich, ein Roggenbrot mit Roastbeef und zwei Äpfel. Wütendes Kauen war zu hören. Ich riss die Tür auf, erhaschte einen flüchtigen Blick von einer dunklen, haarigen Gestalt mit glitzernden, scharfen Zähnen und verpasste ihr eine mit voller Kraft direkt aufs Maul. Sie brach zusammen und spuckte dabei etwas Schinken-Sandwich aus. Wacky zog den Hund nach draußen.

Er war ein gut aussehender schwarzer Labrador – aber sehr dick. Er hatte ein riesiges Gehänge, das beim Gehen über den Boden schleifen musste. Wacky war in ihn verliebt. »Oooh, Freddy, schau dir das arme Baby an. Oooh.« Er hob den bewusstlosen Hund auf und wiegte ihn in seinen Armen. »Oooh, Onkel Wacky und Onkel Freddy bringen dich aufs Revier und finden ein nettes Zuhause für dich. Oooh.«

Der Hausmeister beäugte uns misstrauisch. »Ihr töten Hund?«, fragte er, wobei er einen Finger quer über die Kehle zog und Wacky nachschaute, der seinen neu gefundenen Freund liebevoll zum Streifenwagen trug.

Ich stieg auf der Fahrerseite ein. »Wir können diesen Köter nicht mit auf die Wache nehmen«, sagte ich.

»Blödsinn. Wir verstecken ihn im Umkleideraum. Wenn wir freihaben, nehme ich ihn mit nach Hause. Dieser Hund wird mein Caddy sein. Ich werde ihm ein Geschirr anlegen, sodass er meine Tasche ziehen kann.«

»Beckworth wird dir in den Arsch treten.«

»Beckworth kann mich am Arsch lecken. Kümmer du dich um Beckworth.«

Der Hund wachte auf, als wir auf den Parkplatz des Reviers einbogen. Er fing wütend an zu bellen. Ich drehte mich auf meinem Sitz um, um ihm noch eine zu verpassen, aber Wacky hielt meinen Arm zurück. »Oooh«, sagte er zu dem Biest, »oooh, oooh!« Und der Hund war ruhig.

Ich führte den Hund durch den Hintereingang in den Umkleideraum. Wacky lief rasch zu der Würstchenbude neben Sears und kam mit sechs Cheeseburgern zurück. Ich tätschelte den Hund gerade vor meinem Spind, als Wacky zurückkam und den schmierigen Fraß vor mir auf den Boden fallen ließ. Der Hund grub seine Zähne rein, und Wacky und ich schlossen die Tür ab und gingen wieder auf Streife. So begann die Odyssee von Night Train, wie der Hund heißen sollte.

Als wir in jener Nacht von unserer Tour zurückkehrten, hörten wir vom Umkleideraum her Reuben Ramos’ Saxofon heulen. Reuben ist ein Motorrad-Polizist, der durch die Arbeit beim Sittendezernat auf der 77th Avenue zu seiner Liebe zum Jazz gefunden hatte. Da filzte er regelmäßig die Bebop-Kneipen auf der Central Avenue, auf der Suche nach Nutten, Buchmachern und Drogensüchtigen. Er brachte sich das Saxofonspielen selbst nach Gehör bei – hauptsächlich Heulen und schräge Töne, aber manchmal fährt er auf eine einfache Melodie wie »Green Dolphin Street« ab. Heute Abend heizte er richtig ein – das Leitthema von »Night Train« immer und immer wieder.

Als Wacky und ich den Umkleideraum betraten, trauten wir unseren Augen nicht. Reuben hatte kurze Jockey-Hosen an, verrenkte sich fürchterlich und stieß dabei die wilden ersten Noten von »Night Train« aus, während der dicke schwarze Labrador sich rücklings auf dem Betonboden wälzte, jaulte und einen gewaltigen Urinstrahl hoch in die Luft schoss. Scharen von Polizisten kamen rein und gingen angeekelt gleich wieder hinaus. Reuben war der Sache müde und ging nach Hause zu Frau und Kindern. Übrig blieb Wacky, der irgendwas von dem »Genius« des Hundes herumbrüllte.

Wacky gab dem Hund den Namen »Night Train« und nahm ihn mit zu sich nach Hause. Wochenlang spielte er dem Hund Platten mit Saxofonmusik vor und fütterte ihn mit Steaks, alles in der fruchtlosen Hoffnung, aus ihm einen Caddy zu machen. Schließlich gab Wacky auf, stellte fest, dass Night Train ein Freigeist war, und ließ ihn laufen. Wir dachten, das wäre das Letzte gewesen, was wir von dem Viech sahen – aber wir irrten. Er sollte in der Geschichte des Los Angeles Police Department einen legendären Status erhalten.

Zwei Tage nach seiner Freilassung erschien Night Train wieder auf der Wilshire-Wache mit einer toten Katze in seinen Fängen. Der Wachhabende jagte ihn raus und warf die Katze in einen Abfalleimer. Am nächsten Tag erschien Night Train mit einer weiteren toten Katze. Dieses Mal wurde er – mit der Katze im Maul – wieder hinausgejagt. An diesem Tag kehrte er mit derselben Katze wieder, die noch etwas mitgenommener aussah. Er kam rechtzeitig zurück, denn Wacky und ich hatten gerade Dienstschluss. Als Night Train Wacky sah, ließ er vor lauter Freude die bös zugerichtete Katze, seine Liebesgabe, fallen, lief in Wackys ausgestreckte Arme und pisste ihm über die ganze Uniform. Wacky trug Night Train in mein Auto und schloss ihn ein. Und Wacky war sauer auf Lieutenant Beckworth. Beckworth hätte ihm zwei Kisten Cutty Sark mit 75 Prozent Nachlass aus einem Hehlernest mitbringen sollen, aber er hatte sein Versprechen nicht gehalten.

Wacky wollte sich rächen, also holte er sich die zerfetzte, tote Katze und brachte mit einer Stecknadel einen Zettel an ihrem Fell an. Auf dem Zettel stand: »Das ist die einzige Muschi, die du je kriegen wirst, du schäbiger Schwanzlutscher!« Dann legte er die Katze dem Lieutenant auf den Schreibtisch.

Beckworth fand sie am nächsten Morgen und drehte durch. Er ließ einen richtigen Steckbrief für den Hund anschlagen. Er musste nicht weit suchen. Night Train wurde da entdeckt, wohin er in der Nacht zuvor gebracht worden war – auf dem Rücksitz meines Wagens. Mit mir konnte Beckworth sich nicht anlegen, weil er wusste, dass ich seine Golfstunden abbrechen könnte, aber Night Train konnte er todsicher in die Scheiße tauchen. Er ließ den Hund verhaften und in die Ausnüchterungszelle bringen. Das war genau das Falsche. Night Train griff drei Penner an und brachte sie beinahe um. Als der Wärter von ihren Schreien aufgeschreckt wurde und reinstürmte, um die Zellentür zu öffnen, rannte Night Train an ihm vorbei durch die Tür des Wilshire-Reviers, über den Pico Boulevard bis nach Hause in Wackys Wohnung. Dort lebten die beiden dann – hörten Saxofonmusik und lebten glücklich bis ans Ende der letzten Saison meiner Jugend.

Eine Woche nach dem Zwischenfall mit der Katze war Beckworth noch immer sauer.

Wir waren auf dem Übungsplatz in Rancho-Park, wo ich – erfolglos – versuchte, seinen fürchterlichen Slice zu verbessern. Auf der Tagschicht arbeiten zu dürfen kostete einen hohen Preis.

»Scheiße. Verdammte Scheiße. O Gott«, murmelte Beckworth vor sich hin. »Zeig’s mir noch mal, Freddy.«

Ich schnappte mir sein 3er Eisen und schickte einen Sanften auf die Reise. Zweihundert Meter. Direkt. »Schultern nach hinten, Lieutenant. Füße mehr zusammen. Langen Sie nicht nach dem Ball, gehn Sie ihm entgegen.«

Er beherrschte es perfekt. So lange, bis er seinen Schläger schwang. Dann machte er alles so, wie ich es ihm nicht gesagt hatte, und gurkte den Ball ungefähr zehn Meter weit.

»Sachte, Lieutenant. Probieren Sie’s noch mal.«

»Gottverdammt, Freddy, ich kann heute nicht denken. Golf ist neunzig Prozent Konzentration. Ich hab die Form eines Spitzenathleten, aber ich kann mich nicht aufs Spiel konzentrieren.«

Ich ging darauf ein: »Was hält Sie davon ab, Lieutenant?«

»Kleinigkeiten. Unwichtiges. Dieser beschissene Partner von dir – kommt mir merkwürdig vor. Kriegsauszeichnung, okay. Gute Noten auf der Polizeischule, okay. Aber er sieht nicht aus oder benimmt sich nicht wie ein Cop. Er deklamiert Gedichte beim Appell. Ich glaube, er ist ein Homo.«

»Wacky doch nicht, Lieutenant. Er liebt die Weiber.«

»Das glaub ich nicht.«

Ich spielte auf die unter dem Siegel der Verschwiegenheit wohl bekannte Vorliebe des Lieutenants für Negermösen an. Alle Bullen von der 77. Straße kannten ihn als Stammgast in Minnie Roberts’ Casbah – dem elegantesten Negerpuff im Süden der Stadt.

»Nun, Lieutenant«, sagte ich flüsternd, »er liebt Weiber, aber es müssen ganz spezielle Weiber sein – wenn Sie mir folgen können.«

Beckworth war angenehm erregt. Er lächelte, was er selten tat, und enthüllte dabei die beiden Zahnstümpfe in den Ecken seines Mundes. »Ich kann dir folgen, Freddy-Boy.«

Ich schaute mich nach allen Seiten um, als wollte ich mich gegen Lauscher absichern. »Koreanerinnen, Lieutenant. Von denen kann er nicht genug kriegen. Er redet nur nicht gern darüber, weil wir da drüben Krieg führen. Wacky schielt ständig nach Schlitzaugen. Ecke Slauson Avenue und Hoover Boulevard ist ein Katzenstall, das auf die spezialisiert ist. Gleich neben der Absteige mit all den farbigen Mädchen – wie heißt sie noch mal? – Minnie’s Casbah. Wacky geht also in diesen Japsen-Salon. Manchmal hockt er in seinem Auto und schüttet sich ein paar hinter die Binde, bevor er reingeht. Er erzählte mir, er hätte schon jede Menge hoher Tiere vom Department in die Casbah reingehen sehen, die auf der Suche nach schwarzen Mösen waren, aber er will mir nicht sagen, wer. Wacky ist ein anständiger Kerl. Im Gegensatz zu vielen Streifen-Cops hasst er die hohen Tiere nicht.«

Beckworth war bleich geworden, aber er hatte sich schnell wieder gefangen. »Okay, vielleicht ist er nicht schwul, aber er ist und bleibt ein Scheißkerl. Dieser Schweinehund. Ich musste mein ganzes Büro desinfizieren lassen. Ich bin ein sensibler Mann, Freddy, und ich hatte Albträume wegen der toten Katze. Und sag ja nicht. Walker hätte es nicht getan – ich weiß es.«

»Streit ich ja gar nicht ab, Lieutenant. Er hat’s getan. Aber Sie müssen seine Gründe verstehen.«

»Was für Gründe? Er hasst mich. Das ist sein Grund.«

»Sie irren sich, Lieutenant. Wacky respektiert Sie. Er beneidet Sie sogar.«

»Respekt! Neid! Was zum Teufel redest du da?«

»Tatsache. Wacky beneidet Sie um Ihr Golf-Talent. Hat er mir gesagt. »

»Bist du verrückt? Ich bin ein Hacker. Und er hat ein niedriges Handicap.«

»Wollen Sie wissen, was er gesagt hat, Lieutenant? Er hat gesagt: ›Beckworth hat alle Bewegungen drauf. Nur wegen seiner Konzentration ist sein Spiel total im Arsch. Nur deswegen bringt er’s nicht zusammen. Ihm geht eine Menge im Kopf rum. Er ist ein guter Cop. Ich bin froh, dass ich nur ein blöder Straßenbulle bin. Wenigstens bleib ich unter achtzig. Der Lieutenant ist zu gewissenhaft, deshalb ist sein Spiel total im Arsch. Wenn er nicht so ein guter Cop wäre, würde er ohne Vorgabe spielen.‹ Das hat er gesagt.«

Ich wartete eine Weile, bis sich alles gesetzt hatte. Beckworth glühte förmlich. Er legte das misshandelte 4er Eisen weg und lächelte mich glückselig an. »Sag Walker, er soll mal zu mir kommen, Freddy. Sag ihm, ich hätte feinen Scotch für ihn. Korea-Mösen, guter Gott! Du glaubst doch nicht, dass er ein Roter ist, Freddy?«

»Wacky Walker? Stabsfeldwebel der US-Marineinfanterie? Sie sollten sich auf die Zunge beißen, Lieutenant!«

»Du hast recht, Freddy. Das war meiner nicht würdig. Gehn wir. Ich hab genug für heute.«

Ich fuhr Beckworth zurück zu seinem Wagen und dann heim in meine Wohnung in Santa Monica. Ich duschte und zog mich um. Dann steckte ich die 38er-Stupsnase, die ich in meiner Freizeit trug, in ein kleines Hüftholster und befestigte es neben der Wirbelsäule am Gürtel – für den Fall, dass ich tanzen ging und es mich überkommen sollte. Dann stieg ich in meinen Wagen und machte mich auf die Suche nach Frauen.

Ich beschloss, dem roten Straßenbahnwagen zu folgen. Er fuhr von Long Beach bis nach Hollywood hoch. Es war Freitagabend. An Wochenendabenden fuhren immer Scharen von Mädchen mit dieser Bahn, auf der Suche nach Vergnügen auf dem Sunset Boulevard, das sie sich wahrscheinlich gar nicht leisten konnten. Der rote Wagen lief leicht erhöht auf einem Gleis in der Mitte der Straße, sodass man die Fahrgäste kaum sehen konnte. Am besten war’s, man fuhr Seite an Seite und beobachtete die Mädchen beim Einsteigen.

Die Mädchen aus Los Angeles waren mir am liebsten, sie waren einsamer und individueller als die Mädchen aus den »Vororten«, deshalb schnappte ich mir den roten Wagen Ecke Jefferson Boulevard und LaBrea Avenue. Fünf Minuten der Spannung wollte ich vor der Goldgrube am Wilshire Boulevard verstreichen lassen: Ganze Schwärme von Verkäuferinnen bei Ohrbach und der May Company und Sekretärinnen von den Versicherungsgesellschaften, die die belebteste Straße von Los Angeles säumten. Ich hielt meinen 47er Buick mit Stoffverdeck und Gewehr-kimmen-Verzierung auf der Haube haarscharf auf gleicher Höhe mit dem Straßenbahnwagen und beobachtete gespannt das Einsteigen der Fahrgäste.

Der Aufmarsch am Wilshire Boulevard war vorhersehbar: ältere Herrschaften, Schüler und Schülerinnen, einige junge Pärchen. An der Haltestelle sprang ein Haufen Kichermädchen auf, sie drückten und schoben ausgelassen. Es war kalt draußen. Ihre Körper waren von Mänteln verdeckt. Das machte freilich nichts – der Geist ist wichtiger denn das Fleisch. Sie stiegen schnell ein, daher konnte ich keine Gesichter erkennen. Das war ungünstig für mich. Wenn sie an der Fountain oder am Sunset Boulevard in Scharen ausstiegen, müsste ich schnell einparken und ihnen nachjagen, ohne dass ich Zeit hätte, mir einen passenden Spruch für eine spezielle Frau auszudenken.

Aber heute Abend war das egal, denn kurz vor der Melrose Avenue sah ich sie, wie sie aus einem chinesischen Restaurant rannte, ihre Handtasche flog an den Riemen. Einen kurzen Augenblick lang war sie vom Neon-Schein des Gordon-Theaters umrahmt: ein Mädchen von ungewöhnlichem Aussehen, als Typ nicht definierbar, eher durch eine Intensität des Gefühls. Sie schien auf eine gequälte, eingeschüchterte Weise nervös zu sein und gleichsam die Nacht von Los Angeles aufzureißen. Sie war stilvoll gekleidet, aber ohne Rücksicht auf Mode: ausgebeulte Männerhosen mit Aufschlag, Sandalen und eine Eisenhower-Jacke. Männerkleidung, aber ihre Züge waren weich und feminin, und ihr Haar war lang.

Mit Mühe erreichte sie den Wagen und sprang mit einem kleinen Antilopen-Hüpfer an Bord. Ihr Ziel war mir nicht klar, sie hatte zu viel drauf, um nur auf dem Sunset Strip dabei zu sein. Vielleicht wollte sie in eine Buchhandlung auf dem Hollywood Boulevard oder zu einem Rendezvous, bei dem ich außen vor bliebe. Ich sollte mich irren: Sie stieg an der Fountain aus und lief nach Norden.

Ich parkte rasch, klemmte ein Schild mit dem Aufdruck »Polizei« unter den Scheibenwischer und folgte ihr zu Fuß. An der DeLongpre bog sie nach Osten, in eine ruhige Wohnstraße am Rande des Geschäftsviertels von Hollywood ab. Wenn dies ihr Heimweg war, hätte ich heute Abend kein Glück gehabt – meine Methoden erforderten eine belebte Straße oder einen bevölkerten Platz, und das Beste, was ich erwarten konnte, war eine Adresse als Anhaltspunkt. Einen halben Straßenblock weiter oben konnte ich jedoch zwei Polizeiwagen erkennen, die quer über die Straße geparkt waren und ihre Rotlichter anhatten: möglicherweise der Schauplatz eines Verbrechens.

Das Mädchen bemerkte das, zögerte und lief zurück in meine Richtung. Sie hatte Angst vor Cops, und das weckte mein Interesse. Dank dieser Angst entschloss ich mich, alles zu riskieren, und fing sie ab, als sie an mir vorbeiging. »’tschuldigung, Miss«, sagte ich und zeigte ihr meine Marke. »Ich bin Polizeibeamter, und dies ist ganz offiziell der Schauplatz eines Verbrechens. Bitte lassen Sie sich von mir in Sicherheit bringen.«

Die Frau nickte verängstigt, und ihr Gesicht wurde einen kurzen Moment lang bleich und leer. Sie sah ganz entzückend aus und zeigte jene Verbindung von Stärke und Verletzlichkeit, die die Grundlage meiner Liebe und meines Respekts für Frauen ist. »Okay«, sagte sie, und mit einem dünnen Hauch von Verachtung fügte sie »Officer« hinzu. Wir gingen zurück Richtung LaBrea Avenue, ohne uns anzuschauen.

»Wie heißen Sie?«, fragte ich.

»Sarah Kefalvian.«

»Wo wohnen Sie, Miss Kefalvian?«

»Nicht weit von hier. Aber ich wollte gar nicht nach Hause. Ich wollte zum Boulevard.«

»Welche Ecke denn?«

»Zu einer Kunstausstellung. Nähe Las Palmas.«

»Ich bring Sie hin.«

»Nein. Lieber nicht.«

Sie hielt ihre Augen abgewandt, aber als wir zur LaBrea kamen, schaute sie mich so temperamentvoll-trotzig an, dass mir ein Schauer den Rücken hinunterlief. »Sie mögen wohl keine Cops, nicht wahr, Miss Kefalvian?«, sagte ich.

»Nein. Sie verletzen Leute.«

»Wir helfen den Leuten mehr, als dass wir sie verletzen.«

»Das glaub ich nicht. Vielen Dank für die Begleitung. Gute Nacht.«

Sarah Kefalvian wandte sich von mir ab und bewegte sich mit flottem Schritt Richtung Boulevard. So konnte ich sie nicht gehen lassen. Ich holte sie ein und packte sie am Arm. Sie riss ihn weg. »Schaun Sie«, sagte ich, »ich bin kein Durchschnitts-Bulle. Ich hab mich vorm Kriegsdienst gedrückt. Ich weiß, dass in der Buchhandlung auf Las Palmas eine Picasso-Ausstellung ist. Ich bin scharf auf Kultur, und ich brauche jemand, der mir was beibringt.« Ich schenkte Sarah Kefalvian mein zerknittertes Lächeln, das mich zum schüchternen Siebzehnjährigen machte. Sie fing an, weich zu werden, ganz langsam. Sie lächelte. Ich fasste nach: »Bitte!«

»Haben Sie sich wirklich vorm Krieg gedrückt?«

»Gewissermaßen.«

»Ich gehe mit Ihnen in die Ausstellung, wenn Sie mich nicht anfassen oder irgendjemand erzählen, dass Sie Polizist sind.«

»Abgemacht.«

Wir liefen zurück zu meinem falsch geparkten Wagen, ich frohgemut, Sarah Kefalvian widerwillig interessiert.

Die Ausstellung war in der Buchhandlung von Stanley Rose, einem langjährigen Treffpunkt der Intellektuellen-Szene von Los Angeles. Sarah Kefalvian ging immer ein bisschen vor mir und gab ehrfürchtige Kommentare zum Besten. Die Bilder waren Drucke, keine Gemälde, aber das beunruhigte sie nicht. Offensichtlich schien sie an der Idee eines Rendezvous langsam Gefallen zu finden. Ich sagte ihr, mein Name wäre Joe Thornhill. Vor »Guernica« hielten wir inne, dem einzigen Bild, das zu kommentieren ich mich traute.

»Das ist ein tolles Bild«, sagte ich. »Als Kind habe ich einen Haufen Fotos von der Stadt gesehen. Das bringt mir alles in Erinnerung. Besonders die Kuh, aus der der Speer herausragt. Krieg muss schlimm sein.«

»Er ist das Grausamste, Schrecklichste, was es auf Erden gibt, Joe«, sagte Sarah Kefalvian. »Ich will mein Leben dafür einsetzen, ihn zu beenden.«

»Wie?«

»Indem ich die Worte großer Männer verbreite, die den Krieg gesehen haben und was er anrichtet.«

»Sind Sie gegen den Krieg in Korea?«

»Ja. Gegen alle Kriege.«

»Wollen Sie nicht den Kommunismus aufhalten?«

»Tyrannei kann man nur mit Liebe aufhalten, nicht mit Krieg.«

Das interessierte mich. Sarahs Augen wurden feucht. »Lassen Sie uns irgendwohin gehen und reden. Ich lade Sie zum Essen ein. Wir tauschen unsere Lebensgeschichten aus. Was halten Sie davon?« Ich wackelte mit den Augenbrauen wie Wacky Walker.

Sarah Kefalvian lächelte, lachte, und das verwandelte sie. »Ich habe schon gegessen, aber ich komme mit, wenn Sie mir erzählen, warum Sie sich vor dem Kriegsdienst gedrückt haben.«

»Abgemacht.« Als wir die Buchhandlung verließen, fasste ich sie am Arm und lenkte sie. Sie wand sich, leistete aber keinen Widerstand. Wir steuerten zu einer Itaker-Kneipe Ecke Sunset und Normandie. Auf dem Weg dorthin erfuhr ich, dass Sarah vierundzwanzig war, ein Geschichtsstudium an der University of California in Los Angeles absolviert hatte und die Tochter armenischer Einwanderer war. Ihre Großeltern waren von den Türken ermordet worden, und die Horrorgeschichten, die ihre Eltern ihr über das Leben in Armenien erzählt hatten, hatten ihr Leben geprägt: Sie wollte dem Krieg ein Ende setzen, die Atombombe verbieten, die Rassendiskriminierung beenden und den Wohlstand umverteilen. Sie gab mir ein bisschen nach, indem sie sagte, ihrer Meinung nach wären Polypen notwendig, aber statt mit Pistolen sollten sie mit einer humanistischen Bildung und hohen Idealen ausgestattet sein. Sie fing an, mich zu mögen, deshalb brachte ich es nicht übers Herz, ihr zu sagen, sie wäre bekloppt. Ich fing auch an, sie zu mögen, und mein Blut kochte förmlich bei dem Gedanken an das Liebesspiel, das uns bevorstand.

Ich schätzte ihre Aufrichtigkeit und fand, dass nur Offenheit einen Tauschhandel wert sei. Ich beschloss, sie nicht zu verscheißern: Vielleicht würde unsere Begegnung sie etwas realistischer machen.

Das Lokal war eine billige italienische Kneipe, ein reiner Familienbetrieb, an der Wand die verblassten Urlaubsplakate von Rom, Neapel, Parma und Capri, durchsetzt mit leeren Chianti-Flaschen, die an einer künstlichen Weinlaube hingen. Ich verzichtete auf den Fraß und bestellte einen großen Krug Chianti. Wir prosteten uns zu.

»Auf das Ende aller Kriege«, sagte ich.

»Glauben Sie das wirklich?«

»Sicher. Bloß weil ich keine Plakate rumtrage oder großen Wind darum mache, heißt das noch lange nicht, dass ich ihn nicht hasse.«

»Erzählen Sie mir, warum Sie gekniffen haben«, sagte Sarah sanft.

Ich leerte mein Glas und goss mir noch eins ein. Sarah trank ihres schlückchenweise.

»Ich bin Waise. Ich wuchs in einem Waisenhaus in Hollywood auf. Es war widerlich. Es war katholisch und wurde von ein paar sadistischen Nonnen geleitet. Das Essen war zum Kotzen. Während der Depression aßen wir nur Kartoffeln, wässrigen Gemüseeintopf, Milchpulver gab’s, und Fleisch vielleicht einmal die Woche. Die Kinder waren alle mager und anämisch und hatten eine unreine Haut. Für mich war’s nicht gut genug. Ich konnte es nicht essen. Es machte mich so wütend, dass meine Haut schmerzte. Sie schickten uns in eine katholische Schule drüben auf der Western Avenue. Da gab’s das gleiche Spülwasser zum Mittagessen. Als ich ungefähr acht Jahre alt war, wusste ich, dass ich meinen Anspruch auf Männlichkeit verwirkt hätte, würde ich weiter diesen Abfall essen. Also fing ich an zu stehlen. Ich schlug in jedem Supermarkt in Hollywood zu. Ich stahl Sardinenbüchsen, Käse, Obst, Kekse, Kuchen, Milch – einfach alles. An den Wochenenden wurden die älteren Kinder bei wohlhabenden katholischen Familien untergebracht, damit sie ein bisschen vom guten Leben abbekämen. Ich wurde regelmäßig zu so einer Familie nach Beverly Hills geschickt. Die waren steinreich. Sie hatten einen Sohn, ungefähr in meinem Alter. Er war ein wilder Bursche und ein ausgezeichneter Ladendieb. Seine Spezialität waren Steaks. Wir taten uns zusammen und schlugen in jeder Metzgerei im Westen der Stadt zu. Er war dick wie ein Schwein. Er konnte nicht aufhören zu essen. Ein richtiges Michelin-Männchen.

Während der Depression gab es so ’ne Art beweglichen Penner-Dschungel im Griffith Park. Die Cops machten regelmäßig Razzien und jagten die Penner davon, aber die kamen an einer anderen Stelle wieder zusammen. Ein Priester vom Kolleg ›Zum Unbefleckten Herzen‹ erzählte mir davon. Ich machte mich auf, sie zu suchen. Ich war ein neugieriger, einsamer Junge und dachte, Penner zu sein wäre romantisch. Ich brachte eine Riesenmenge Steaks mit. Damit war ich der Star. Ich war groß genug, dass sich keiner mit mir anlegte. Ich hörte mir die Geschichten an, die die alten Penner erzählten – Räuber und Gendarm, Eisenbahnen und Pinkerton-Männer, Dunkelheit. Merkwürdige Dinge, von denen die meisten Leute keinen Schimmer hatten. Perversionen. Unaussprechliche Dinge. Ich wollte diese Dinge wissen – aber in sicherer Distanz bleiben.

Eines Nachts brieten wir gerade Steaks und tranken Whiskey, den ich gestohlen hatte, als die Cops den Dschungel filzten. Ich machte mich aus dem Staub und entging ihnen. Ich konnte hören, wie die Cops die Penner raustrieben. Sie waren hart, aber nahmen das Ganze mit Humor; und ich wusste, dass wenn ich Polizist würde, könnte ich die Dunkelheit haben und zugleich einen Schutz vor Strafe. Ich würde wissen, jedoch sicher sein.

Dann kam der Krieg. Ich war siebzehn, als Pearl Harbor bombardiert wurde. Und wieder wusste ich, wenn auch diesmal auf andere Weise. Ich wusste, wenn ich in diesem Krieg kämpfte, würde ich sterben. Ich wusste auch, dass ich da ehrenvoll rausmusste, um sicher bei der Polizei unterzukommen.

Meine Eltern hab ich nie gekannt. Meine ersten Adoptiveltern gaben mir meinen Namen, bevor sie mich ins Waisenhaus steckten. Ich dachte mir einen Plan aus. Ich studierte die Musterungsgesetze und fand heraus, dass der einzige überlebende Sohn eines Mannes, der in einem Krieg außerhalb des Landes getötet wurde, nicht einberufen werden kann. Ich wusste auch, dass ichein geplatztes Trommelfell hatte, was ein möglicher Hinderungsgrund war, aber ich wollte auf Nummer sicher gehen. Also versuchte ich 1942, mich direkt nach dem Abschluss der Oberschule freiwillig zu melden. Das mit dem Trommelfell kam raus, und sie lehnten mich ab.

Dann fand ich eine alte Stadtstreicherin, eine abgehalfterte Schauspielerin. Sie ging mit mir zur Berufungsverhandlung bei der Musterungsbehörde. Sie tobte und schrie, dass sie mich brauchte, dass ich arbeitete und für sie mitverdiente. Sie sagte, ihr Ehemann, mein Vater, wäre 1926 im China-Feldzug gefallen, deswegen wäre ich ins Waisenhaus gekommen. Sie hatte ihre Sternstunde. Ich gab ihr fünfzig Dollar. Die Musterungsbehörde glaubte ihr und sagte mir, ich solle ja nicht wieder versuchen, mich zu melden. Ich probierte es gelegentlich noch ein paarmal, aber die blieben hart. Sie bewunderten meinen Patriotismus – aber Gesetz war Gesetz, und ironischerweise hat das geplatzte Trommelfell mich nie davon abhalten können, Cop zu werden.«

Sarah liebte meine Geschichte und seufzte, als ich fertig war. Ich liebte sie auch. Ich hatte sie aufgehoben für die eine besondere Frau, eine, die sie schätzen würde. Abgesehen von Wacky war sie der einzige Mensch, der diesen Abschnitt meines Lebens kannte.

Sie legte ihre Hand auf meine. Ich führte sie an die Lippen und küsste sie. Sarah sah nachdenklich und traurig aus. »Hast du gefunden, was du suchst?«, fragte sie.

»Ja«, sagte ich.

»Gehst du mit mir an dem Penner-Dschungel vorbei? Heute Abend?«

»Dann lass uns gleich gehen. Die sperren die Straße durch den Park um zehn Uhr ab.«

Es war eine kalte und sehr klare Nacht. Der Januar ist der kälteste, schönste Monat in Los Angeles. Die Farben der Stadt sind von kalter Luft durchdrungen, verselbstständigen sich und spiegeln eine Ahnung von Wärme und Ruhe wider.

Wir fuhren die Vermont Avenue hinauf und parkten bei der Sternwarte. Händchen haltend gingen wir den Berg hinauf in Richtung Norden. Wir unterhielten uns ganz ungezwungen, und ich brachte die eher angenehmen, pittoresken Seiten der Polizeiarbeit ins Gespräch: die freundlichen Säufer, die farbenprächtigen Jazzmusiker in ihren grell gestreiften Anzügen, die verloren gegangenen kleinen Hunde, die Wacky und ich ihren jungen Besitzern zurückbrachten. Ich erzählte ihr nichts von den Vergewaltigungen, den missbrauchten Kindern, den Unfalltoten oder den mutmaßlichen Schwerverbrechern, die regelmäßig in den Hinterzimmern des Wilshire-Reviers durchgewalkt wurden. Das brauchte sie nicht zu hören. Idealisten wie Sarah glaubten trotz ihrer Naivität, dass die Welt im Grunde beschissen sei. Ich musste ihren Wirklichkeitssinn ein wenig mit heiteren und spannenden Geschichten einnebeln. Sie würde keineswegs akzeptieren, dass die Dunkelheit ein Teil des Vergnügens ist. Ich musste sie einnebeln, wie es in Hollywood üblich ist.

Ich zeigte ihr den alten Dschungel. Ich war seit 1938 nicht mehr da gewesen, dreizehn Jahre. Jetzt war es nur eine Lichtung, von Unkraut überwuchert und mit leeren Weinflaschen übersät.

»Hier fing alles für dich an?«, fragte Sarah.

»Ja.«

»Die Zeit und dieser Ort machen mir Angst.«

»Mir auch. Heute ist der 30. Januar 1951. Heute und nie wieder.«

»Das erschreckt mich.«

»Hab keine Angst. Das ist bloß das Wunder. Es ist sehr dunkel hier. Hast du Angst vor der Dunkelheit?«

Sarah Kefalvian hob ihren schönen Kopf und lachte im Mondlicht. Ein großes, herzhaftes Gelächter, ihrer armenischen Vorfahren würdig. »Tut mir leid, Joe. Nur, dass wir hier so melancholisch und in Symbolen reden, das ist irgendwie komisch.«

»Dann nehmen wir uns jetzt beim Wort. Ich habe dir vertraut. Du vertraust mir. Erzähl mir was von dir. Etwas Dunkles und Geheimnisvolles, das du noch niemandem erzählt hast.«

Sie dachte darüber nach und sprach: »Es wird dich schockieren. Ich mag dich und möchte dich nicht verletzen.«

»Du kannst mich nicht schockieren. Ich bin immun gegen Schock. Erzähl’s mir.«

»Okay. Als ich noch in San Francisco studierte, hatte ich ein Verhältnis – mit einem verheirateten Mann. Das endete. Ich war verletzt und fing an, Männer zu hassen. Ich wechselte auf die Universität in Berkeley. Ich hatte eine Dozentin. Sie war sehr schön. Sie interessierte sich für mich. Wir wurden ein Paar und machten Sachen – sexuelle Sachen, die die meisten Leute nicht mal erahnen können. Diese Frau mochte auch Knaben. Junge Knaben. Sie verführte ihren zwölfjährigen Neffen. Den teilten wir uns.«

Sarah wich zurück, als fürchtete sie sich vor einem Schlag.

»Ist es das?«, fragte ich.

»Ja«, erwiderte sie.

»Das ist alles?«

»Ja! Ich möchte nicht zu anschaulich werden. Ich liebte diese Frau. Sie hat mir in einer schwierigen Zeit geholfen. Ist das nicht finster genug für dich?«

Ihre Wut und ihre Empörung hatten einen Höhepunkt erreicht und mir warme Wellen durch den Körper gejagt. »Genug jetzt. Komm her, Sarah.« Sie kam und wir umarmten uns, ihren Kopf hart gegen meine Schulter gepresst. Als wir uns lösten, schaute sie zu mir auf. Sie lächelte, und ihre Backen waren feucht von Tränen. Ich wischte sie mit den Daumen weg. »Ich bring dich nach Hause«, sagte ich.

Wir zogen uns wortlos in dem dunklen Vorzimmer von Sarah Kefalvians Garagen-Wohnung in der Sycamore Street aus. Sarah zitterte und atmete flach in dem kalten Raum, und als wir nackt waren, drückte ich sie fest an meinen Körper, um ihr Zucken zu dämpfen. Dann hob ich sie auf den Arm und trug sie dahin, wo das Schlafzimmer sein musste.

Es gab kein Bett; nur eine mit Steppdecken überzogene Matratze auf einer Pritsche. Ich setzte Sarah ab und mich auf den Rand der Matratze, wobei meine langen Beine heillos eingeklemmt wurden. Der Lichtstrahl einer Straßenlaterne warf einen diffusen Schein über den Raum und ließ mich Regale erkennen, die vor Büchern überquollen, und Wände, die mit Picasso-Drucken und Gewerkschaftsplakaten aus der Zeit der Depression geschmückt waren.

Sarah schaute zu mir auf, ihre Hand lag auf meinem Knie. Ich strich ihr übers Haar, beugte mich vor und gab ihr kurze, trockene Küsse auf Hals und Schultern. Sie seufzte. Ich sagte ihr, sie wäre sehr schön, und sie kicherte. Ich suchte Unvollkommenheiten an ihr, diese kleinen Macken am Körper, die Bände sprechen. Ich fand sie: einen kleinen dunklen Haarwuchs oberhalb ihrer Brustwarzen, eine Ansammlung von Akne auf ihrem rechten Schulterblatt. Ich küsste diese Stellen, bis Sarah meinen Kopf packte und meinen Mund zu ihrem zog.

Wir küssten uns heftig und lange, dann öffnete sie sich und wölbte sich auf, um mich zu empfangen. Wir vereinigten und paarten uns ungestüm, kräftig, die Muskeln angespannt in unserem Bemühen, zusammenzubleiben, wenn wir die Stellung wechselten, und zerrammelten die Steppdecken. Wir kamen zusammen, Sarah schluchzte, als ich mein Gesicht an ihren Hals drückte und Mund und Nase in den Bächen unseres gemeinsamen Schweißes rieb.

Lange Zeit lagen wir ganz ruhig und streichelten uns die einzelnen Körperteile. Reden hätte bedeutet, den Augenblick zu verraten. Ich wusste dies aus Erfahrung, Sarah instinktiv. Nach einer Weile gab sie vor, zu schlafen – eine stille und liebevolle Art, die Peinlichkeit meines Abschieds zu mildern.

Ich zog mich im Dunkeln an, dann griff ich rüber, strich ihr langes dunkles Haar nach hinten und küsste ihren Nacken. Beim Rausgehen dachte ich, dass ich dieses Mal vielleicht genauso viel gegeben wie genommen hatte.

Ich fuhr nach Hause und holte mein Tagebuch raus. Ich schrieb alle Einzelheiten über das Treffen mit Sarah auf, worüber wir geredet hatten und was ich gelernt hatte. Ich beschrieb ihren Körper und unser Liebesspiel. Dann ging ich zu Bett und schlief bis in den späten Nachmittag.

2

»Grad am Vögeln, Freddy?«

Wacky und ich bogen auf den Parkplatz am Rancho-Park-Golfplatz ein, es war ganz früh am Samstag danach. Ich war scharf auf Golf und nicht auf Männergeschwätz. Wackys Frage empfand ich wie einen Messerstich in die Seite. Ich ignorierte sie, bis Wacky sich räusperte und anfing, in Versen zu sprechen:

»Verbleibe denn, du geiler Hund, ewiger Jäger des Venusmund. Lauf, Bulle, lauf, hör niemals auf …«

Ich zog die Handbremse und starrte Wacky an.

»Du hast meine Frage noch nicht beantwortet«, sagte er.

Ich seufzte. »Die Antwort ist ja.«

»Toll. Und was kostet’s dich?«

»Ganz wenig. In Bars gehe ich nur, wenn alle Stricke reißen.« Ich hievte meine Schläger vom Rücksitz und winkte Wacky, mir zu folgen. Als ich meinen Golfsack über die Schulter schwang und den Wagen abschloss, schaute Wacky mich mit einem seiner seltenen, nüchternen und kalten Blicke an.

»Das hab ich nicht gemeint. Fred.«

»Was hast du denn gemeint, Wacky? Ich wollte hier Golf spielen und nicht meine sexuellen Memoiren schreiben.«

Wacky klopfte mir auf den Rücken und wackelte mit seinen Augenbrauen. »Hast du immer noch vor, eines Tages Polizeipräsident zu werden?«, fragte er.

»Natürlich.«

»Dann ist dir hoffentlich klar, dass die Kommission niemals einen muschigeilen Junggesellen als Boss ernennen wird? Du weißt doch, dass sie dir auf die Schliche kommen werden?«

Ich seufzte wieder, diesmal verärgert. »Wovon redest du eigentlich?«

»Vom Preis, Freddy. Die Damen werden dir schon auf die Schliche kommen. Du wirst diese Eine-Nacht-Nummern leid sein, wirst den Romantischen kriegen und irgendein Huhn suchen, das du 1948 gevögelt hast. Die Frau, die aber nie gegen den Kick der Eine-Nacht-Nummern ankommen kann. Du wirst aufs Kreuz gelegt, in jeder Hinsicht. Ich bin verdammt froh, dass ich nicht groß und charmant bin und gut aussehe wie du. Ich bin verdammt froh, dass ich nur ein Dichter und ein Cop bin.«

»Und ein Säufer.« Sofort bedauerte ich diese Bemerkung und überlegte, wie ich das widergutmachen könnte.

Wacky kam mir zuvor: »Ja, und ein Säufer.«

»Dann achte du auf den Preis, Wack. Wenn ich Polizeichef bin und du mein Oberkriminaler, möchte ich nicht, dass du wegen ’ner Leberzirrhose abkratzt.«

»Das schaff ich nie, Fred.«

»Du wirst es schaffen.«

»Scheiße. Hast du denn noch nicht die Gerüchte gehört? Captain Larson geht im Juni in Pension. Beckworth wird neuer Obermacker im Wilshire Distrikt, und ich lande in der 77. Straße – Niggerland, USA. Und du, Beckworths junger Golfgott und blonder Engel, gehst zur Sitte. Netter Posten für einen Mösenjäger. Ich weiß das aus gut unterrichteten Kreisen, Freddy.«

Ich konnte Wacky nicht in die Augen sehen. Ich hatte die Gerüchte gehört und ihnen geglaubt. Ich dachte mir irgendwelche Kniffe aus, die Beckworth davon abhalten würden, Wacky zu versetzen. Dann fiel mir plötzlich ein, dass ich an jenem Morgen um sieben Uhr früh mit Beckworth zu einer Golfstunde in Fox Hills verabredet war. Angewidert ließ ich meinen Golfsack auf den Boden fallen. »Wacky?«, sagte ich.

»Ja, Fred?«

»Du bringst mich manchmal dazu, dass ich mir wünsche, ich wäre der Säufer und der Murkser in dieser Partnerschaft.«

»Willst du dich ein bisschen näher drüber auslassen?«

»Nein.«

Der Übungsplatz war menschenleer. Wacky und ich gruben unseren Geheimvorrat an Übungsbällen aus ihrem Versteck in einem hohlen Baumstumpf aus und machten es uns zum Üben gemütlich. Zum Aufwärmen spülte Wacky einen guten Schoppen Bourbon runter, während ich es mit Kniebeugen und Hampeln versuchte. Ich schlug erst ein paar 7er Eisen – 150 Meter, leicht angeschnitten. Nicht gut. Ich änderte die Haltung, verbesserte den Schnitt und gewann so zehn zusätzliche Meter, Ich steuerte gerade meine Bestmarke an, als Wacky mich am Ellbogen packte und mich anzischte: »Freddy, psst, Freddy!«

Ich rammte den Schlägerkopf in den Dreck und riss mich von Wacky los. »Was ist jetzt schon wieder, gottverdammmich?«

Wacky zeigte auf einen Mann und eine Frau, die sich auf dem nahen Grün stritten. Der Mann war groß und dick, mit einem Bauch wie eine Avocado. Er hatte wildes, rötlich braunes Haar und eine Nase so lang wie mein Arm. Er hatte eine ansprechend heidnische Verschmitztheit an sich, breite Lachfalten um seinen Mund, sein ganzes Gesicht drückte aus, dass er wohl fünfundzwanzig Jahre lang darin geübt war, gutmütig ein Auge zuzudrücken. Die Frau war ungefähr dreißig – und fett, wahrscheinlich an die 250 Pfund. Sie hatte die lange Nase und das rötliche Haar des Mannes, übertraf ihn aber dadurch, dass sie einen ausgeprägten, flaumigen Schnauzbart zur Schau trug. Ich stöhnte. Wacky war nur formell an Frauen interessiert, und nur die dicken erregten ihn wirklich. Er zog noch einen Schoppen aus der Gesäßtasche, nahm einen langen Schluck, dann deutete er auf die beiden und sagte: »Weißt du, wer das ist, Freddy?«

»Ja. Das is ’ne fette Frau.«

»Nicht die Henne, Freddy. Der Alte. Das ist Big Sid Weinberg. Er ist der Typ, der ›Die Braut des Meermonsters‹ produziert hat. Den haben wir im Westlake gesehen. Du warst verrückt nach der Blonden mit den großen Titten – erinnerst du dich?«

»Ja – und?«

»Ich hol mir ein Autogramm, und dann verkauf ich ihm den ›Wahlkreis der Toten‹ für seinen nächsten Film.«

Ich stöhnte aufs Neue. Wacky war verrückt nach Horrorfilmen, und »Wahlkreis der Toten« war sein Versuch, Hollywoods Monsterwahn in Worte zu fassen. In seinem Gedicht gab es eine Welt der Toten, die neben der wirklichen Welt existierte, für uns aber nicht sichtbar war. Die Bewohner dieser Welt waren alle süchtig nach Wunder, weil sie alle ermordet worden waren. Ich hielt es für einen seiner schwächeren Versuche.

Wacky ließ wieder seine Augenbrauen wackeln. »Eines, Partner«, sagte er, »eines versprech ich dir.«

»Und das wäre?«

»Wenn ich ein erfolgreicher Drehbuchautor in Hollywood bin, werde ich nie auf dich runterspucken.«

Ich lachte: »Sieh dich vor, Wack. Hollywood-Produzenten sind ausgemachte Scheißkerle. Nimm dir lieber die Tochter vor. Vielleicht kannst du einheiraten.« Wacky lachte und trabte von dannen, während ich mich wieder in der heiligen Einsamkeit des Golfspiels wiederfand.

Über eine Stunde blieb ich dabei und genoss die mystische Harmonie, die sich einstellt, wenn man weiß, dass das, was man gerade so talentiert praktiziert, viel größer ist als man selbst. Flüssig und gleichmäßig hobelte ich die Bälle 270 Meter durch die Luft, da wurde mir allmählich bewusst, dass sich Augen in meinen Rücken bohrten. Mitten im Schlag hielt ich inne und drehte mich nach dem Eindringling um. Es war Big Sid Weinberg. Er ging schwerfällig auf mich zu, fast wie im Fieber, die rechte Hand ausgestreckt. Ich war verblüfft und reichte ihm instinktiv die meine. Mit einem gegenseitigen Knochenquetscher stellten wir uns vor. »Sid Weinberg«, sagte er.

»Fred Underhill«, sagte ich.

Meine Hand immer noch in seiner, begutachtete Weinberg mich rauf und runter wie ein Stück Qualitätsfleisch. »Ihr Handicap ist sechs, aber Sie können nicht putten, stimmt’s?«

»Stimmt nicht.«

»Okay, dann ist es vier, und sie können die Scheiße aus dem Ball prügeln, aber Ihr kurzes Spiel ist lausig. Richtig?«

»Falsch.«

Weinberg ließ meine Hand los. »Dann ist es –«

Ich unterbrach ihn: »Ich spiele mit ’ner runden Null, ich kann 270 Meter weit schlagen, mein kurzes Spiel ist ganz wild, ich kann besser putten als Ben Hogan, und ich sehe gut aus, bin charmant und intelligent. Was wollen Sie, Mr. Weinberg?«

Weinberg war überrascht, als ich seinen Namen aussprach. »Also hat dieser Spinner recht gehabt«, sagte er.

»Meinen Sie meinen Partner?«

»Ja. Erst erzählt er mir, Sie beide wären ein Bullengespann, dann erzählt er mir eine hirnrissige Story über eine Mumienstadt. Wie zum Teufel ist der überhaupt bei euch reingekommen?«

»Bei uns sind viele Verrückte, die meisten können’s nur besser verbergen.«

»Jesus. Jetzt liest er meiner Tochter das Zeug vor. Sie sind Verwandte im Geist; sie ist so verrückt wie er.«

»Was wollen Sie, Mr. Weinberg?«

»Wie viel verdienen Sie bei der Truppe?«

»Zweihundertzweiundneunzig im Monat.«

Weinberg schnaubte verächtlich. »Murmeln. Hosenknöpfe. Noch schlimmer, Hühnerscheiße. Die Enten auf dem See im Echo-Park machen mehr Moos als das.«

»Ich bin nicht wegen des Geldes dabei.«

»Nein? Aber Sie mögen Geld?«

»Ja. Klar mag ich’s.«

»In Ordnung. Is ja auch kein Verbrechen. Wollen Sie mit rübergehen in den Hillcrest Club und einen erstklassigen, koscheren Kurs spielen? ’ne Balgerei? Wir beide gegen zwei Ganoven, die ich kenne? Wir machen sie nieder. Ein Nassau-Spiel, ’nen Hunderter für jeden Punkt? Was meinen Sie?«

»Ich meine, Sie legen das Geld hin, und mein Partner kommt mit und überprüft die Löcher. Dafür kriegt er zwanzig Prozent. Was meinen Sie, Mr. Weinberg?«

»Ich meine, in Ihrem früheren Leben müssen Sie Jude gewesen sein.«

»Vielleicht in diesem.«

»Wie das denn?«

»Ich hab meine Eltern nie gekannt.«

Big Sid hob sein Haupt und lachte schallend: »Hahaha! Wir sind pari, mein Lieber! Ich hab zwei Töchter und kann sie nicht von einem Haufen Bohnen unterscheiden. Abgemacht.«

Wir schlugen ein und besiegelten damit das letzte sorgenfreie Bündnis meiner Jugend.

Geografisch war Hillcrest nur einen Block entfernt, aber in jeder anderen Hinsicht waren es Lichtjahre vom Rancho-Park bis dahin: üppige, manikürte Bahnen, wohlgepflegt. Strategisch platzierte Bunker und abschüssige, im Zickzack verlaufende Grüns. Wir waren eine Gruppe von acht Leuten: Big Sid und ich, unsere Gegner, zwei Caddies und unser kicherndes, mondsüchtiges Publikum – Wacky und Big Sids gewaltige Tochter Siddell. Diese beiden schienen unaufhaltsam Lust aufeinander zu bekommen, sie stolperten über den Rasen, den Sand und aufeinander. Sie hielten verstohlen Händchen, wenn Big Sid ihnen den Rücken zudrehte.

Und Sid sollte recht behalten: Wir machten sie nieder. Unsere Gegner – ein Hollywood-Agent und ein junger Arzt – waren eine erbärmliche Paarung: Sie gurkten und säbelten die Bälle in den Wald und vermurksten ihre einzigen annehmbaren Schläge. Big Sid und ich spielten ruhig und gleichmäßig und versenkten unsere Putts. Wir wurden bestens unterstützt durch Wackys hervorragende Arbeit, und durch die Schlägerauswahl und Ansage unseres Caddys, eines stumpenkauenden Säufers namens »Dirt Road« Dave.

»He, he, Scheiße, Scheiße«, pflegte er zu sagen. »Spiel ’nen weichen 7er und lass ihn kurz vor dem Grün runterkommen. Vom Hügel aus fällt es von links nach rechts ab. He, he, Scheiße, Scheiße.«

Dave faszinierte mich: Er war mürrisch und geschwätzig, dreckig und stolz. Ein Hauch von höchster Nonchalance umgab ihn, die aber durch seine verängstigten blauen Augen unterhöhlt wurde. Irgendwie wollte ich mehr von ihm wissen.

Das Match war am vierzehnten Loch zu Ende. Big Sid und ich hatten unsere Gegner 5:4 besiegt. Neunhundert Dollar wechselten die Besitzer, vierhundertfünfzig für Big Sid, vierhundertfünfzig für mich. Ich kam mir steinreich vor.

Big Sid klopfte mir auf die Schulter. »Das ist erst der Anfang, Schätzchen! Bleib bei Big Sid, und der Himmel ist unsere Grenze! Wawa-wa-wumm!«

»Danke, Sid. Ich weiß das zu schätzen.«

»Wa-wa-wa-wumm, Kleiner!«

Ich schaute mich um. Wacky und Siddell waren in den Wald verschwunden. Unsere Gegner gingen zurück ins Clubhaus, niedergeschlagen und mit hängenden Köpfen. Ich sagte Big Sid, ich würde ihn im Clubhaus treffen, dann hielt ich Ausschau nach Dirt Road Dave. Ich entdeckte ihn, als er aufs achtzehnte Loch zuging. Er hatte sowohl Big Sids als auch meinen Golfsack um seine knochige rechte Schulter hängen. Auf diese Schulter tippte ich ihn, und als er sich umdrehte, legte ich ihm eine Fünfzig-Dollar-Note in seine ausgestreckte, schwielige Hand. »Danke, Dave«, sagte ich. Dirt Road Dave ließ die Säcke ab, steckte das Geld in die Tasche und starrte mich an. »Erzähl mir was«, sagte ich.

»Was denn, mein Junge?«

»Was du gesehen hast. Was du weißt.«

Dirt Road Dave ließ meinen Sack umkippen, dann spuckte er aus. »Ich weiß, dass du ein junger Cop bist, ein Klugscheißer. Ich weiß, dass das ein Ballermann und das da Handschellen sind unter deinem Pullover. Ich weiß, was für Sachen ihr Kerle macht und dass ihr denkt, die Leute wissen nichts davon. Ich weiß, dass Kerle wie du hungrig sterben.« Seine Entschiedenheit jagte mir Angst ein. Ich schnappte meinen Golfsack und ging Richtung Clubhaus – und schon lauerte mir ein weiterer Verrückter auf.

Es war Wacky, der plötzlich aus einem Gehölz auftauchte und mich zu Tode erschreckte. »Jesus!«, schrie ich.

»Tut mir leid, Partner«, flüsterte Wacky, »aber ich musste dich erwischen, ohne dass Big Sid es mitkriegen kann. Tu mir einen Gefallen, einen riesengroßen.«

Ich seufzte: »Sag schon.«

»Den Wagen – nur ’ne Stunde oder so. Ich hab was Heißes im Ofen, das nicht warten kann, ’nen Passionskuchen. Ich esse koscher. Du kannst mich nicht verleugnen.«

Ich beschloss, ihm den Gefallen zu tun, aber unter einer Bedingung:

»Nicht im Auto, Wack. Nimm dir ein Zimmer. Kapiert?«

»Klar, ich bin doch ein Bulle. Würde ich je das Gesetz brechen?«

»Ja.«

»Hahaha! Eine Stunde, Fred.«

»Ja.«

Wacky verschwand zwischen den Bäumen, und sein Sopran-Lachen verschmolz mit Siddell Weinbergs Bariton-Seufzern. Ich spazierte zum Clubhaus zurück, mühselig und beladen.

3

Ich schätzte, dass Wacky mir meinen Wagen mit mindestens zweistündiger Verspätung zurückbringen würde. Außerdem würde der Anstand mir gebieten, noch dazubleiben, um mit Big Sid etwas zu trinken und herumzualbern. Ich wollte nach Santa Barbara auf Frauensuche gehen, aber dazu brauchte ich mein Auto.

Ich duschte im Umkleideraum. Der war ganz anders als der Kerker in der Wilshire-Wache. Tiefflorige Teppiche gingen hier von Wand zu Wand, und an eichengetäfelten Wänden hingen die Porträts der Clubgrößen. Die Gespräche drehten sich hier um Filmkäufe und Geschäftsabschlüsse, Golf kam erst an dritter Stelle. Ich fühlte mich irgendwie nicht besonders wohl hier, daher duschte ich rasch, zog mich an und hielt Ausschau nach Big Sid.

Ich entdeckte ihn im Speisesaal, er saß an einem Tisch in der Nähe des großen Panoramafensters, von dem aus man auf das achtzehnte Grün sah. Er unterhielt sich mit einer Frau; sie hatte mir ihren Rücken zugewandt, als ich mich dem Tisch näherte. Irgendwie spürte ich, dass sie Klasse hatte, daher strich ich mir übers Haar und zupfte mein Taschentuch zurecht, während ich auf sie zuging.

Big Sid sah mich kommen. »Freddy-Baby!«, dröhnte er. Er tippte der Frau leicht auf die Schulter. »Liebling, das ist mein neuer Golfpartner, Freddy Underhill. Freddy, das ist meine Tochter Lorna.«

Die Frau drehte sich um und schaute mich an. Sie lächelte verwirrt. »Mr. Underhill«, sagte sie.

»Miss Weinberg«, antwortete ich.

Ich setzte mich. Ich hatte recht gehabt: Die Frau hatte Klasse. Wo Siddell Weinberg die ausladenden Züge ihres Vaters geerbt hatte, stellte Lorna eine subtile Ausgabe dar: Ihr Haar war eher hellbraun als rot, ihre braunen Augen eher blass und kristallen als stumpf. Sie hatte Big Sids spitzes Kinn und seinen sinnlichen Mund, aber in einer weicheren, gedämpften Form. Ihre Nase war groß, aber schön; sie erfüllte ihr Gesicht mit Intelligenz und einer gewissen Kühnheit. Sie trug kein Make-up. Sie hatte einen Tweedanzug über einer weißen Seidenbluse an. Ich konnte sehen, dass sie groß und schlank war und dass ihre Brüste für ihren Körperbau sehr üppig waren.

Ich wollte sie sofort kennenlernen. Gerade konnte ich eine schmalzige Anwandlung, ihre Hand zu nehmen und zu küssen, unterdrücken, da mir klar war, dass sie von so einer Geste nicht entzückt sein würde. Stattdessen nahm ich ihr direkt gegenüber Platz, von wo ich den Blickkontakt halten konnte.

Big Sid knallte mir so heftig auf den Rücken, dass mein Kopf beinahe auf das leinene Tischtuch schlug. »Freddy-Baby, wir haben sie vernichtet! Vierhundertfünfzig Eier!« Big Sid beugte sich vor und erklärte seiner Tochter: »Freddy ist mein neuer Anschaffer. Und umgekehrt. Was für ’n Auftritt!«

Lorna Weinberg lächelte. Ich lächelte zurück. Sie tätschelte ihres Vaters Hand und sah ihn voll ärgerlicher Zärtlichkeit an. »Vater ist ein Fanatiker, eine Person, die ständig übertreibt. Er liebt es, Leute mit einfachsten Redewendungen zu klassifizieren. Sie müssen ihm verzeihen.« Das sagte sie liebevoll, aber auch ein bisschen herablassend, um mich herauszufordern.

Big Sid lachte, aber ich nahm die Herausforderung an. »Das ist eine aufschlussreiche Interpretation, Miss Weinberg. Sind Sie Psychologin?«

»Nein, ich bin Juristin. Und Sie?«

»Ich bin Polizist.«

»In Los Angeles?«

»Ja.«

Lorna lächelte zurückhaltend. »Sind Sie bei Ihrer Arbeit so gut wie beim Golf?«

»Noch besser.«

»Dann sind Sie eine doppelte Bedrohung.«

»Das ist ’ne Redewendung, an der Sie lieber noch ein bisschen schleifen sollten.«

»Touché.« Lorna Weinbergs Augen durchbohrten mich förmlich. Sie tanzten mit einer bitteren Heiterkeit. »Ich arbeite als Stellvertreterin des Staatsanwalts von Los Angeles. Wir haben denselben Arbeitgeber. Ich würde lieber als Verteidiger arbeiten, aber der Ball ist rund, wie Daddy sagen würde. Ich hab jeden Tag mit Polizisten zu tun – und ich mag sie nicht. Die sehen zu wenig und verhaften zu oft. Wen sie nicht verstehen oder akzeptieren können, den verhaften sie oder prügeln ihn durch. Die Gefängnisse von Los Angeles sind voll von Leuten, die da nicht hingehören. Ich muss die Fälle für das Schwurgericht vorbereiten. Ich wate durch Tonnen von Berichten, die übereifrige Kriminalbeamte geschrieben haben. Ehrlich gesagt, verstehe ich mich als Aufpasserin auf verhaftungswütige Polizeireviere. Deswegen bin ich laufend unter dem Beschuss meiner Kollegen, aber die respektieren mich, weil ich verdammt gut bei meiner Arbeit bin und ihnen eine Menge Arbeit abnehme.«