Hollywood Nachtstücke - James Ellroy - E-Book

Hollywood Nachtstücke E-Book

James Ellroy

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Beschreibung

Erzählungen von dem Meister der untergründigen Spannung und des kalten, melancholischen Realismus – ein Muss für Ellroy-Fans In seinen Erzählungen entlarvt Ellroy die Nachtseiten des glamourösen Hollywood. In einer Atmosphäre, durch die der Geist der fünfziger Jahre weht, zeichnet er Lebensläufe und Gestalten, die ihre Illusionen längst verloren haben und dennoch an ihrer Version des amerikanischen Traums festhalten.

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Hollywood Nachtstücke

Der Autor

James Ellroy, 1948 in Los Angeles geboren, lernte die dunkle Seite der amerikanischen Gesellschaft sehr früh kennen. Als Jugendlicher geriet er aus der Bahn und konnte sich erst durchs Schreiben wieder fangen. Mit »Die schwarze Dahlie« gelang ihm der internationale Durchbruch. Heute gilt er als einer der wichtigsten literarischen amerikanischen Autoren.Von James Ellroy sind in unserem Hause bereits erschienen: Blut auf dem Mond · Blut will fließen · Blutschatten · Browns Grabgesang · Crime Wave · Der Hilliker-Fluch · Die Rothaarige · Die schwarze Dahlie · Ein amerikanischer Albtraum · Ein amerikanischer Thriller · Endstation Leichenschauhaus · Heimlich · Hügel der Selbstmörder · In der Tiefe der Nacht · L.A. Confidential · L.A. Noir · Perfidia · Stiller Schrecken · White Jazz

Das Buch

Los Angeles – das ist vor allem Hollywood, die Welt der Reichen und Schönen. In Ellroys Erzählungen spielen jedoch vom Leben gezeichnete Figuren die Hauptrollen: Menschen am Abgrund, Außenseiter und Verlierertypen, kleine Gauner und kriminelle Größen, skrupellose Gangster und korrupte Cops, harte Männer und berechnende Frauen. Es sind getriebene Figuren, deren Träume im unbarmherzigen Licht der Glitzerwelt längst verblasst sind. Trotzdem versuchen sie, immer wieder auszubrechen, und sie sind bereit, den Preis für ihr Scheitern zu zahlen.

James Ellroy

Hollywood Nachtstücke

Erzählungen

Aus dem Amerikanischen von Thomas Mohr

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Oktober 2019© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Copyright © 1994, James EllroyAll rights reservedTitel der amerikanischen Originalausgabe: Hollywood Nocturnes (Dell Publishing, New York)Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © Ulf Andersen / Kontributor / getty iamgesE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-8437-2199-8

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Schatten der Vergangenheit

Dick Continos Blues

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

High Darktown

Telefon Axminster 6–400

»Since I Don't Have You«

Ein kleines Glück

Liebestraum

Empfehlungen

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Schatten der Vergangenheit

Widmung

Für Alan Marks

Schatten der Vergangenheit

Ein Irrwisch mit Akkordeon – der Mann knautscht seine »Quetschkommode« nach allen Regeln der Kunst.

Mein Vater zeigt zum Fernseher. »Der Bursche taugt nichts. Der ist ein Drückeberger.«

Der Akkordeonspieler in einem billigen Schundfilm: im Clinch mit der Blondine aus der Mark-C.-Bloome-Reifenreklame.

Halb verschüttete Erinnerungen kommen wieder hoch. Sie haben alle denselben Ursprung: L.A., wo ich in den 50er Jahren aufwuchs. Die meisten sind nur synaptische Schnappschüsse, die schon im nächsten Augenblick verblassen. Ein paar werden auf wundersame Weise zu Literatur: Ich erkenne ihr dramatisches Potenzial und schlachte es in meinen Romanen aus, verwandle Erinnerung im Handumdrehen in Erfindung.

Das Gedächtnis: wo persönliche Reminiszenzen mit der Geschichte kollidieren.

Erinnerung: eine symbiotische Verschmelzung von GESTERN und HEUTE. Für mich der Zündpunkt quälender Neugier.

Der Akkordeonspieler heißt Dick Contino.

Von wegen »Drückeberger« – er hat tapfer im Koreakrieg gekämpft.

Der billige Schundfilm schimpft sich Daddy-O – ein hundsmiserabler Streifen der Marke »Mädels, Musik und heiße Öfen«.

Das Gedächtnis knüpft Zusammenhänge: verbindet große Ereignisse mit ebenso winzigen wie lebhaften Details.

Im Juni 1958 wurde meine Mutter ermordet. Die Suche nach dem Täter blieb erfolglos; ich zog zu meinem Vater. Ich sah, wie Dick Contino in der Glotze den »Bumble Boogie« dudelte, nahm zur Kenntnis, was mein Vater von ihm hielt, und ging ein Jahr später ins Admiral Theatre, um mir Daddy-O anzuschauen. Meine Synapsen glühten, sprühten, schlugen Funken; eine Erinnerung nahm Gestalt an, und es ergab sich ein Zusammenhang. Alles fügte sich zu einem düsteren Bild: Frauen wurden erwürgt und blieben auf ewig ungerächt.

Damals war ich zehn, elf Jahre alt, und in mir regte sich erste Lust auf Literatur. Meine Neugier konzentrierte sich auf Mord und Totschlag: Mich interessierte das WARUM? hinter dem grausigen Geschehen. Nach einer Weile langweilten mich aktuelle Verbrechen – die blutigen 60er und 70er Jahre rauschten wie im Traum an mir vorbei. Meine Fantasie machte eine Zeitreise in das Jahrzehnt davor, mit dem dazugehörigen Soundtrack: Golden Oldies und Dick Contino, der in der Ed Sullivan Show sein Akkordeon traktierte.

1965 flog ich von der Highschool und meldete mich freiwillig zum Militär. Bei der Army ging mir der Arsch auf Grundeis – ich türkte einen Nervenzusammenbruch, hatte Glück und wurde als untauglich entlassen.

1980 schrieb ich Heimlich – eine notdürftig kaschierte, zeitlich versetzte Nacherzählung des Mordes an meiner Mutter. Der Roman spielt 1951; der Held ist ein junger Cop – und Drückeberger –, der von der Kommunistenhatz aus der Bahn geworfen wird. 1987 schrieb ich Blutschatten. Das Buch spielt 1950 und befasst sich mit der Hexenjagd in der Unterhaltungsbranche.

1990 schrieb ich White Jazz. In einer Nebenhandlung geht es um einen billigen Schundfilm, der in Griffith Park gedreht wird, an denselben Schauplätzen wie Daddy-O.

Jung schrieb: »Was uns nicht zum Bewusstsein gebracht wird, kommt als Schicksal über uns.«

Ich hätte Dick Contino schon vor Ewigkeiten kommen sehen müssen.

Fehlanzeige. Das Schicksal funkte mir dazwischen, per Foto und Videokassette.

Das Foto besorgte mir ein Freund. Irre: ich, mit zehn, am 22. Juni 1958. Ein Fotograf der L.A. Times knipste das Bild, fünf Minuten nachdem ein Detective mir eröffnet hatte, dass meine Mutter ermordet worden sei. Ich habe einen mittelschweren Schock: Meine Augen sind weit aufgerissen, doch mein Blick ist ausdruckslos und leer. Mein Hosenladen steht auf halbmast; meine Hände scheinen zu zittern. Es war ein heißer Tag: Die schmelzende Pomade in meinem Haar reflektiert das Blitzlicht.

Das Foto ließ mich nicht mehr los: Es war stärker als meine zahllosen Versuche, meine Vergangenheit zu Geld zu machen. Die Erkenntnis traf mich wie ein Faustschlag ins Gesicht: Meine Trauer war, selbst in diesem Augenblick, ambivalent. Schon wäge ich Vor- und Nachteile gegeneinander ab, spiele sämtliche Möglichkeiten durch, während die übereifrigen Beamten vor dem scheinbaren Schmerz eines kleinen Jungen kapitulieren.

Ich ließ das Foto rahmen und starrte es immer wieder an. Initialzündung: Erinnerungen an die späten 50er Jahre explodierten. Ich entdeckte Daddy-O in einem Versandkatalog und bestellte den Film. Er kam eine Woche später mit der Post; ich schob ihn in den Videorekorder.

Zeitmaschine mit Raketenantrieb …

Die Geschichte dreht sich um den Trucker/Rennfahrer/ Sänger Phil »Daddy-O« Sandifer, der den Mord an seinem besten Freund aufzuklären versucht, was dadurch erschwert wird, dass man ihm den Führerschein entzogen hat. Phils Kumpels »Peg« und »Duke« wollen ihm helfen, sind dazu aber viel zu benebelt, weil sie sich die Nächte im Rainbow Gardens um die Ohren schlagen, einem Halbstarkentreff, wo Phil gratis und auf Zuruf Doo-Wop-Schnulzen schmettert. Egal: Daddy-O lernt die aufreizende Jana Ryan kennen, ein Mädchen aus gutem Hause mit gültigem Führerschein und einem 57er T-Bird-Cabrio. Aus gegenseitiger Abneigung wird sexuelle Anziehung; Phil und Jana tun sich zusammen und verdingen sich zum Schein im Nachtklub des zwielichtigen Fettsacks Sidney Chillis. Der Sänger Daddy-O und das Zigarettenmädchen Jana, ein ebenso attraktives wie schlagkräftiges Duo. Sie kommen schnell dahinter, dass Chillis Big »H« verdealt, stellen ihm eine Falle und kaufen sich den Dickwanst wegen des Mordes an Phils bestem Freund. Das Ganze gipfelt in einer wilden Verfolgungsjagd; bleibt die brennende Frage: Wird Daddy-O als Lohn für seinen Wagemut den Führerschein zurückbekommen? Wer weiß?

Was soll’s?

Ich musste mir den Streifen ohnehin dreimal ansehen, um den Inhalt halbwegs korrekt wiedergeben zu können.

Weil Dick Contino mich in seinen Bann schlug.

Weil ich – instinktiv – wusste, dass er die entscheidenden Antworten parat hatte.

Weil mir klar wurde, dass er wie ein unsichtbarer Geist über meinem »Quartett« von L.A.-Romanen schwebte, ein Phantom, das endlich sprechen wollte.

Weil ich spürte, dass er mir tonnenweise Hintergrundmaterial liefern, meine Erinnerungslücken schließen und auf diese Weise ein gestochen scharfes Bild der Stadt Los Angeles in den späten 50ern zeichnen konnte.

Weil ich zu erkennen glaubte, dass sich Rolle und Privatperson von 1957 in weiten Teilen deckten, ein Gemisch, das in den vergangenen fast fünfunddreißig Jahren an Sprengkraft vermutlich noch gewonnen hatte.

Contino auf der Leinwand: ein hübscher Italiener Ende zwanzig mit strammem Bizeps, entweder vom Hanteltraining oder dem Liebesspiel mit seinem Akkordeon. Ein Bilderbuch-Mädchenschwarm: strahlend weiße Zähne, dunkle Locken, sympathisches Lächeln. Trotzdem leidet er unter den modischen Verirrungen der 50er: bis unter die Achselhöhlen hochgezogene Röhrenhosen, quer gestreifte Ban-Lon-Hemden. Er sieht gut aus und kann singen; mit »Rock Candy Baby« hat er Schwierigkeiten – der Text ist beschissen, und swingende Uptemponummern wie diese liegen ihm ganz offensichtlich nicht –, aber bei dem Schubidu-Schmachtfetzen »Angel Act« – einem Song über den klassischen Loser, der einer »Noir«-Göttin verfallen ist, die sein Leben in Schutt und Asche legen wird – tropft ihm buchstäblich der Schmalz von den Stimmbändern, so sterbensschön lässt er seinen Bariton vibrieren.

Schauspielern kann er auch: Er ist offenkundig ein Naturtalent und fühlt sich vor der Kamera wohl. Irre: Wenn er den Mund aufmacht, werden aus schauderhaften immerhin mittelmäßige Dialoge.

Und er ist stolz darauf, in Daddy-O die Hauptrolle zu spielen – er schämt sich weder für das Drehbuch noch für seine Partner oder einen Text wie: »Rock Candy Baby, that’s what I call my chick! Rock Candy Baby, sweeter than a licorice stick!« –, obwohl er nach dem bisschen, was ich über ihn weiß, auf der Karriereleiter schon mal ein paar Sprossen höher stand.

Ich beschloss, Dick Contino ausfindig zu machen.

Ich hoffte inständig, dass er gesund und munter war.

Ich stöberte ein halbes Dutzend seiner Platten auf, hörte sie mir an und schwelgte in purem, lupenreinem Entertainment.

Live at the Fabulous Flamingo, Squeeze Me, Something for the Girls – alte Standards, aufpoliert zu schimmernden Juwelen des Akkordeonspiels. Ein Stakkato von Filmmelodien; von derart zeit- und hemmungsloser Sentimentalität, dass man damit jeden Meter Tiefsinnskitsch, den Hollywood je produziert hat, unterlegen könnte. Dick Contino, Virtuose auf Vinyl: Er turnt über die Tastatur, improvisiert Kadenzen, entlockt dem Balg ein regelrechtes Klanggewitter. Lässt seine Quetsche flüstern, ächzen, stöhnen, schreien – schneller, als ich denken kann: Was hat es mit dem Leben dieses Mannes auf sich, und was hat das mit mir zu tun?

Ich rief meinen Freund und Assistenten Alan Marks an. Und landete auf Anhieb einen Treffer. »Der Akkordeonspieler? Ist der nicht früher mal in Vegas aufgetreten?«

»Finde so viel wie möglich über ihn heraus. Finde heraus, ob er noch lebt, und wenn ja, besorg mir seine Adresse.«

»Wozu?«

»Hintergrundmaterial.«

Ich hätte sagen sollen: brauchbares Hintergrundmaterial – denn Dick Contino sollte ein naher Verwandter der Helden meiner anderen Bücher werden, ein rast- und ruheloser Bruchpilot, der wie ein Hund den Mond anbellte, ein Quasi-Psychopath, der hinter jedem Rock herlief. Ich hätte sagen sollen: »Bring mir etwas, das ich ausschlachten und weiterentwickeln kann.« Ich hätte sagen sollen: »Bring mir eine Biografie, die sich nahtlos in die düstere Welt meiner ersten zehn Romane fügt.«

»Was uns nicht zum Bewusstsein gebracht wird, kommt als Schicksal über uns.«

Ich hätte den echten Dick Contino kommen sehen müssen.

Eine Woche später rief Alan zurück. Er hatte Contino in Las Vegas aufgespürt – »und er ist bereit, mit dir zu sprechen«.

Bevor ich mich mit ihm in Verbindung setzte, zeichnete ich unser beider Lebensläufe nach. Allmählich bildete sich ein bestimmtes Muster heraus – ich wollte eine Novelle über Dick Contino und die Dreharbeiten zu Daddy-O schreiben –, doch irgendetwas hielt mich davon ab, die Initiative zu ergreifen, mir die nötigen Informationen zu beschaffen und mich an den Schreibtisch zu verfügen. Mir wurde klar, dass ich durch meine Ängste an diesen Mann gefesselt war: die berufsbedingte Angst zu scheitern, die sich durch harte Arbeit überwinden ließ, sowie die schreckliche Furcht, die zu klaustrophobischen Erstickungsanfällen führt und strahlende junge Männer dazu bringt, zu desertieren – die Angst, dass buchstäblich alles passieren könnte, passieren kann, passieren wird.

In Furcht vereint; im Kampf auf sich gestellt.

Ich ging zur Army, als der Vietnamkrieg langsam, aber sicher ins Rollen kam. Mein Vater lag im Sterben: Ich hatte keine Lust, ihm dabei zuzusehen. Die Army war das nackte Grauen – ich suchte nach möglichen Fluchtwegen. James Ellroy, siebzehn, Nachwuchsmime, zog eine irre Stotternummer ab, um seine Wehruntauglichkeit zu demonstrieren.

Ich bot eine glänzende Vorstellung, die mit sofortiger Entlassung und einer Rückfahrkarte nach L.A. belohnt wurde, wo ich endlich wieder meinen Leidenschaften frönen konnte: saufen, kiffen, Krimis lesen und in anderer Leute Häuser einbrechen, um Damenunterwäsche zu beschnüffeln.

Niemand nannte mich einen Feigling oder Drückeberger – der Vietnamkrieg hatte vom ersten Tag an keine besonders gute Presse, und sich aus seinen Klauen zu befreien galt als ehrenwert.

Ich war den Fängen der Army spielend entronnen – und hatte mir meine Angst natürlich nicht anmerken lassen. Ich war beileibe kein strahlender junger Mann, der sich mit Begeisterung zur Schlachtbank führen ließ.

Hinter mir liegt ein bewegtes Leben, das sich medial hervorragend verwerten lässt; ich betrachte es wie einen pikaresken Roman – eine List, dank der sich meine Suche nach einem tieferen Sinn ausschließlich auf meine Bücher beschränkt, die mir immer neue Kraft und Energie verleiht und mich obendrein davor bewahrt, in ein großes schwarzes Loch zu fallen. Dick Contino verfuhr nach einer anderen Methode: Er war Musiker, kein Schriftsteller, und bekannte sich von Anfang an zu seinen Ängsten. Und er machte weiter: Musikalisch sind seine nach der Drückeberger-Affäre aufgenommenen Platten den vor 1951 erschienenen Scheiben haushoch überlegen. Er machte weiter, und meines Wissens hat in all den Jahren lediglich das Publikumsinteresse etwas nachgelassen.

Ich rief Contino an und teilte ihm mit, dass ich über ihn schreiben wolle. Wir plauderten; er sagte: »Kommen Sie nach Vegas.«

Contino holte mich vom Flughafen ab. Er sah fantastisch aus: schlank und topfit, trotz seiner dreiundsechzig Jahre. Sein Daddy-O-Grinsen war unverändert; er bestätigte, dass sein Daddy-O-Bizeps vom Akkordeonspielen stamme.

Wir gingen in ein Restaurant und quatschten. Unser Gespräch verlief sehr sprunghaft – Dicks Erinnerungen schweiften immer wieder ab und führten nur auf Umwegen zu ihrem zumeist anekdotenhaften Ausgangspunkt zurück. Wir unterhielten uns über Las Vegas, die Mafia, Knasterfahrungen, Barmusik, Howard Hughes, Korea, Vietnam, Daddy-O, L.A. in den 50ern, Angst und das zähe Ringen um das Publikum.

Ich erklärte ihm, dass die besten Romane sich nicht unbedingt auch am besten verkauften, dass variantenreicher Stil und komplexe Geschichten viele Leser überforderten. Ich erklärte ihm, dass meine Bücher, obwohl sie sehr gut gingen, als zu düster, kompliziert und gewalttätig galten, um zum Bestseller zu taugen. Dick fragte mich, ob ich andere Bücher schreiben würde, um die Auflage zu steigern – ich sagte: »Nein.« Er fragte, ob ich andere Bücher schreiben würde, wenn ich das Gefühl hätte, eine Masche oder ein Thema ausgereizt zu haben – ich sagte: »Ja.« Er fragte, ob die historischen Figuren in meinen Romanen mich manchmal überraschen – ich sagte: »Nein, denn sie sind für mich nur Mittel zum Zweck.«

Ich sagte: »Die Arbeit ist die Hauptsache.« Er sagte ja, aber man dürfe sich nicht hinter seiner vermeintlichen Integrität verschanzen. Das Publikum habe ein Recht auf sein Vergnügen – und dazu brauche es nun mal ein gewisses Maß an Schmalz.

Ich fragte Dick, wie er das mache. Er sagte, seine alten Ängste hätten ihn gelehrt, sich seinen Mitmenschen zu öffnen. Er sagte, Angst lebe von Einsamkeit, und wenn es einem gelänge, die Mauer zwischen sich und dem Publikum niederzureißen, eröffneten sich gänzlich neue Perspektiven.

Ich fuhr in mein Hotel und ließ die Offenbarungen des Tages Revue passieren. Meine Welt war aus den Fugen, und ich betrachtete meine Vergangenheit zum ersten Mal mit anderen Augen. Ich sah mich vor einem riesigen Publikum stehen, gewappnet mit neuer literarischer Munition: der Gewissheit, dass Dick Contino der Held meines nächsten Romans sein würde.

Dick Continos Blues nahm mit einem Schlag Gestalt an, schien buchstäblich aus dem Nichts zu kommen.

Am nächsten Abend trafen Dick und ich uns zum Essen. Es war mein fünfundvierzigster Geburtstag; ich hatte das Gefühl, an einem Wendepunkt meines Lebens angelangt zu sein.

Dick brachte mir ein Ständchen auf dem Akkordeon, eine Bebop-Version von »Happy Birthday«. Der alte Schwung war noch da – er umspielte das Thema in rasendem Tempo.

Wir gingen zu Fuß zum Restaurant. Ich fragte Dick, ob er etwas dagegen hätte, als Held in einer Novelle und meinem nächsten Roman aufzutreten.

Er sagte nein und fragte, worum es in den beiden Büchern gehen solle. Ich sagte: »Angst, Mut und teuer erkaufte Erlösung.«

Er sagte: »Gut, ich glaube, ich weiß, was du meinst.«

Es war eine kalte Nacht; die Sterne verblassten angesichts des Neongewitters von Las Vegas. Der Himmel tat sich auf, und ich fragte mich unwillkürlich, was das alles zu bedeuten hatte.

Dick Continos Blues

Ich feiere in letzter Zeit ein mittelprächtiges Comeback.

Hier eine Italo-Festa, da ein bisschen Bargeklimper. Und ein grandioooser Auftritt bei einem Aids-Fernsehmarathon – mit meiner »Lady of Spain« fuhr ich zehn Mille an Spenden ein und kam obendrein in den Genuss einer Studentin, die Zuschaueranrufe entgegennahm, wenn sie mir in der Garderobe nicht gerade einen blies. Daddy-O ist auf Video erschienen, und Filmkritiker mit einem Faible für 50er-Jahre-Kitsch nerven mich mit Interviewwünschen.

Bei ihren Fragen schlägt mein Gedächtnis Purzelbäume. Es ist wieder 1958 – und ich bin ein Akkordeonspieler/Sänger, der für ein paar lumpige Kröten die Hauptrolle in einem B-Movie übernommen hat. Haben Sie »Rock Candy Baby« und »Angel Act« selbst geschrieben? Hatten Sie was mit Ihrer Partnerin, der Blondine aus der Mark-C.-Bloome-Reklame? Von wem stammten Ihre Kostüme, und wer war Ihr Stunt-Double? Wie haben Sie den 51er Ford zum Schweben gebracht, mit den Bullen dicht auf den Fersen – die Einstellung wirke zwar echt, sei aber doch ziemlich schlampig in den Film geschnitten?

Ich versuche, ehrliche Antworten zu geben.

Ich verkaufe den schwebenden Wagen als Spezialeffekt.

In Wahrheit habe ich diese aufgemotzte/hochfrisierte/tiefergelegte Scheißkarre zum FLIEGEN gebracht. Und dazu gibt es eine Geschichte – mein liebevoller Abschied vom damaligen L.A.

1.

Ich ging baden.

Und zwar mit Pauken und Trompeten: schweißnasse Hände, leichter Tatterich. Meine Begleitband schien zu schwimmen – dabei war ich kurz vorm Ertrinken. Das GROSSE MUFFENSAUSEN packte mich bei den Eiern; Schlagzeilen in Riesenlettern: »Contino bringt Crescendo-Publikum zum Gähnen!«

»Contino vergeigt Sunset-Strip-Premiere!«

Vom »Bumble Boogie« zu »Ciriciribin« – eine Akkordeon-Breitseite ins Auditorium. Ich knautschte den Balg aus Leibeskräften; mein Gehirn gab meinen Fingern einen falschen Befehl. Meine Finger gehorchten – ich hämmerte das Finale von »Tico Tico«. Eine ansteckende Krankheit: Meine Band stieg ein mit einem Thema aus der »Rhapsody in Blue«.

Ich stand da wie angewurzelt.

Das Saallicht ging an. Ich sah Leigh und Chrissy Staples, Nancy Ankrum, Kay Van Obst. Meine Frau, meine Freunde – und einen Haufen Premierentiger, denen das Entsetzen ins Gesicht geschrieben stand.

Hinter mir verröchelte die »Rhapsody in Blue«. Das GROSSE MUFFENSAUSEN packte mich bei den Eiern und DRÜCKTE ZU.

Ich versuchte es mit einem lockeren Spruch. »Ladies und Gentlemen, das war der ›Dissonance Jump‹, ein neues, experimentelles Zwölftonstück.«

Meine Freunde gickelten. Ein Trottel mit Legionärsfotze auf dem Kommisskopp grölte: »Drückeberger!«

Totenstille hallte durch den Saal. Ich musterte Joe Patriot: schnapsgerötete Visage, Legionärsmütze, Legionärsarmbinde. Meine Rechtfertigungsarie stand wie eine Eins: Ich war in Korea, bin ehrenvoll entlassen und von Harry S. Truman begnadigt worden.

Nein, besser: »Du kannst mich. Deine Mutter kann mich. Und dein Köter kann mich auch.«

Der Legionär erstarrte. Ich erstarrte. Leigh erstarrte zu einem tiefgefrorenen Lächeln und sah, wie (mindestens) zwei Wochen à zwei Mille sich in Rauch auflösten.

Der ganze Saal erstarrte.

Ich wurde mit Cocktailresten bombardiert: mit Rumfrüchten, Oliven, Eis. Von meinem Akkordeon tropften Maraschinokirschen – ich streifte es ab und verstaute es hinter einem Bühnenscheinwerfer.

Mein Gehirn gab meinen Fäusten einen falschen Befehl: Joe Patriot die Fresse polieren. Ich sprang von der Bühne und stürzte mich auf ihn. Er kippte mir seinen Drink ins Gesicht; reiner Alkohol verätzte mir die Augen, und auf einmal war ich blind. Ich spotzte, blinzelte und schlug wild um mich. Drei Schwinger gingen daneben; der vierte saß – der Treffer hatte eine solche Wucht, dass ich wie Wackelpudding zitterte. Meine Sehkraft kehrte zurück – und vor mir stand Mr America und spuckte Zähne.

Irrtum.

Joe Legionär war weg. An seiner Stelle krümmte sich, mit einer zentimetertiefen Wunde in der Wange, die mein über und über mit falschen Steinen besetzter Ehering verursacht hatte: Cisco Andrade, der aussichtsreichste Anwärter auf den Weltmeistertitel im Leichtgewicht.

Die County-Bullen stürmten den Saal und schwärmten aus. In ihrem Schlepptau: Deputy Dot Rothstein, ein gut 100 Kilo schweres Mannweib mit einer Schwäche für meine Freundin Chris Staples.

»Du dämlicher Vollidiot«, sagte Andrade.

Ich stand da wie angewurzelt.

Ich weinte Gin; meine linke Hand pochte. Plötzlich nahm der Hauptsaal des Crescendos surreale Züge an:

Hier Leigh, die den Cops die alte Platte von »Dick Contino, McCarthy-Opfer« vorspielt. Da der Legionär, der meinem Saxofonisten ein Autogramm abluchst. Dot Rothstein hängt die Nase in den Wind – mein Drummer hat sich mit einem Joint hinter die Bühne verzogen. Chrissy macht einen großen Bogen um Big Dot – seit Chris für die Polente eine Lesbe geködert hat, ist Dotty höllisch spitz auf sie.

Schreie. Finger zeigten auf mich. Mickey Cohen mit seiner Bulldogge Mickey Cohen jr., die ihre Schnauze prompt in einer Schale Cocktailnüsse versenkte. Mickey sen. – der Heilige Vater der Bumslokale – steckte dem Einsatzleiter ein Bündel Scheine zu. Andrade drückte meine lädierte Hand – mir kamen die Tränen. »Du spielst bei der Geburtstagsfeier von meinem Sohn. Und zwar als Chucko, der Clown, verkleidet, er fliegt nämlich auf Clowns. Dann sind wir quitt. Kapiert?«

Ich nickte. Andrade ließ meine Hand los und betupfte seine Wunde. Mickey Cohen gab sich die Ehre und setzte noch eins drauf. »Dann könntest du doch eigentlich auch bei der Geburtstagsparty meiner Nichte auftreten, als Davy Crockett verkleidet, mit Waschbärmütze und allem Drum und Dran. Nicht wahr?«

Ich nickte. Die Polypen verließen einer nach dem anderen den Saal – ein Deputy zeigte mir den Stinkefinger und brummte: »Drückeberger!«

Mickey Cohen jr. schob mir die Schnauze zwischen die Beine. Ich versuchte ihn zu streicheln – das Mistvieh schnappte nach meinem Sack.

Leigh und Chris erwarteten mich im Googie’s. Nancy Ankrum und Kay Van Obst kamen nach – wir quetschten uns zu viert an einen Tisch.

Leigh holte ihren Notizblock aus der Tasche. »Steve Katz war stinksauer. Er hat seinen Buchhalter angewiesen, deine Abendgage um die Hälfte zu kürzen.«

Meine Hand pochte noch immer – ich fummelte das Eis aus Chrissys Wasserglas. »Fünfzig Piepen?«

»Vierzig und ein paar Zerquetschte. Sie schenken dir keinen Penny.«

Dämonen lauerten: Leighs Geburtshelfer, der Repoman von Yeakel Olds. Ich sagte: »Das Baby können sie uns wohl schlecht wieder wegnehmen.«

»Nein, aber den Starfire 88, mit dessen Raten du drei Monate im Rückstand bist. Ach, Dick, musste es denn unbedingt ein Continental Kit mit ›Kustom-King‹-Sitzen und diesem grässlichen Akkordeon auf dem Kühler sein?«

Chrissy: »Typisch Italiener. Buddy Greco hat die gleiche Karre, da konnte Dick natürlich nicht nachstehen.«

Kay: »Mein Mann hat auch einen 88. Er sagt, die ›Kustom-King‹-Sitze sind so weich, dass er auf dem San Bernardino Freeway fast mal eingeschlafen wär.«

Nancy: »Chester Boudreau, mein absoluter Lieblings-Sexkiller, schwor auf Oldsmobiles. Er meinte, die rundliche Form des Oldsmobile hätte vor allem die Kinder magisch angezogen.«

In schönster Harmonie: mein Damentrio. Chrissy sang bei Buddy Greco und dealte mit Dexedrin; Nancy spielte in Spade Cooleys Frauencombo die Posaune und verkehrte – brieflich – mit der Hälfte aller Perversen in San Quentin. Kay: Landesvorsitzende des Dick-Contino-Fanklubs. Wir kennen uns seit meiner Army-Affäre: Kays Mann Pete leitete das FBI-Kommando, das mich damals wegen Fahnenflucht hochgenommen hat.

Unser Essen kam. Nancy schwärmte vom »Würger von West Hollywood« – irgendeinem Tier, das nur ein paar Ecken weiter, in einer Seitenstraße des Strip, zwei turtelnde Liebespärchen erledigt hatte. Chris bejammerte meine Crescendo-Schlappe und greinte, weil Buddys Mocambo-Engagement in vierzehn Tagen auslief.

Nancy fiel ihr ins Wort: Das Würgerfieber hatte sie gepackt. Sie schloss jetzt schon Wetten ab: Der Würger werde als Psychokiller Nr. 1 des Jahres 1958 in die Geschichte eingehen.

Leigh ließ mich in ihren Augen lesen:

Deine Freunde unterstützen deine Mätzchen. Ich nicht.

Dein männliches Imponiergehabe hat uns vier Mille gekostet. Wenn du mit Fäusten gegen deinen Ruf als FEIGLING kämpfst, machst du alles nur noch schlimmer.

Radioaktive Augen – ich entging ihnen via Small Talk. »Chrissy, hast du gemerkt, wie Dot Rothstein dich angegafft hat?«

Chris würgte einen Bissen Reuben-Sandwich hinunter. »Ja, dabei ist die Barbara-Graham-Sache inzwischen fast fünf Jahre her.«

Bei dem Namen »Barbara Graham« spitzte Killer-Nan die Ohren. Ich erklärte: »Chrissy hat neun Monate mit Barbara Graham im Frauenknast gesessen.«

Nancy, atemlos: »Und?«

»Und hatte zufällig die Zelle neben ihr.«

»Und?«

Chris fuhr dazwischen. »Hört gefälligst auf, mich wie Luft zu behandeln.«

Nancy: »Und?«

»Und ich hab neun Monate wegen gefälschten Dilaudidrezepten gesessen. Dot war die Oberwachtel in unserem Block und hatte ein Auge auf mich geworfen, was, nebenbei gesagt, beweist, dass sie Geschmack hat. Barbara Graham und ihre Komplizen Santo und Perkins waren gerade wegen dem Mord an Mabel Monahan verhaftet worden. Barbara beteuerte immer wieder ihre Unschuld, und die Staatsanwaltschaft hatte Angst, dass die Geschworenen ihr glauben könnten. Dot hatte gehört, dass Barbara im Knast einen auf Lesbe machte, und verfiel auf eine glorreiche Idee: Ich sollte mich an Barbara ranschmeißen und im Gegenzug einen Teil meiner Strafe erlassen bekommen. Ich spielte mit, aber nur unter der Bedingung, dass ich ihr nicht an die Wäsche musste. Die Staatsanwaltschaft und ich wurden uns einig, aber Barbara verriet auch unter vier Augen kein Sterbenswörtchen über den Abend des 9. März 1953. Wir schrieben uns mehr oder weniger frivole Briefchen auf Papierservietten, die Dot ans Hush-Hush Magazine vertickte, wo sie ohne meinen Namen erschienen. Ich kam raus, Barbara wanderte in die Gaskammer, und Dot ist bis heute davon überzeugt, dass ich ein kesser Vater bin. Sie schickt mir jedes Jahr zu Weihnachten eine Karte. Habt ihr schon mal mit Lippenstift beschmierte Weihnachtskarten gekriegt – von einer Zwei-Zentner-Gewitterlesbe?«

Der ganze Tisch brüllte vor Lachen. Kay prustete mit vollem Mund – und bespuckte Leigh mit Mineralwasser. Ein Blitzlicht explodierte – vor mir stand Danny Getchell mit einem Kameraakrobaten von Hush-Hush.

Getchell ratterte Schlagzeilen herunter: »Ziehharmonika-Zauberer landet folgenschweren Treffer bei Crescendo-Keilerei.« »Angeschwärzt: Akkordeon-As läuft Amok.« »Quo vadis, Dick Contino? – Comeback-Pleite bei Nachtklub-Prügelei.«