Heimweh - Colin Barrett - E-Book

Heimweh E-Book

Colin Barrett

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Beschreibung

Die Grafschaft Mayo an der Westküste Irlands ist »aus der Ferne sehr ansehnlich, lässt einen von Nahem aber im Stich«. Hier lässt man seine Kuhherde von Dronen überwachen, kurvt mit klapprigen Autos über gefährliche Landstraßen, trifft sich im Pub oder bei Beerdigungen. Hier macht sich eine Polizistin nach einer Schießerei einen Instantkaffee und setzt sich an den Papierkram, hier wird ein beschaulicher Abend im Vereinsheim des örtlichen Golfklubs durch das Auftauchen eines schwertschwingenden Teenagers erschüttert, der auf der Flucht vor seinen Brüdern ist, hier begräbt ein Fußballtalent seine Premier League-Ambitionen im Autohaus seines Vaters. Colin Barrett wirft uns mitten hinein in das Leben ganz verschiedener Menschen, in Ballina, County Mayo, oder in Toronto, Kanada. Für einen Augenblick, sei es ein Nachmittag, ein Tag, eine Woche, haben wir teil an ihren traurigen, tragischen und komischen Schicksalen. Barretts Geschichten sind Momentaufnahmen einer Welt, die »wenn man achtgibt, voll von unerklärlichen Dingen ist«.

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Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser

Für Lucy, Ellie & Daniel

Inhalt

Eine Schießerei in Rathreedane

Levels

Die Alpen

Wer immer es ist, hereinspaziert

Der Silver Coast Golf Club

Anhedonie, ich komme!

Ein leises, schwarz schimmerndes Dröhnen

Der Zehner

Eine Schießerei in Rathreedane

Sergeant Jackie Noonan erledigte gerade Papierkram, als der Anruf kam. Auf der Polizeiwache von Ballina war niemand außer ihr und dem Frischling Pronsius Swift. Der dritte diensthabende Beamte, Sergeant Dennis Crean, war losgefahren, um die Bergung eines Renault Megane zu überwachen, den irgendein junger Kerl – ein offenbar nüchterner, einfach nur nervöser Ortsfremder, der auf den verschlungenen Nebenstraßen rund um Currabagan herumgekurvt war – eine halbe Meile von der Grundschule entfernt in einen Straßengraben gesetzt hatte. Das Auto hatte einen Totalschaden, der Typ dagegen war laut Crean ohne den kleinsten Kratzer davongekommen, und da konnte er von Glück reden, denn Noonan kannte die Straßen in der Gegend, und die waren übel: mit tiefen Gräben, hügelig und immer zu schmal, spärlich ausgeschildert und gespickt mit halb verdeckten scharfen Kurven, die überaus tückisch sein konnten, wenn man nur eine Sekunde lang unaufmerksam war.

Noonan saß an ihrem Schreibtisch, trank vinylschallplattenschwarzen Kaffee aus einer ramponierten silbernen Cafetière und übertrug die Aufzeichnungen des Wochenendes aus ihrem Notizbuch in das zentrale Computersystem. Das Wochenende war nicht weiter bemerkenswert gewesen, aber doch arbeitsreich. Es hatte etwa ein Dutzend kleinerer Verkehrsverstöße gegeben, vergangene Nacht eine Schlägerei zwischen betrunkenen Cousins im Teenageralter vor einer Fish & Chips-Bude in der Hauptstraße und am heutigen Morgen einen Einsatz, ausgelöst von einem Herrendufflecoat, der sich am Wehrtor des Flusses Moy verfangen hatte und von einer Gruppe amerikanischer Sommerstudenten und ihrem Professor, die einen frühen Spaziergang entlang der Kais machten, voller Überschwang für eine Leiche gehalten worden war.

Die Notizen, in Noonans linkshändiger krakeliger Sauklaue, waren wie üblich nur mühsam zu entziffern, ihre Übertragung in den Computer eine ausgesprochen eintönige Tätigkeit, die Noonan gleichwohl sonderbar befriedigend fand. Sie war so sehr in diese Aufgabe vertieft, dass sie überrascht zusammenschrak, als das Telefon auf dem Empfangstresen klingelte.

»Pronsius«, befahl sie, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen. Das Telefon klingelte weiter.

»Pronsius!«

Noonan sah hoch. Pronsius saß nicht an seinem Schreibtisch. Er war nicht im Raum.

Noonan ging hinüber zum Empfangstresen und riss das Telefon aus der Ladestation.

»Ballina Garda Station, Sie sprechen mit Sergeant Noonan.«

»Es hat eine Schießerei gegeben«, erklärte eine Männerstimme.

»Eine Schießerei?«, wiederholte Noonan gerade, als Pronsius mit einem Becher in der Hand auftauchte. Pronsius Swift war vierundzwanzig und noch keine drei Jahre mit der Ausbildung an der Polizeischule in Templemore fertig. Noch immer haftete ihm eine Aura jugendlicher Schlaksigkeit an; er war hoch aufgeschossen, beugte sich beim Gehen jedoch oft nach vorn und hatte eine entschieden adlerähnliche Höckernase, schreckhafte Augen und eine arglos glänzende Stirn. Selbst die Streifen vorzeitigen Graus in seinem Bürstenhaarschnitt unterstrichen nur noch seine Jungenhaftigkeit. Als er Noonan »eine Schießerei« sagen hörte, blieb er wie angewurzelt stehen und starrte sie mit offenem Mund an.

»Wenn Sie ›Schießerei‹ sagen, meinen Sie damit, dass mit einer Schusswaffe auf jemanden geschossen wurde?«, fragte Noonan.

»Was für Schießereien soll’s denn sonst noch geben?«, fragte der Mann.

»Bleiben Sie dran«, sagte Noonan. Mit dem Telefon am Ohr kehrte sie zu ihrem Schreibtisch zurück, setzte sich und hielt Stift und Notizbuch bereit.

»Auf wie viele Personen wurde geschossen?«

»Nur auf die eine.«

»Die Person, auf die geschossen wurde. Ein Mann oder eine Frau?«

»Ein Mann.«

»Ist er tot?«

Der Mann am anderen Ende der Leitung seufzte.

»Nein, ist er nicht. Er liegt draußen auf dem Feld hinterm Haus. Es geht ihm ziemlich schlecht.«

»Wie schwer ist er Ihrer Meinung nach verletzt?«, fragte Noonan, hob einen Finger, um Pronsius’ Aufmerksamkeit zu erregen, und wies dann auf das Telefon auf seinem Schreibtisch, was bedeutete: Notaufnahme im Castlebar General Hospital anrufen.

»Er hat ziemlich was abbekommen. Aber es war – es war nur ein Warnschuss. Ich möchte zu Protokoll geben, dass ich Angst um mein Leben und um das Leben meines Sohnes hatte. Ich habe nicht auf ihn gezielt. Er ist auf mein Anwesen eingedrungen. Ich hatte Angst um mein Leben und wollte ihn nur vom Grundstück verjagen.«

Der Mann befand sich im Freien und telefonierte von einem Handy aus; zwischen dem Kratzen und Knirschen der Elemente rings herum war seine Stimme bald zu hören, bald nicht.

»Ich brauche Ihren Namen«, sagte Noonan, und als der Mann nicht sofort antwortete, sagte sie: »Es ist wichtig, dass Sie jetzt meine Fragen beantworten, bitte.«

»Bertie. Bertie Creedon«, sagte der Mann.

»Wo befindet sich Ihr Grundstück, Mr Creedon?«

»In Rathreedane. Ich wohne auf der anderen Seite von Rathreedane.«

»Das müsste ich schon genauer wissen.«

»Sie nehmen die Straße nach Bonniconlon bis Mills Turn. Kennen Sie Mills Turn?«

»Ja«, sagte Noonan und kritzelte in ihr Notizbuch Mlls Trn. »Wie fahre ich von dort weiter?«

»Nach Mills Turn nehmen Sie die dritte Straße links. Folgen Sie dieser Straße anderthalb Meilen, bis Sie zu einem Bauernhof mit einem gelben Bungalow kommen. Davor steht ein ’92er Fiat-Wohnmobil auf Backsteinen.«

»Gelber Bungalow, Fiat-Wohnmobil, ’92er Nummernschild, auf Backsteinen«, rezitierte Noonan, während sie schrieb. »Gut, ich habe Sie, Ihren Sohn und den Mann, der angeschossen wurde – gibt’s sonst noch jemanden auf dem Grundstück, den wir berücksichtigen müssen?«

»Das war’s.«

»Und die Verletzung? Wie oft ist der Mann getroffen worden?«

»Nur das eine Mal. Aus Versehen. Wie ich schon sagte.«

»An welcher Körperstelle ist er getroffen worden, können Sie das sagen?«

»In der – in der Mitte. In der Magengrube.«

»Mit was für einer Waffe wurde auf ihn geschossen?«

»Mit einer Schrotflinte.«

»Doppelläufig?«

»Doppelläufig.«

»Und das ist Ihre Waffe, ja?«

Durch die Leitung kam das Knurren eines fast befriedigt klingenden Räusperns. »Ich besitze einen Waffenschein, und ich bin froh, dass ich die Flinte habe.«

»Soweit Sie feststellen können, blutet der Mann stark? Ich möchte nicht, dass Sie ihm die Finger in die Wunde stecken, aber es ist wichtig, die Blutung irgendwie zu stoppen, wenn Sie können.«

»Der Sohn ist ins Haus gegangen und hat sämtliche Handtücher aus dem Wäscheschrank geholt. Wir haben die Blutung gestillt, so gut es ging.«

»Das ist gut, Mr. Creedon. Üben Sie weiter Druck auf die Wunden aus. Wir fahren jetzt los. Der Rettungswagen ist schon auf dem Weg. Ich möchte Sie bitten, Ihre Waffe zu sichern, falls Sie es nicht schon getan haben …«

»Was dem Kerl zugestoßen ist – daran ist er selber schuld«, warf Creedon mit erneuerter Überzeugung ein. »Er war auf meinem Grundstück, er war dabei, ein Verbrechen zu begehen, und ich hatte Angst um mein Leben und um das Leben meines Sohnes. Ich möchte, dass das klar ist.«

»In Ordnung. Wir sind in fünfzehn Minuten da, Mr. Creedon. Befolgen Sie, was ich Ihnen wegen der Waffe gesagt habe. Lassen Sie uns die Waffe einfach mal aus dem Spiel nehmen …«, sagte Noonan, doch ein kurzes Tuten verriet ihr, dass das Gespräch beendet war.

Noonan ließ das Telefon auf ihren Schreibtisch fallen.

»Hast du alles mitgekriegt?«, fragte sie Swift.

»Der Rettungswagen ist unterwegs«, sagte Swift.

»Wir sind zuerst da«, sagte Noonan und sprang auf.

Noonan und Swift waren schon auf dem Weg, als sie über Funk Crean erreichten.

»Ein Schuss ist gefallen, ein Mann verletzt, Schusswaffe noch nicht sichergestellt«, fasste Crean zusammen, nachdem Noonan ihm die Situation geschildert hatte.

»So ungefähr«, sagte Noonan.

»Ich frage mich, ob wir nicht die Spezialeinheit verständigen sollten«, schlug Crean vor.

»Der Typ, der geschossen hat, hat sich aus freien Stücken bei uns gemeldet. Ich habe ihm Fragen gestellt, er hat sie beantwortet. Er scheint vernünftig zu sein.«

»Wenn es um Schusswaffen geht, kann man sich auf Vernunft nicht verlassen.«

»Lassen Sie uns erst mal hinfahren und die Lage sondieren. Noch gibt’s keinen Grund zur Eskalation.«

»Ich bin grad auf der anderen Seite von Ballina und werde, sobald ich kann, zu Ihnen stoßen. Aber, Noonan, wenn Sie vor Ort sind und auch nur den leisesten Verdacht haben, dass irgendetwas nicht stimmt, möchte ich, dass Sie sich zurückziehen und auf mich warten.«

»Ich höre Sie.«

»Viel Glück«, sagte Crean und beendete das Gespräch.

Sie waren ein paar Meilen von Mills Turn entfernt, als sie ins Kielwasser eines Traktors gerieten, der einen mit Schafen beladenen Anhänger zog. Mit jaulender Sirene fuhr Noonan dicht auf den Anhänger auf, doch der Straßenabschnitt, auf dem sie sich befanden, war nicht breit genug, als dass der Traktor sie hätte überholen lassen können.

»Verdammt, nun mach schon«, knurrte Noonan, als der Anhänger vor ihnen hin und her schwankte. Die Schafe standen dicht gedrängt, die roten Farbmarkierungen auf ihrem Fell waren wie blutige Handabdrücke, und sie schoben ihre Schnauzen ängstlich fragend zwischen den Gitterstäben hindurch. Sobald sich die Straße verbreiterte, ließ Noonan den Motor aufheulen und raste an dem Traktor vorbei.

Wie angewiesen, nahmen sie nach Mills Turn die dritte Abzweigung nach links und befanden sich jetzt auf der Straße nach Rathreedane. Rathreedane war nichts als flaches Weideland, durchsetzt von weit auseinanderliegenden Häuser, die abseits der Hauptstraße am Ende langer Zufahrten lagen, und von Kühen, die mitten auf den Weiden ruhten wie Felsblöcke und die letzten schwindenden Sonnenstrahlen des Tages aufsogen. Dort, wo die Böschungen niedrig waren, leuchteten dieselben Strahlen, von Staubkörnchen wimmelnd und noch immer schneidend hell, Noonan ins Gesicht. Sie klappte die Sonnenblende herunter. Sie musterte den Frischling. Swift war stiller als sonst, er hielt den Blick starr aus dem Fenster gerichtet und wackelte hektisch mit dem Knie.

»Das ist der Inbegriff von Sonne«, sagte Noonan. Sie redete nur, um zu reden, um Swift aus seiner Insichgekehrtheit herauszuholen, zurück ins Hier und Jetzt. »Man könnte meinen, wir wären irgendwo am Äquator. So eine Sonne hab ich seit Guadalajara nicht mehr gesehen. Du weißt, wo Guadalajara ist, Pronsius?«

»Auf der anderen Seite von Belmullet?«

Noonan lächelte.

»Im Grunde ja. War vor ’n paar Jahren da. Unglaublich, wie schön es da ist. Da ist einfach ein anderes Licht.«

»Ich nehme an, die Welt ist überall anders.«

»Wir waren zu unserm Hochzeitstag da. Es war Trevors Idee. Trevor ist der Reiselustigere von uns beiden«, fuhr Noonan fort. Trevor war ihr Mann. »Den Ort zu genießen, wo man hinfliegt, ist eine Sache. Aber Trevor hat eine Vorliebe für das Reisen an sich, für das Gepäck und die Sicherheitskontrollen, für die Zeitzonen, die kleinen Essenstabletts, die man an Bord bekommt, mit dieser Aluminiumfolie, die man abziehen muss, sogar dafür, dass wir inzwischen zwei maulende Teenager überallhin mitschleppen müssen. Irgendwie ist Trevor bei all dem immer ganz aufgekratzt. Was mich angeht, ich könnte ein langes, glückliches Leben führen, ohne jemals wieder durch einen Metalldetektor zu gehen. Warst du schon mal an ’nem exotischen Ort, Pronsius?«

»Ich war schon mal auf der anderen Seite von Belmullet.«

»Gut für dich.«

»Ach«, seufzte Swift, »eigentlich interessiert mich das nicht. Mir gefällt’s, wo immer ich bin.«

»Ein Mann nach meinem Herzen.«

Bald hatten sie das Haus gefunden, einen niedrigen Bungalow am Ende einer gekiesten Auffahrt. Hinten auf dem Grundstück waren die roten Wellblechdächer der Wirtschaftsgebäude zu sehen, auf dem Rasen vor dem Haus war ein riesiges, klappriges weißes Wohnmobil gestrandet.

»Jetzt schauen wir mal, was hier Sache ist«, sagte Noonan.

Sie schaltete die Sirene aus und lenkte den Wagen zwischen den Betonpfosten der torlosen Toreinfahrt hindurch. Der Streifenwagen holperte und schlingerte, als er die ratternden Metallstäbe eines Weiderosts passierte. Neben dem Wohnmobil standen Gartenmöbel und etwas, das aussah wie eine kleine, in den Boden eingelassene Feuerstelle; in dem Wallgraben aus Asche rund um die Grube steckten leere Weinflaschen. Woanders im Gras verstreut lagen Säcke mit Futtermitteln, ein zerlegter, verrosteter Motorblock, Planenreste, Holzreste, Metallrohre, Plastikrohre, aller mögliche Krempel und Krimskrams.

»Nun schau dir diesen Scheiß an«, sagte Noonan.

»Ganz ruhig«, sagte Swift mit einem Kopfnicken.

Ein Mann war um die Hausecke gebogen. Er hielt sich etwas an den Kopf, den anderen Arm hatte er erhoben, die Handfläche zeigte nach vorn.

Noonan stellte den Motor ab und stieg aus dem Streifenwagen. Dabei nahm sie die Tür als Deckung. Swift tat es ihr auf seiner Seite nach.

»Ist das der Wohnsitz der Creedons?«, fragte Noonan.

»Da können Sie sicher sein«, sagte der Mann.

Er presste ein blau-weiß kariertes beflecktes Geschirrtuch an die Schläfe. Die Flecken sahen nach Blut aus.

»Ich bin Sergeant Noonan von der Ballina Garda Station. Das ist Garda Swift. Sind Sie Bertie Creedon?«

»Mein Gott, nein.«

»Dann sind Sie also der Sohn?«

»Das trifft die Sache schon eher.«

»Wie heißen Sie?«

»Ich hab da ja nichts zu melden, aber jeder Arsch, der mich kennt, nennt mich Bubbles.«

Bubbles sah aus wie ein Mann Anfang dreißig. Er war untersetzt, sein Schädel kahl rasiert. Er trug ein verblichenes graues T-Shirt, auf das in zerfallender weißer Schrift QUEENS OF THE STONE AGE, ERA VULGARIS aufgedruckt war. Seine Unterarme waren mit feuchten dunklen Blutflecken besprenkelt, es sah aus wie die Fußspuren eines Vogels.

»Wir haben gehört, es hat da ’n bisschen Ärger gegeben?«, sagte Noonan.

»Hat es.«

»War der Schlag auf den Kopf Teil des Ärgers?«

»’n bisschen, ja«, sagte Bubbles und hob das Geschirrtuch von der Schläfe, damit sie sie inspizieren konnten. Über seiner Augenbraue klaffte eine offene Wunde.

Noonan pfiff durch die Zähne.

»Ich wette, die muss genäht werden. Wie ich höre, gibt’s hier noch einen Mann, der ziemlich übel dran ist, stimmt das?«

»Ja, den gibt’s.«

»Ist das sein Blut?«

»Etwas davon, ja.«

»Können Sie uns zu ihm bringen?«

»Kann ich.«

»Hol den Notfallkoffer«, sagte Noonan zu Swift. Swift öffnete den Kofferraum, entnahm ihm eine sperrige Tasche mit mehreren Fächern und übergab sie Noonan.

»Gehen Sie voran«, sagte sie und schob sich den Gurt des Notfallkoffers über die Schulter.

Bubbles räusperte sich.

»Die Situation hier. Sie müssen verstehen, mein Vater hatte Angst um unser Leben.«

»Das werden wir sicher berücksichtigen.«

Bubbles führte Noonan und Swift über einen kurzen Feldweg zum Hof auf dem hinteren Teil des Grundstücks. Er war über und über mit verfilztem, niedergetrampeltem Stroh bedeckt. Noonan sah, wie Bubbles gleichgültig in einen Kuhfladen von der Größe eines Esstellers trat, wobei sein Stiefelabsatz in der Kruste des Fladens eine suppende Bissspur hinterließ. Der schwere, körnig-süße Wohlgeruch von Viehfutter und Kot war allgegenwärtig. Durch ein Fenster, das in die Wellblechfassade eines Stalls geschnitten war, blinzelten Kühe mit starren, rotgeränderten Augen, als wären sie aus dem Schlaf geschreckt worden.

»Dort haben wir ihn erwischt, dreist wie sonst was«, sagte Bubbles und deutete auf einen großen, zylindrischen Öltank neben dem Kuhstall, der auf einem Bett aus Backsteinen stand.

»Wollte er Öl klauen?«, fragte Noonan.

»So was von saudumm«, sagte Bubbles kopfschüttelnd. »Vom vergangenen Winter ist doch gar nichts mehr da, und aufgefüllt wird erst in ein paar Monaten. Wer hat schon mitten im Sommer ’n vollen Öltank?«

Sie passierten eine letzte Reihe von Ställen und gelangten auf ein offenes Feld. Etwa fünfzehn Meter vor ihnen beugte sich eine kleine Gestalt über eine andere. Am Horizont konnte Noonan die stumpfen Einschnitte der Ox Mountains erkennen.

»Bertie Creedon?«, rief Noonan dem stehenden Mann zu.

»Genau der«, sagte Creedon, ohne den Blick von dem Mann am Boden zu nehmen. Seine Schrotflinte hielt er lässig unter den Arm geklemmt.

Noonan ging ohne Eile, in gleichmäßigem Tempo, auf Creedon zu und achtete darauf, nicht aus dem Tritt zu geraten. Als sie nur noch wenige Schritte von ihm entfernt war, schaute er sie schließlich an. Creedon hatte wässrige blaue Augen, Wangen, die mit einem Netz aus aufgeplatzten Äderchen überzogen waren, sich lichtendes, gelbstichiges, vom Wind zerzaustes Haar und kleine erodierte Zähne. Er reagierte nicht, als Noonan den Lauf der Schrotflinte ergriff, mit der anderen Hand den Kolben umfasste und die Waffe so sicher und sanft in die Arme nahm, als bemächtige sie sich eines Neugeborenen. Sie überprüfte die Sicherung, knickte den Lauf ab, ließ die Munition aus dem Patronenlager gleiten und steckte die Patrone ein.

»In Ordnung«, sagte Noonan.

Sie reichte die Waffe an Swift weiter, warf einen zweiten Blick auf Creedon, um sich zu vergewissern, dass er nichts im Schilde führte, und richtete dann ihre Aufmerksamkeit auf den Mann, der der Länge nach im Gras lag. Der Mann war jung und, wie es aussah, hoch aufgeschossen; sein dunkles Haar klebte ihm in Strähnen auf der blassen Stirn, und einen Moment lang erkannte Noonan ihn nicht, denn vor lauter Schmerz waren seine Gesichtszüge bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Erst als seine zusammengekniffenen Augen angsterfüllt aufklappten – auch sie waren blau, aber von einem tieferen, aufgeladeneren Blau als die des Farmers, geradezu phosphoreszierend –, verwandelte sich sein Gesicht in eines, das Noonan kannte.

»Gott im Himmel, bist du’s, Dylan Judge?«

Der Mann am Boden stöhnte auf.

Dylan Judge stammte aus der Stadt Ballina. Er war das, was man als polizeibekannt bezeichnen würde. Mit Anfang zwanzig hatte er bereits einiges auf dem Kerbholz: Verurteilungen wegen minderschwerer Vergehen wie Einbruchsdiebstahl, ungebührlichem Verhalten unter Alkoholeinfluss, Drogenbesitz. Judge war einer jener produktiven, unverbesserlichen Kleinganoven, die über einen ausgeprägten kriminellen Instinkt, nicht jedoch über echtes kriminelles Talent verfügten. Er war Gelegenheitstäter, impulsiv und undiszipliniert, und es bedurfte nur geringer Überzeugungskraft – und nicht einmal eines übermäßig großen Anreizes –, um ihn für einen hinterlistigen Plan zu gewinnen, solange der Plan nicht allzu viel Mühe oder Voraussicht erforderte. Noonan kniete sich neben Judge ins Gras und nahm den Notfallkoffer von der Schulter. Sie riss eine Packung Nitrilhandschuhe auf und streifte sie sich über.

»Kannst du dich noch an mich erinnern, Dylan?«

Judge blickte ausdruckslos zu ihr auf.

»Noonan, Sergeant Jackie Noonan aus Ballina. Und das da ist Garda Pronsius Swift.«

»Pronsiusssss«, wiederholte Judge spöttisch.

»Ganz recht, ein Name, der Aufmerksamkeit auf sich zieht«, sagte Noonan, als sie begann, Judges Wunden zu untersuchen. Ein Haufen Handtücher bedeckte seine Leistengegend und war unter seinen Hintern gestopft. Die Handtücher waren pflaumendunkel von Blut, ebenso seine Jeans. Am Ausmaß der Blutung konnte Noonan erkennen, dass es ihm sehr schlecht ging. Sie holte Verbandsmull und Kleiderschere hervor.

»Kannst du dich noch an unsere letzte Begegnung erin nern?«, fragte Noonan. »Wir waren hinter einer Zigarettenlieferung her und sind bei dir zu Hause gelandet.«

»Ihr habt mir doch zu jeder Tag- und Nachtzeit die Bude eingerannt«, sagte Judge, der sich offenbar wirklich erinnerte.

»Wir dachten, wir hätten dich, Dylan.«

»Und ihr hattet Pech.«

»Das eine Mal ja.«

Es musste vor etwas mehr als einem Jahr gewesen sein. Sie hatten einen glaubwürdigen Hinweis erhalten, dass Judge auf einer beträchtlichen Menge aus dem Norden geschmuggelter Zigaretten saß, also besorgten sie sich einen Durchsuchungsbefehl und stürmten Judges Haus in der Wohnsiedlung Glen Gardens. Streng genommen handelt es sich gar nicht um Judges Haus, denn wenn Noonan sich richtig erinnerte, stand nur der Name der Freundin im Mietvertrag. Sie führten die Razzia im Morgengrauen durch und zwangen Judge, seine Freundin und ihre kleine Tochter, in ihren Schlafanzügen draußen im kalten grauen Dämmerlicht zu warten, während die Beamten das Haus auf den Kopf stellten. Noonan erinnert sich noch an die Freundin: Sie war knapp über 1,50 groß, spindeldürr und aufgebracht und fluchte unaufhörlich, während das kleine Mädchen, nicht älter als drei oder vier Jahre, auf dem Arm der Mutter mit großen Augen und in ernstem Schweigen zusah, wie die Polizisten im Haus ein und aus gingen. Soweit Noonan sich erinnerte, hatte der Bursche hier nicht einen Pieps von sich gegeben. Die Augen zu Boden gesenkt, hatte er sich kleinlaut hinter seiner wutschäumenden Tusse versteckt. Und obwohl sein ganzes Verhalten auf »zutiefst schuldig« hindeutete, erwies sich die Razzia als Reinfall. Das Einzige, was sie fanden, war ein halbes Dutzend Stangen Zigaretten unter einer Plane im hinteren Teil des verdächtig leeren Schuppens, bei weitem nicht genug, um Anklage wegen Verkaufsabsicht zu erheben.

»Bist du immer noch mit dieser jungen Frau zusammen, Dylan? Die mit der großen Klappe?«, fragte Noonan. Sie wollte ihn wach halten und zum Reden bringen.

»Amy? Ja, dieselbe Braut.«

»Was die geflucht hat! Das schmächtige Ding hat in ihren flauschigen Pantoffeln dagestanden und uns mit allen erdenklichen Schimpfnamen belegt – und dabei die kleine Schönheit auf dem Arm gehabt, brav wie ein Lamm. Wie alt ist dein Mädchen?«

»Das ist Amys Kind.«

Vorsichtig entfernte Noonan die Handtücher, die Judges Leistengegend bedeckten. Judge rang nach Luft.

»Das ist in Ordnung, völlig in Ordnung«, sagte Noonan. »Es spielt keine Rolle, ob sie deine Tochter ist oder nicht, solange du sie gut behandelst.«

»Ich behandele sie wie eine Königin«, lallte er.

»Darauf möchte ich wetten. Jetzt musst du Geduld haben, Dylan.« Noonan streifte Judges Laufschuh ab, hob den Hosenaufschlag an, trennte das Hosenbein mit der Kleiderschere säuberlich vom Knöchel bis zur Hüfte auf und schälte den Stoff der Jeans zurück. Wo die Schrotkugeln in den Oberschenkel eingedrungen waren, konnte sie mehrere raue schwarze Einschussstellen erkennen. Die Haut war mit trocknendem Blut befleckt, und aus den Wunden sickerte unaufhörlich frisches Blut. Noonan schnitt weiter und löste behutsam das T-Shirt. Der Unterleib war voller Blut, und im Bauch waren große, hässliche Perforationen zu sehen, als wäre Judge aufgespießt worden. Noonan stieg ein übler Geruch in die Nase. Sie brauchte eine Sekunde, bis sie merkte, dass es der Geruch menschlicher Exkremente war.

»Wie sieht’s aus?«, krächzte Judge.

»Als wärst du angeschossen worden.«

»Scheiße, werd ich draufgehen?«

»Ich denke, wenn du verbluten würdest, hättest du’s schon längst getan«, wich Noonan ihm aus.

Sie konnte nicht viel tun, außer dafür zu sorgen, dass Judge ruhig und bei Bewusstsein blieb. So gut sie konnte, versuchte sie, ihre zitternden Hände unter Kontrolle zu bringen, und riss Verbandmull in Streifen. Als sie die Streifen auf die am schlimmsten aussehenden Wunden legte, sah sie, dass jedes Stückchen Stoff sofort von frischem Rot durchnässt wurde. Sie nahm eines der Handtücher und drückte es gegen seinen Unterleib. In der Nähe hörte sie ein leises, beharrliches Geräusch, und dort unten im Gras, unter Judges Kopf, drang aus einem Ohrstöpsel ein hauchdünner rasender Beat.

»Wie heißt die Kleine?«, fragte Noonan, aber Judge antwortete nicht. Seine Augenlider waren schwer und flatterten, wie bei einem Kind, das gegen den Schlaf ankämpft. Seine farblosen Lippen klebten ihm an den Zähnen.

»Komm schon, Dylan«, forderte Noonan ihn auf und tippte mit den Fingern gegen seine Wange. »Der Rettungswagen wird jeden Augenblick hier sein. Komm schon. Sie werden dich mit dem gutem Zeug vollpumpen. Rauschgift von pharmazeutischer Qualität, kein Scheiß.«

Noonan glaubte ein Lächeln zu sehen, ein schwaches Zucken auf Judges Lippen. Ein paar Meter weiter lag eine Metallstange im Gras, und ein Plastikkanister, aus dem ein Stück Schlauch ragte. Noonan fragte sich, wo Judge hatte hinrennen wollen, und dann sah sie sie, am äußersten Rand des Feldes: die gedrungene schmutzig-weiße Karosserie eines Quads, das auf einer stillgelegten, abschüssigen kleinen Landstraße abgestellt war.

»Siehst du das?«, sagte sie zu Swift. »Das Fluchtfahrzeug.«

Sie dachte daran, was Bubbles auf dem Hof gesagt hatte: Sommer sei die dümmste Zeit, um Öl aus einem Öltank zu stehlen. Noonan war auf dem Land aufgewachsen. Hinter dem Haus hatte es einen Tank gegeben, der jeden Herbst befüllt wurde, kurz bevor das kalte Wetter einsetzte. Während im Wohnzimmer stets ein Kaminfeuer brannte, war die Benutzung der Heizkörper streng rationiert. Ziel war es, dafür zu sorgen, dass die eine Ölfüllung den ganzen Winter über reichte. Und so war Jackie Noonans Haus ein kaltes Haus gewesen. Noonan erinnerte sich, wie ihre Mutter sie anbrüllte, sie sollten sich einen Pullover überziehen, wenn sie oder eines ihrer Geschwister es wagte, sich über die Kälte zu beschweren. Sie erinnerte sich an das einfach verglaste Fenster über dem Kopfende ihres Bettes in dem Schlafzimmer, das sie sich mit ihren Schwestern Maureen und Patricia teilte, an den Glaserkittgeruch des fliegenübersäten Fensterbretts und an den deutlich fühlbaren Schmerz in den Fingerspitzen, wenn sie an Wintermorgen das dünne Glas berührte.

Sie hielt Judges Arm und presste zwei Finger auf sein Handgelenk. Sein Arm war ein befremdlich kaltes Gewicht. Judge atmete noch, aber sie wollte das Pochen seines Pulses spüren, um sich davon zu überzeugen, dass sein Herz noch schlug. Mit der anderen Hand drückte sie ein Handtuch auf die schlimmsten Blutungen. Unter seinem Kopf konnte sie noch immer das winzige, blecherne ttt ttt ttt seiner Kopfhörer hören. Der faulige Gestank menschlicher Exkremente schien stärker zu werden. Es fühlte sich an, als dringe er in ihre Poren ein und setze sich im hinteren Teil ihres Rachenraums fest. Noonan glaubte, dass Dylan Judge, wenn der Krankenwagen nicht sehr bald eintraf, sterben würde – vermutlich starb er in jedem Fall.

»Da kommt die Kavallerie«, sagte Swift.

Noonan blickte auf und sah drei Gestalten über das Feld rennen, vorneweg Sergeant Dennis Crean, gefolgt von zwei Sanitätern mit einer Schaufeltrage. Kurz bevor er bei ihnen ankam, stolperte Crean, und sein Laufschritt verwandelte sich in ein plötzliches Humpeln.

»Scheiße!«, rief er aus.

»Alles in Ordnung?«, fragte Noonan.

»Ich hab mir den Knöchel verstaucht.«

Die Sanitäter knieten sich neben Noonan und Judge ins Gras.

»Wir übernehmen«, sagte einer von ihnen.

Noonan stand auf und trat einen Schritt zurück. Mit der behandschuhten Hand wischte sie sich über die Stirn und spürte das kalte, glitschige Blut.

»Das ist Dylan Judge«, sagte sie zu Crean, der beim Versuch aufzutreten eine Grimasse zog.

»Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«, fragte Crean und warf einen ungerührten Blick auf das weiße Gesicht des bewusstlosen Judge.

In seiner Jugend hatte Crean für Connacht Rugby gespielt. Der Rand seines linken Ohrs war reich mit Knubbeln verziert, seine Nase aufgrund mehrfacher Frakturen grob platt gedrückt. Diese Verletzungen aus der Vergangenheit in Verbindung mit Creans dickem Bauch und kräftigem Stiernacken ließen auf Tatkraft und Tüchtigkeit schließen. Noonan konnte hören, wie mit einem langsamen, bedächtigen Stoß Luft aus dem zusammengedrückten Nasengang entwich, ein Geräusch, das sie stets als beruhigend empfunden hatte.

»Judge war gerade dabei, das Öl aus dem Tank auf dem Hof zu stehlen, als die beiden ihn aufgestört haben«, sagte sie. Crean hob den Fuß, ließ ihn vorsichtig in der Luft kreisen und setzte ihn wieder ab.

»Wer hat auf ihn geschossen?«

»Bertie hier, der Ältere der beiden, behauptet, dass er es war«, sagte Noonan, als keiner der beiden Männer sprach.

»Es war keine Absicht«, sagte Creedon.

Crean gluckste in sich hinein.

Die Sanitäter machten Anstalten, Judge abzutransportieren. Sie hatten ihn auf die Trage geschnallt und ihm eine Sauerstoffmaske übers Gesicht gestülpt. Crean berührte Noonan am Ellbogen, um ihr zu signalisieren, sie solle sich nicht vom Fleck rühren. Er gesellte sich zu den Sanitätern und wechselte mit einem von ihnen ein paar geflüsterte Worte, bevor sie die Trage anhoben und sich auf den Weg zum Hof machten.

»Ist er noch am Leben?«, fragte Noonan, als Crean zu ihr zurückkam.

Creans Grunzen war mehrdeutig.

»Ich vermute, er war gerade im Begriff, das Zeitliche zu segnen, als Sie gekommen sind«, sagte sie.

»Darüber haben nicht Sie zu befinden«, sagte Crean. »Der Junge ist erst tot, wenn die sagen, dass er tot ist.«

Crean wandte sich an die Creedons.

»Nun verraten Sie uns mal, was hier passiert ist«, sagte er.

»Wir waren auf dem Viehmarkt in Balla«, sagte Creedon, »nur sind wir heute Nachmittag früher als sonst zurückgekehrt, weil der junge Mann heute Abend Footballtraining haben sollte. Wie wir angekommen sind, ist Bubbles auf den Hof, um nach den Tieren zu schauen.«

»Und da hab ich ihn gesehen, dreist wie sonst was, hat auf dem Tank gesessen, als würd er ’n Pferd reiten«, sagte Bubbles. »Mit dem Rücken zu mir. Bevor ich’s mir verkneifen konnte, hab ich ›He!‹ gerufen. Aber er hat nicht die geringste Notiz von mir genommen.«

Bubbles zeigte auf die Seite seines Kopfes.

»Der Kerl hatte Kopfhörer drin! Saß am helllichten Tag da oben, hörte Musik und hatte die beste Zeit seines Lebens. Also hab ich meinen Alten auf dem Handy angerufen und ihm gesagt, er soll schnell rauskommen, da ist ’n Kerl im Hof, und in dem Augenblick hat er sich umgedreht und mich gesehen. Zack war er unten, das Moniereisen in der Hand –« Bubbles deutete mit dem Kinn auf die Metallstange im Gras »– und bevor ich mich’s verseh, hat er mir ’n Schlag auf den Kopf verpasst.«

»Ich bin auf den Hof gekommen und hab genau das gesehen«, sagte Creedon. »Der Kerl steht, ’ne Stahlstange in der Hand, über meinen Sohn gebeugt, und der Kopf von meinem Sohn ist voller Blut. Sein eigenes Kind so zu sehen, das ist vielleicht ’n Schock.«

Noonan blickte zurück zum Hof.

»Was war dann? Ist er weggerannt?«

»Ich hab ihn angebrüllt, er soll aufhören, ich wollte nur, dass er aufhört«, sagte Creedon und schüttelte den Kopf. »Aber es ging alles so schnell.«

»Für mich sieht’s ganz danach aus, als wär er weggerannt und bis hierher gekommen –« Noonan zeigte auf den Flecken niedergedrücktes Gras, auf dem Judge gelegen hatte »– hätte sich dann zu Ihnen umgedreht und den Schuss in die Eingeweide abbekommen. Hört sich das richtig an?«

Creedon schüttelte den Kopf.

»Es war ein Warnschuss. Ein Schuss, um ihn zu verscheuchen.«

»Dad«, sagte Bubbles.

»Sie wollen mir also sagen, Sie haben nicht auf ihn gezielt?«, fragte Noonan.

»Ich schwöre bei meinem Leben, das hab ich nicht!«, sagte Creedon.

»Dafür, dass Sie nicht auf den Kerl gezielt haben, haben Sie aber ’n gehörigen Batzen aus ihm rausgeschossen.«

»Er war derjenige, der hierher gekommen ist«, sagte Creedon. »Er ist hierher gekommen!«

»Dad«, wiederholte Bubbles. »Sag nichts mehr.«

»Sie werden noch sehr viel mehr sagen, Sie beide«, sagte Crean. Er löste ein Paar Handschellen von seinem Gürtel und ließ sie aufschnappen.

»Garda Swift«, sagte er, »können Sie die Mr Creedon bitte anlegen.«

»Ich komme freiwillig mit«, sagte Creedon.

»So halten wir’s nun mal, Mr Creedon«, sagte Crean, als Swift die Handschellen entgegennahm. »Ein Team ist auf dem Weg, und sobald der Tatort gesichert ist, werden wir Sie und Ihren Sohn auf die Wache bringen und alles zu Protokoll nehmen. Die Handschellen dienen zu Ihrer eigenen Sicherheit. Pronsius, Sie können sie ihm vorne anlegen.«

Swift führte Creedons Arme auf Taillenhöhe zusammen und ließ die Handschellen zuschnappen.

»Kommen Sie«, sagte Crean zu Noonan. Er hatte ein Dutzend Schritte aufs Feld hinaus gemacht. Noonan konnte sehen, dass er den Fuß nur zögerlich aufsetzte. Sie folgte ihm.

Dennis Crean war neunundvierzig Jahre alt, Noonan fünfundvierzig. Er hatte es achtzehn Monate vor ihr zum Sergeant gebracht – was seine Laufbahn betraf, später als sie, chronologisch gesehen jedoch früher –, und so galt Crean nach dem Diktat der informellen, aber verbindlichen Hierarchie, die innerhalb jeder offiziellen Hierarchie existiert, als ihr Vorgesetzter, obwohl sie denselben Rang bekleideten. Niemand hatte sich ihr gegenüber je so geäußert – niemand hatte es je tun müssen, am allerwenigsten Crean, dessen Verhalten Noonan gegenüber untadelig war. Er war stets darauf bedacht, ihre Meinung einzuholen, und oft genug beugte er sich ihrem Urteil. Bei ihren dienstlichen Aufgaben gewährte er ihr jede Menge Spielraum und Handlungsfreiheit. Dennoch konnte Noonan nie ganz vergessen, dass ihr dieser Spielraum und diese Handlungsfreiheit immer nur gewährt wurden und dass er es war, der sie gewährte. Noonan wusste es, Crean wusste es. Schon vor langer Zeit hatte sie ihren Frieden mit dieser Regelung geschlossen und bemühte sich, es Crean nicht zu verübeln. Wäre er es nicht, wäre es ein anderer Typ, vermutlich ein weniger rücksichtsvoller. Crean war zuverlässig, entscheidungsfroh und loyal. Er war ein guter Polizist.

»Wie geht’s dem Knöchel?«, fragte Noonan ihn.

»Ich werd’s überleben. Bei Ihnen alles in Ordnung?«

Noonan nahm ihre Mütze ab. Marineblau, mit dem goldenen Abzeichen des Garda-Wappens auf dem schwarzen Band über dem Schirm. Noonan drehte die Mütze in ihren Händen und setzte sie wieder auf.

»Es war ein langes Wochenende«, sagte sie.

Crean blickte über das Feld.

»Trotzdem sehr ansehnlich, nicht wahr?«, sagte er und nickte in Richtung der Ox Mountains.

»Das sind sie.«

»Das ist das Problem mit Mayo. Aus der Ferne finde ich die Grafschaft sehr ansehnlich. Nur von nahem lässt sie einen im Stich.«

Noonan brachte ein Lächeln zustande.

»Die Familie muss informiert werden«, sagte Crean. »Können Sie das übernehmen?«

Noonan nickte.

Crean betrachtete sie einen Moment, kramte eine Packung Papiertaschentücher hervor und reichte sie ihr. Er tippte sich an die Schläfe.

»Ihre Stirn«, sagte er. »Sie können doch nicht bei der Familie vor der Tür stehen und das ganze Blut von diesem armen Schwein im Gesicht haben.«

Die Spurensicherung traf ein, ebenso die Kommissare Burke und McElroy aus Castlebar. Crean und die Kommissare eskortierten die Creedons zur Polizeiwache von Ballina. Auch Noonan und Swift fuhren zuerst zur Wache, damit Noonan sich säubern, das Hemd wechseln und noch einmal die Adresse, die sie in den Akten hatten, überprüfen konnte. Noonan wählte die im Telefonbuch aufgeführte Nummer von Amy Mullally; es nahm jedoch niemand ab, und sie beschloss, keine Nachricht zu hinterlassen. Sie rief zu Hause an und sagte Trevor, dass sie sich verspäten werde.

»Wie geht’s dir jetzt damit?«, fragte Noonan Swift, als sie im Stadtzentrum im Stau standen.

»Mir geht’s gut«, sagte er. »Ich meine, du weißt schon.«

Er führte den Gedanken nicht zu Ende, lächelte stumm und blickte hinaus auf die Straßen von Ballina, als sei er sich nicht ganz sicher, ob sie überhaupt vorhanden waren. Inzwischen war es dunkler, die Straßenlaternen warfen ihr grelles gelbes Licht auf den Asphalt.

»Ist das der erste Tote, den du im Dienst gesehen hast?«, fragte Noonan ihn.

»Das steht doch noch gar nicht fest.«

»Nein. Aber ist er das?«

»Da war dieser junge Bursche, der sich letzte Weihnachten in dem Kuhstall in Easky umgebracht hat.«

»Ich meine einen Mord.«

»Kurz nachdem ich von der Polizeischule in Templemore abgegangen war, gab’s ’n paar Bandenschießereien in Dublin. Aber ich bin erst hinterher dazugestoßen. Hab noch nie ’n Kerl vor meinen Augen sterben sehen. Du?«

Noonan schüttelte den Kopf.

Sie standen an der Ampel nahe der Einfahrt zum Parkplatz von Tesco. Eine Grüppchen halbwüchsiger Jungen überquerte die Straße. Sie waren zu fünft und bewegten