Helden des Glaubens Band 2 - Michael Kotsch - E-Book

Helden des Glaubens Band 2 E-Book

Michael Kotsch

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Beschreibung

In diesem zweiten Band geht es erneut quer durch die Kirchengeschichte, beginnend von den ersten Christen bis ins 20. Jahrhundert. Die dieses Mal etwas ausführlicheren 22 Kurzbiografien laden wieder dazu ein, hingebungsvolle Christen, die das Christentum vorangetrieben und bis heute mitgeprägt haben, kennenzulernen und sich durch das Handeln Gottes in ihrem Leben ermutigen zu lassen. Unter ihnen sind Theologen, Missionare, Bibelübersetzer, Entdecker, Wissenschaftler, Musiker und auch ganz normale Menschen. Ihr Vorbild spornt dazu an, die eigene Gegenwart besser zu verstehen und sich selbst mutig und gestärkt im Glauben innerhalb der eigenen Lebensgeschichte einzubringen.

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Seitenzahl: 762

Veröffentlichungsjahr: 2025

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„Mit dem Wort ‚Held‘ verbindet sich in der Regel die Erinnerung an gestandene Männer, die mit ihren Waffen einen mächtigen Feind bekämpften. Dass es auch Helden gibt, die sich nicht in einer kriegerischen Auseinandersetzung zu bewähren haben, sondern die ganz im Gegenteil helfen, heilen, Feindschaft beenden, mutige Pionierleistungen vollbringen, zeigt der zweite Band dieser Reihe von Michael Kotsch. Es werden Männer und Frauen der vergangenen Jahrhunderte vorgestellt, die Wegweisendes vollbracht haben. Der Autor zeichnet lebendige Porträts. Gemeinsam ist diesen Persönlichkeiten, dass sie die Kraft, Bahnbrechendes zu vollbringen, aus ihrem Glauben an Jesus Christus geschöpft haben. Bis in unsere Tage zehren wir von dem selbstlosen Einsatz dieser Glaubenshelden.“

Horst Marquardt

(Mitbegründer und langjähriger Leiter vom ERF, idea und dem Christlichen Medienverbund KEP)

„Michael Kotsch stellt in seiner inspirierenden Art in seinem zweiten Band ‚Helden des Glaubens‘ zentrale Persönlichkeiten der Kirchengeschichte vor. Einige der Helden des Glaubens sind allgemein bekannt, aber beim Lesen bekommt man neue Einblicke in das Leben dieser Menschen. Andere sind kaum bekannt und es ist faszinierend zu sehen, wir ihr Leben Geschichte geschrieben hat und wie ihr Glaube auch die Gesellschaft beeinflusst hat. Durchweg wird deutlich, wie Gott Geschichte mit Menschen aus unterschiedlichen Zeiten, Kulturen, Konfessionen und Denominationen geschrieben hat. Dem Kirchenhistoriker ist es gelungen die Geschichte lebendig und aktuell werden zu lassen. Ermutigend ist auch, dass Stärken und Schwächen der Persönlichkeiten thematisiert werden und dass Gott jeden gebrauchen kann. Abschließend findet der Leser weiterführende Literatur und Ansätze zum Nachdenken. Damit ist das Buch nicht nur eine geschichtliche Fundgrube, sondern bietet die Möglichkeit, aus dem Leben dieser Vorbilder zu lernen. Ganz im Sinne von Hebräer 13,7: ‚Haltet euch vor Augen, wie sie Gott bis ans Ende ihres Lebens vertrauten, und nehmt euch ihren Glauben zum Vorbild.‘“

Prof. Dr. Heinrich Derksen

Schulleiter und Dozent für Praktische Theologie, Griechischund Exegese (NT) am Bibelseminar Bonn

Bildnachweis

Sämtliche Fotos – wenn nicht anders ausgewiesen – sind gemeinfrei

bzw. lizensiert unter cc-by-sa-3.0 bzw. 2.5 oder 2.0, Wikimedia

Commons. Nähere Angaben am Ende des Buches.

Kotsch, Michael

Helden des Glaubens

22 Kurzbiografien aus der Kirchengeschichte – Band II

Best.-Nr. 275546 (E-Book)

ISBN 978-3-98963-546-3 (E-Book)

Soweit nicht anders angegeben, wurde folgende Bibelübersetzung verwendet: Elberfelder Bibel 2006, © 2006 by SCM R. Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH Witten/Holzgerlingen.

1. Auflage (E-Book)

© 2025 Christliche Verlagsgesellschaft mbH

Am Güterbahnhof 26 | 35683 Dillenburg

[email protected]

Satz und Umschlaggestaltung: Christliche Verlagsgesellschaft mbH

Wenn Sie Rechtschreib- oder Zeichensetzungsfehler entdeckt haben, können Sie uns gern kontaktieren: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Geschichte lohnt sich

1Irenäus von Lyon (135–202)

– Mit der Bibel gegen Gnosis und Esoterik

2Johannes Chrysostomos (349–407)

– Vollmächtiger Prediger für alle Lebenslagen

3Patrick von Irland (395–461)

– Vom Sklaven zum Sklavenbefreier

4Columban von Luxeuil (540–615)

– Das Kloster als Ort konsequenten Christenlebens

5Bonifatius (672–754)

– Für Mission und bibelorientiertes Christsein

6Kyrill (827–869) und Methodius (815–885)

– Evangelium für die Slawen

7Elisabeth von Thüringen (1207–1231)

– Ein Leben in Armut und Nächstenliebe

8Pilgram Marpeck (1494–1556)

– Das Neue Testament zuerst

9Johannes Calvin (1509–1564)

– Gottes Plan für alle Welt

10August Hermann Francke (1663–1727)

– Ideen für die geistliche Erneuerung der ganzen Welt

11Johann Sebastian Bach (1685–1750)

– Musik zur Ehre Gottes

12Marie Durand (1711–1776)

– Absolute Treue trotz Verfolgung und Versuchung

13Christian Friedrich Spittler (1782–1867)

– Beeindruckende Gründerpersönlichkeit …

14Johann Heinrich Volkening (1796–1877)

– Die Erweckungsbewegung verändert Mensch und Gesellschaft

15Karl Gützlaff (1803–1851)

– Pionier evangelischer Chinamission

16Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888)

– Solidarische Nächstenliebe in der Wirtschaft

17Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910)

– Vater der Kranken und Ausgestoßenen

18Hudson Taylor (1832–1905)

– Den Chinesen ein Chinese werden

19Ernst Modersohn (1870–1948)

– Auf der Suche nach einem heiligen Leben

20Toyohiko Kagawa (1888–1960)

– Der friedliche Revolutionär Japans

21Clive Stapel Lewis (1898–1963)

– Mit Verstand und Fantasie für Gott argumentieren

22Gladys Aylward (1902–1970)

– Mit Gott und Bibel durch China

Bildnachweise

Wohltuende Weite

Ein Vorwort

Die Helden des Glaubens erkennt man daran, dass sie sich ihrer Schwächen nicht schämen. Auch ihre Sünden müssen nicht verheimlicht werden. Die Stärke von Gottes Helden ist Gottes Kraft. Der Sieg ihres Lebens wurde am Kreuz von Golgatha erkämpft und durch die Auferweckung von Jesus am Ostermorgen durch Gott selbst bestätigt. Sie leben nach dem Motto des Apostels Paulus: „Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn“ (Philipper 1,21). Das ist ansteckende Gesundheit.

Die Lektüre dieses Buches wird jedem Christen guttun, weil es unser Leben in einen großen Zusammenhang stellt – vom 2. bis zum 20. Jahrhundert, von Europa bis China und Japan. Damit gewinnt unser Glaube an Jesus Christus Weite und Tiefe zugleich. Ich hoffe, dass viele dieses Mosaik aus Lebensbildern von „Helden des Glaubens“ aufmerksam betrachten. Ich bin sicher, das ist eine wirksame Medizin gegen die krankhafte Verengung von Glauben und Leben der Christen.

Ulrich Parzany

Einleitung

In den vergangenen Jahren habe ich zahlreiche, überwiegend positive Rückmeldungen zum ersten Band der Helden des Glaubens erhalten. Natürlich freut es mich sehr, dass mein mit einiger Arbeit zusammengestelltes Buch gelesen wird und offensichtlich vielen Christen zur Horizonterweiterung und auch zur persönlichen Ermutigung dient.

Im hier vorliegenden zweiten Band der Helden des Glaubens finden sich weniger, dafür aber ausführlichere Lebensbilder. Dabei handelt es sich immer noch um Kurzbiografien, die – was die Fakten betrifft – zuverlässig sind, aber doch auch leicht und schnell lesbar sein sollen. Allerdings habe ich mich diesmal entschieden, die vorgestellten Personen mit etwas mehr Details aus ihrem Leben und Denken zu porträtieren.

Erneut finden sich in diesem weiteren Band der Helden des Glaubens typische und prägende Vertreter ihrer Epoche. Insofern ist das Buch nicht nur eine Biografie-Sammlung, sondern gleichzeitig auch eine chronologische Darstellung der Kirchengeschichte. Hier kann man Christen aus allen vergangenen Jahrhunderten literarisch begegnen. Immer stehen die Porträtierten dabei auch für spezifische Fragen und Vorstellungen ihrer Zeit.

Wie schon beim ersten Band gilt natürlich auch hier: Über die Auswahl der dargestellten Personen kann man verschiedener Meinung sein. Bei den Vorarbeiten fiel es mir nicht immer leicht, mich für eine Person und damit gegen viele andere zu entscheiden. Natürlich gäbe es noch weit mehr Christen, an die es sich durchaus zu erinnern lohnt. Geplant ist für die kommenden Jahre immerhin auch noch ein dritter Band der Helden des Glaubens, in dem voraussichtlich weitere 22 bedeutende Personen der Kirchengeschichte von mir besprochen werden.

Alles in allem finden sich in diesem Buch sehr vielfältige Persönlichkeiten aus verschiedenen Ländern und Kulturen mit sehr unterschiedlichen Arbeitsschwerpunkten und konfessionellen Hintergründen. In deren Vorstellung geht es mir nicht so sehr um eine umfassende Biografie des betreffenden „Helden“. Aufgrund der beabsichtigten Kürze müssen natürlich viele Aspekte ihres Wirkens unter den Tisch fallen. Das gleiche gilt für manche problematischen Aussagen und Verhaltensweisen der beschriebenen Personen. Primär habe ich mich bei meiner Darstellung auf den Lebenslauf, die wesentlichen Glaubensüberzeugungen und auf das konzentriert, was diese Helden des Glaubens für Christen des 21. Jahrhunderts Positives und Herausforderndes hinterlassen haben. Manchmal betrifft das vermutlich auch Aspekte, die heute lebenden Menschen fremd und seltsam erscheinen, obwohl sie oftmals durchaus in der Bibel zu finden sind.

Vielleicht ist es gerade ein Kennzeichen echter Helden des Glaubens, dass sie keine perfekten Menschen waren. Denn gewöhnlich gebraucht Gott fehlerhafte Individuen, zu biblischen Zeiten ebenso wie in der Kirchengeschichte. So wird David als „Mann nach dem Herzen Gottes“ bezeichnet (Apostelgeschichte 13,22), obwohl er in seiner Laufbahn fast keine Sünde ausgelassen hat, von Lüge und Raub bis zu Ehebruch und Mord. So ist auch nicht jeder Aspekt der hier vorgestellten Personen vorbildlich oder biblisch richtig. Doch trotz ihres begrenzten Lebens und Denkens haben diese Menschen durchaus positive Spuren hinterlassen.

Natürlich gibt es immer auch konfessionelle und zeitgeschichtliche Besonderheiten jeder Person, die von mir bei diesen Lebensbildern in den Hintergrund gestellt wurden. Offensichtlich kann man beispielsweise von einem Menschen des Mittelalters nicht ernsthaft erwarten, dass er wie ein Christ des 21. Jahrhunderts denkt oder lebt. Vielleicht liegt hier aber auch gerade ein besonderer Reiz für die Beschäftigung mit Glaubenden aus vergangenen Zeiten. In ihrer Andersartigkeit fordern sie heute lebende Menschen heraus, sich kritisch mit dem auseinanderzusetzen, was gegenwärtig so natürlich und selbstverständlich erscheint, es mit dem Blick auf die Bibel aber nicht sein sollte.

Um mögliche Missverständnisse gleich zu Beginn zu vermeiden, hier noch ein Wort zu den Wunderberichten, die gerade in den Lebensbeschreibungen früher Christen häufig anzutreffen sind: Aus heutiger Sicht und im Blick auf die Frage nach dem Wahrheitsgehalt von frühchristlichen und mittelalterlichen Mirakelerzählungen ist die Grenze zwischen echter Historizität und legendarischer Ausschmückung einer Vita kaum mehr festzustellen. Jedenfalls unterstreichen sie die Bedeutung der vorgestellten Person und stehen vielleicht in irgendeinem Zusammenhang mit Umständen, die auf ein außergewöhnliches Wirken Gottes durch diese Person hinweisen. Dass sich solche Wunderberichte – an die biblische Tradition anknüpfend – einfach als „Gepflogenheit“ eingebürgert haben, kann man berechtigterweise vermuten, aber auch nicht von vornherein unterstellen. Ein wunderbares Eingreifen Gottes in der Geschichte sollte aber auch nicht von vornherein prinzipiell ausgeschlossen werden, wie es bei rationalistisch orientierten Historikern gewöhnlich geschieht.

Auf Literaturverweise und theologische Fachbegriffe wurde soweit wie möglich verzichtet, um das Buch für ein möglichst großes Publikum lesbar zu machen. Es wird hier auch nicht jede Nuance einer vorgestellten Person beleuchtet oder jede momentan in der historischen Forschung laufende Diskussion aufgegriffen.

Die in den entsprechenden Kapiteln angeführten Zitate stammen überwiegend von der dort porträtierten Person. In einzelnen Fällen wurden Orthografie und Formulierungen an die heute übliche Ausdrucksweise angeglichen, ohne den Inhalt dabei wesentlich zu verändern.

Da es sich bei den gewählten Bildern teilweise um Originale aus dem 19. und beginnenden 20. Jahrhundert handelt, ist deren Qualität gelegentlich unbefriedigend. Hoffentlich erfüllen sie trotzdem ihren Zweck und helfen dem Leser, sich besser in die entsprechende Zeit einfühlen zu können.

Diese Kurzbiografien eignen sich, um einen schnellen Überblick über das Leben engagierter Christen zu gewinnen. Von der gewählten Länge her bieten die Lebensbilder genügend Material für eine Vorstellung im Schulunterricht oder im Hauskreis, in einer Frauen- oder Jugendstunde. Sie informieren schnell und wecken auch Neugierde auf mehr. Jeweils vier Literaturhinweise können einen Ansatz für die intensivere Beschäftigung mit der betreffenden Person bieten.

Als Anregungen zum Weiterdenken wurden am Ende jeder Kurzbiografie einige Thesen formuliert, die sich aus dem Leben und Denken der vorgestellten Person ergeben. Dabei handelt es sich nicht um theologisch abgesicherte Zusätze, sondern um den Versuch, einige geistliche Aspekte, die den Porträtierten wichtig waren, für die Situation des heute lebenden Lesers fruchtbar zu machen.

Nun wünsche ich Ihnen viel Freude und persönlichen Gewinn beim Eintauchen in das spannende Leben christlicher Männer und Frauen aus den vergangenen 20 Jahrhunderten.

Michael Kotsch

Geschichte lohnt sich

2000 Jahre Handeln Gottes mit Menschen umfasst die Kirchengeschichte. Durch die Auseinandersetzung mit dieser Zeit können wir Gott besser kennenlernen und nacherleben, wie er Geschichte gestaltet, Schritt für Schritt auf sein Ziel mit der Welt zugeht und in das Leben von einzelnen Menschen eingreift.

Durch die Kirchengeschichte lernen wir zu unterscheiden zwischen dem, was wirklich unabdingbar zum christlichen Glauben gehört, und dem, was kulturell und geschichtlich geprägt, also zeit- und ortsabhängig ist. Wir lernen, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden.

„Warum gibt es so viele Kirchen?“ – „Warum haben Christen Hexen verbrannt und Kreuzzüge durchgeführt?“ – „Was wollte Luther eigentlich?“ … Mit solchen und ähnlichen Fragen werden Christen häufig in der Gemeinde und auf der Straße konfrontiert. Kirchengeschichte will Antworten darauf geben und dadurch Orientierung vermitteln sowie Hilfen für darauf bezogene Gespräche bieten.

Lernen können wir beispielsweise von den Missionsprinzipien der Christenheit im Frühmittelalter und im 18./19. Jahrhundert. Auch Luthers reformatorische Erkenntnis von der Rechtfertigung des Sünders ist wichtig für unsere Tage, ebenso Calvins Betonung der Ethik, Wesleys Evangelisation, Fliedners Diakonie usw. Kirchengeschichte kann so zum Ansporn für eigene Aktivitäten werden.

Das Leben von Christen in der Vergangenheit kann und soll als Vorbild dienen. Wir werden herausgefordert, ihrer Bereitschaft, auf Gott zu hören, ihrer Korrekturfähigkeit, ihrer Hingabe oder ihrer Konsequenz nachzueifern. Negative Vorbilder können uns davor warnen, eigene Macht und eigenes Ansehen zu suchen, zu viele Kompromisse zu schließen oder Konflikte durch Gewalt zu lösen.

Wenn wir sehen, wie Gott über Jahrhunderte hinweg in die Geschichte eingegriffen hat, Christen geführt und bewahrt, scheinbar aussichtslose Situationen verändert, Menschen erneuert und die Welt trotz aller Bedrohungen erhalten hat, dann stärkt das unser Vertrauen in die Macht, in die Liebe und in die Zuverlässigkeit Gottes. Gott ist derselbe damals und heute; so wie er vor Jahrhunderten helfend und tröstend eingegriffen hat, tut er es auch heute noch.

Indem wir beobachten, wie Christen in anderen Zeiten und anderen Kulturen gelebt haben, müssen wir anerkennen, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, als ernsthafter Gläubiger zu leben. So gewinnen wir positiven Abstand zu unserer eigenen Tradition und Lebensweise, unserer Kleidung, unserer Musik, der Art und Weise, Gottesdienst zu feiern, den Tag einzuteilen oder die Freizeit zu gestalten. Plötzlich fällt die Vielfalt möglicher Ausdrucksformen eines konsequent christlichen Lebens viel stärker ins Auge. Wenn wir bemerken, dass nicht jede unserer Überzeugungen und Handlungsweisen die einzig mögliche für Christen ist, dann können wir eher Menschen in ihrer Andersartigkeit akzeptieren und uns selbst in Fragen korrigieren lassen, die von unserer Zeit und Kultur geprägt sind, von denen wir bisher aber annahmen, dass sie unabdingbar zum Glauben gehören.

1

Irenäus von Lyon

(135–202)

Mit der Bibel gegen Gnosis und Esoterik

Nicht immer sind sich alle, die als Christen auftreten, einig über die Grundlagen des Glaubens. Manche Gruppen verweisen auf spezielle Offenbarungen oder Propheten, andere passen die Lehre Jesu den eigenen Vorstellungen oder dem gerade vorherrschenden Zeitgeist an. Nicht ganz einfach ist es dann, nachvollziehbar aufzuzeigen, was als christlich gelten kann und was nicht. Im 2. Jahrhundert kristallisierte sich insbesondere das Neue Testament als höchste und nicht hinterfragbare Autorität über Theologie und Gemeindeleben heraus.

Von Smyrna nach Lugdunum

Irenäus (griechisch: Der Friedfertige) wuchs in einer christlichen Familie in der Nähe von Smyrna in Kleinasien auf (heute: Izmir/Türkei). Geboren wurde er um das Jahr 135. Später erinnerte er sich gerne daran, dass er schon als Jugendlicher dem damals berühmten Apostelschüler Polykarp (70–156) begegnet war, dem Leiter (Bischof) der griechischsprachigen Gemeinde von Smyrna. Hier wurde Irenäus theologisch geprägt und begann, sich für den christlichen Glauben zu engagieren. Als junger Mann war er eine Zeit lang Rhetor in Rom. In dieser Funktion hatte Irenäus für seine Auftraggeber öffentliche Reden über Philosophie, Politik oder Religion zu halten. Oftmals ging es auch lediglich um Festansprachen zu irgendwelchen persönlichen oder staatlichen Jubiläen.

Porträt von Irenäus

Römisches Amphitheater in Lyon

Auf seine zukünftige Lebensaufgabe stieß Irenäus im Jahr 177. Die damals schon sehr alte Gemeinde von Lugdunum (heute: Lyon/Frankreich) stand unter der Leitung von Pothinus (87–177), einem ebenfalls aus Kleinasien stammenden Mann, der in seiner Jugend noch den Jünger Johannes kennengelernt hatte. Durch Gerüchte und falsche Vorwürfe war die öffentliche Stimmung gegen die Christen immer schlechter geworden. Ihnen wurde der Zugang zu ihrer Kirche, zum Forum (Markt) und zu den Thermen (Sport- und Badezentren) verwehrt. Auf den Straßen wurden sie angepöbelt und geschlagen. Schließlich entschloss sich der römische Statthalter, den Christen den Prozess zu machen. Rund 50 Gläubige wurden daraufhin in der Arena der Stadt, dem Amphithéâtre des Trois Gaules, den wilden Tieren vorgeworfen. Pothinus und andere seiner Gemeindeglieder starben schon vorher an den Misshandlungen, die man ihnen im Gefängnis zugefügt hatte (177). Nach diesen massiven Übergriffen beruhigte sich die öffentliche Stimmung, und die Christen von Lyon suchten nach einem neuen Pastor. Sie entschieden sich, Irenäus zu berufen, der diese Wahl annahm, weil er darin einen Auftrag Gottes erkannte.

Lyon war damals die Hauptstadt der römischen Provinz Gallien. Hier befand sich das politische und wirtschaftliche Zentrum der ganzen Region. Rund 200 000 Einwohner bevölkerten die antike Metropole. Die Stadt galt als wohlhabend, sodass neben den einfachen Mietshäusern auch viele Paläste, mit Marmor ausgelegte Einkaufspassagen, großzügige Theater, Badehäuser (Thermen) und andere öffentliche Einrichtungen zu finden waren. Arbeit boten die metallverarbeitende Industrie, Glas- und Keramik- Produktion sowie Färbereien und Textilhandel. Die wirtschaftlichen Verbindungen reichten von Britannien bis an die Donau und nach Italien.

Kulturelle Vielfalt unter den Christen von Lyon

In der Stadt lebten auch zahlreiche kleinasiatische Griechen, sodass Irenäus nach seinem Umzug auf heimische Kultur stieß. Griechisch wurde damals in Lyon genauso selbstverständlich gesprochen wie Lateinisch und Keltisch. Wie aus den geschichtlich bekannten Namen der Christen abgeleitet werden kann, stammte ein großer Teil der Gemeinde von Lyon ursprünglich aus Kleinasien und Syrien. Aus wirtschaftlichen und politischen Gründen waren sie nach Gallien gezogen und bildeten jetzt eine kulturell fremde Minderheit in einer überwiegend keltischheidnischen Umgebung. Wie an vielen anderen Orten trugen auch hier eine große Freizügigkeit und Mobilität im Römischen Reich zur schnellen Ausbreitung des christlichen Glaubens bei. Irenäus schrieb dazu: „Die Welt hat Frieden durch die Römer. Und wir Christen bewegen uns ohne Angst auf den Straßen und fahren über das Meer, wohin wir wollen.“

Statue von Irenäus an der Frederiks-Kirche in Kopenhagen

Abgesehen von der Betreuung seiner überwiegend griechischsprachigen Gemeinde engagierte sich Irenäus für die Mission unter den Kelten. Er bemüht sich, ihnen in ihrer Muttersprache den christlichen Glauben zu erklären. Obwohl bis dahin noch keine keltische Bibelübersetzung existierte, stießen seine Predigten auf Interesse, und einige einheimische Gallier schlossen sich der christlichen Gemeinde von Lyon an.

Profilierter Friedensstifter

In den 25 folgenden Jahren bis zu seinem Tod1 engagierte sich Irenäus nicht nur für seine lokale Gemeinde, sondern auch weit über die Region hinaus, wenn es um die wichtigen theologischen Fragen seiner Zeit ging. Unter anderem verhandelte er mit dem Leiter der renommierten Gemeinde von Rom, Bischof Eleutherus (gest. 189), über den richtigen Umgang mit den Montanisten. Diese christliche Splittergruppe legte besonderen Wert auf eine strenge Ethik, auf Prophetie und spekulative Endzeiterwartung. Den übrigen Christen warfen sie Oberflächlichkeit und Ungeistlichkeit vor. Irenäus plädierte für Nachsicht und den Versuch, sie zurückzugewinnen.

Auch bei dem späteren Streit um den richtigen, kirchlichen Ostertermin setzte sich Irenäus für eine friedliche Lösung ein. Traditionell feierten die kleinasiatischen Gemeinden, mit denen sich auch Irenäus verbunden fühlte, Ostern am 14. Tag des jüdischen Monats Nisan (am Pessachfest). Viktor I. von Rom (gest. 199) favorisierte eine andere Berechnungsmethode und damit auch einen Ostertermin nach Pessach. Seine Macht als Leiter einer der größten Gemeinden der damaligen Christenheit wollte er benutzen, um seine Sichtweise durchzuboxen. Er drohte sogar damit, die Kleinasiaten als Irrlehrer zu exkommunizieren. Irenäus setzte sich durchaus erfolgreich dafür ein, diesen Streit nicht eskalieren zu lassen. Damit erreichte er zwar keine von allen akzeptierte Osterberechnung, immerhin aber eine vorläufige, gegenseitige Akzeptanz. Die Auseinandersetzungen um eine korrekte Berechnung des christlichen Ostertermins beschäftigten die Theologen dann noch mehrere Jahrhunderte.

Kampf gegen die Gnosis

Im 2. Jahrhundert wurden die christlichen Gemeinden nicht nur durch die äußere Verfolgung seitens des römischen Staates, sondern auch von innen heraus durch die Gnosis gefährdet. Diese esoterisch wirkende Religion übernahm biblische Begriffe und Geschichten, um sie dann entsprechend des eigenen Weltbilds umzudeuten. Gnostiker wollten Christen vorgeblich nicht vom Glauben abbringen. Stattdessen gaben sie vor, eine höhere Stufe geistlichen Lebens vermitteln zu können. Gewöhnliche Christen hätten nur den ersten Schritt im Glauben gemacht, behaupteten gnostische Lehrer. Wer weiter aufsteigen und sich schließlich mit Gott vereinen wolle, müsse auf ihre Erkenntnis hören.

In seinem Hauptwerk Adversus Haereses (Gegen die Häresien)2 setzt sich Irenäus detailliert mit der damaligen Gnosis auseinander. Zu Beginn des fünften und letzten Bandes seiner Verteidigungsschrift fasst er noch einmal seine Absicht und Arbeitsweise zusammen: „In den vier vorausgegangenen Büchern haben wir dir alle Häretiker benannt und ihre Lehren dargestellt. Wir haben jene, welche diese gottlosen Lehren erfunden haben, widerlegt, indem wir teils aus ihrer eigenen Lehre, die sie in ihren Schriften niedergelegt haben, teils aus der Vernunft die Beweismittel hernahmen. Wir haben die Wahrheit dargelegt und die Lehre der Kirche erklärt, welche die Propheten zwar schon verkündeten, Christus aber […] erst vollendet hat. Die Apostel haben sie überliefert, und von ihnen empfing sie die Gemeinde, bewahrte sie treu […] und übergab sie ihren Söhnen. So lösten wir alle Fragen, die uns von den Häretikern vorgelegt wurden, erläuterten die Lehre der Apostel und erklärten mancherlei, was der Herr durch Gleichnisse gelehrt hat.“

Gegen die Häresien

Die Gnosis (griechisch: Erkenntnis) war eine Offenbarung- und Erlösungsreligion, die im römischen Reich etwa zur gleichen Zeit wie der christliche Glaube auftrat. Gnostiker übernahmen Begriffe und Geschichten anderer Religionen, um sie von innen heraus umzudeuten. So gab es eine jüdische, eine christliche aber auch eine griechische Gnosis. Das allen Gnostikern gemeinsame Grundkonzept war dualistisch.3 Dem rein geistigen, weisen und immateriellen Gott stand der böse, an die Materie gebundene Schöpfer (Demiurg) gegenüber. Kleine Lichtteilchen der göttlichen Substanz (Seele) sollen nach gnostischer Vorstellung vor langer Zeit aus dem oberen Lichtreich in die finstere, untere Welt abgesunken sein (Emanation). Hier würden sie von den destruktiven Mächten des Demiurgen gefangen gehalten.

Die Welt, in der die Menschen augenscheinlich leben, war nach gnostischer Konzeption dumm, zeitlich befristet und von lauter Leiden erfüllt. Nur durch die Annahme erlösender Erkenntnis (Gnosis) könne die geistige Seele aus dem materiellen Körper befreit werden und sich wieder mit dem rein geistigen Lichtgott vereinen. Dieser Prozess werde durch einen langwierigen Kampf gegen kosmische Geister (Archonten) begleitet. Die Seele müsse sich aus der materiellen Enge der Welt lösen und zurück zu einer vorweltlichen Fülle (Pleroma) finden.

Die „christlichen“ Gnostiker

Da, wo Gnostiker biblische Elemente aufnahmen, identifizierten sie den Schöpfergott des Alten Testaments mit dem bösen Demiurgen, weil dieser schließlich für alles Materielle verantwortlich sei. Der höchste der destruktiven Archonten wird als unwissend und überheblich beschrieben. Dieser behauptet: „Es gibt keinen Gott außer mir.“ Der gnostischen Mythologie entsprechend habe er sich gegen den höchsten und weisesten Gott des Alls versündigt und wird deshalb Samael (Gott der Blinden) genannt. Jesus Christus sei der rein geistige Repräsentant des kosmischen Lichtgottes gewesen. Er habe selbstverständlich nie einen materiellen Körper besessen (Doketismus). In geheimen Mitteilungen an seine Jünger soll er das für einen Wiederaufstieg der Seele ins Reich des Lichts notwendige Wissen (Gnosis) weitergegeben haben.

Die christlichen Lehren von der Sünde und vom stellvertretenden Tod Jesu müssten rein geistlich verstanden werden. Allein die genaue Erkenntnis des kosmischen Kampfes zwischen Licht und Finsternis, Geist und Materie genüge, um das irdische Gefängnis des Körpers zu verlassen und selbst wieder reines Licht, Gott, zu werden. Dann würde der seelische Lichtfunke unsterblich und allmächtig wie der höchste Gott selbst, meinten die Gnostiker. Die biblischen Geschichten und Wunderberichte sind nach gnostischer Interpretation lediglich verschlüsselte Mitteilungen über den gerade stattfindenden, kosmischen Kampf, an dem sich die Menschen beteiligen könnten, wenn sie über die wahren Verhältnisse auf der Erde und im Universum aufgeklärt wären.

Im Alltagsleben waren manche Gnostiker streng asketisch, die anderen grenzenlos genussliebend. Weil die ganze irdische Welt und damit auch der menschliche Körper für die geistliche Entwicklung unwichtig sei, wollten gewisse Gnostiker nichts unternehmen, um diese materielle Hülle zu pflegen oder ihr gute Gefühle zu vermitteln. Das sei eine vollkommen überflüssige Zeit- und Energieverschwendung, behaupteten sie. Andere Gnostiker gingen vom gleichen Grundkonzept aus, kamen dann aber zu dem Schluss, dass man alles mit dem Körper machen könne, auch das, was andere als Unmoral ablehnen. Schließlich würde der Körper sowieso mit der ganzen übrigen, materiellen Welt vergehen. Dann könne auch das vorgeblich unmoralische Verhalten keinerlei Auswirkung mehr auf die Entwicklung des Geistes haben. Von daher könne man ohne Bedenken Essen, Trinken, Sex und Rausch nachgehen (Libertinismus). Das bringe einen zwar in der geistigen Evolution nicht weiter, behindere aber auch nicht.

Damals weit bekannte Repräsentanten einer christlich gefärbten Gnosis waren der aus Ägypten stammende Basilides (85–145), sein Schüler Valentinian (100–160) und der eine eigene Gegenkirche gründende Markion (85–160). Mit ihren Anhängern und Lehren setzte sich Irenäus in seinen Schriften auseinander. Insbesondere konzentrierte er sich dabei auf die unterschiedlichen Vorstellungen von Gott, vom Menschen, von der Erlösung, der Geschichte und der korrekten Auslegung der Heiligen Schrift.

Markion predigt seinen Anhängern

Nur eine Quelle für geistliche Wahrheit: die Bibel

Ausgangspunkt aller Argumentationen war für Irenäus die unbezweifelbare Offenbarung Gottes in der Bibel. Die gnostische Irrlehre (Häresie) war für ihn blind, naiv und betrügerisch, weil sie sich ganz deutlich gegen die klaren Aussagen Gottes stellte. Grundlage jeder christlichen Erkenntnis könne nach Irenäus allein die Bibel sein. Weil die Gnostiker deutliche Aussagen der Heiligen Schrift entweder verdrehten oder ganz ignorierten, mussten sie falsch liegen und durften sich nicht mehr rechtmäßig Christen nennen. Zuverlässige Kenntnisse über Gott und andere geistliche Aspekte der Wirklichkeit könnten, so Irenäus, nie ohne die Bibel, Gottes persönliche Mitteilung, erschlossen werden. „Wir haben sein Wort zur Regel der Wahrheit.“

Irenäus geht schon für seine Zeit, in der Mitte des 2. Jahrhunderts, von einem festen und allgemein anerkannten Kanon des Neuen Testaments aus. „Die Apostel predigten damals zuerst das Evangelium, aber später, durch den Willen Gottes, überlieferten sie es uns in der Heiligen Schrift, damit es ein Fundament und eine Säule unseres Glaubens werden konnte.“ Nur allein in diesen von Gott autorisierten und wörtlich eingegebenen Schriften (Inspiration) finden Christen die ganze Wahrheit für alle geistlichen Erkenntnisse und Lehren. Allein daran müssen sich auch die gnostischen Konzeptionen messen lassen. Die richtige Auslegung der Bibel allerdings gibt es nur im Einklang mit der christlichen Gemeinde, bei der Mehrheit der vorbildlich lebenden Gläubigen. „Wo die Kirche ist, da ist auch der Geist Gottes.“

Mit der Bibel gegen Gnosis und Esoterik

Nach Irenäus könne man jede gnostische Lehre mit einem Vergleich zu eindeutigen biblischen Aussagen entkräften. Im Gegensatz zu gnostischen Spekulationen spricht die Bibel nur von einem einzigen Gott, nicht von zwei miteinander konkurrierenden (Dualismus): „So haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von welchem alle Dinge sind“ (1. Korinther 8,6). Und: „Denn es gibt nur einen Gott und einen Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus“ (1. Timotheus 2,5).

Die Bibel – lateinische Übersetzung

In der Bibel gibt es auch keinen Gegensatz zwischen dem Schöpfer der Welt und dem Erlöser. Jesus Christus spricht: „Ich und der Vater sind eins“ (Johannes 10,30). Und: „Dadurch ist die Liebe Gottes zu uns sichtbar worden, dass Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch ihn leben können“ (1. Johannes 4,9).

Jesus Christus hatte nicht nur einen geistigen Scheinleib, wie gnostische Schriften erklärten, sondern einen irdischen, materiellen Körper: „Und das Wort [Jesus Christus] wurde Fleisch und wohnte unter uns; und wir sahen seine Herrlichkeit, eine Herrlichkeit als des Eingeborenen vom Vater, voller Gnade und Wahrheit“ (Johannes 1,14). Und: „Daran erkennt ihr den Geist Gottes: Jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, der ist aus Gott; und jeder Geist, der nicht bekennt, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, der ist nicht aus Gott. Und das ist der Geist des Antichristen“ (1. Johannes 4,2f.). Im Gegensatz zu den Gnostikern hielt es Irenäus für notwendig, dass Gott wirklich materiell Mensch wurde und nicht nur als Geist über der Erde schwebte. Dabei handelte es sich nicht um einen Unfall, sondern um den Ausdruck der Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen. „Der unfassbare, unbegreifliche Gott macht sich gerade deshalb sichtbar, begreifbar und fassbar für die Menschen, um ihnen Leben zu schenken, wenn sie ihn durch den Glauben aufnehmen und sehen.“

Irenäus ist fest davon überzeugt, dass sich die Gnostiker vollkommen zu Unrecht auf höhere, göttliche Erkenntnis (Gnosis) berufen. Deshalb spricht er insgesamt an 15 Stellen in seinem Buch von der „fälschlich sogenannten Gnosis (Erkenntnis)“. Mit dieser Formulierung bezieht sich Irenäus auf eine Warnung des Apostel Paulus an seinen engen Mitarbeiter Timotheus: „Bewahre das dir anvertraute Gut, meide das unheilige, nichtige Geschwätz und die Widersprüche der fälschlich so genannten Gnosis [Erkenntnis]!“ (1. Timotheus 6,20). Da echte geistliche Erkenntnis allein von Gott selbst kommen kann, der sich den Menschen in der Bibel mitteilt, müssen die Gnostiker sich irren. Nicht nur, dass keine ihrer Überzeugungen in der Bibel zu finden ist, sie widersprechen ihr sogar ganz offensichtlich. Echte geistliche Erkenntnis (Gnosis) kann für Irenäus nur im absoluten Einklang mit der Bibel und der überlieferten Lehre der Gemeinde formuliert werden.

Verpflichtende Zusammenfassung christlichen Glaubens

Ein weiteres Werkzeug im Kampf gegen die gnostische Irrlehre ist für Irenäus das auf die Jünger Jesu zurückgehende Apostolische Glaubensbekenntnis. Hier werden, für jedes Gemeindeglied verständlich, die Grundlinien christlichen Glaubens formuliert. Wer diesem Bekenntnis nicht voll und ganz zustimmt, kann nicht als gläubiger Christ bezeichnet werden.

„Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde.

Und an Jesus Christus, seinen eingeborenen Sohn, unsern Herrn, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben, hinabgestiegen in das Reich des Todes, am dritten Tage auferstanden von den Toten, aufgefahren in den Himmel; er sitzt zur Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters; von dort wird er kommen, zu richten die Lebenden und die Toten.

Ich glaube an den Heiligen Geist, die heilige christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen, Vergebung der Sünden, Auferstehung der Toten und das ewige Leben. Amen.“

Im Gegensatz zum Apostolischen Glaubensbekenntnis sahen Gnostiker jedenfalls im Schöpfer dieser Welt nicht den höchsten Gott. Sie lehnten auch ab, dass Jesus Christus ganz Mensch war, geboren von einer irdischen Frau. Natürlich hatte er dann, nach gnostischer Lehre, auch nicht sterben können. Erlösung, so meinten Gnostiker, ohne Jesus allein durch ihre spekulative Erkenntnis bekommen zu können. Und eine Auferstehung der Toten lehnten sie ebenfalls ab, weil sie nichts mehr mit dem menschlichen Körper und dem Tod zu tun haben wollten.

Sichere Überlieferungskette bis zu Jesus Christus

Außerdem wollte Irenäus die Gemeinde mit der Lehre von der apostolischen Sukzession vor gefährlichen Irrlehrern schützen. Dabei ging er davon aus, dass jeder Pastor ganz besonders durch seine geistlichen Lehrer geprägt und beglaubigt wird. Zu allen Zeiten vertraten die meisten Studenten eines profilierten Professors zumindest im Prinzip dieselben Überzeugungen wie ihr Lehrer. Noch mehr galt das natürlich für jemanden, der lange Zeit mit seinem prägenden Vorbild zusammengearbeitet hatte, wie die Jünger Jesu und deren Nachfolger. Auch ist davon auszugehen, dass ein zuverlässiger Gemeindeleiter nur einen klar stehenden Christen als seinen Nachfolger einsetzen wird und keinen Sektierer. Kennt man also die Lehrer eines Pastors, kann man daran zumeist auch auf seine Rechtgläubigkeit schließen.

Im Laufe der Geschichte entsteht auf diese Weise ein regelrechter Stammbaum der geistlich richtigen Überlieferung: Jesus setzte einen Jünger als verantwortlichen Geistlichen ein, z. B. Paulus. Dieser setzte wiederum einen zuverlässigen Nachfolger ein, z. B. Timotheus, usw. usw. – bis hinein in die Gegenwart.

Als monarchisches Episkopat bezeichnete man den gemeinsamen geistlichen Ursprung jedes legitimen christlichen Ältesten bzw. Bischofs (Episkopos) in der Berufung seines geistlichen Vorläufers durch Jesus Christus. Später führte dieser Gedanke in der Kirche zur Ordination von verantwortlichen Gemeindemitarbeitern. Demnach durfte jemand sein kirchliches Amt erst ausführen, wenn er durch eine ihm vorgesetzte Person eingesegnet wurde. Wer diese Zeremonie ausführte, musste selbst einmal rechtmäßig von einem geweihten Pastor legitimiert worden ein. Mit dieser geistlichen Hierarchie wollte Irenäus das Eindringen fremder, nicht überprüfter Irrlehrer in die christliche Gemeinde verhindern.

Irenäus als Exeget

In dem von Irenäus zusammengestellten Neuen Testament befanden sich 21 der heute akzeptierten 27 Schriften. Gegen alle äußeren Angriffe und Zweifel setzte er sich für die absolute Glaubwürdigkeit der neutestamentlichen Texte ein. Er war davon überzeugt, dass die Evangelien auf die Jünger Jesu (Matthäus, Johannes) bzw. auf die Begleiter des Paulus (Markus, Lukas) zurückgehen. Nicht ganz sicher war sich Irenäus bei der Einordnung von Schriften, deren Autorenschaft für ihn nicht feststand oder deren Theologie ihm nicht zur Lehre Jesu zu passen schien (Hebräer, Jakobus, 2. Petrus, Philemon, 3. Johannes, Judas). Rund 1000-mal zitierte Irenäus die neutestamentlichen Schriften in seinen eigenen Werken, vor allem, wenn es darum ging, sich auf eine höhere Autorität zu berufen.

Abgesehen von seinen theologischen Auseinandersetzungen mit pseudochristlichen Irrlehrern hob Irenäus bei seinen Bibelauslegungen einige Aspekte besonders hervor:

1.Immer wieder betonte Irenäus die Bedeutung Jesu als zweitem Adam. So wie durch den Ungehorsam des ersten Menschen die Sünde ihre Herrschaft etablieren konnte, so wurde deren tödliche Wirkung durch Jesus, den zweiten Adam, neutralisiert.

2.Maria als der zweiten Eva wurde von Irenäus eine ganz besondere Rolle zugesprochen. Wie Eva die Mutter aller Menschen war, könne Maria geistlich als Ursprung aller Christen betrachtet werden. Maria sei ihr Leben lang vorbildlich fromm, gehorsam und keusch gewesen.

3.In seinen Ausführungen über die Endzeit (Eschatologie) stellte Irenäus erstmals eine enge Verbindung zwischen den Aussagen der jüdischen Propheten (Jesaja, Hesekiel, Daniel) und den Texten des Neuen Testaments (Endzeitreden Jesu, Paulusbriefe, Offenbarung des Johannes) her. Den Antichrist (auch Mann der Sünde oder kleines Horn genannt) identifizierte er mit einem gefährlichen, gegengöttlichen Weltherrscher. Im Zusammenhang mit dessen rätselhafter Zahl 666 ließ sich Irenäus auch auf einige zeitbezogene Spekulationen ein. Vor dem wörtlich verstandenen 1000-jährigen Reich müsse es eine siebenjährige Trübsalszeit geben, in deren Mitte sich der Antichrist in den neuerbauten Tempel von Jerusalem setzten werde. Die Auferstehung aller verstorbenen Christen sei bei der zweiten Wiederkunft Jesu zu erwarten. Irenäus ging fest davon aus, dass die sechstägige Schöpfung als ein göttliches Muster für 6000 Jahre Menschheitsgeschichte angesehen werden müsse, die wie beim alttestamentlichen Ruhetag mit einer 1000-jährigen Friedensherrschaft Gottes abgeschlossen würde.

Jüngstes Gericht

Gottes Wahrheit ist mehr als menschliches Wissen

Langfristig in Erinnerung blieb Irenäus von Lyon durch die Formulierung grundsätzlicher Methoden zur Bewahrung der ursprünglichen christlichen Lehre: 1. der von Gott inspirierte und abgeschlossene Kanon des Neuen Testaments; 2. die im Apostolischen Glaubensbekenntnis zusammengefassten Eckpunkte christlicher Weltsicht; 3. die Einsetzung bewährter und zuverlässiger Gemeindeleiter, die in einer Linie mit Jesus und den Aposteln stehen. – Diese Prinzipien benutzte Irenäus insbesondere bei der Abgrenzung gegen den Versuch der Uminterpretation des Glaubens durch esoterisch-gnostische Irrlehrer.

Bei der Verteidigung des Glaubens wollte Irenäus primär gerade nicht auf menschliche Logik und Philosophie setzen. Ihm waren die Grenzen eigenen Denkens durchaus bewusst, vor allem, wenn es um Gott und die übernatürliche Welt ging. Wenn es dem Menschen schon schwer fällt, die irdischen Phänomene zufriedenstellend zu erklären, muss er bei Aussagen über den Himmel und die Seele umso zurückhaltender sein. Schlicht und einfach fehlen ihm die Möglichkeiten, Gott objektiv untersuchen zu können. Aus Irenäus’ Blickwinkel ist an dieser Stelle Bescheidenheit angebracht: „Wenn schon hier auf der Welt, vor unsern Füßen so vieles ist, was wir erfahren, was wir sehen, was uns umgibt, und es doch nicht ganz begreifen können, sondern es Gott überlassen, der mehr wissen muss als wir […]. was kann es uns schaden, zu akzeptieren, dass wir die heiligen Schriften, die so viel geistigen Inhalt haben, mit der Hilfe Gottes nur teilweise verstehen können. Alles Übrige hingegen müssen wir ihm überlassen, nicht allein in dieser, sondern auch in der künftigen Welt, sodass Gott immer lehrt, der Mensch aber lernt.“

Ausgewählte Literaturhinweise

Norbert Brox: Irenäus von Lyon, in: Martin Greschat, Hrsg.: Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 1. Alte Kirche, Stuttgart/Berlin, Kohlhammer Verlag 1984, S. 82-96

Irenäus von Lyon: Adversus haereses, Gegen die Häresien I-V, hrsg. von Norbert Brox, Fontes Christiani 1. Folge, Freiburg, Herder Verlag 1993–2001

Bernhard Mutschler: Irenäus als johanneischer Theologe. Studien zur Schriftauslegung bei Irenäus von Lyon, Tübingen, Mohr Siebeck Verlag 2004

Heinrich Ziegler: Irenäus der Bischof von Lyon: ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte der altkatholischen Kirche, Berlin, Georg Reimer Verlag 1871, Nachdruck Ulan Press 2012

Ansätze zum Weiterdenken

Immer wieder kommt es auch in der Christenheit zu Differenzen und voneinander abweichenden Traditionen. Die einzelnen Fragen, um die jeweils gestritten wird, verändern sich natürlich je nach Ort und Zeit. Wie mit Konflikten umgegangen wird, ist jedoch ähnlich. Die einen setzten mehr auf Konfrontation, die anderen auf Verständigung. Die einen halten ihre Sicht der Dinge für absolut und unveränderbar, die anderen sind manchmal auch bereit, mit einem Kompromiss zu leben. Irenäus war nicht nur als klar stehender Theologe, sondern auch als Friedensstifter bekannt.

Im Wettstreit der theologischen Interpretationen setzte Irenäus auf die Bibel als letzte Instanz. Logische Vernunftschlüsse oder momentane wissenschaftliche Erkenntnisse traten für ihn dahinter zurück, insofern es um geistliche Wahrheit ging. Auch heute ist es nötig, einen Maßstab zu definieren, mit dem verlässlich entschieden werden kann, welche Aussagen und Lehren als christlich gelten können und welche nicht.

In einer individuellen Welt finden auch die originellen und außergewöhnlichen Interpretationen der Bibel am meisten Aufmerksamkeit. Die traditionelle Sicht der Heiligen Schrift und einzelner Lehraussagen gerät häufig in Verdacht, abgestanden und überholt zu sein. Für Irenäus hatte aber gerade das Bibelverständnis der lebendigen christlichen Gemeinde eine weit größere Bedeutung als die individuelle Interpretation des Einzelnen.

Weil in der Bibel die jenseitige Welt als die eigentliche und letztendliche beschrieben wird, tendierten manche christliche Gruppen in der Vergangenheit zu einer totalen Ablehnung von allem Irdischen: von persönlichem Besitz, von Kunst, Freizeit und Sexualität. Für Irenäus hatte aber auch diese zwiespältige und zeitlich begrenzte Welt ihr Recht und ihre Bedeutung. Als Schöpfung und Eigentum Gottes ist sie nicht verachtenswert oder minderwertig. Gott selbst hat sich ganz auf diese materielle Welt eingelassen, indem er ein körperlich greifbarer Mensch wurde. Auch wenn das Irdische nur von begrenzter Dauer ist, hat es für Gott und für Christen Bedeutung.

1Gregor von Tours erwähnt, dass Irenäus um 202 unter dem römischen Kaiser Lucius Septimius Severus (145–211) den Märtyrertod starb. Er wurde dann in der Krypta der Kirche des hl. Johannes in Lyon begraben, die man später in St. Irenäus umbenannte.

2Der vollständige Titel des von Irenäus ursprünglich auf Griechisch abgefassten Buches lautete: Überführung und Widerlegung der fälschlich sogenannten Erkenntnis (Gnosis).

3Unter Dualismus (lateinisch: duo, „zwei“, oder dualis, „zwei enthaltend“, und -ismus) versteht man eine Lehre, die zwei Grundprinzipien des Seins annimmt, die sich ergänzen oder widersprechen.

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Johannes Chrysostomus

(349–407)

Vollmächtiger Prediger für alle Lebenslagen

Wenn man jemanden ermahnt: „Halt jetzt bitte keine Predigt!“, dann ist das nur selten positiv gemeint. Viele verbinden Predigten mit getragenen, langweiligen und manchmal auch heuchlerischen Ansprachen, auf die sie gut verzichten können. Natürlich trifft dieses Klischee nicht immer zu. Die Predigten John Wesleys bewahrten England vor einer Revolution. John Newtons Ansprachen trugen zur Abschaffung der Sklaverei bei. Predigten können trösten, korrigieren und direkt ins Leben sprechen. Vor rund 1600 Jahren lebte in der heutigen Türkei ein Prediger, der so treffend und lebensnah sprechen konnte, dass seine Zeitgenossen ihm den Ehrennamen Goldmund gaben. Manche seiner Zuhörer fühlten sich dermaßen betroffen, dass sie spontan in Tränen ausbrachen, andere spendeten ihm tosenden Applaus.

Antiochien – antike Metropole des Ostens

Johannes Chrysostomus (gr. Goldmund) wurde 345 in Antiochien am Orontes (heute Antakya in der Türkei) geboren. Damals hatte die Metropole schon eine ziemlich lange Geschichte hinter sich. Antigonos I. Monophthalmos, einer der Nachfolger Alexander des Großen (Diadochen), hatte Antiochien 307 v. Chr. gegründet. Nachdem die Stadt kürzere Zeit zum Königreich Armenien gehörte, wurde sie 64 v. Chr. als Hauptstadt der Provinz Syria ins Römische Reich eingegliedert. Mit fast 500 000 Einwohnern war Antiochien eine der wichtigsten Metropolen im östlichen Mittelmeerraum.

Aus Antiochia stammte Nikolaus, einer der ersten sieben Diakone (Apostelgeschichte 6,5). Nachdem sie in Jerusalem von jüdischen Fanatikern immer mehr unter Druck gesetzt worden waren, zogen viele Christen nach Antiochien (Apostelgeschichte 11,19-26). Hier entstand eine der ersten Gemeinden, und hier wurden die Nachfolger Jesu zuerst Christen genannt (Apostelgeschichte 11,26). Der Überlieferung nach versammelten sich in der St.-Petrus-Grotte, einer Höhlenkirche im Nordosten der Stadt, die ersten einheimischen Christen um Paulus, Barnabas, Petrus. Von der Gemeinde in Antiochien wurde Paulus zu seinen bekannten Missionsreisen berufen und ausgesandt (Apostelgeschichte 13,1-3). Später besuchte er die dort lebenden Gläubigen immer wieder (z. B. Apostelgeschichte 13,14; 14,26).

Antiochien am Orontes

Als Chrysostomus in Antochien geboren wurde, hatte die Stadt schon eine lange christliche Geschichte hinter sich. In mehreren repräsentativen Sakralbauten kam die große Gemeinde zusammen. Kaiser Konstantin (272–337) ließ nach der Beendigung der letzten Christenverfolgung eine Große Kirche erbauen, die auch Domus Aurea (dt. Goldenes Haus) genannt wurde (327–341). Daneben gab es allerdings auch noch eine lebendige Konkurrenz durch römisch-griechische Tempel. Der damals berühmte Rhetor Libanius (314–393) setzte sich in Antiochien offen für die alte Religion ein. Die Stadt profitierte von ihrer Lage an einer wichtigen Handelsrute in den Osten. Rund 20 Kilometer westlich lag der Mittelmeer-Hafen Seleukis-Pieria.

Konsequentes Christsein von Anfang an

Chrysostomus’ Vater Secundus war römischer Bürger und diente als hoher Offizier im syrischen Heer. Sowohl er als auch seine Frau Anthusa gehörten zur christlichen Gemeinde, wie der Historiker Sokrates mitteilt. Da man damals der Überzeugung war, ein Christ dürfe nach seiner Taufe keine schwere Sünde mehr begehen, sonst wäre er ewig verloren, ließen seine Eltern Chrysostomus vorerst ungetauft. Nachdem der Vater schon sehr früh starb, wurde er von seiner Mutter aufgezogen.

Da die Familie über genügend Geld verfügte, erhielt Chrysostomus eine solide Schulbildung. Als besonders wichtig betrachtete man damals die sprachlichen Fähigkeiten und die Philosophie. Unter anderem wurde der Junge durch den damals weithin bekannten Gelehrten Libanius geprägt. Chrysostomus’ Gefühl für Sprache und seine guten Kenntnisse der klassischen Literatur stammten aus dieser Phase seines Lebens. Kurzzeitig war er auch „von den Begierden der Welt gefesselt“, wie er später erzählte.

Nachdem er sich intensiv persönlich mit dem christlichen Glauben beschäftigt hatte, ließ sich Chrysostomus 372 taufen. Besonders die gehaltvollen Predigten des angesehenen Patriarchen Meletius (gest. 381) hatten ihn stark angesprochen. Eine solch frühe Taufe (mit 27 Jahren) war damals eher ungewöhnlich. Die meisten Christen ließen sich erst gegen Ende ihres Lebens taufen, um dann nicht mehr Gefahr zu laufen, die strengen ethischen Anforderungen Gottes zu überschreiten. Weit verbreitet war der Gedanke, dass dem Menschen mit der Taufe eine umfassende Sündenvergebung zugesprochen werde. Da man sich nur einmal taufen lassen konnte, wollte man diese Pauschalvergebung lieber am Ende des Lebens erhalten. Chrysostomus aber war fest entschieden, als konsequenter Christ zu leben, und wollte seinen Glauben deshalb durch die Taufe auch öffentlich bezeugen.

Zu dieser Zeit begann Chrysostomus mit seiner theologischen Ausbildung an einer klösterlichen Schule (Asceterium) unter der Leitung des Diodor von Tarsus (gest. 394). Hier wurde eine eng an der Bibel orientierte Exegese gelehrt. Auch in der Predigt sollten sich die zukünftigen Geistlichen vor allem am Wortlaut der Heiligen Schrift orientieren und weder ihre eigenen Konzepte noch allegorische (bildliche) Deutungen in die Bibel hineininterpretieren. Chrysostomus wurde hier das Vertrauen in die absolute Zuverlässigkeit der Schrift als historisch und ethisch verpflichtende Offenbarung Gottes vermittelt. Nach seiner Ausbildung wurde Chrysostomus in der Gemeinde von Antiochien als Lektor eingesetzt (375). In diesem eher niedrigen Kirchenamt war er als Assistent des Priesters während des Gottesdienstes und in der Seelsorge tätig.

Von der Freude, ein Mönch zu sein

Einer naheliegenden Berufung als Bischof wich Chrysostomus damals aus, indem er sich für vier Jahre als Mönch in die Einsamkeit zurückzog. Zu dieser Zeit gab es einen regelrechten Mönchstrend unter den Frommen jener Region. Auf der einen Seite hatte man ein Vorbild in den Propheten der Bibel, die lange Zeit in der Wüste verbrachten, um dort besser auf Gott hören zu können. Auf der anderen Seite wollte man der sündigen Welt mit ihren häufig ablenkenden Vergnügungen entkommen.

Das Verlassen der unmoralischen Welt sollte aber nicht das Hauptmotiv der Mönche sein, sondern die Liebe zu Gott, dem man mehr Zeit widmen wollte als bisher. Insofern betrachtete auch Chrysostomus das Mönchsleben als eine konsequente Form des Christseins auf der Suche nach einem ganz für Gott ausgesonderten Leben. Dadurch würde schlussendlich Gott verherrlicht und auch die Gesellschaft positiv verändert, war man überzeugt. Zum einen würde das Gebet Gottes Handeln mit der Welt beeinflussen. Zum anderen könnte das authentische Christenleben andere Menschen herausfordern und motivieren, sich ebenfalls an den Maßstäben der Bibel zu orientieren.

Chrysostomus wohnte während dieser Jahre zusammen mit anderen Mönchen in einer lockeren Lebensgemeinschaft. Jeder verbrachte einige Zeit alleine, im Gebet, beim Bibellesen und zur inneren Sammlung. Dann traf man sich wieder zum gemeinsamen Gottesdienst oder zu theologischen Gesprächen. Aus Wertschätzung dem Wort Gottes gegenüber lernte Chrysostomus weite Teile der Bibel auswendig. Einer seiner Mönchs-Kollegen war der spätere Bischof Theodor von Mopsuestia (350–428). Für Chrysostomus waren diese Jahre der Einsamkeit geistlich prägend und körperlich belastend. Aufgrund der sehr einfachen Lebensumstände wurde er immer wieder schwer krank.

Lebenslang schwärmte Chrysostomus von den Vorzügen des Mönchsdaseins, so unter anderem in seinen Schriften An den gefallenen Theodor und Gegen die Feinde des Mönchtums. In diesem Zusammenhang warb er auch begeistert für das Ideal eines ledigen Lebens, allein im Einsatz für Gott (Über die Jungfräulichkeit und An eine junge Witwe).

Praktische Hilfe und geistliche Orientierung

Bischof Meletius berief seinen zwischenzeitlich bewährten Mitarbeiter Chrysostomus als Diakon aus der Einöde zurück in die Stadtgemeinde von Antiochien (381). Nach dem Vorbild der Jerusalemer Urgemeinde waren auch hier insgesamt sieben Diakone tätig (vgl. Apostelgeschichte 6,5). Mit sechs anderen war Chrysostomus verantwortlich für den geregelten Ablauf der Gottesdienste und für die ordnungsgemäße Verwaltung der kirchlichen Finanzen. Dazu gehörte vor allem auch die materielle Versorgung von Bedürftigen, Armen, Kranken und Alten. Angesichts der bescheidenen staatlichen Sozialleistungen kam dieser Arbeit eine wichtige Bedeutung zu.

Außerdem widmete sich Chrysostomus mit großem Engagement seinem Predigtdienst. „Keinen Tag kann ich verstreichen lassen, ohne euch aus den Schätzen der Heiligen Schrift zu ernähren.“ Soziale Hilfe und christliche Lehre waren für ihn zwei Seiten einer Medaille. Seine Predigten wollten nicht nur eine möglichst exakte Auslegung des Wortes Gottes geben. Chrysostomus sprach auch immer das konkrete Verhalten seiner Zuhörer an. Schließlich sollte seiner Meinung nach das ganze Leben von den Maßstäben der Bibel bestimmt werden.

Deutliche Abgrenzung

Häufig kritisierte Chrysostomus auch die Häretiker seiner Zeit, nicht nur, weil sie falsche Lehren verbreiteten, sondern auch, weil sie für zahllose Konflikte in den Gemeinden sorgten. Ob es sich jeweils um eine Irrlehre handele, könne letztlich nur anhand der Bibel überprüft werden, war er sich sicher. Deshalb war es für Chrysostomus umso wichtiger, die ganze Bibel als absolut wahrhaftige Offenbarung Gottes zu würdigen.

In einigen seiner Predigten wandte sich Chrysostomus deutlich gegen die Juden. Seine Kritik hatte allerdings nichts mit rassistischen Motiven oder dem nationalistischen Antisemitismus späterer Jahrhunderte zu tun. Es war eher eine Gegenreaktion gegen die langjährige Polemik jüdischer Gelehrter, die Christen vorwarfen, das Alte Testament zu missbrauchen und Lügen über den Messias zu verbreiten. Außerdem wehrten sich die Juden vehement gegen die, nach Chrysostomus’ Ansicht, deutliche Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Aus seiner Sicht waren Juden Menschen, „die der Wahrheit in schamloser Weise widerstehen“. Auch kämpfte der Prediger gegen die damalige Tendenz einiger Christen, jüdische Bräuche und Feiern ins Gemeindeleben zu übernehmen.

Bewusst grenzte sich Chrysostomus auch gegen die Arianer ab, die Jesus Christus eher als besonderen, von Gott berufenen Menschen interpretierten, ihn aber keinesfalls Gott dem Vater gleichstellen wollten. Mit diesen deutlichen Stellungnahmen wollte der Prediger seine Zuhörer vor Irrtum und Betrug schützen.

Wirkkräftige Ansprachen

Chrysostomus’ Predigttalent bewährte sich auch in gesellschaftlich brisanten Situationen. Nach einer drastischen Steuererhöhung durch Kaiser Theodosius I. (347–395) kam es in Antiochien zu einem öffentlichen Aufruhr. Während der Tumulte wurden sogar die Standbilder der Kaiserfamilie von ihren Sockeln gestoßen, was in Konstantinopel als Majestätsbeleidigung und Rebellion gewertet wurde. Die angekündigte Strafexpedition blieb nur aus, weil Patriarch Flavian (320–404) beim Kaiser um Milde bat und Chrysostomus gleichzeitig durch seine Predigten die Bevölkerung zur Vernunft brachte. Dabei schonte er auch die bloßen Mitläufer nicht: „Du hast an der Schändung der Kaiserbilder nicht teilgenommen? Das will ich durchaus loben und anerkennen. Aber du hast nichts gegen dieses Vorhaben unternommen, auch das ist strafbar.“ Christen seien nicht nur verpflichtet, das Falsche zu unterlassen, sondern darüber hinaus auch Verbrechen zu verhindern, wenn sie die Möglichkeit dazu hätten.

Johannes Chrysostomus

Im Frühjahr 386 wurde Chrysostomus offiziell als Priester eingesetzt, wodurch sich sein Verantwortungsbereich weiter ausdehnte. In seiner Schrift Über das Priestertum stellt er heraus, welche wichtigen Funktionen mit diesem Amt verbunden sind. Für den Priester gelten die biblischen Qualifikationen des Ältesten (vgl. 1Tim 3,1-7; Tit 1,5-9). Sie sind letztliche verantwortlich für Taufe und Abendmahl, Ermahnung und Trost der Christen. Vor allem aber sollen sie die Gemeinde durch Predigten weiterführen und lehren. Seine Predigtverpflichtungen betrachtete Chrysostomus nicht als lästige Notwendigkeit, sondern als Gottes Berufung und außerordentliches Vorrecht: „Das Predigen macht mich gesund. Sobald ich meinen Mund öffne, ist alle Müdigkeit verschwunden. Wenn ich zu lehren anfange, bin ich von Freude erfüllt.“

Häufig kam Chrysostomus in seinen Predigten auf das Zusammenspiel von Glaube und Vernunft zu sprechen, auf die Auferstehung des Körpers und die Unsterblichkeit der Seele. Immer hatte er auch einige moralische Ermahnungen und konkrete Anwendungen für seine Zuhörer parat. Das Leiden und die Armut der Menschen trafen ihn tief. Als ihm auf dem Weg zum Gottesdienst ein alter, gebrechlicher Mann begegnete, fühlte er sich dermaßen betroffen, dass er spontan das Thema seiner Predigt änderte und über die praktische Nächstenliebe sprach. Immer wieder griff er dabei das Verhältnis von Arm und Reich, Freien und Sklaven auf.

Nichts geht über die Bibel

Chrysostomus entpuppte sich zunehmend als brillanter Redner. Ihm fiel es nicht schwer, seinen Zuhörern ins Gewissen zu reden oder sie durch seine Ausführungen mitzureißen. Gelegentlich wurden seine Predigten von spontanem Beifall unterbrochen. Später saßen immer auch Schnellschreiber unter den Zuhörern, um Chrysostomus’ Ansprache festzuhalten und verbreiten zu können.

Abgesehen von zahlreichen Reden zu Jubiläen, Hochzeiten oder Kirchenfesten bevorzugte er Auslegungsreihen ganzer biblischer Bücher. Daraus entstanden dann regelrechte Kommentare. Der erste Sammelband umfasste 67 Predigten zur Genesis. Wenig später veröffentlichte Chrysostomus eine Auslegung der Psalmen. In seinem Kommentar des Matthäusevangeliums interpretierte er die Aussagen über die Menschlichkeit Jesu – im Gegensatz zu den Arianern – als bewusste Anpassung Gottes an die irdischen Verhältnisse. Die Menschlichkeit Jesu stelle seine Göttlichkeit keinesfalls infrage, betonte Chrysostomus. Besonders beeindruckten ihn das Leben und die Ausführungen des Apostels Paulus. Die Einsatzbereitschaft und Konsequenz des Völkerapostels hielt er für vorbildlich. Unter anderem hielt Chrysostomus sieben Lobreden auf Paulus und verfasste einen Kommentar zum Römerbrief. Diesem Mann Gottes wollte er auch ganz persönlich nacheifern.

Chrysostomus: Homilie über die Psalmen

„So oft ich die Briefe des heiligen Paulus lesen höre, jede Woche zweimal, oft auch drei- und viermal […] so freue ich mich jedes Mal über diese geistliche Posaune, ich juble und bin von heiligem Verlangen erfüllt, wenn ich die Stimme höre, die mir so lieb und vertraut ist. Dann meine ich, ihn beinahe lebendig vor mir zu sehen und ihn reden zu hören. Aber es macht mich traurig, dass nicht alle Christen diesen Mann so kennen, wie sie ihn kennen sollten; ja, dass manche von ihm nur sehr wenig wissen, dass sie nicht einmal imstande sind, die Zahl seiner Briefe genau anzugeben.“

Unter anderem verfasste Chrysostomus auch ein Lehrbuch der Pädagogik mit dem Titel Über die Hoffart des Lebens und Kindererziehung. Darin entwickelt er in Abgrenzung zur heidnischgriechischen Bildung Grundlagen einer christlichen Erziehung.

Chef wider Willen

Eigentlich ging Chrysostomus in den vielfältigen Herausforderungen seiner Gemeindearbeit ganz auf. Als jedoch 397 der Patriarch Nektarius von Konstantinopel gestorben war, wollte Kaiser Arkadius (395–408) den Priester aus Antiochien als dessen Nachfolger. Da der aber nur wenig Interesse an diesem Posten zeigte, lockte man ihn unter einem Vorwand in die Hauptstadt, wo Chrysostomus kurzerhand vom Stadthalter in sein neues Amt als oberster Bischof des Oströmischen Reiches eingesetzt wurde (398). In Konstantinopel (heute: Istanbul) standen damals bereits 14 christliche Kirchen, darunter die Apostelkirche als Grabmal Konstantin des Großen (270–337) und der Vorgängerbau der Hagia Sophia4 am Augusteion, dem zentralen Platz der Hauptstadt.

Konstantinopel (heute: Istanbul)

Obwohl die Legalisierung des Christentums erst wenige Generationen zurücklag (312), waren die kirchlichen Sitten in Konstantinopel bereits lasch geworden. War es in der Alten Kirche beispielsweise üblich, seine Sünden öffentlich zu bekennen und um Verzeihung zu bitten, ging man nun dazu über, die Gewissenserforschung jedem persönlich zu überlassen. Das führte zu einer weitgehenden Tolerierung von Unmoral und Fehlverhalten selbst in der Gemeinde. Viele waren zwischenzeitlich nur noch aus Tradition Kirchenmitglieder oder weil sie hofften, so besser Karriere machen zu können. Chrysostomus forderte in dieser Situation eine neue Ernsthaftigkeit und eine intensivere Beschäftigung mit dem Wort Gottes.

Gehaltvoller Prediger

Neben seinen Verwaltungs- und Repräsentationspflichten als Bischof von Konstantinopel predigte Chrysostomus mindestens einmal wöchentlich in der Hauptkirche der Stadt. Wie schon in Antiochien legte er dabei mit Vorliebe in Predigtreihen ganze biblische Bücher aus. In dieser Zeit erschienen seine Auslegung der Apostelgeschichte, 34 Predigten zum Hebräer- und drei zum Philemonbrief.

Ähnlich wie vorher in Antiochien erregten Chrysostomus, Predigten auch in Konstantinopel große öffentliche Aufmerksamkeit. „Das Volk hing so sehr an ihm und war so unersättlich, seine Predigten zu hören, dass die Menschen sich durch Stoßen und Drängen gegenseitig in Gefahr brachten, weil jeder noch mehr zu ihm drängte, um ihn aus der Nähe besser zu verstehen. Er saß nämlich bei der Predigt (nicht, wie sonst üblich, auf dem bischöflichen Thron, sondern) am Lesepult der Lektoren, um so mitten unter dem Volk zu sein.“

Im Zentrum seiner Ansprachen stand gewöhnlich der Heilsplan Gottes, die Erlösung der Glaubenden durch den Tod Jesu Christi. Nur aus Liebe zu seinen Geschöpfen wurde Gott Mensch und ließ sich bereitwillig in Jerusalem hinrichten. Die Kreuzigung verstand Chrysostomus nicht als Niederlage, sondern als Zeichen des Sieges Jesu Christi über Sünde, Tod und Teufel (vgl. Kolosser 2,15; 2. Timotheus 1,10).

Statue von Chrysostomus Frederikskirche, Kopenhagen

Abgesehen von lehrmäßigen Abhandlungen und der reinen Erklärung biblischer Bücher vermittelte Chrysostomus in seinen Predigten sehr anschaulich viele praktische Lebensweisheiten, z. B.: „Verschiebe nichts auf morgen, das Morgen ist endlos.“ Immer wieder ermutigte er seine Zuhörer, ihre alltäglichen Verpflichtungen verantwortungsvoll zu erledigen: „Gott hat den Menschen zur Arbeit erschaffen und zu diesem Zweck seine Glieder gebildet. Der Faule vereitelt deshalb seine Bestimmung und das Ziel seiner Erschaffung.“

Aus seiner eigenen Erfahrung wusste Chrysostomus, wie wichtig die Geduld sein kann, um Menschen bei notwendigen Veränderungen zu unterstützen: „Die Geduld ist imstande, auch den verwildertsten und frechsten Menschen so umzustimmen, dass er lenksam und für edlere Regungen wieder empfänglich wird.“ Am alltäglichen Verhalten solle man erkennen können, ob jemand Christ sei oder nicht, beispielsweise auch am Umgang mit der Natur: „Aus vielen Gründen schulden wir den Tieren große Güte und Aufmerksamkeit; vor allen Dingen aber, weil sie der gleichen Herkunft sind wie wir.“ Einem geistlichen Dienst der Frauen stand der Bischof äußerst skeptisch gegenüber: „Das ganze weibliche Geschlecht ist schwach und leichtsinnig. Sie finden das Heil nur durch ihre Kinder (1. Timotheus 2,15).“

Geistliches Fasten hielt Chrysostomus für eine gute Möglichkeit, sich intensiver auf Gott zu konzentrieren: „Das Fasten ist die Speise der Seele. Wie die körperliche Speise stärkt, so macht das Fasten die Seele kräftiger und verschafft ihr bewegliche Flügel, hebt sie empor und lässt sie über himmlische Dinge nachdenken.“ Von Verpflichtungen zum Speiseverzicht hingegen hielt er nur wenig: „Was nützt der Verzicht auf Fleisch und Fisch, wenn wir dafür unsere Mitmenschen beißen und fressen?“

Wichtiger als alle gutformulierten Worte ist nach Chrysostomus das glaubwürdige Vorbild: „Wenn der Schüler sieht, dass der Lehrer Weisheit und Tugend bloß in Worten predigt, so wird er sagen: ‚Der verlangt Unmögliches; und dass es unmöglich ist, beweist der Lehrer, weil er selber es nicht befolgt.‘ Wenn er dagegen am Beispiele seines Lehrers das vollendete Ideal der Tugend erkennt, dann kann der Schüler derartige Ausreden nicht vorbringen.“

Verantwortung für die Armen

Regelmäßig kam Chrysostomus auch auf die sozialen Ungerechtigkeiten in Konstantinopel zu sprechen. Seine Aufforderungen, mit den Armen zu teilen, stießen bei zahlreichen Wohlhabenden auf keine große Begeisterung. Um selbst mit gutem Beispiel voranzugehen, ließ er wertvolle Baumaterialien verkaufen, die eigentlich für das neue Bischofshaus gedacht waren, und spendete den Erlös zur Versorgung der Armen.

Chrysostomus: „Ist es nicht vollkommen unvereinbar, wenn wir selbst heiter und übersatt beim Essen sitzen, uns aber um das Weinen der andern, die zu dieser Zeit auf der Straße vorbeiziehen, nicht nur nicht kümmern, sondern über dieselben auch noch entrüstet sind und sie Schwindler nennen? Mensch, was redest du? […] Sollte sich jemand einzig wegen eines Stückes Brot verstellen? […] Ja, – wirst du vielleicht sagen. Dann soll man sich aber umso mehr seiner erbarmen, umso eiliger ihn aus der Not befreien. Willst du ihm jedoch keine Hilfe anbieten, dann beleidige ihn wenigstens nicht. Willst du ihm nicht beistehen, dann stoße ihn wenigstens nicht in den Abgrund.“

Aber Chrysostomus redete nicht nur. Auf seine Initiative hin entstanden in Konstantinopel Hospize für Arme, Fremde und Kranke. Er organisierte die Unterstützung der verarmten Bevölkerung, sorgte für Seelsorge unter den Soldaten und betätigte sich mit seinem Redetalent in der Mission. Auch wenn er in seinen Predigten dazu aufforderte, den Menschen Gutes zu tun, warnte er gleichzeitig davor, damit anzugeben: „Wir bewahren unsere guten Werke am besten, wenn wir sie vergessen.“ Man solle beim Spenden und Helfen auch nicht so sehr auf den Bedürftigen sehen, sondern auf Gott: „Der Arme hält die Hand hin, Gott aber empfängt das Almosen.“ Gleichzeitig helfe die Spende nicht nur dem Empfänger, sondern geistlich ebenso dem Geber: „Wer Almosen gibt, gewöhnt sich daran, Geld und Gut nicht mehr zu bewundern.“

Gott liebt auch Germanen

Chrysostomus’ Gemeinde war multikulturell. Neben lateinisch sprechenden Christen aus dem Westen des Römischen Reiches fanden sich hier Griechen, Nordafrikaner, Gläubige aus Syrien und Germanen, deren Muttersprache Gotisch war.

Da, wo sich viele seiner Kollegen über die Völker aus dem Norden Europas beschwerten, weil sie das Weströmische Reich immer stärker militärisch bedrohten, sah Chrysostomus in den gläubig gewordenen Germanen eine Erfüllung der biblischen Berufung der Heiden (vgl. Apostelgeschichte 13,44-48; Römer 10,19f.). Entgegen dem weit verbreiteten Lamentieren über den Untergang der römischen Kultur sah der Bischof eher die Herausforderung, allen in Konstantinopel lebenden Fremden überzeugend den christlichen Glauben zu erklären und vorzuleben. Gottes Gemeinde war für Chrysostomus nicht auf das Römische Reich beschränkt, sondern sollte sich weltweit ausbreiten, natürlich auch bei den barbarischen Germanen.

Kein Himmel auf Erden

Gelegentlich war Chrysostomus auch im ganzen Land unterwegs, um delikate kirchliche Krisen zu beheben. Deshalb reist er beispielsweise nach Ephesus, um den Korruptionsvorwürfen nachzugehen, die gegen den dortigen Metropoliten Antonin erhoben worden waren. Der starb allerdings, noch ehe die Untersuchungen abgeschlossen werden konnten. Chrysostomus ließ daraufhin einen neuen, vertrauenswürdigeren Nachfolger einsetzen, der die kirchliche Ordnung in der Stadt wiederherstellen konnte.

Chrysostomus’ Stellung zum Staat war durchaus zwiespältig. Einerseits sah er in der Regierung eine Ordnung Gottes zum Schutz der Menschen. Andererseits standen ihm die alltäglichen Missbräuche staatlicher Macht deutlich vor Augen. Theologisch war der Staat für Chrysostomus eine Folge des Sündenfalls. Seiner Auffassung nach waren die menschlichen Beziehungen in der gottfernen Welt durch drei Knechtschaften geprägt: die Unterordnung der Frau unter den Mann, des Sklaven unter den Herrn und des Bürgers unter den Staat. Trotzdem forderte er optimistisch, dass Christen nicht nur an ihrem eigenen Heil interessiert sein sollten, sondern auch an der Veränderung der Gesellschaft, beispielsweise an der Verminderung von Armut und Sklaverei.

Die Gegner formieren sich

Mit zunehmendem Erfolg und Einfluss Chrysostomus’ wuchs auch die Gruppe seiner Kritiker und Konkurrenten. Insbesondere mit dem selbstbewussten Patriarchen von Alexandrien, Theophilus (gest. 412), kam es zu nachhaltigen Spannungen. Als Machtpolitiker hatte dieser schon 380 versucht, Einfluss auf die Neubesetzung des Bischofsstuhls in Konstantinopel zu nehmen. Im Jahr 399 hatte sich in Ägypten der Streit um die Menschheit Jesu Christi dramatisch zugespitzt. Unter Berufung auf den Kirchenlehrer Origenes (185–254) vertraten zahlreiche Mönche die Auffassung, der irdische Körper des Sohnes Gottes sei nicht ganz real, sondern eher symbolisch zu verstehen. Unter dem Einfluss des Häretiker-Jägers und Origenes-Feindes Epiphanios von Salamis (315–403), dem Bischof von Zypern, verurteilte Theophilus die Mönche und ließ sie kurzerhand des Landes verweisen. Über Palästina zogen viele von ihnen nach Konstantinopel, um sich hier niederzulassen und um Chrysostomus als Schlichter anzurufen. Als Theophilus in dieser Angelegenheit vorgeladen wurde, reagierte der alexandrinische Bischof verärgert und schickte Epiphanios nach Konstantinopel, um wegen Ketzerei gegen Chrysostomus zu ermitteln. Schließlich kam er selbst in die Hauptstadt, um mit Kaiserin Aelia Eudokia (380–404) die Absetzung des unliebsamen Bischofs zu betreiben.

Kaiserin Eudokia lebte schon seit Längerem in einem angespannten Verhältnis mit Chrysostomus. In mehreren Reden hatte dieser offen den ausschweifenden Luxus und die Eitelkeit der Frauen am Kaiserhof kritisiert. Im Zusammenhang mit der zweifelhaften Enteignung eines Grundstücks hatte Chrysostomus Eudokia wenig schmeichelhaft mit der alttestamentlichen Königin Isebel verglichen (1. Könige 21). Zu allem Überfluss tauchten nun auch noch gefälschte Predigtmitschriften auf, in denen Chrysostomus angeblich die Kaiserin und andere hochgestellte Persönlichkeiten verspottete.

Verbannung und Begnadigung

Auf Betreiben des Theophilus wurde 403 in der Nähe von Chalkedon eine Synode zusammengerufen, die über den Bischof von Konstantinopel entscheiden sollte. Da sich das Gremium weitgehend aus seinen Kritikern zusammensetzte, weigerte sich Chrysostomus zu erscheinen. Kurzerhand wurde er in Abwesenheit seines Amtes enthoben und trotz des massiven Protestes der Bevölkerung wegen seiner vorgeblichen Vergehen zur Verbannung verurteilt. Doch bereits nach einer Tagesreise ließ man ihn nach Konstantinopel zurückbringen. In der sofort nach dem Prozess aufgetretenen Fehlgeburt der Kaiserin meinte man, ein Zeichen Gottes zu erkennen, der seine Unzufriedenheit mit der Verurteilung des Chrysostomus zum Ausdruck bringen wollte. Nach seiner Rückkehr wurde der Bischof unverzüglich wieder in sein Amt eingesetzt. Theophilus hingegen verließ die Hauptstadt fluchtartig Richtung Ägypten.