Hera - Mirko J Simoni - E-Book

Hera E-Book

Mirko J Simoni

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Beschreibung

Der Besuch einer Anwältin im Palais eines millionenschweren Verehrers wird zur tagelangen Spurensuche. Es geht um die Wahrheiten des Lebens und es geht um sie, denn die Anwältin arbeitet unter dem Pseudonym 'Hera' nachts als erfolgreiche Domina. Während ihres Aufenthalts erzählt sie dem exzentrischen Bonvivant aus ihrem spannenden Leben. Hera gibt es wirklich. Umwerfend offen berichtet sie von ihren Erfahrungen in der Welt des Sadomasochismus und von der Arbeit in einem von Europas größten S/M-Studios. Neben Einblicken in die Welt der Superreichen bietet das voyeuristische Buch Antworten auf beinahe alle Fragen, die im Zusammenhang mit den Freuden des Sadomasochismus entstehen können: Welch ausschlaggebendes Ereignis lässt eine Anwältin zur Domina werden? Wer sind die Gäste? Wie läuft der Studiobetrieb ab? Unterscheiden sich die Fantasien und Gelüste der weiblichen Gäste von jenen der männlichen? Wie wirkt sich der permanente Kontakt mit devoten Menschen auf die eigene Psyche aus? Welches sind die frivolsten Praktiken, die eine Domina jemals gesehen hat? Wie lange dauert eine Session – und was kostet sie? Aber auch: Welche sadistischen Praktiken werden bei der Dressur und Züchtigung von Masochisten, Fetischisten und Devoten angewandt?

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HERA

Rechtsanwältin am Tage – Domina in der Nacht

11 Tage aus ihrem Leben – Eine authentische ErzählungVon Mirko J. Simoni

Schwarzkopf & Schwarzkopf

Der erste Tag

Es war der 22. März, als seine erste Nachricht eintraf. Ein kühler Spätnachmittag. Der mir unbekannte Mann schrieb in atavistischer, längst vergangener Art und Weise. Ich fühlte mich geschmeichelt, mein Interesse war geweckt.

Purius nannte er sich, und dieser anscheinend nicht mehr ganz junge Lebemann führte in den Anfangsjahren des 21. Jahrhunderts das Leben eines Exzentrikers um 1870. Er bezeichnete sich in seiner ersten E-Mail als Mönch, Magier und Liebhaber – und war, wie sich noch herausstellen sollte, millionenschwer. Die Millionen hatte ihm die Schöpfung nicht in die Wiege gelegt. Seinen Kopf musste er dafür in die Schlinge halten –und hoffen, hoffen auf Gnade und Glück. Viel Glück.

Hunderte E-Mails tauschten wir im Laufe der kommenden Wochen und Monate aus. Aus anfänglichem Interesse entstand rasch Verliebtheit. Die Neugier verwandelte sich in Sehnsucht. Nur selten kamen wir auf meine Berufe als Domina und Anwältin zu sprechen. Stattdessen schwelgten wir in Schöngeistigem, philosophierten über die Malerei, Fotografie und Musik, tauschten uns über Reiseziele aus oder wünschten uns einfach nur einen schönen Tag.

Nach sieben Monaten des täglich mehrmaligen Schreibens und auf Antwort Wartens nahm ich seine Einladung an. Ich besuchte ihn in seiner Heimat, die sich im deutschsprachigen Raum, doch nicht in Deutschland, befand.

In der Nähe seines Landsitzes hatte er mich erwartet. Mit strahlenden Augen. Schüchtern in der Nähe eines salamandergelben Lamborghinis stehend. Markante Züge, gebräunte Haut, die vollen Haare nach hinten gekämmt, dunkelblauer Anzug, violettes Einstecktuch, offenes weißes Hemd, schwarze Krokolederschuhe.

»Mademoiselle, hier wohne ich!«, sagte er nach kurzer Fahrt, während sich das einst wohl prächtige, nun verrostete, schmiedeeiserne Tor mit Goldwappen öffnete und rasch wieder hinter uns schloss. Was sich vor mir auftat, war eine Welt für sich: Rechter Hand ein elegantes Palais, linker Hand ein kleines Gästehaus, dazwischen und direkt vor uns fünf Garagen.

Adele, die Haushälterin, erschien auf dem von einer mächtigen Fontäne dominierten Kiesvorplatz. Nach der kurzen Begrüßung verschwand sie eiligst; nicht allerdings ohne mich zuvor wissen zu lassen, der E-Mail-Kontakt zwischen dem Hausherrn und mir habe sich äußerst positiv auf dessen Psyche ausgewirkt. Zudem sei sie bezüglich unserer amour fou vollständig informiert.

Purius führte mich, ob dieser Aussage lächelnd, durch zwei riesige königsblaue Flügeltüren in die Eingangshalle. Alles hier war aus spiegelndem Marmor. Die Böden, die Wände und die geschwungenen Treppen. Das Licht der funkelnden Kristalllüster war sanft. Zwei bunte Papageien erhoben sich mit lauten Flügelschlägen und flogen quer durch die Halle, um auf der Empore im ersten Stock lässig Platz zu nehmen. Drei lebende Apfelbäume wuchsen aus dem Marmorboden – um den einen schlängelte sich eine präparierte Pythonschlange.

Während ich mir noch all den Prunk besah, meinte Purius mit leiser und ruhiger Stimme: »Das Verirren im Leben ist wichtig. Dadurch erst kommt der Mensch an jenes Wissen und auch an jenes Geld, die es ihm ermöglichen, über andere hinauszuwachsen oder es zumindest zu versuchen!«

Ohne eine Antwort abzuwarten, bot er mir seinen Arm an und nannte ein paar Details zu besagter Schlange: Es handelte sich um eine gelb-weiß gemusterte Albinopythonschlange. Ein französischer Adeliger und Weltenbummler hatte sie einst, vor über hundert Jahren, präparieren lassen.

Einer Prinzessin gleich – man ist nicht umsonst Domina und Anwältin von Beruf: beides Tätigkeiten, die eines gewissen schauspielerischen Talents bedürfen –ließ ich mich von Purius in den Blauen Salon, wie er ihn nannte, geleiten. Hellblaue Wandpaneele mit reichen Vergoldungen, antike Gemälde, uralte persische Teppiche. Auf dem Tisch silberne Kannen und Schälchen gefüllt mit Leckereien aus aller Herren Länder. Riesige Sträuße mit jenen Centifolien-Rosen, welche seit dem 16. Jahrhundert auf den Gemälden der flämischen Meister zu bewundern sind. Sensationell!

Die Haushälterin bat bereits nach wenigen Minuten zu Tisch. Wieder bot mir der Hausherr seinen Arm an – gewöhnungsbedürftig! – und führte mich in ein mit Kerzen erleuchtetes Spiegelkabinett. Sein Speisezimmer! Bumm! Ein beachtliches Kaminfeuer flackerte. »Mit dreißig Jahre gelagertem Eichenholz befeuert«, sprach Purius mit kaum hörbarer Stimme. Der Tisch war mit weißem Damast, einer Menge Silber, weißem Porzellan und geschliffenem Glas gedeckt. Erst wurde ein Rinder-Carpaccio serviert, gefolgt von einem äußerst leckeren Wildschweinbraten mit Kartoffelknödeln und Dörrobst, zum Abschluss gab es den von mir so sehr geliebten Apfelkuchen – ohne Rosinen. Liebenswerterweise hatte sich der Hausherr meines Hangs zu Apfelkuchen ebenso erinnert wie meiner Abneigung den Rosinen gegenüber. Als Kind hatte ich geglaubt, es handle sich dabei um im Teig ertrunkene Fliegen.

Unsere Konversation verlief heiter und flüssig. Wobei sich aufgrund der mitschwingendenlatenten Aufregung keiner in die Tiefe zu gehen wagte. So beließen wir es vorerst bei Höflichkeiten, plauderten ein wenig über die Malerei, ein wenig über unsere E-Mails. Wir erinnerten uns auch des Satzes, mit dem Purius seine erste an mich gerichtete Nachricht beendet hatte: »Mögen die Götter unsere Wege eines Tages kreuzen lassen!«

Wir waren beim Apfelkuchen angelangt, als Adele nachfragte: »Die Herrschaften noch einen Wunsch?« Bestens gelaunt parierte Purius: »Was? Ein Wunsch? Seit ich hier wohne, hat mich noch nie wer gefragt, ob ich noch einen Wunsch habe.« Adele zögerte keinen Augenblick, sprang auf den Unzufriedenen zu, drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und rief: »Er ist der Beste!« Ein lustiges Team, die beiden!

Der Beste besaß einen Hang zum Frankophilen. Selbst in seinen E-Mails hatte er mich stets mit Mademoiselle angesprochen. Was sich anfangs als ungewöhnlich erwies, ging mir schon nach kurzer Zeit runter wie Honig. Zudem zeichnete er sich durch eine ihm eigene Art der Sensibilität aus.

»Mademoiselle, was ist mit Ihnen?«

»Och, schon jetzt vermisse ich die beiden Wauzis!« Meine samtblaue Dogge Paris und dessen kleine Freundin Helena.

»Ich verstehe.« Nach kurzem Nachdenken fügte er hinzu: »Kommen Sie, vielleicht gelingt es mir, Sie ein ganz klein wenig zu trösten.«

Über den Gang, der zu beiden Seiten mit Dutzenden Palmen flankiert war, gelangten wir in den so genannten Großen Salon. Nun wurde klar, weshalb er den anderen Raum als den Blauen Salon bezeichnet hatte. Was ich zuallererst unter all dem Gold erblickte, war ein riesiges Meerwasser-Aquarium, welches eine gesamte Wand ausfüllte, in der Länge geschätzte fünfzehn Schritte maß und bis zur hohen Stuckdecke reichte. Zwischen den denkbar farbenfrohsten Korallen und den in der Strömung tanzenden Anemonen glitten hunderte bunter Fische dahin. Blaue Kaiserfische ebenso wie orangerote Clown- und orange Anemonenfische. Aber auch sandfarbene Fetzen- und gelb-schwarz gemusterte Falterfische. Zwischen alledem Wasserschildkröten, Schnecken, Krebse und eine Seepferdchenfamilie.

Und ehe ich mich versah, hatte er auch noch seine Hunde gerufen. Vier an der Zahl. Zwei kleine Mischlinge aus dem Tierheim und zwei Greyhounds. Jene grauen Windhunde, welche im Russland des 19. Jahrhunderts den Wert eines Landgutes besaßen. »Aus dem Garten könnte ich noch drei Schafe und fünf Pfauen holen. Möchten Sie? Oder ist es mir bereits gelungen, Sie zumindest ein wenig zu trösten?« Ich rief nur: »Gelungen!« und balgte mich auch schon mit den Vieren auf den Perserteppichen, wobei sich einer als ein ziemlich angriffslustiges Kerlchen erwies.

Klassische Musik erklang im Saal. Ansonsten nicht mein Ding, doch die mysteriös ruhige Ouverture fühlte sich gut an. Purius räusperte sich dennoch verlegen: »Rachmaninov! Die Toteninsel!«

Nett, die ersten Klänge, die man in einem Hause zu hören bekommt: Totenmusik. Andererseits konnte er dies ruhig wagen, war ihm mein Hang zum Makabren doch gewiss nicht verborgen geblieben. So hatte ich ihm bereits Monate zuvor von einem Fototermin in Paris berichtet, bei welchem mir das Schaufenster eines Kammerjägers aufgefallen war. Über und über angefüllt mit Rattenfallen und ausgestopften Ratten. Ergänzt durch uralte und verstaubte Werbetafeln. Wäre ich damals die Fotografin gewesen, hätte ich mir kein reizvolleres Motiv vorstellen können, als die süßen Models eine Hand in die Fallen stecken zu lassen …

Purius setzte sich zu mir auf den Boden, während ich mich noch mit den Hunden balgte. Obwohl ich geahnt hatte, dass der Gastgeber bereits an diesem ersten Tage das Gespräch auf für mich unangenehme Themen bringen könnte, bereitete mir dieser Gedanke nur wenig Sorge. Mir war klar, dies würde lediglich die logische Folge unseres in vielen Belangen äußerst vertraulichen und erfüllenden E-Mail-Kontaktes darstellen. Und tatsächlich – fragte er unvermittelt: »Waren Sie ein glückliches Kind?« Ich schob die Hunde von mir.

»Nein, ich war sehr unglücklich. Zwischen meinen Eltern gab es immer wieder Streit, und ich hätte mir damals gewünscht, die beiden hätten sich getrennt.«

»Das tut mir Leid.«

»Das muss Ihnen nicht Leid tun, in Millionen Familien läuft am heutigen Abend und in diesem Augenblick der gleiche Film ab. Ich war entsetzlich einsam. Meine Eltern mussten uns irgendwie durchbringen und hatten viel zu wenig Zeit für uns.«

»Wer ist uns?«

»Meinen Bruder und mich. Die Erziehung lässt sich als locker bezeichnen und die Eltern legten Wert darauf, uns einen tiefen Respekt vor Tieren, Pflanzen und Menschen mitzugeben – und zwar in dieser Reihenfolge.«

»Hmm, womit konnte man Sie als Kind glücklich machen?«

»Mit Zeit zum Spielen. Mit Kuchen. Und wenn mir wer die Möglichkeit gab, über meine Gefühle zu sprechen. Wenn mir wer zuhörte!«

»Gibt es ein frühkindliches Ereignis …?«

»Das Allererste, an das ich mich erinnern kann? Sicher bin ich mir nicht, doch ich glaube, es war, als meine Mutter mit Hoppel, meinem Zwergkaninchen, in einem Korb im Kindergarten auftauchte. Das war großartig!«

Ohne Purius zu Wort kommen zu lassen, fuhr ich fort: »Einen Großteil meiner Kindheit verbrachte ich im Wald, um Frösche, Füchse, Rehe und all deren Freunde zu suchen. Tiere sind Teil meiner Kindheit. Genauso wie der lilafarbene Opel Commodore meines Vaters, den wir später immer anschieben mussten. Oder wie die langen weißen Haare meiner Großmutter, die sie bei meinen Besuchen vor dem Schlafengehen immer sorgfältig kämmte. Ihre Grazie und ihr Anmut waren einzigartig und …«

»… erst von der Enkelin wieder erreicht! Sie streiften alleine durch den Wald?«

»Nein, mit meiner besten Freundin. Mit Angelique. Sie ist die große Liebe meines Lebens. Sie war der erste Mensch, dem ich gesagt habe: Ich liebe dich! Und bereits damals wusste ich, dieses Gefühl würde niemals enden. Wäre sie ein Mann, wären wir heute ein Paar. Wir haben zusammen Sport gemacht und sie war eine über die Maßen talentierte Karateka, die es später sogar als Braungurt in den Nationalkader schaffte. Und wenn ich an sie denke, fühlt sich das an wie Kuchen und Meer – ganz wunderbar.

Wir wuchsen beide in der Nähe des Klosters Knechtsteden in Nordrhein-Westfalen auf. Ein Ort, mit dem ich ausschließlich schöne Erinnerungen verknüpfe. Im dortigen Missionsmuseum waren wir Stammbesucher. Der Grund: Es gab dort ein ausgestopftes Krokodil. Wohl deshalb erregte heute auch die Pythonschlange in Ihrer Eingangshalle so sehr meine Aufmerksamkeit. Selbst nachts bin ich mit meiner Freundin in das Museum eingestiegen. Wir konnten einfach nicht genug bekommen und sind stundenlang durch die Klosteranlage gegeistert. Spannend! Es gab dort ein Hospiz, von dem wir allerdings nichts wussten. In jenem Hospiz begegneten wir dem ersten Toten unseres Lebens. Aufgebahrt lag er da, in einem Raum mit lauter Blumen und Kerzen. Von jenem Tag an fanden wir nichts Schlimmes mehr am Tod. Es sah alles ganz wunderbar aus in diesem Aufbahrungsraum. Die Spiritaner hatten sich großartige Mühe gegeben. Mit diesem Eindruck sind wir glücklich nach Hause geradelt und waren vom Gefühl durchdrungen, wir wären einem Mysterium auf die Schliche gekommen. Geradezu berauscht waren wir von der Nähe des Todes. Statt ihn zu fürchten, haben wir ihn bestaunt; wofür er uns körperlich spürbar ein Lächeln schenkte.«

»Was ist aus Angelique geworden?«

»Ein wunderbarer Mensch, den ich immer lieben werde! Zu Weihnachten waren wir gemeinsam im spanischen Tarifa. Da bin ich übrigens zum ersten Mal im Leben ohne Angst durch die hohen Wellen geschwommen.«

»Sieh an, sieh an, eine Domina kennt die Angst?«, rief Purius süffisant.

»Ja, ja, so wie jeder Mensch auf Erden auch die Einsamkeit kennt.«

»Wie wahr! Sie sehen gar nicht wie eine Domina aus …«

»Eine gute Domina sieht niemals wie eine Domina aus. Die stillen Wasser sind immer die abgründigsten. Von der Kindheit an bis zum heutigen Tag umgebe ich mich eher mit Männern als mit Frauen. Frauen haben meist Angst vor mir. Mit der Ambivalenz zwischen meinem kindlichen Aussehen und dem, was im Endeffekt aus meinem Mündchen kommt, kommen die meisten Frauen nicht zurecht.«

Purius machte mich auf zwei mächtige blaue Kaiserfische aufmerksam, die sich gegenseitig aus dem Revier zu drängen versuchten. Nach wenigen Augenblicken war der Kampf entschieden.

»Waren Sie auch in Ihrer Kindheit schon ein wenig dominant?«

»Ja, diese Neigung zeigte sich früh. Noch im Kindergarten, kurz bevor ich in die Schule kam, zwang ich einen Jungen, im Garten eklig feuchte Pilze zu essen. Ich nahm ihn in den Schwitzkasten und fütterte ihn damit. Im Krankenhaus musste ihm der Magen ausgepumpt werden. Von jenem Tag an war es mit seinem Frechsein gegenüber den Mädchen vorbei. Eine Sache, die mir damals Riesenrespekt einbrachte.«

»Hüten werde ich mich, mit Ihnen, verehrte Mademoiselle, Pilze sammeln zu gehen. Gehörten noch andere Spiele dieser Art zu Ihrem edlen Repertoire?«

»Ich liebte alle Spiele, bei denen es keinen Verlierer gab, und alles, was mit Bauen und Basteln zu tun hatte. Selbstredend auch jede Art von Versteckspielen. Ich konnte es gar nicht erwarten, in den Kindergarten zu kommen. Selbst den ersten Schultag konnte ich kaum erwarten.«

»Mais oui, so wie den letzten …«

»Nein, nein, die Schule liebte ich sehr. Nach dem Besuch der Grundschule wechselte ich ans Leibniz-Gymnasium Hackenbroich, direkt neben dem Kreiskrankenhaus. Dieses Krankenhaus sollte ich Jahre später noch von innen kennen lernen: unmittelbar vor dem ersten Staatsexamen, mit einer akut entzündeten Bauchspeicheldrüse. Tat übel weh. Mein schulischer Ehrgeiz erwies sich als nicht stillbar. Als sich der Englischlehrer ob einer Zwei in der Klausur enttäuscht zeigte, gab mir das jene Kraft, die ich im Elternhaus nicht finden konnte.

Er war es auch, der mich eines Tages professionell in Schutz nahm: Ich war mit einem anderen Lehrer in Streit geraten, hatte dieser doch gemeint, ob er nun unterrichte oder den Tag Kaffee trinkend im Lehrerzimmer verbringe, habe auf uns Schüler wohl den gleichen Effekt. Dies brachte mich in Rage und ich konterte: ›Dann bleiben Sie doch daheim und lassen andere Ihre Arbeit tun!‹ Stunden später platzte dieser offensichtlich noch immer über mich Erboste in den Englischunterricht und forderte mich auf, vor die Tür zu kommen. Was er nicht ahnen konnte, der Englischlehrer ging mit hinaus, hörte sich die Geschichte an, gab mir Recht und zog mich sogleich in die Klasse zurück. Das machte mächtig Eindruck auf mich!«

»Ein Hoch auf couragierte Menschen – auf Sie und auf den Englischlehrer! Es ist ein Genuss, Ihnen zuzuhören! Möchten Sie was trinken?«

Einer der Hunde war an mich gekuschelt eingeschlafen, während die drei anderen zwischenzeitlich das Weite gesucht hatten. Musik war keine mehr zu hören, alles war völlig still.

»Wasser, ein großes Glas Wasser.«

»Mineralwasser?«

»Am liebsten eines, das ein bisschen salzig schmeckt und zu viel Kohlensäure enthält.«

Purius erhob sich und ging hinaus. Mein Blick traf eine Fotografie, die auf einer der reich geschnitzten und vergoldeten Kommoden stand: Eine blutverschmierte Blondine hatte in den Kopf einer weißen Taube gebissen.

Der Hausherr kam wenig später mit zwei Gläsern Wasser und einem Schälchen Salz – so hatte ich das nicht gemeint! – zurück. Er griff sich eine der Rosen und überreichte sie mir mit den Worten: »Es ist ein Genuss, Ihnen zuzuhören! Übrigens habe ich Ihnen das vorhin auch schon gesagt, aber Sie haben es überhört.«

»Überhört habe ich es nicht. Es verhält sich mit den Komplimenten eines Mannes allerdings generell so, dass sie stets Mittel zum Zweck sind, um an das Eine zu kommen.«

»Das von Ihnen erwähnte Eine wird einem reichen Manne nachgeworfen. Bei allem, was mir heilig ist, ich habe Sie nicht eingeladen, um an das Eine zu kommen.« Er hielt einen Moment inne, dann sagte er sanft: »Sie sind eine der wenigen Frauen, die sich von meinen Millionen nicht hat beeindrucken lassen.«

»Wer sagt Ihnen, dass mich all dies hier nicht beeindruckt? Es ist lediglich so, dass ich bis vor wenigen Stunden angenommen habe, Sie seien ein mittelloser, allerdings recht kluger Lebenskünstler.«

»Mademoiselle, ein Lebenskünstler bin ich tatsächlich!«

»Und woher hat der Lebenskünstler seine Millionen?«

Purius’ soeben noch strahlendes Gesicht verfinsterte sich und er antwortete mit stockender Stimme: »Man muss viel gelitten haben, um derart reich zu werden!« Was schlechte Erinnerungen anbelangte, schien Purius ebenfalls keinen Mangel beklagen zu können. Nach einer kurzen Pause ergänzte er: »Mit Erdöl- und Zuckerspekulationen bin ich reich geworden! Spät, relativ spät, erst vor wenigen Jahren. Die Jahrzehnte davor haben es nicht immer gut mit mir gemeint, ich möchte nicht darüber sprechen.«

Die drei Hunde waren in den Salon gestürmt. Der vierte, an mich gekuschelt, sprang auf und hätte mich vor Schreck beinahe in den Unterarm gebissen. Purius holte aus einer vor Gold strotzenden Kommode bunte Bälle und Hundeknochen. Damit hetzten wir die Lieblinge durch den Saal, was Purius sichtlich half, sich von seinen schmerzenden Erinnerungen zu befreien. Dass ihm dabei eine geschliffene und mit Gold verzierte Glasschale in die Brüche ging, schien ohne jegliche Bedeutung zu sein. Das teure Stück wurde später von Adele entsorgt, als handle es sich dabei um nichts weiter als einen nicht mehr gebrauchten Magerjoghurtbecher.

Nach zwanzig Minuten des Balgens, Lachens und Werfens wandte sich Purius mit leiser, doch wieder gefasster Stimme an mich: »Bezaubernde Mademoiselle, wollen Sie mir nicht noch was erzählen? Sie haben gesagt, in der Kindheit seien Sie unglücklich gewesen. Wie war es später, in der Jugend, als begabte und gewiss auch begehrte Schülerin?«

»Wie die Kindheit, so gibt auch meine Jugend nur wenig Anlass zu übertriebener Heiterkeit. Als Dreizehnjährige kam es zum sexuellen Missbrauch durch meinen Onkel, was mich in eine schwere Krise stürzen ließ. Mit siebzehn half mir eine Psychotherapie, den damit verbundenen Schmerz einigermaßen in den Griff zu bekommen. Die Sache schien längst überwunden, als um den dreißigsten Geburtstag herum meine Gefühlslandschaft erneut in sich zusammenstürzte.

Im Laufe der Jahre habe ich viel darüber nachgedacht, was getan werden müsste, um Missbrauch zu verhindern. Aber viel mehr, als dem Kind Stärke zu vermitteln, es ernst zu nehmen und mit ihm eine gesunde Körperlichkeit zu leben, können Eltern wohl tatsächlich nicht tun. Wenn Päderasten allerdings ahnten, was sie den Kindern antun, würde wenigstens ein Drittel dieser Verbrecher sich auf der Stelle das Leben nehmen. Immer wieder werde ich gefragt, was meiner Ansicht nach die Gesellschaft mit den Tätern tun sollte. Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht – weder aus juristischer noch aus persönlicher Sicht. Es sind Verbrecher, doch kein Kind möchte den Onkel als Verbrecher im Fernsehen gezeigt sehen.«

»Die Statistik besagt, jedes vierte Mädchen und jeder zehnte Junge ist von sexuellem Missbrauch betroffen. Zahlen, die sich mit den Erfahrungen der Frauen und Männer in meinem eigenen Bekanntenkreis decken.«

»Wir haben es mit einer Art Volkssport zu tun!«

»Haben Sie viel gefeiert, um sich abzulenken?«

»Nein, ich war eine Außenseiterin. Eine Außenseiterin mit dem Coolbonus. Mich auf einer Party zu haben war für den Gastgeber eine Auszeichnung. Ich war keine Partylöwin, ging niemals in Discos oder Clubs. Das war nicht meine Welt. Ist es bis heute nicht. Stattdessen machte ich eine Menge Sport, las und interessierte mich für Musik. Ich galt als weise, und dies, obwohl ich mit meiner Chopper zur Schule fuhr und mich früh tätowierte.«

»Die Tätowierungen …«

»… waren eine wunderbare Möglichkeit, meinen Körper Stück für Stück zurückzubekommen.«

»Wollten Sie niemals Prinzessin sein?«

»Nein, ich war lieber eine weibliche und drogenfreie Version von Jim Morrison. Eine Amazone.«

»Eine Amazone?«

»Na klar, die ist stark, unendlich weiblich, schön – und sie besitzt eine Armbrust. Seit jenem Tag, an dem ich das erste Wonder Woman in die Hand bekommen hatte, wollte ich eine Amazone sein. Die Bilder im Heft habe ich verschlungen. Lesen konnte ich damals noch nicht.«

»Sie waren bei Ihren Waldausflügen vielleicht als Amazone gekleidet?«

»Nein, nein! Geliebt habe ich als Kind meine weiße Bommelmütze. Die würde ich heute noch tragen. Und meine erstklassigen roten Holzschuhe mit den Marienkäfern darauf.« Ich musste gähnen. Es war schon ziemlich spät geworden. »Als ich eines Tages mit einem der Länge nach aufgerissenen Kleid nach Hause kam, gab es mit Mutti zwar keinen Ärger, doch von jenem Tag an hatte ich meine ausgedehnten Entdeckungstouren in Hosen und Turnschuhen vorzunehmen.

Als Kind schätzte ich die Dunkelheit, dieses Gefühl von Sicherheit, Wärme und Inspiration, und so war selbst das dichteste Unterholz vor mir nicht sicher. Auch mein Vater, ein begnadeter Maiglöckchensammler, begleitete mich gelegentlich auf meinen Touren. Seine dabei erlittenen Kratzer von all den Brombeeren und dem Geäst trug er wie andere Väter ihre Schmisse.«

»Darf ich Sie auf Ihr Zimmer bringen, Mademoiselle?«, fragte Purius ebenso überraschend wie schüchtern. Meine Müdigkeit war ihm anscheinend nicht entgangen.

Wortlos und gemäßigten Schrittes verließen wir das Palais und schlenderten über den Kiesvorplatz. Die Fontäne im Nymphenbrunnen, wie er ihn nannte, war zwischenzeitlich ausgeschaltet. Vor meiner Zimmertür im Obergeschoss des Gästehauses trat Purius einen Schritt zurück. »Mademoiselle, möge diese inspirierende Zeit mit Ihnen niemals enden! Gute Nacht!«

Oh, ein Mann, dem vor einer Schlafzimmertüre stehend nicht das Hirn aussetzte! Fantastisch! Ich hörte noch, wie er rief: »Um zehn gibt es Frühstück.« Und weg war er.

Vergnügt öffnete ich die weiß lackierte Tür, hinter der sich ein wunderschönes Zimmer verbarg. Weiße Wände. Dunkelbrauner Holzboden. Drei große, bis zum Boden reichende französische Fenster. Davor ein reich bepflanzter Balkon. Ein hohes altertümliches Bett mit weißer Bettwäsche und zahlreichen Kissen und Polstern, mmh, fühlten sich gut an. Der ansonsten lichte Raum erhielt durch das Bett eine besondere Note. Auf dem Schminktisch mit Spiegel stand meine Reisetasche. Adele hatte sie offensichtlich bereits zuvor aufs Zimmer gebracht – und mit einer orangefarbenen Blüte geschmückt. Neben einem mächtigen Cordsessel stand ein Tisch aus Stahlblech. Mehr ein zeitgenössisches Kunstwerk als ein Tisch. Dennoch war ein Strauß weißer Lilien in einer schlichten Vase darauf platziert worden. Zudem ein Rechaud mit einer Kanne heißen Rotbuschtees. Und eine kleine Etagere mit etwas Obst und Pralinen. Das Schönste allerdings war das Foto meiner beiden Wauzis. Paris und Helena! Vor Monaten hatte ich es ihm gesandt und nun fand ich es hier auf dem Tisch großformatig gerahmt und mit einer roten Gerberablüte versehen wieder. Das Licht des weißen Kronleuchters war angenehm und die bereitliegenden Hausschluppen aus grauem Filz nicht weniger. Ein abstraktes Bild lehnte arglos an der Wand. Hübsch, doch nicht sonderlich professionell ausgeführt. Vom Hausherrn selbst gemalt?

Von zwei nebeneinander liegenden weißen Schiebetüren führte die eine in einen winzigen Ankleideraum und die andere ins Badezimmer. Oh, was für ein Badezimmer! Der Whirlpool plan in den Boden eingelassen. Riesige Wand- und Deckenspiegel. Ein weiterer Schminktisch. Diesmal mit drei gekühlten Kosmetik-Schubladen. Sanft schimmernde Badeöle in edlen Karaffen und Flakons. Eine mit Badeschwämmen gefüllte Schale aus Bergkristall. Zwei Bademäntel, aus weißem Frottee und apricotfarbener Seide, kunstvoll mit ihren Gürteln drapiert. Ein weißes Leinennachthemd zum Quadrat gefaltet, direkt neben den beiden Waschbecken. Auch hier weiße Lilien und unter einer filigranen Glasglocke einige Himbeeren und kandierte Veilchen. Ein Bambustablett mit zwei Fläschchen Mineralwasser, zwei Gläsern, Trinkhalmen und zur Dekoration einem Palmwedel. In einem der Spiegelschränke ein Rohrstock und zwei Gerten. Parfüms und Kosmetikartikel in einer kaum zu übersehenden Menge, originalverpackt.

Groß war die Müdigkeit, doch ich holte den geliebten Laptop aus der Reisetasche und tippte am Schminktisch sitzend all das nieder, was ich tagsüber erlebt, geplaudert und wahrgenommen hatte.

Wie in seinen E-Mails hatte Purius an diesem ersten gemeinsamen Tag auf mich gewirkt: schüchtern und sehr wohltuend! Freudig gab ich ihm die Note 2 minus und kuschelte mich in die Kissen!

Der zweite Tag

Vergiss alles, was hinter dir liegt!Angelsächsischer Grundsatz

Der nächste Morgen sollte ungewöhnlich beginnen. Nicht definierbare Laute ließen mich gegen neun erwachen. Ich wühlte mich aus den vielen Kissen, trat ans Fenster und war denn doch ein wenig überrascht, als ich Purius erblickte, wie er, in einen schlichten arabischen Umhang gehüllt – wie sich später herausstellte, war es eine Mönchskutte –, bemüht war, mit besagten Lauten und rohem Fleisch Vögel anzulocken. Was für ein Hobby!

Nun duschte ich, föhnte mir die Haare, tippte noch ein wenig an den Erinnerungen vom Vortag und schlüpfte erst dann in meine Lieblingshose G-Star Concept Elwood, die ich in drei Farben besaß: schwarz, grau und beige. An diesem Tag entschied ich mich, bevor ich um zehn Uhr das Palais betrat, für biskuitbeige; von den Schuhen bis zum Pullover.

Schon kam mir die Haushälterin mit ausgestreckten Armen entgegengelaufen. Sie drückte mich an sich und verriet verschwörerisch blinzelnd, der Gastgeber könne es gar nicht mehr erwarten, mich wiederzusehen. Als Purius einen Augenblick später rief: »Endlich, die Frau Anwältin ist gekommen!«, wollte ich wissen, ob die Haushälterin gestern geprahlt hatte oder ob sie tatsächlich genauestens über mich instruiert war. Also rief ich euphorisch zurück: »Anwältin und Domina!« Adele, in keiner Weise überrascht: »Ich wäre auch ein gute Domina. Wissen Sie, zu meiner Zeit hat es solche Dinge noch gar nicht gegeben.« Purius, zwischenzeitlich freudig strahlend in der Eingangshalle erschienen, widersprach: »Gegeben wohl schon, liebe Adele! Sadomasochismus war zu allen Zeiten die Leidenschaft des Adels und des Klerus. Man denke nur an die legendär gewordenen Feste der Kardinäle und Äbte, bei denen nackte Frauen mit ihren Schamlippen Münzen vom Boden aufzuklauben hatten.« Adele scheuchte ihn aus ihrem Weg.

Der Hausherr bot mir, wie es seine Art war, den Arm an und geleitete mich über den zu beiden Seiten von Palmen gesäumten Gang in Richtung des so genannten Salle de Déjeuner, des Frühstücksraumes. Der kleine Saal fand allerdings auch zu anderen Tageszeiten Verwendung. Eine Art überdachter und verglaster Terrasse mit Säulen und Rundbögen, lindgrünen Wänden, einem goldgerahmten Gemälde einer Wildschweinjagd, einem offenen Kamin, drei runden, mit weißem Damast gedeckten Tischen und insgesamt elf Stühlen. Die Aussicht auf den Park mit seinen Fontänen, dem beachtlich dimensionierten Karpfenteich, den Blumenbeeten, den Kieswegen und vor allem dem herbstlichen Buchenhecken-Labyrinth war grandios.

Purius war weniger daran interessiert zu erfahren, wie sehr mir die Aussicht entsprach, stattdessensetzte er sich apollogleich in Pose und fragte: »Madame, wie gefällt Ihnen mein neuer Anzug?« Ein modern geschnittener Anzug in himmelblau, mit gelben Knöpfen.

»Ob Sie mich Madame oder Mademoiselle nennen, es ist das grässlichste Stück Stoff, das ich jemals gesehen habe!«

Die Haushälterin aus dem Hinterhalt: »Der Anzug ist noch nicht alles. Sehen Sie sich den Frühstückstisch an! Alles wollte er selber machen, und das ist jetzt dabei herausgekommen …« Ich besah mir den gewiss mit viel Euphorie, doch ohne jegliches Talent zum Maßhalten überhäuften Tisch und musste herzhaft lachen: Männer!

»Ich wollte doch nur …«, begann einer sich zu entschuldigen.

Wir nahmen Platz. Die Haushälterin räumte alle möglichen Tellerchen und Schälchen weg. Adele fing sich mit ihrem Tun einen gespielt missmutigen Blick von Purius ein. Liebevoll schnippisch konterte sie: »Ich nehme dem kleinen Jungen doch nichts weg, aber eine Dame fühlt sich nicht wohl in solch einem Chaos.«

Im Palais waren plötzlich verschiedenste Stimmen zu hören, und auch im Park machten sich ein halbes Dutzend Gärtner an die Arbeit. »Entschuldigen Sie die kleine Beeinträchtigung. Aber wir haben Dienstag. Und dies ist der Tag, an dem die Handwerker, die Reinigungsfirma und die Gärtner ins Haus kommen. In der restlichen Zeit bin ich mit Adele allein. Dies ist mir wichtig, denn eines Tages habe ich erkannt, ich bin Autist. Ein Autist, der den Kontakt zur Außenwelt weder braucht noch sucht.«

»Me too!«

»Nein?«

»Doch, doch, mein Autismus wurde in der Kindheit nicht erkannt, doch seit jeher brauche ich feste Tagesabläufe, gleiche Strukturen und Handgriffe. Heute, als erwachsene Frau, habe ich kein Problem mehr damit. Das Autistischsein engt mich nicht ein. Es ist höchstens ein wenig sonderbar. Manchmal. Während meines Jurastudiums an der Universität Köln sprach ich in all den Jahren mit gezählt drei Leuten; zwei Männern und einer Frau. Und dies, obwohl ich mitten in einem 700 Personen starken Studiengang saß.«

Die Haushälterin erschien: »Diesen wollte er heute für Sie anziehen …« Einen knallroten Schottenkaro-Anzug hielt sie in die Höhe, diesmal mit mauvefarbenen Knöpfen. Mir blieb die Spucke weg. Der Hausherr setzte zu einer weiteren Verteidigung an: »Verzeihen Sie, meine Damen, ich gönne mir heute all das, was ich mir mein ganzes Leben lang nicht leisten konnte – und sei es noch so verrückt. Diese Anzüge habe ich mir übrigens in Paris, unserer beider Lieblingsstadt, nähen lassen.«

»Mmh, Paris! Ich liebe alles an Paris. Absolut alles. Bis auf mauvefarbene Knöpfe auf Schottenkaro. Dort fühle ich mich angekommen, geborgen und ruhig. Sogar in der Lage, mich treiben zu lassen, was ich mir ansonsten niemals erlaube. Wenn ich in Paris lande, fühle ich mich augenblicklich dazugehörend, und dies, obwohl mein Französisch doch als eher schlecht bezeichnet werden muss.«

»Ja, wir sollten nach Paris reisen, in die Welthauptstadt der Malerei, des Lichts und der Liebe. Jetzt sind wir aber vom Thema abgekommen. Darf ich noch fragen, würden Sie wieder Jura studieren?«

»Studieren würde ich auf jeden Fall wieder, wenn auch nicht Jura. Damals wusste ich noch nicht viel über meine Talente und wahren Interessen. Außer vielleicht, dass ich schon immer äußerst diszipliniert und ein Organisationstalent war. Für Jura keine schlechten Voraussetzungen. Deshalb fiel mir das Studieren auch leicht, meine Noten blieben gut. Das Geld fürs Studium zu erarbeiten, war schon deutlich anstrengender.«

»Sie arbeiteten während des Studiums?«

»In einem Sportstudio. Morgens um 7.30 Uhr sperrte ich es auf, abends um 22.30 Uhr war Schluss. Dazwischen, meist in der Mittagszeit, ging es zur Uni. Das Studio war wie ein zweites Zuhause für mich.« Purius reichte mir ein weiteres Stück Mohnkuchen mit winzigen Birnenstückchen darin. Mmh, beinahe schon so lecker wie die Kuchen von Mutti. Nach drei großen Bissen und einem nicht weniger großen Schluck frisch gepressten Saftes aus blutroten Granatäpfeln erzählte ich dem Hausherrn weiter aus meinem Leben:

»Nach einer zerbrochenen Liebesbeziehung, Ende des Studiums, besuchte ich eine Party, auf der ich darauf angesprochen wurde, ob ich vielleicht eine ›Professionelle‹ sei. Eine Professionelle? Damit nicht genug, wenige Minuten später bot mir ein hübsches Kerlchen fünfzig Mark, wenn ich bereit wäre, ihn mal rasch anzupissen. Viel Geld für eine Studentin! Wenige Tage später las ich die Anzeige eines Dominastudios, stellte mich vor, alles ging ruck zuck, schon war ich Nutte!«

Purius rang nach Worten, wie es die Menschen immer tun, wenn sie mit der Thematik frontal konfrontiert werden. Selbst bei den Gästen im S/M-Studio ist diese sie plötzlich übermannende Kraftlosigkeit spürbar. Beinahe ein jeder verhält sich vor Beginn der Session mächtig aufgeregt und unsicher. Selten einer ist notgeil. Manch einer zittert vor Aufregung.

Die meisten meiner Gäste sind im Alter zwischen Mitte zwanzig und Mitte vierzig, jeder zweite von ihnen Familienvater. Auffallend bei S/M-Interessierten ist ihre besondere Gepflegt- und Kultiviertheit. Wobei gesagt werden muss: Eine jede Domina zieht eine andere Klientel an.

Purius hatte sich überraschend schnell gefangen und fragte mit ruhiger Stimme: »Mademoiselle, und wenn Sie mal schlecht drauf sind, ist dieser Beruf dann nicht ein wenig schwer auszuüben?«

»Och, das ist wie in anderen Berufen auch, beim Chirurgen nicht anders als bei den Gärtnern da draußen. Bin ich nicht gut drauf, plagt mich Liebeskummer oder fressen die Hunde zu wenig, dann fällt mir der Job als Anwältin nicht weniger schwer als das Auspeitschen eines Mannes oder eines süßen Ehepaares. Abgesehen davon gibt es eine Art inneren Schalter: Wenn ich mich hinter die juristischen Akten klemme oder wenn ich meine ›Domina-Uniform‹ anziehe, dann müssen die Probleme draußen bleiben, dann will ich eine großartige Leistung erzielen.«

Später machten wir einen Spaziergang durch den herbstlichen Park. Während das Laub beruhigend unter den Füßen raschelte, wärmte uns die Sonne das Gesicht. Mit hörbarer Begeisterung in der Stimme versuchte Purius, dieser Nobile der alten Schule, mich aufs Mittagessen – schon wieder speisen? – einzustimmen: »Mit den Wiener Spezialitäten verhält es sich wie mit so vielem im Leben: Der Mensch sollte die Traditionen wahren und ehren. Und ein Wiener Schnitzel wurde zu allen Zeiten in Schmalz statt in Speiseöl gebacken. In der Pfanne gebacken, nicht frittiert. Nur ein Dummkopf ohne Geschmacksnerven wirft solch eine Tradition über den Haufen. Ähnlich ist es mit dem Wiener Kartoffelsalat: Da müssen Hesperiden-Essig und eine Prise Zucker rein, alles andere ist ein unwürdiger Ersatz.« Aha!

Ich muss zugeben, die Schnitzel waren dann tatsächlich sensationell lecker. Zum anschließenden Kaffee setzten wir uns in den Großen Salon, jenen mit dem überdimensionierten Südsee-Aquarium. Die Hunde begleiteten uns. »Madame, kosten Sie doch von den Erdbeeren.«

»Sind die nicht ein bisschen klein für ein so großes Haus?«

»Oh, mit Erdbeeren ist es wie mit allem im Leben: Die kleinsten Früchte garantieren den größten und süßesten Genuss. Die großen prallen Früchte hingegen bedeuten Betrug, sie bestehen lediglich aus verführerischer Hülle ohne jeglichen Geschmack. Beinahe alles, was unsere Augen beeindruckt, bedeutet in Wahrheit Betrug. Wir täuschen selbst und lassen uns täuschen: durch Kleidung, Autos, Möbel. Wir verschleiern durch Sprache, Gestik, Konsum und Lügen. Den Großteil unseres Lebens verstecken wir uns hinter Hüllen und Maskeraden.«

Ich musste ihn bremsen: »Aber dieses Palais, Ihr galantes Auftreten, all die Kunstwerke hier und gerade auch Ihr exzentrischer Kleidungsstil sind doch auch …«, ich hielt kurz inne und sagte dann, »sind doch auch nur Hülle.«

»Umstände haben mich zu dem gemacht, der ich bin.«

»Welche Umstände?«

Purius gab keine Antwort. Den restlichen Nachmittag verbrachten wir über Mode, Architektur und Gartengestaltung plaudernd. Wobei der Hausherr erwartungsgemäß zur Opulenz des Barock tendierte, während mir der Sinn mehr nach Kargheit und Modernität stand.