Herr Doktor, das muss ich mir auf einer schmutzigen Toilette geholt haben! - Martin Anibas - E-Book

Herr Doktor, das muss ich mir auf einer schmutzigen Toilette geholt haben! E-Book

Martin Anibas

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Beschreibung

Als seine Schulkameraden noch Karl May lesen, vertieft sich der kleine Martin bereits in das 'Doktorbuch' seiner Eltern und beginnt, sich in Diagnostik zu üben, indem er die Wehwehchen seiner hochbetagten Nachbarn analysiert. Jahre später lernt er, dass es im Medizinstudium nicht nur auf Fachwissen ankommt, sondern auch hilfreich sein kann, mit dem Hund des Prüfers Gassi zu gehen. Doch erst das tolle Treiben im Krankenhaus stellt ihn vor ernsthafte, zumeist personelle Herausforderungen: Da ist zum Beispiel der despotische Professor, der seine Assistenzärzte wie Leibeigene behandelt, oder der karrieregeile Kollege, der tatsächlich über Leichen geht, um seine Konkurrenz auszuschalten. Nicht zu vergessen jede Menge skurriler Patienten, deren kryptische Formulierungen es zu entschlüsseln gilt ('Herr Doktor, meine Eier hängen an Stacheldraht!'). Doch Dr. med. Martin Anibas begegnet jeder noch so grotesken Situation mit unstillbarem Wissensdrang und unbeirrbarem Humor und beweist: Einem Urologen ist nichts Menschliches fremd.

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Dr. med. Martin Anibas

Herr Doktor, das muss ich mir auf einer schmutzigen Toilette geholt haben!

Unglaubliche Geschichten aus dem Leben eines Urologen

INHALT

Everybody’s normal

till you get to know them

John Ortberg

Vorwort

Bevor ich die Geschichten aus diesem Buch zu Papier brachte, habe ich die eine oder andere in meinem Freundeskreis erzählt. Die Reaktionen waren jedes Mal die gleichen: »Ist das wirklich wahr? Ist so etwas in einem Krankenhaus überhaupt möglich? Solche skurrilen Typen gibt es doch gar nicht, die hast du bestimmt erfunden!« Und dann schließlich: »Das musst du unbedingt aufschreiben!«

Ich versichere meinen Lesern: Ich habe nichts erfunden oder hinzugedichtet – es hat sich alles genauso zugetragen, wie es hier geschrieben steht. Natürlich habe ich die Orte der Handlung und die Namen der Personen – von denen im Übrigen nur wenige noch leben – verfremdet, denn es liegt mir fern, jemanden zu kränken oder gar zu ärgern. Und wer dieses Buch aufmerksam liest, wird feststellen, dass ich selbst die absonderlichsten Charaktere nicht ohne Sympathie gezeichnet habe – mit dem aufrichtigen Bedauern, dass solche Originale in unserer durchorganisierten Welt einer aussterbenden Spezies angehören.

Meine ärztliche Tätigkeit im Krankenhaus habe ich vor zehn Jahren aufgegeben. Mit der Medizin, wie sie heute betrieben wird, bin ich nicht mehr einverstanden. Es interessieren doch nur noch die schwarzen Zahlen und nicht mehr die Patienten. In den Krankenhäusern bestimmt das Renditedenken den Arbeitsalltag: Ärzte sind zu Dienstleistern geworden und sollen Gewinne erwirtschaften. Krankheit ist zum Wirtschaftsfaktor verkommen und die Medizin zur Industrie, für die die Gesundheit des Patienten nicht länger die oberste Handlungsmaxime ist. Das hat mir nicht mehr gepasst. Ich bin nach Spanien ausgewandert und betreibe heute eine kleine Landwirtschaft. Hier führe ich ein ruhiges Leben, bin zufrieden und habe endlich Zeit zum Schreiben.

So, das musste zu Anfang gesagt werden. Und nun steige ich wieder auf die Leiter und widme mich der Olivenernte.

Dr. med. Martin Anibas

Darmverschlingung

Ich war ein neugieriges Kind und zerlegte gern Sachen, um zu sehen, wie sie von innen aussehen. Deshalb hat mich auch die Medizin fasziniert, ja geradezu magisch angezogen. Bereits sehr früh kannte ich eine Menge Diagnosen, die schlimmste von allen war Darmverschlingung.

Wenn in unserem Wohnhaus einer erst stöhnte und dann schrie – bei zehn Mietparteien schrie häufig einer und das Stöhnen hörte man nachts ganz deutlich durch die dünnen Gangtüren mit den geätzten Glaseinsätzen –, hatte er meistens Darmverschlingung und ahnte wohl bereits sein düsteres Ende. Er wurde vom Rettungsdienst abgeholt und kam niemals wieder zurück.

Am lautesten schrie immer Herr Simanek, pensionierter Eisenbahner, Kindererzeuger, Schrebergärtner und Kommunist. Sein wellenartiges Schreien kannte ich bereits von seinen Koliken – mal Nieren, mal Galle (hatte ich alles im Doktorbuch gelesen). Diesmal war das Schreien aber anders, gleichmäßiger, wie bei Darmverschlingung eben.

Den Abtransport verfolgte ich achtjähriger Knirps auf einem wackligen Stuhl stehend durch den Türspion, aus rein medizinischem Interesse natürlich. Die Sanitäter mit ihren kleinen weißen Häubchen trugen Herrn Simanek, der jetzt nicht mehr schrie, da er inzwischen bewusstlos war, auf einer Bahre durch das enge Treppenhaus. Sie machten sich nicht einmal die Mühe, ihn festzuschnallen, seine Arme schlenkerten geradezu grotesk im Rhythmus ihrer Schritte. Von der Bahre fiel er aber nicht – soweit ich das durch den Türspion erkennen konnte. Sobald der Konvoi von Angehörigen und Neugierigen aus meinem Sichtfeld verschwunden war, rannte ich zum Fenster, um die Fortsetzung zu verfolgen: Auf der Straße parkte der Rettungswagen mit weit geöffneten Hecktüren, als ob er die Patienten wie mit einer großen Reuse einfangen wollte. Die kurze Strecke von der Haustür bis zum Wagen flankierte auf beiden Seiten ein offenbar fachkundiges Publikum aus den umliegenden Kaffee- und Gasthäusern: Arbeiter, Arbeitsscheue und Pensionäre, soweit sie um zehn Uhr morgens schon aus den Federn waren. Ich konnte am geöffneten Fenster nur Wortfetzen verstehen: »… immer schon gewusst: zu viel grünen Veltliner gesoffen«, »zu scharf gegessen, diese Cevap­cici«, »Schlaganfall«, »Epileptiker« und als Superlativ der Diag­nosen: »Herzinfarkt!«

Als die Träger mit der Bahre die Straße betraten, verstummten die Schaulustigen, aber nicht aus Pietät, sondern um auf Zehenspitzen die Einzelheiten (»kein Blut!!!«, »Aber das linke Auge ist verdreht!«) noch besser erkennen zu können. Die Träger schoben den Moribunden in den Wagen und knallten die Hecktüren dermaßen zu, man hätte es als Wiederbelebungsversuch werten können. Dann stiegen sie ein. Der Fahrer startete den Motor, zündete sich noch in aller Ruhe eine Austria 3 an, legte mit Krachen den ersten Gang ein und ruckelte in einer bläulichen Abgaswolke davon. Die Fenster der Mietshäuser wurden wieder geschlossen, die Hausfrauen hatten für die nächsten Tage ihr Gesprächsthema. Und auf der Straße zerstreute sich die Ansammlung und man ging zurück in die verrauchten Wiener Vorstadtlokalitäten, in denen der morgendliche Schock sogleich mit Alkohol bekämpft wurde, um sich danach wieder in Ruhe dem Kartenspiel oder dem kleinen Gulasch widmen zu können.

Darmverschlingung war bei älteren Menschen so etwas wie ein zwangsläufig eintretendes Naturereignis, konnte aber auch schon unter Kindern ihre Opfer fordern. Sie lief nach präzisen Gesetzen ab, wie mir meine beiden schwergewichtigen Tanten Grete und Johanna in ihren Kittelschürzen immer wieder übereinstimmend bestätigten: »Wer frisches Obst isst und unmittelbar darauf Wasser trinkt, der wird unausbleiblich Opfer der Darmverschlingung. Der Darm bläht sich auf wie ein Luftballon, dreht sich um sich selbst, verknäuelt sich, und das war’s dann.«

Nach den drohenden Stimmlagen meiner Tanten zu schließen, hatte diese Aussage mindestens das Gewicht eines elften Gebots.

In dem großen Garten, der zu unserem Landhaus gehörte, reiften in den heißen Sommern Marillen, Ringlotten, Pflaumen und anderes blähendes Obstzeug, mit dem ich mir den Bauch vollschlug. Völlig erhitzt von der Sonne und vom Herumtoben aufgrund meines jugendlichen Energieüberschusses, vergaß ich eines Tages nach einer Obstorgie das elfte Gebot meiner Tanten: Ich betätigte mit einer Hand den Pumpenschwengel des Brunnens, formte die andere zu einer Kelle, hielt sie unter den vollen Strahl und soff Wasser wie ein Pferd.

Wumm!

Mir schoss das Adrenalin unter die Schädeldecke und in alle Finger und Zehen. Scheiße! Das war das Ende, nun war alles aus! Ich schlich mich in mein Zimmer, sagte nichts – ich wollte ja niemanden mit meinem nahen Tod belasten – und legte mich aufs Bett, die Hände gefaltet, wie bereit zum Abtransport. Die Fenster waren geöffnet, ein sanfter Wind spielte mit den durchsichtigen Vorhängen, die Vögel zwitscherten. Ich aber stellte mir nur meinen Darm vor, wie er sich, vom schaumigen Inhalt aufgepumpt, in grotesken Windungen um sich selbst schlang, schon ganz blauschwarz und zersetzt. Die Schmerzen mussten jeden Moment einsetzen. Es hatte überhaupt keinen Sinn, sich dagegen aufzulehnen, das Schicksal musste seinen Lauf nehmen und überdies war alles selbst verschuldet. Die Bilder in meinem Kopf verschwammen langsam.

Zweieinhalb Stunden später wachte ich gut ausgeschlafen auf, ohne Schmerzen, und am Leben war ich auch noch. Es gibt eben immer wieder medizinische Wunder und ich gehörte dazu! An der Theorie meiner Tanten hegte ich weiterhin nicht die geringsten Zweifel.

Genauso gefährlich war das Verschlucken von Kirschkernen. Sie fanden zielsicher ihren Weg in den Blinddarm, um diesen zu verstopfen. Die Folgen: Blinddarmentzündung, Blinddarmdurchbruch und Bauchfellvereiterung. Ja, die medizinische Forschung hatte zwar die Blinddarmoperation erfunden, einen kinderleichten Eingriff, aber der Hammer kam ja erst nach der Operation: die verhängnisvolle Kombination aus Trinkverbot und unstillbarem Durst, der einen in den Wahnsinn zu treiben drohte und schlussendlich sämtliche erreichbaren Blumenvasen austrinken ließ (die Infusionstherapie, die einem den Durst nimmt, gab es natürlich noch nicht). Und dieser Verstoß gegen das Trinkverbot endete immer tödlich. Für den Fall einer Operation bat ich meine Eltern schon vorsorglich, mich am Bett festbinden zu lassen und alle Blumenvasen zu entfernen, ja, den Gebrauch von Blumenvasen am besten im gesamten Krankenhaus zu verbieten. Ich würde nämlich ganz bestimmt meinen Bettnachbarn dazu überreden, mir aus irgendeinem anderen Zimmer eine große, mit grünlich-schleimigem Wasser gefüllte Blumenvase zu bringen, um diese dann in einem Zug zu leeren.

Mein medizinisches Wissen bezog ich, schon ab dem zarten ­Alter von sieben, acht Jahren, vor allem aus dem bereits erwähnten Doktorbuch: Der Mensch in gesunden und kranken Tagen. Dieses Medizinlexikon war mindestens drei Kilogramm schwer und wurde von meinen Eltern für gewöhnlich weggesperrt. Ich wusste selbstverständlich, wo sie den Schlüssel für das abschließbare Fach des Bücherschranks versteckt hielten. Und sobald sie aus dem Haus waren, stürzte ich zum Geheimversteck und holte mir das heißgeliebte Doktorbuch. Es war meine frühreife, aber ernsthafte medizinische Propädeutik. Außerdem lagen in dem abschließbaren Fach noch Die vollkommene Ehe von van de Velde und Hitlers Mein Kampf – zu jenem Zeitpunkt befand ich beide nach einem kurzen Durchblättern als uninteressant und beachtete sie nicht weiter. Erst viel später, in den beginnenden Wirren der Pubertät, widmete ich mich der Vollkommenen Ehe. Was für ein Glück, dass meine Eltern mich zum Erwerb des großen Latinums gezwungen hatten! Die wichtigen Stellen waren alle in Latein und so war ich in der Lage, mit Stowassers Handwörterbuch und Verbtabellen alles zu übersetzen, von a tergo bis Coitus interruptus. Latein war also gar keine so tote Sprache, jedenfalls nicht, was Sex anbelangte. Sex war offenbar nur etwas für die gebildeten Schichten, für alle anderen Nichtlateinerferkel unzugänglich und Schmutz und Schund. Ich gehörte aber zu den gebildeten Schichten!

Mein Kampf jedoch interessierte mich nicht, auch nicht später. Mir war damals noch rätselhaft, weshalb das Buch weggesperrt war. Bei Stichproben fand ich jedenfalls nichts, was mit Sex zu tun gehabt hätte.

Das Doktorbuch hatte es in sich und dass diese Lektüre offen­bar verboten war, steigerte den Reiz natürlich ungemein. Ich würde das gelegentlich mal dem Pfarrer beichten müssen, aber keinesfalls, bevor ich es komplett gelesen hätte. Die Lektüre begann ich stets und immer wieder mit Begeisterung bei den ausklappbaren Tafeln von Mann und Frau. Brustkasten und Bauch waren wie die Fensterchen im Adventskalender aufzuklappen. Nicht aufzuklappen waren die äußeren Geschlechtsorgane, die seltsam unscharf ausgefallen waren, als ob der Zeichner die Lust verloren hätte und schnell fertig werden wollte. Mit dem ersten Türchen an Brustkasten und Bauch kam man zu den Rippen und den Bauchmuskeln. Nichts Besonderes für einen alten Medizinerhasen wie mich. Diese Schicht kannte ich schon bestens und stieß im Thorax weiter in die Tiefe vor. Es ging zu Lungen, Luftröhre und Herz, die zweckmäßig aneinander lagen. Besser könnte man einen Rucksack auch nicht packen. In der nächsten Schicht landete man schon an der Rückwand: Rippen, Muskeln und die Wirbelsäule. Tiefer ging es nicht. War eigentlich wenig drin im Brustkasten. Ich war fast enttäuscht, da ich gedacht hatte, dass der Mensch zum Existieren viel mehr Spezialorgane benötigt. Der Bauchraum war da schon ergiebiger, zumindest hatte er eine Aufklappschicht mehr. Es begann mit Magen, Leber, Dickdarm und Gekröse. Besonders das Gekröse machte mir zu schaffen, vermutlich war es noch gar nicht richtig erforscht. Die Erklärung: »Gekröse (Omentum,lat.), vor dem Darm hängende Bauchfellfalte, auch großes und kleines Netz genannt« half mir auch nicht weiter. Für mich war es ein kryptisches Organ ohne erkennbare Funktion. Weiter ging es hinter dem nächsten Türchen mit Milz, Nieren und Harnblase, hinter der bei der Frau die Gebärmutter hervorlugte. Nach diesem Türchen war auch schon wieder Schluss: Wirbelsäule, Muskulatur und Beckenknochen, man war sozusagen an der Rückwand des Schranks angelangt.

Die Lektüre des Doktorbuchs lief bei mir also stets nach einem festen Ritual ab. Ich begann, wie gesagt, mit den Ausklapptafeln. Danach hatte ich bereits rote Ohren, wenn ich zur nächsten Stufe, den Geschlechtskrankheiten, kam. Nach dem umfangreichen Platz, den diese einnahmen – vor allem die Abbildungen –, musste es sich dabei um eine Volksseuche handeln, die aber durch das kürzlich entdeckte Penicillin kein Problem mehr darstellte. Am besten gefielen mir der harte und der weiche Schanker (das Wort hörte sich so elegant an). Alle Abbildungen waren detailgenau, die aufbrechenden Eiterbeulen in den Leisten sehr gut gezeichnet. Auch der gelbe Guten-Morgen-Tropfen beim Tripper war nicht schlecht getroffen. Ich konnte nicht genug bekommen von alledem, von Condylomen (spitzen und flachen), Trichomonaden, Chlamydien und Mykoplasmen, von Filzläusen und blumenkohlartigen Gewächsen an den Genitalien.

Eines Tages würde ich einen Impfstoff gegen das alles entdecken, da würde man nicht einmal mehr Penicillin brauchen. Wenn ich doch nur schon Medizin studieren und richtig loslegen könnte!

Immer wieder interessant fand ich die Konstitutionstypen nach Kretschmer, vermutlich, weil ich mich nicht entscheiden konnte, ob ich nun Leptosomer, Pykniker oder Athlet war. Die Typen waren von vorne, hinten und von der Seite dargestellt, untereinander mit Pfeilen verbunden, da es ja auch Mischformen gab. Nach jahrelangen Überlegungen und Grübeleien kam ich zu dem Schluss, dass ich ein leptosomer Athlet mit pyknischem Einschlag sein müsse. Mein Bruder, der noch nicht lesen konnte und dem ich gelegentlich Einblick in das Doktorbuch gewährte, wollte immer wieder auch seinen Typus wissen. Meine Aussage, laut aus dem Doktorbuch vorgetragen, dass er eindeutig unter den Typus »blöd« falle, rief bei ihm reproduzierbare Wutanfälle hervor, die stets in Schluchzen endeten. Bei den Eltern verpfiffen hat er mich aber nie, vermutlich aufgrund meiner Drohung, ihn dann an das Bein unseres Esszimmertisches zu binden und zu foltern.

Nach den geschilderten Präliminarien, die jedes Mal fast eine halbe Stunde dauerten, folgte die eigentliche Lektüre, keineswegs systematisch, aber dennoch in der Hoffnung, mir das Doktorbuch eines Tages ganz erschlossen zu haben. Ich las darin nach dem Zufallsprinzip, kreuz und quer, landete seltsamerweise überdurchschnittlich häufig bei Schädelbasisbruch, Pemphigus und Delirium tremens. Die Lektüre verhalf mir auch zu der Erkenntnis, dass die meisten Erwachsenen »Asthma«, »Hämorrhoiden« und ­»Homöopathie« nicht korrekt schreiben konnten. Sie lasen eben kein Doktorbuch.

Auch was Vaginismus ist, wusste ich aus diesem Buch. Später, gegen Ende der pubertären Phase, musste ich es nochmals genau nachlesen. Im Alter von fünfzehn, sechzehn Jahren waren Sex und Mädchen die Themen geworden. Höchstwahrscheinlich hatte noch keiner aus meiner Klasse mit einer Frau geschlafen, aber alle hatten Angst vor dem Vaginismus.

»Da ist nichts zu machen. Du bleibst mit dem Schwanz drin stecken wie in einem Schraubstock, einen Rückzieher machen geht nicht. Dann kommt der Rettungsdienst und transportiert dich mit deiner Freundin auf einer Bahre ins Krankenhaus, wo am Eingang schon die Zeitungsreporter lauern.«

Die einzige Möglichkeit, das zu verhindern, war eine ständig griffbereite Stecknadel. Wenn man bei Vaginismus der Partnerin in den Hintern sticht, löst sich die Verkrampfung sofort und man ist aus der Falle entkommen. Wir alle rannten nur noch mit einer Stecknadel unter dem Sakkoaufschlag herum. Für den Fall der Fälle. Es war wie eine Seuche. Wenn wir abends ausgingen, machten wir vorher Nadelkontrolle. Die Nadel war der Beweis für das Erwachsensein, mehr noch als die ersten Zigaretten.

Beim Lesen des Doktorbuchs war ich immer so versunken, dass ich mehrfach fast entdeckt worden wäre. Ich konnte das Buch gerade noch in den Schrank schmeißen, wenn ich meine Eltern nach Hause kommen hörte. Abgeschlossen und den Schlüssel versteckt habe ich dann nachts. Ich kam mir vor wie ein Profiganove.

Trotz meines eifrigen Studiums blieben zahlreiche medizinische Rätsel, deren Lösung mir verschlossen war. Unser Gartennachbar, Herr Jindra, war so ein Rätsel. Er war der Mann ohne Magen. Man hatte ihm den Magen komplett entfernt, weil er ein Geschwür hatte. Natürlich wusste ich das nicht von ihm und ich hätte mich auch nie getraut, ihn zu fragen. Aber alle Erwachsenen redeten darüber: »Das arme Schwein, totale Magenentfernung, kein Fatz Magen mehr vorhanden, kann nur noch von Wasser und Haferschleim leben.« Herr Jindra war mager, geradezu dürr, wie ausgetrocknet, und wenn er im Sommer kein Hemd anhatte, sah ich seine lange, wulstige Narbe, die sich vom Nabel bis zum Brustbein zog.

Ich hatte im Doktorbuch alles über den Magen gelesen und die Operationen nach Billroth I und Billroth II waren mir geläufig, wenngleich ich die dazugehörigen Zeichnungen nicht komplett begriff und darüber wütend wurde. Wohin rutschten die halb verdauten Brocken und die Getränke aus der Speiseröhre, wenn kein Magen mehr da war? Wie fanden sie in den Darm? Sie mussten auf irgendeine Weise in den Darm gelangen, denn Herr Jindra hatte Stuhlgang. Jedes Mal, wenn er vom Plumpsklo hinter dem Schrebergartenhäuschen kam, hatte er den Fäkalieneimer in der Hand und kippte ihn als Kopfdüngung über seine Salatpflanzen. Damit war der wissenschaftliche Beweis erbracht: Eine Darmpassage musste existieren. Aber wie? Nebenbei bemerkt, aß ich nie mehr Salat, wenn er uns welchen schenkte. Was meine Eltern sehr wunderte, aber sie beobachteten eben ihre Umwelt nicht so genau wie ich.

Meinem Großvater war ich in medizinischen Dingen eine wertvolle Stütze. Wenn er seine Herzanfälle bekam und nachts aufrecht im Bett sitzend nach Luft rang, sang ich ihm immer wieder sämtliche Strophen des alten Gassenhauers Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern vor. Damit hielt ich ihn aufrecht und am Leben. Ich sang und wiederholte das Lied so oft, bis Groß­mutter mit dem Doktor kam, den sie des Nächtens herausgeklingelt hatte.

Die Diagnose war klar: Angina pectoris (mit Betonung auf dem »O«, mein Latein war noch nicht perfekt). Bei den Anfällen hatte Großvater noch blauere Lippen als sonst, rang nach Luft und blies beim Ausatmen die Backen auf: pft – pft – pft, wie eine Dampfmaschine in den letzten Umdrehungen vor dem Stillstand. Dem Doktorbuch zufolge konnte es sich dabei nur um Herzasthma handeln. Nach einer Spritze ging es Großvater dann wieder besser. Ohne mein therapeutisches Singen, das die Wartezeit verkürzte, hätte er die vielen Herzanfälle sicher nicht überstanden. Was ich da machte, war Psychologie und psychosomatische Medizin in Reinkultur, ich war meiner Zeit weit voraus, ohne dass meine Umgebung das richtig erkannt hätte.

Auch wenn keine Herzanfälle zu beklagen waren, kam der Doktor täglich, um Großvater ein Viertel Strophantin zu spritzen. Nur sonntags kam er nicht.

»Die Pumpe muss einmal in der Woche Ruhe haben, deshalb auf Wiedersehen bis Montag«, sagte Dr. Fiala jeweils am Samstag.

Aus dem Doktorbuch wusste ich, dass das eine plumpe Ausrede war, um am Sonntag nicht raus zu müssen. Strophantin muss täglich gespritzt werden! Ich rächte mich stellvertretend für Großvater, an dem ich sehr hing. Die Spritzen waren damals keine Einmalspritzen aus Kunststoff, sondern aus Glas. Sie wurden in Metalldosen aufbewahrt, die Kanülen dazu lagen in runden Metallbehältern wie in einem Karussell, die Spitzen zur Mitte, abgedeckt durch eine Glasplatte. Der Doktor hatte mir erklärt, dass das Berühren aus Gründen der Sterilität streng verboten war. Kaum hatte Dr. Fiala das Strophantin aufgezogen, die Staubinde angelegt und sich meinem Großvater zugewandt, hob ich das Glas an und streifte alle Kanülen mit der Fingerspitze. Niemand hatte etwas bemerkt, aber alle Patienten, die mit diesen Nadeln eine Spritze erhielten, würden an schweren Infektionen sterben! Geschieht dem Doktor recht, wenn er zu faul ist, Großvater am Sonntag zu behandeln, dachte ich bei mir, ohne die geringsten Gewissensbisse zu verspüren.

Das Kartenspielen war Großvaters Ein und Alles, aber auch sein Verderben. Nächtelang saß er im Kaffeehaus, spielte, trank und rauchte trotz seiner schweren Herzkrankheit. Schließlich war er in einem so desolaten Zustand, dass er nicht einmal mehr die paar hundert Meter zu Fuß nach Hause gehen konnte. Seine Kumpane mussten ihn spät in der Nacht mit vereinten Kräften auf einem Kaffeehausstuhl (es waren die schön geschwungenen Thonet-Stühle, daran erinnere ich mich noch genau) heimwärts tragen. Als er es nicht einmal mehr bis in sein Stammcafé schaffte, kamen seine Mitspieler regelmäßig zu uns nach Hause zur Kartenrunde.

Ich liebte meinen Großvater über alles. Bei ihm durfte ich das, was bei meiner Mutter verboten war. Wenn er Karten spielte, erlaubte er mir, seine brennende Zigarette zu halten. Ich steckte sie mir lässig in den Mund, zog natürlich nicht daran, aber betrachtete mich im Spiegel und kam mir richtig gut vor. Vom Bier probieren ließ er mich auch. Das schmeckte mir schon mit fünf Jahren ausgezeichnet.

Die Kartenrunde spielte Bauernschnapsen, ein Spiel, das in den Ländern des ehemaligen Österreich-Ungarn weit verbreitet ist. Ich durfte kiebitzen, wenn ich dabei den Mund hielt, was mir nicht immer gelang und mir so manche Ohrfeige eintrug. Jedenfalls kannte ich die Regeln und Züge des Spiels, lange bevor ich lesen und schreiben konnte.

Das Kiebitzen endete tragisch. Ich stand wie immer hinter meinem Großvater, als er ausspielen sollte. Er hatte das Blatt seines Lebens in der Hand: vier Asse und den Atout-König. Großvater rührte sich nicht, spielte nicht aus, tat gar nichts. Ich dachte, er wollte den Triumph des Blattes vollständig auskosten. Nichts passierte. Dann senkte Großvater langsam, ganz langsam die Hand mit den Karten auf den Tisch. Ich flüsterte ihm ins Ohr: »Alle können dein Blatt sehen, was machst du?« Als ich mich vorbeugte, sah ich, dass ihm ein dünner Speichelfaden aus dem linken Mundwinkel lief, der zudem seltsam heruntergezogen war. Nun sank Großvater wie im Zeitlupentempo nach links vom Stuhl auf mich herab. Ich war viel zu schwach, um ihn zu stützen. Seine Freunde waren aber schon aufgesprungen und hatten ihn gehalten, sodass er ganz sanft auf den Boden glitt. Da lag er nun auf dem Rücken, rührte sich nicht mehr und schien starr in die Ferne zu blicken. Ich weinte, legte mich auf ihn und sprach ihn immer wieder an. Nichts. Er war tot. Meine inzwischen alarmierte Mutter kam an, packte mich unsanft am Arm und zog mich gegen meinen Widerstand aus dem Zimmer: »Das ist nichts für dich, du gehst jetzt schlafen.« Als ob ich hätte schlafen können! Ich kriegte genau mit, dass der Hausarzt eintraf und den Tod infolge eines Schlaganfalls bestätigte. Die Familie blieb bis zum Morgen auf. Mich tröstete in der Nacht niemand. Alle waren beschäftigt und hatten mich wohl vergessen. Das Bild des sterbenden Großvaters verfolgte mich noch monatelang. Es war meine erste Begegnung mit dem Tod. Viele weitere sollten folgen, aber das konnte ich damals noch nicht ahnen. Das Leben ging weiter. Ich las viel, verschlang die Bücher meiner Altersstufe, kehrte aber immer wieder zu meiner Lieblingslektüre, dem Doktorbuch, zurück.

Frühzeitige medizinisch-operative Erfolge hatte ich auch zu vermelden. Mit meiner Beidhändigkeit bin ich der geborene Chirurg. Eigentlich war ich ja Linkshänder. Meiner Grundschullehrerin danke ich es noch heute, dass sie mich in den 1950er-Jahren mit harten Linealschlägen auf die Finger im Lauf der Zeit zum Rechtshänder umerzogen hat. Jedenfalls kann ich heute vom Schreiben bis zum Hämmern oder Nähen alles mit beiden Händen, je nach Bedarf.

Dies sollte eines Tages unserem Briefträger, Herrn Zawadil, zugute kommen. Er wusste fast alles über die Leute in unserer Straße, da er sämtliche Postkarten las und – wie ich vermute – auch Briefe heimlich öffnete. Er kam zweimal täglich (kein Druckfehler, die Post kam damals noch morgens und nachmittags und auch am Samstag!) und brachte neben der Post auch verbal alle Neuigkeiten des Viertels, die auf diese Weise rasend schnell verbreitet wurden, er war sozusagen ein Vorläufer von Facebook, Twitter und Youtube zusammen.

Eines Tages kam Herr Zawadil mit einer schwarzen Augenklappe über dem linken Ohr. Unter dieser zweckentfremdeten Schutzvorrichtung lugte eine weiße Watteschicht hervor. Was war passiert? Sein kleiner Sohn hatte ihm beim Spielen eine Erbse in den Gehörgang gesteckt. Durch Körperfeuchtigkeit und Ohrschmalz aufgequollen, widersetzte sich die Erbse allen Ent­fernungsversuchen. Weder mit Zahnstochern noch mit Draht war ihr beizukommen. Sogar Dr. Fiala, unser praktischer Arzt, hatte passen müssen und hatte Zawadil zur Extraktion des Fremdkörpers zum Hals-Nasen-Ohren-Spezialisten überwiesen. Durch die zahlreichen Entfernungsversuche und das weitere Quellen verursachte die Erbse dem armen Zawadil inzwischen höllische Schmerzen. Auf den Termin beim Spezialisten musste er jedoch noch einige Tage warten. Die Zeit verkürzte sich Zawadil dadurch, dass er jeden, dem er Post brachte, in sein Ohr schauen ließ. Er schob die schwarze Klappe zur Seite und in der Tiefe des Gehörgangs konnte man bei geeignetem Lichteinfall die grünlich gewölbte Kuppe der Erbse sehen, oder zumindest erahnen.

Da meine Eltern nicht zu Hause waren, zeigte er auch mir die Erbse im Ohr. Aus dem Doktorbuch war ich über den Gehörgang bestens informiert. Wenn man die Ohrmuschel nur kräftig genug nach hinten und oben zog, konnte man auch ohne Ohrenspiegel den Gehörgang einigermaßen einsehen. Ich bettelte Zawadil so lange an, bis er mir einen Versuch (»Aber nur einen einzigen!«) gestattete. Er setzte sich auf einen Küchenstuhl, die lederne Umhängetasche auf den Knien. Nur mit Mühe konnte ich ihn dazu überreden, den weiten blauen Post-Mantel abzulegen, der mich bei dem Eingriff nur behindert hätte. Dann ging alles ganz rasch: Ich nahm eine Taschenlampe in den Mund, damit war die Ausleuchtung ganz passabel. Mit der rechten Hand zog ich sein Ohr fest nach hinten und mit meiner leicht gebogenen, rostigen Briefmarkenpinzette in der Linken packte ich die Erbse und zog sie mit Gefühl heraus, ohne sie zu zerquetschen. Eine Meisterleistung, da sie von den vergeblichen Extraktionsversuchen schon ganz zerstochert war. Zawadil bedankte sich überschwänglich und trug meinen Ruhm ins ganze Viertel. Ein Taschengeld wäre mir lieber gewesen, aber darauf wartete ich vergeblich.

Ich erkannte nun glasklar, dass mein Weg vorgezeichnet war: Ich musste Medizin studieren, um die Rätsel zu lösen, um hinter die Kulissen zu schauen, um alles zu begreifen. Eines Tages würde ich alles wissen und können, damit einen Haufen Geld verdienen und so nebenbei auch noch zahlreiche Krankheiten vollständig ausrotten, sodass sie nur noch blasse Erinnerungen, ja, Medizinhistorie sein würden. Ich konnte es kaum erwarten, den Eid des Hippopotamus, oder wie der Kerl hieß, zu schwören.

Bandwurm und Co.

Wir lebten in einem Mietshaus mit zehn Wohnungen oder wie man in Wien sagt: in einem Zinshaus mit zehn Parteien. Genaugenommen war es eine Mischung aus Kranken- und Irrenhaus. Unter den Bewohnern des Hauses fand sich kaum ein gesunder, geschweige denn normaler Mensch. Außer mir natürlich. Für mein frühes medizinisches Interesse waren das hervorragende Studienbedingungen und mithilfe des Doktorbuchs konnte ich alle Diagnosen entschlüsseln, ja sogar verfeinern!

In Wohnung Nummer eins lebte ein ältliches Fräulein, Aloisia Baumgartner, unauffällig und zurückgezogen. Alle nannten sie nur »die Loisi«. Sie war zwergenhaft klein, hatte einen gewal­tigen Buckel, einen für ihren Körper viel zu großen Kopf und eine völlig schiefe Haltung. Wegen ihrer O-Beine watschelte sie eher, als dass sie ging. Sprach man über sie, hieß es immer, sie sei eben verwachsen.

»Verwachsen«, wie man mit Wiener Charme sagte, war in Wirklichkeit das Ergebnis der Rachitis – des Mangels an Licht, Luft, Sonne und Vitamin D. Mit ein paar Vitamintabletten im Säuglingsalter kann man das heute verhindern. Rachitis gab es zu allen Zeiten und in allen Regionen der Erde. Mumienfotos in meinem Doktorbuch bewiesen das. Besonders verbreitet war die Rachitis in England, deswegen wurde sie auch »Englische Krankheit« genannt. Ist ja klar, bei dem Smog und dem ständigen Regen entwickeln die Engländer kaum Vitamin D. Man sollte sie allesamt umsiedeln, südlich des Brenners. Sie würden sich sofort wohler fühlen und ihre traurige Insel bald vergessen haben.

Aufgrund ihres verwachsenen Aussehens ging die Loisi kaum aus dem Haus. Sie schämte sich und allzu oft wurde sie auch noch verspottet. Wie viele alte Vetteln war sie eine eifrige Kirchgängerin. Ich war Messdiener und sah sie daher regelmäßig in der Frühmesse.

Die Frühmesse war die reine Pest. Ich musste schon um sechs aufstehen, die Messe begann um Viertel vor sieben, dauerte bis halb acht und danach musste ich in die Schule rasen. Auch am Sonntag blieb ich vom Messdienst nicht verschont. Man konnte wählen: Frühmesse von einer Stunde Dauer um sieben oder feierliches Hochamt (mindestens zwei Stunden) um zehn. Scylla und Charybdis. Ich wählte immer die kurze Frühmesse. Lieber ein Ende mit Schrecken.

Messdiener wurde ich nur, weil meine Mutter mich dazu zwang. Sie schleifte mich sogar zum Fotografen. Dort musste ich mir die Messdienerkluft anziehen, in der ich mir wie ein Mädchen vorkam, und dann wurde ich mit einer Kerze in der Hand ­fotografiert. Das Foto hatte meine Mutter immer in ihrer Handtasche und zeigte es allen Bekannten, wobei ihr jedes Mal die Tränen in die Augen stiegen. Ich schämte mich entsetzlich.

In der Messe saß ich während der Predigt unter der Kanzel, den Kirchenbänken zugewandt und konnte alle sehen. Das Volk bestand nur aus alten Weibern. Wenn das die Heerscharen Gottes sind, dann gute Nacht, dachte ich bei mir. Von meinem Platz aus konnte ich Loisi ganz genau studieren. Wenn sie betete, sah ich ihre deformierten Handgelenke. Die hatten mir noch zur Komplettierung meiner Diagnose gefehlt. Sie hatte alle Symptome der Rachitis! Alle, die ich auch im Doktorbuch gefunden hatte! Rachitis konnte also abgehakt werden, ich wusste nun alles darüber. In Wohnung Nummer zwei lebten Anton und Emilie Büchinger. Er war Rentner und früherer Straßenbahner und hatte nur ein Bein. Sein anderes hatte er verloren, weil er von seiner eigenen Straßenbahn überrollt wurde. Damals war noch in jedem Straßenbahnwaggon ein Schaffner, der die Fahrkarten verkaufte und lochte. Wenn alle Fahrgäste ein- und ausgestiegen waren, gab Büchinger mit der Trillerpfeife das Signal zur Abfahrt und sprang dann auf die anrollende Straßenbahn auf. Dabei war es passiert. Böse Zungen behaupteten, er wäre wie üblich alkoholisiert gewesen. Nach dem Unfall bezog er eine Rente und war mehr im Kaffeehaus Karten spielen als zu Hause. Mit seinem Schicksal schien ­Büchinger überhaupt nicht unzufrieden zu sein, jedenfalls jammerte er nie und war immer gut gelaunt. Eine Prothese vertrug er nicht, der Beinstumpf war zu empfindlich. Also bewegte er sich mit diesen altmodischen ypsilonförmigen Holzkrücken fort, die mit kleinen Polstern versehen sind, auf die man die Achseln stützen kann.

Seine Frau Emilie lehnte bei jedem Wetter am offenen Fenster ihrer Erdgeschosswohnung und überwachte die Vorgänge auf der Straße. Dabei qualmte sie ununterbrochen, rang nach Luft und hustete. Wenn sie mit den Vorbeikommenden den neuesten Tratsch austauschte, konnte sie keinen Satz ohne Unterbrechung aussprechen. Es fehlte ihr die Luft und sie musste immer wieder mühevoll einatmen. Aber weder das Tratschen noch das Rauchen konnte sie lassen. Heute würde man ihr ein kleines, tragbares Sauerstoffgerät wegen der Lungenblähung verschreiben. Aber so etwas gab es damals noch nicht.

Wohnung Nummer drei gehörte meinem Großvater. Er war verwitwet und hatte regelmäßige Herzanfälle. Das hinderte ihn jedoch nicht, hinter den Frauen her zu sein, wie er es sein ganzes Leben lang gewesen war. Großmutter hatte davon gewusst. Ihre einzigen Heilmittel dagegen waren Beten und der tägliche Kirchgang. Erwartungsgemäß war die Wirkung gleich null, selbst Wallfahrten halfen nicht.

Auch nach dem Tod seiner Frau hatte mein Großvater immer wieder kurze Affären – bis Marie kam. Sie war in seinem Alter, so um die siebzig. Alle nannten sie nur »die schwarze Marie«. Sie hatte einen üblen Ruf und mit ihrem pechschwarz gefärbten Haar sah sie aus wie eine Hexe. Ihrem letzten Lebensgefährten, einem beinamputierten Kriegsheimkehrer, hatte sie die Prothese weggenommen, auf dem Schwarzmarkt verkauft und ihn danach hinausgeschmissen. Bei den vielen Beinamputierten nach dem Weltkrieg konnte man für eine Prothese einen Haufen Geld kriegen. Und auf Geld war die schwarze Marie immer aus.

So ruinierte sie auch meinen Großvater. Sie kochte nicht, putzte nicht und trieb sich viel herum. Großvaters Rente ging monatlich vollständig drauf und auch seine Ersparnisse waren bald weg. Er konnte aber einfach nicht von ihr lassen. Damals verstand ich es nicht, aber heute weiß ich es: Es war der pure, nackte Sex, der ihn steuerte.

Alles Zureden der Familie half nicht. Im Gegenteil, er verkrachte sich mit allen. Bis die schwarze Marie spurlos verschwand, während Großvater wieder einmal wegen seiner Herzbeschwerden im Krankenhaus lag. Sie hatte die Wohnung ausgeräumt und alles, was halbwegs von Wert war, mitgenommen.

Großvater war nur noch ein Häufchen Elend. Von den Weibern­ hatte er vorübergehend die Nase voll. Jetzt beschäftigte er sich mehr mit mir, erzählte viel. Im Ersten Weltkrieg war er bei der Kavallerie gewesen und hatte von damals eine Tätowierung auf dem rechten Unterarm: ein großes Hufeisen und darin seine Regiments­nummer. Ich zeichnete mir das Bild minutiös ab. Später wollte ich auch so eine Tätowierung haben. Natürlich wurde nichts daraus. Aber das Bild, das ich als Kind abmalte, besitze ich noch immer.

Großvater brachte mir schon vor der Einschulung das Lesen bei. Ich saß auf seinem Schoß und fuhr mit dem Zeigefinger langsam die Überschriften im Kleinen Volksblatt entlang, während er sie, der Geschwindigkeit meines Fingers angepasst, vorlas. Es dauerte nicht lange und ich konnte alle Texte selbst lesen. In der Schule langweilte ich mich dann, während die anderen noch mühsam buchstabierten.

Lesen blieb meine Leidenschaft auch dann noch, als Groß­vater schon lange tot war. Ich verschlang Bücher, las aber nie die infantile Jugendliteratur, die ich noch als Dreizehnjähriger regelmäßig zu Weihnachten und Geburtstagen von meinen Eltern und wohlmeinenden Verwandten geschenkt bekam. Ich bediente mich lieber heimlich an dem Bücherschrank meiner Mutter. Dort fand sich das, was damals in bürgerlichen Haushalten üblich war: Pearl S. Buck, Vicki Baum, Axel Munthe, Erich Maria Remarque und Das Beste aus Reader’s Digest