Herzensschwestern - Åsa Hellberg - E-Book

Herzensschwestern E-Book

Åsa Hellberg

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Beschreibung

Die Zeit ist reif für Abenteuer. Elsa Johansson ist auf der Suche nach Freundinnen. Allein ist ihr das Leben zu langweilig geworden. Zum Glück kann man sich mit siebzig endlich verrückte Ideen erlauben. Zum Beispiel sich an eine Straßenkreuzung zu stellen und fremden Frauen in den Urlaub zu folgen. Elsa landet in Västerås, London und sogar in New York. Und lernt Isabella und Carina kennen, die mit Mitte fünfzig ebenfalls beschlossen haben, dass endlich etwas passieren muss. Die drei Freundinnen stellen fest, dass das Leben eine Menge zu bieten hat: Abenteuer, Liebe und vor allem Freundschaften, die sie sich schon immer gewünscht haben.

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Das Buch

Mit siebzig ist das Leben vorbei? Von wegen! Elsa Johansson ist auf der Suche nach Freundinnen. Allein ist ihr das Leben zu langweilig geworden. Zum Glück kann man sich in ihrem Alter endlich verrückte Ideen erlauben. Und so stellt Elsa sich an eine Straßenkreuzung und folgt fremden Frauen in den Urlaub. Sie landet in Västerås, London und sogar in New York. Und lernt Isabella und Carina kennen, die mit Mitte fünfzig ebenfalls beschlossen haben, dass endlich etwas passieren muss. Die drei Freundinnen stellen fest, dass das Leben eine Menge zu bieten hat – Abenteuer, Liebe und Freundschaften, die sie sich schon immer gewünscht haben. Und sie merken: Es ist nie zu spät, sein Leben zu ändern.

Die Autorin

Åsa Hellberg wurde 1962 in Fjällbacka geboren. Heute lebt sie mit Sohn, Katze und ihrem Lebensgefährten in Stockholm. Sie arbeitete unter anderem als Flugbegleiterin, Coach und Dozentin, bevor sie mit dem Schreiben begann. Ihr erster Roman Sommerfreundinnen war in Schweden ein großer Überraschungserfolg und stand in Deutschland monatelang auf der Bestsellerliste.

Von Åsa Hellberg sind in unserem Hause erschienen:

Sommerfreundinnen Herzensschwestern

Åsa Hellberg

Herzensschwestern

Roman

Aus dem Schwedischen von Sarah Houtermans

List Taschenbuch

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Wir wählen unsere Bücher sorgfältig aus, lektorieren sie gründlich mit Autoren und Übersetzern und produzieren sie in bester Qualität.

ISBN 978-3-8437-1081-7

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2015 © Åsa Hellberg 2014 Titel der schwedischen Originalausgabe: En liten värld (Bokförlaget Forum 2014) Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München Titelabbildung: © Flora Press

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Für Sverker, meinen kleinen Bruder

1

Sie hätte nicht sagen können, warum sie sich gerade in diesem Moment an die Kreuzung vor Stockholms Hauptbahnhof gestellt hatte. Weshalb sie der blonden Frau gefolgt war, die mit einer kleinen Reisetasche in der Hand herangeeilt gekommen war, wusste sie dagegen ganz genau.

Wenn sie jemals etwas anderes als Farsta zu Gesicht bekommen wollte, dann musste sie in die Welt hinaus. Warum sollte sie da nicht einfach der dritten Person hinterhergehen, die den Zebrastreifen überquerte?

Allein hätte sie sich niemals getraut.

Als die Frau Richtung Arlanda-Express abbog, klopfte Elsas Herz so sehr, dass ihr die Beine zitterten.

Vielleicht wurde dieses Mal ja wirklich etwas aus ihrer Auslandsreise.

2

Ein idealer Morgen begann für Isabella mit einem ausgiebigen Frühstück, bei dem sie die Tageszeitung Dagens Nyheter las und Radio hörte. Ein Sprint zur U-Bahn-Station Odenplan, noch dazu auf hohen Absätzen, war dagegen alles andere als ideal. Sie fluchte laut, als sie sah, dass die Bahn schon in den Bahnhof eingefahren war, schlüpfte aus ihren Schuhen und rannte schneller.

Schnaufend lehnte sie sich in der Bahn an. Der Mann neben ihr schaute belustigt, und Isabella warf ihm einen bösen Blick zu, bevor sie sich setzte und die Schuhe wieder anzog. Jetzt würde sie es rechtzeitig zum Arlanda-Express schaffen. Das war wichtiger als schmutzige Füße. Und glotzende Männer.

»Stress heute Morgen?«, fragte der Mann.

»Ja«, antwortete Isabella knapp. Sie hatte überhaupt keine Lust, sich zu unterhalten. Im Gegenteil. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf. Nicht weil sie sie gebraucht hätte, sondern um die Leute auf Abstand zu halten.

Vier Minuten später stieg sie bei der Station T-Centralen aus. Vor lauter Eile nahm sie den falschen Ausgang und kam an der Kreuzung Vattugränd-Vasagatan heraus, statt unterirdisch Stockholms Hauptbahnhof zu erreichen, wo der Arlanda-Express abfuhr. Fluchend rannte sie wieder los.

Zum ersten Mal an diesem Tag hatte sie Glück, und als sie sich im Arlanda-Express in dem bequemen Sitz zurücklehnte, war ihre Gereiztheit wie weggeblasen. Dass ihr der Schweiß nur so herunterlief, war egal. Ob das nun an ihrem Dauerlauf lag oder an den mittlerweile so wohlbekannten Hitzewallungen, kümmerte sie genauso wenig. Sie würde ihren Flug nach London kriegen.

Sam ließ die Zeitung sinken. Die blonde Frau war wirklich außergewöhnlich schön, wie er bemerkte, als sie kurz ihre Sonnenbrille hochschob. Er genoss den Anblick einen Moment lang, dann wandte er sich wieder seiner Zeitung zu. Schöne Frauen waren nicht unbedingt auch freundlich, meistens eher das Gegenteil. Ihm reichte es gut und gerne, eine Frau von fern zu bewundern. Weiter würde Sam nicht gehen. Er suchte nicht einmal Blickkontakt. Am besten fing er damit gar nicht erst an.

In Arlanda ließ er sich Zeit. Der Flug nach New York würde laut Anzeige pünktlich sein, und Sam blieb eine Stunde, um sich bei einem Kaffee alles erneut durch den Kopf gehen zu lassen.

Er hatte immer noch nicht entschieden, ob er nun eine Wohnung in Stockholm kaufen sollte oder nicht. Hätte er Verwandte in Schweden gehabt, wäre die Sache klar gewesen. Aber er kannte hier niemanden mehr. Trotzdem zog Schweden ihn auf unerklärliche Weise an, obwohl Stockholm abgesehen von den Sommermonaten nun wirklich keine besonders reizvolle Stadt war.

Der Anlass für seine Überlegungen, eine Wohnung in Stockholm zu kaufen, war sein Sohn Alexander. Er wollte einige Semester in der Stadt studieren, um besser Schwedisch zu lernen. Sam und sein Sohn sprachen miteinander in einer Phantasiesprache, die mit Schwedisch kaum etwas zu tun hatte. Beim Anblick der Maklerunterlagen hatte Sam grinsen müssen. Er hätte selbst einen Sprachkurs nötig gehabt. Schon in Sams Kindheit hatte seine Mutter Englisch und Schwedisch vermischt, wie es ihr gerade in den Sinn gekommen war, und als ihr Enkel Alexander geboren wurde, hatte sie ihre Muttersprache fast vergessen.

Jedenfalls musste er bald eine Entscheidung treffen. Das Semester begann in einem Monat, und wenn Sam keine Wohnung kaufte, musste er seinem Sohn helfen, eine Mietwohnung zu finden.

Isabella vermied es, zu den Zeitungsregalen hinüberzuschauen. Wie immer blickte sie von den Titelseiten der Illustrierten das Gesicht ihres Exmannes an, und ob seine Neue nun einundzwanzig oder ein paar Jahre älter war, interessierte sie nun wirklich nicht. Sie wollte nichts davon hören.

Tatsächlich getroffen hatten die Schlagzeilen sie, als sie noch mit ihm verheiratet gewesen war. Wie hatte sie das bloß ausgehalten? Der Klatsch enthielt zwar höchstens ein Fitzelchen Wahrheit, aber das hatte ihr gereicht, um sich richtig schlecht zu fühlen. Obwohl sie ihren Mann liebte, hatte sie nach fünfzehn Jahren aufgegeben. Er würde sich nie ändern, ganz gleich, wie sehr sie ihn liebte.

Die Frau im Duty-free-Shop lächelte, als sie Isabellas Bordkarte entgegennahm.

»Ich habe Sie gleich erkannt«, flüsterte sie. »Wie schade, dass Sie damals ihre Karriere aufgegeben haben. Sie waren doch noch so jung.«

Isabella lächelte zurück. Mittlerweile wurde sie nur mehr selten erkannt, was ihr sehr recht war. Vor dreißig Jahren war das ganz anders gewesen. Ihr einziger Film hatte einen derartigen Erfolg gehabt, dass sie auf Schritt und Tritt angesprochen worden war.

»Danke, aber ich bin eigentlich sehr froh darüber«, flüsterte Isabella zurück und zwinkerte der Frau zu. Sie steckte das Parfüm zusammen mit der Bordkarte in ihre Handtasche. Sie meinte, was sie gesagt hatte. Für ein Leben in der Öffentlichkeit war sie nicht gemacht, das hatte sie bereits damals bei der Filmpremiere gemerkt, und dieses Gefühl hatte sich noch verstärkt, als sie ein Interview nach dem anderen geben musste. Sie fand es furchtbar, dass ihr Gesicht von jeder Zeitschrift herunterlächelte.

Isabella schüttelte sich, um die Erinnerungen zu verscheuchen. Ein schüchternes junges Mädchen hatte nichts auf einer Filmleinwand zu suchen, aber mit zwanzig hatte sie es nicht besser gewusst. Ihre Eltern hatten sich nicht eingemischt, sie waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt und ineinander versunken gewesen, bei ihnen hatte sie keinen Schutz gefunden. Stattdessen hatte sie einen Mann geheiratet, der es liebte, im Rampenlicht zu stehen. In seinem Schatten hatte sie sich merkwürdig sicher gefühlt.

Als zwischen Gate eins und Gate zwei Isabella Håkebackens Blick den von Samuel Duncan traf, wandte keiner von beiden den Kopf ab. Isabella war wie gelähmt. Erst als jemand sie anrempelte und sich entschuldigte, erwachte sie aus ihrer Starre und eilte weiter zum Boarding.

Was war denn das gewesen? Hatte sie ein Verlangen verspürt?

Na, so was. Sie war also doch noch lebendig.

»Tausend Dank«, sagte sie, als hätte man ihr das Flugticket gerade geschenkt. Dabei war das nun wirklich nicht der Fall. Aber sie hoffte, dass sich die Reise auszahlen würde.

Verkaufte sie ihre kleine Firma, dann könnte sie mit zweiundfünfzig in Rente gehen.

3

Über vieles hatte Elsa sich noch keine Gedanken gemacht. Wie sie an ein Flugticket kommen sollte, zum Beispiel. Soviel sie wusste, waren die meisten Flüge ausgebucht, und sie musste schon ein unerhörtes Glück haben, um im selben Flugzeug zu landen wie die Frau, die sie sich als Begleitung – oder eher als Reiseleiterin – ausgeguckt hatte.

Sie hatte bereits drei Versuche an der Kreuzung vorm Hauptbahnhof hinter sich, die alle damit geendet hatten, dass sie wieder nach Hause gefahren war, da ihre Auserwählten keine Reise angetreten hatten, sondern nur auf dem Weg zur Arbeit waren. Aber diesmal hatte sie das Gefühl, dass es klappen würde.

»Und wohin sind Sie unterwegs?«, fragte sie die blonde Frau unvermittelt, die sich gestresst auf den Sitz ihr gegenüber fallen ließ. Sie trug eine große schwarze Sonnenbrille, so dass Elsa ihr nicht in die Augen schauen konnte.

»Nach London. Und Sie?«, fragte die Frau zurück und lächelte.

»Auch nach London. Wann fliegen Sie?«

»Um Viertel nach zwölf.«

»Aha, dann haben wir wohl denselben Flug gebucht«, sagte Elsa und hoffte mit klopfendem Herzen, dass es noch freie Plätze gab. Waren sie erst in Arlanda angekommen, würde sie ganz in Ruhe versuchen, ein Ticket zu bekommen.

Seit ihrer Mallorca-Reise 1975 war sie nicht mehr geflogen. Eigentlich gab es keinen Grund dafür, dass sie später keine Reisen mehr unternommen hatten. Lennart und sie hatten nicht gerade am Hungertuch genagt. Ganz im Gegenteil, sie hatten sogar eine hübsche Summe angespart. Nach seinem Tod hatte sie das Haus verkauft und war in eine kleine Wohnung ein paar Straßen weiter gezogen. Seitdem wuchsen ihre Ersparnisse stetig. Trotzdem hatte sie ihre Gewohnheiten beibehalten. Als halte sie so die Erinnerung an ihn lebendig, machte sie alles genau wie früher mit Lennart. Tee und ein Schinkenbrot zum Frühstück, dann ein Spaziergang durch Farsta. Vormittagskaffee mit Gebäck um elf Uhr. Nach dem Mittagessen um eins hatten sie immer anderthalb Stunden geschlafen. Bei schönem Wetter hatten sie danach im Garten gearbeitet; wenn es regnete, spielten sie Karten oder hörten Musik.

»Hattest du nie das Gefühl, immer nur Lennart zu umsorgen, statt dein eigenes Leben zu leben?«, fragte ihre Freundin Siri einmal. Da wurde Elsa wütend. Zwar war ihr Mann zwanzig Jahre älter als sie gewesen, aber sie hatte ihn doch wohl nicht umsorgt? Nein, sie hatte ihn geliebt. Von ganzem Herzen. Natürlich hätte sie mit gerade mal sechzig auch ganz andere Dinge unternehmen können, aber sie wollte lieber bei ihrem Mann sein. Zeit mit ihm verbringen.

»Und was ist mit Sex? Hast du jede Lust einfach aufgegeben?«, fragte die Freundin trotz Elsas bösem Blick weiter. »Oder hast du dir einen heimlichen Liebhaber genommen?«, fuhr sie fort und zwinkerte Elsa zu. Wie albern das aussah.

»Schluss jetzt, lass uns über etwas anderes sprechen. Wie wäre es mit einem Stück Nusskuchen?«, wechselte Elsa entschieden das Gesprächsthema, während sie versuchte, die Bilder von dem zu verscheuchen, was ihre Freundin angedeutet hatte.

Sie bewunderte Frauen, die sich, sobald sie Witwen geworden waren, in jede Menge Unternehmungen stürzten. Einige fanden sogar einen neuen Mann. Elsa konnte sich das nur schwer vorstellen. Sie schauderte bei dem Gedanken. Es war ihr unangenehm, sich nackt zu zeigen. Das war schon immer so gewesen. Lennart hatte es nichts ausgemacht, dass sie sich nur im Dunkeln auszog. Ihm hatte es nichts ausgemacht, wenn sie das Licht ausschaltete und sich zudeckte. Selbst wenn sie sich liebten, hatte Elsa dafür gesorgt, dass das meiste verborgen blieb.

Manchmal erhaschte sie einen Blick auf ihren nackten Körper in dem großen Spiegel hinter der Schlafzimmertür. Dann betrachtete sie sich. Dabei musste sie sogar zugeben, dass es nicht so schlimm um sie bestellt war. Oft hatte sie darüber nachgedacht, woher ihre Prüderie kam. Vermutlich war ihre Mutter schuld daran, die genauso gewesen war. Nie hatte Elsa ihre Eltern nackt gesehen, ihre Mutter hatte sich ihr stets komplett angezogen gezeigt.

Bei dem zwanzig Jahre älteren Lennart, der mehr darauf hörte, was sie sagte, als darauf, was ihr Körper möglicherweise suggerierte, verspürte sie Sicherheit. Da er ihre Schüchternheit akzeptierte, fühlte sie sich respektiert. Andere Bedürfnisse hatte sie nie gehabt, und im Alter von einundzwanzig Jahren hatte sie geschworen, diesen Mann nie zu verlassen. Diesen Schwur hatte sie gehalten.

»Möchten Sie Kaffee oder Tee?« Die Stewardess lächelte freundlich.

»Kaffee, bitte«, antwortete Elsa und legte ihre Zeitung auf den freien Nachbarsitz. Ihre Begleiterin konnte sie nicht entdecken. Elsa saß direkt hinter der Trennwand und hatte ein wenig Angst, dass sie die Frau in London am Flughafen aus den Augen verlieren würde. Sie hatte keine Ahnung, was sie dann tun würde.

Elsa war schon einmal in London gewesen. 1978. Damals hatten Lennart und sie die Fähre von Göteborg nach Newcastle genommen und von dort aus den Bus nach London. Sie waren am Piccadilly Circus gewesen, hatten Madame Tussauds besucht und waren durch den Hyde Park geschlendert. Vor dem Park gab es ein paar Stände, eine Art Flohmarkt, und Lennart hatte darauf bestanden, eine kleine Schneekugel als Andenken zu kaufen. Sie stand noch immer in einem der Küchenregale. Nach ihrem Umzug hatte Elsa alles wieder genau so hingestellt wie in ihrem Haus, inklusive der Nippessachen.

»Kiefernmöbel waren in den Siebzigern modern, Süße«, hatte Siri gesagt. So nannte Siri sie, seit sie eine Woche in New York gewesen war, und Elsa tat, als hätte sie nichts gehört. Vielleicht waren ihre Küchenregale unmodern, aber das war ihr egal. Ihr gefiel, wenn alles aussah wie immer, so fühlte es sich vertraut an. Ihre Gewohnheiten dagegen musste sie schnellstens ändern, sonst würde sie noch verrückt werden.

In ihrer Jugend hatte sie oft davon geträumt, einfach loszuziehen. Abzuhauen, ohne ein schlechtes Gewissen ihren Eltern gegenüber. Das hatte sie natürlich nie getan. So etwas machte man einfach nicht, zumindest nicht in ihrer Familie. Außerdem hätte sie sich vermutlich ohnehin nicht getraut. Aber geträumt hatte sie trotzdem weiter, vor allem von Indien. Sie erinnerte sich nicht mehr, wann sie ihren ersten Bollywoodfilm gesehen hatte, nur dass sie ihn allein gesehen hatte, wusste sie noch. Lennart interessierte sich kein bisschen dafür. »Das ist doch wirklich Zeitverschwendung«, hatte er manchmal gesagt, und Elsa hatte ihren Film ausgemacht. Sie erzählte ihm nie von ihrer Traumreise. Vermutlich hätte er sie ohnehin ausgelacht.

Aber jetzt gab es niemanden mehr, vor dem sie sich rechtfertigen musste, und aus irgendeinem Grund war sie mutig wie nie zuvor. Falls die Reise schieflief, würde sie eben zurück nach Hause zu ihren Nippessachen fahren. Und falls London ein Erfolg wurde, dann würde sie es wieder probieren.

In Heathrow herrschte Chaos, und Elsa bemerkte zu ihrem Schrecken, dass sie die Frau verloren hatte, der sie folgen wollte. Sie wurde angerempelt, und weil sie sich einfach von der Masse mitziehen ließ, gelangte sie schließlich zur Sicherheitskontrolle und zu den Gepäckbändern.

Lennarts alte rotkarierte Tasche, die nur selten benutzt worden war, landete ganz zum Schluss auf dem Band. Vergeblich hielt Elsa nach der Blondine Ausschau. Was sollte sie nun tun? Ein Ticket zurück nach Stockholm kaufen oder ganz allein in die Stadt fahren? Sie war ängstlich und verwirrt, als sie sich auf den Weg zum Ausgang machte. Wie hatte sie bloß so dumm sein können, einfach nach London zu fliegen?

»Kann ich Ihnen helfen? Sie sehen ein wenig verloren aus.«

Elsa zuckte zusammen. Hatte der Mann sie gemeint? Sie schaute ihn an und blickte in ein Paar dunkle, freundliche Augen. Er war nicht viel größer als sie, stellte sie fest. Und auch kein bisschen breiter. Aus irgendeinem Grund beruhigte sie das.

»Ich habe meine Begleitung verloren«, antwortete sie. Sie musste sich anstrengen, um nicht loszuweinen. »Und jetzt weiß ich nicht, wo ich hinmuss. Sie hat nämlich alle Unterlagen.«

»Oje, aber wissen Sie denn, in welchem Hotel Sie wohnen?«

Elsa nickte. Sie erinnerte sich, wo Lennart und sie damals untergekommen waren, und antwortete deshalb: »Im Morgan Hotel«, ohne zu wissen, ob es das überhaupt noch gab.

»Oh, das kenne ich, ein nettes Hotel. Wollen Sie die Bahn nehmen, die Underground, ein Taxi, oder darf ich Sie vielleicht mitnehmen? Ich muss sowieso in die Nähe.« Er lächelte, um zu zeigen, wie ungefährlich er war.

Also würde sie bleiben. Eine Nacht würde sie es schon aushalten. Morgen konnte sie zurückfliegen. Sie brauchte das Hotel gar nicht zu verlassen, fiel ihr ein, und sie fühlte sich gleich besser.

Und warum sollte sie sich nicht von einem fremden Mann mit Turban und dunklen Augen mitnehmen lassen? Wenn sie sich schon traut hierzubleiben, dann konnte sie das Schicksal auch gleich noch einmal herausfordern.

»Danke, das ist wirklich sehr freundlich«, antwortete sie und lächelte. »Ich bin schon ewig nicht mehr hier gewesen und fühle mich wirklich ein bisschen verloren.«

Er war sehr nett und zuvorkommend. Was habe ich doch für ein Glück, dachte Elsa, als der Mann – Bernhard hieß er – sie vor dem Hotel aussteigen ließ. Auf der Fahrt hatte er ihr erzählt, dass er in London lebte, eine kleine Firma besaß und einmal im Jahr seine Familie in Indien besuchte, wo er mitunter für mehrere Monate blieb. Er hatte seine Schwester zum Flughafen gebracht, als er Elsa gefunden hatte, wie er sagte.

Elsa erzählte ihm von ihrem Traum, einmal sein Heimatland zu besuchen, um sich die Orte anzuschauen, wo ihre Lieblingsfilme gedreht worden waren. Und sie erzählte ihm, dass sie vor kurzem ihren Mann verloren hatte. In Wirklichkeit war das zwar schon eine Weile her, aber es fühlte sich an, als wäre es erst gestern passiert.

Sich mit Bernhard zu unterhalten war so einfach, dass sie völlig vergaß, dass sie ja Englisch sprachen.

»Tausend Dank«, sagte Elsa schließlich und hielt ihm ein Zettelchen hin. »Wenn du irgendwann einmal nach Schweden kommst, dann ruf mich an. Hier ist meine Nummer.«

»Elsa Johansson«, las Bernhard und lächelte. »Dann kriegst du auch meine Nummer«, sagte er und blinzelte ihr mit seinen schönen Augen zu. Er gab ihr seine Visitenkarte. »Wenn du das nächste Mal nach London kommst, meld dich bei mir.«

4

Am liebsten hätte Isabella in London gewohnt, und falls aus dem Geschäft etwas wurde, könnte sie diesen Wunsch verwirklichen.

Lange hatte sie davon geträumt, Schweden zu verlassen und neu anzufangen, aber bisher hatte dem allzu viel im Weg gestanden. Ihre Ehe zum Beispiel. Oder genauer gesagt: der Job ihres Mannes. Ihre eigene Karriere war nie wichtig gewesen, zumindest nicht im Vergleich zu seiner. Keine Frage, wonach sie ihr gemeinsames Leben ausrichteten. Aber das konnte sie ihm schwer vorwerfen. Sie hätte ihn einfach früher verlassen sollen, zu viel hatte zwischen ihnen nicht gestimmt. Eigentlich waren sie nur in sexueller Hinsicht absolut kompatibel gewesen.

Nach der Trennung war er noch fünf Jahre lang ihr Liebhaber geblieben, bis sie schließlich auch das beendet hatte. Obwohl sie ihm zu nichts mehr verpflichtet und er zu dem Zeitpunkt bereits mit einer der Frauen verheiratet gewesen war, mit denen er sie zuvor betrogen hatte, war sie immer wieder in alte Muster zurückgefallen. Jemandes Geliebte zu sein, war überhaupt nicht so luxuriös und unbeschwert, wie sie es sich immer vorgestellt hatte. Vor allem nicht, wenn es sich bei dem Jemand um den selbstverliebten Exmann handelte. Die vergangenen drei Jahre über hatte sie sich selbst genügt. Ihre Phantasiemänner besaßen all die Eigenschaften, die sie an ihrem Ehemann vermisst hatte.

Während sie die Badewanne in ihrem Hotelzimmer volllaufen ließ, dachte sie an das Kribbeln im Bauch, das der Blick des Mannes am Flughafen ausgelöst hatte. Kein Wunder eigentlich – er war ganz einfach ihr Typ gewesen. Sehr attraktiv, aber vermutlich ansonsten in jeglicher Hinsicht eine Katastrophe. Nach allzu vielen Versuchen glaubte Isabella, es endlich verstanden zu haben: Männer und sie waren einfach keine gute Kombination. Bei jeder Affäre hatte sie von Anfang an ein unbehagliches Gefühl, weil sie wusste, dass auch dieser Mann schon bald entdecken würde, dass sie gar nicht so unkompliziert war, wie er gedacht hatte.

Mit ihrem Singledasein war Isabella zufrieden. Jahrelang war sie in Therapie gewesen und hatte begriffen, dass sie die Männer von sich stieß, weil sie Angst hatte, verlassen zu werden. Aber eingeschliffene Verhaltensmuster ließen sich nur schwer durchbrechen. Ihr Therapeut nannte sie provozierend. Seiner Meinung nach hing alles mit ihrer Kindheit zusammen, mit ihrem selbstherrlichen Vater und der Mutter, die nur Augen für ihn gehabt hatte. Ein eingespieltes Team. In ihrem Leben war für die Tochter kein Platz gewesen. Isabella hielt das für Quatsch. Sie war erwachsen, und alles auf ihre Kindheit zu schieben, fand sie albern. Sie war ganz einfach keine Frau, mit der man zusammenblieb.

Sie ließ sich in die Badewanne sinken und freute sich, immerhin etwas empfunden zu haben, als sie in Arlanda diesen Mann entdeckt hatte. Am liebsten hätte sie ihren Therapeuten angerufen und ihm davon erzählt.

Eigentlich stand Nordic Sea Cosmetics nicht zum Verkauf. Zumindest nicht offiziell. Isabella hatte ihr kleines Unternehmen selbst aufgebaut, und erst jetzt, zehn Jahre nach der Gründung, schrieb sie schwarze Zahlen.

Sie hatte das Potential von Make-up mit natürlichen Inhaltsstoffen früh erkannt und sich anfangs auf einige wenige Produkte konzentriert. Wachsen konnte ihr Sortiment immer noch. Doch als Meryl Streep in einem Interview erwähnt hatte, wie gut ihre Augen die Meersalz-Wimperntusche vertrugen, war die Marke plötzlich in aller Munde gewesen. Auf einmal wollte jeder die schwedische Wimperntusche haben, und die Firma musste weitere Produkte entwickeln, um die Nachfrage der Kundinnen zu befriedigen.

Jetzt war eine größere Investition fällig. Wieder einmal. Das war nötig, wollte sie sich auf dem Markt neben den großen Konzernen behaupten.

Investieren oder verkaufen, das würde sich bald entscheiden.

Sie zog ihren marineblauen Bleistiftrock über die nackten Beine und steckte die Haare auf. Sie überlegte einen Augenblick lang, Strümpfe anzuziehen, ließ es aber nach einem Blick aus dem Fenster sein. Draußen schien die Sonne. Die Creme mit Goldschimmer wirkte ganz hervorragend auf nackten Beinen, warum sollte sie sie also verbergen? Sie musste es ausnutzen, dass sich keine Krampfadern bemerkbar machten. Unter der sonnengebräunten Haut war das haarfeine Netz von Äderchen auf der Innenseite ihrer Wade nicht zu erkennen.

Zufrieden mit ihrem Spiegelbild schnappte sie sich die Schlüsselkarte und steckte sie in ihre Handtasche. Sie stieg in die hochhackigen Pumps und warf sich die Handtasche über die Schulter. Ein aufregender Tag in London erwartete sie.

Nach dem Termin war ihr schwindelig. Man hatte ihr weitaus mehr Geld geboten, als sie und ihre Berater erwartet hatten. Vermutlich eine einmalige Chance. Vor allem war man hinter der Marke her, natürliche Schönheit aus Schweden war angesagter denn je.

»Schauen Sie doch bloß einmal in den Spiegel«, hatte der Geschäftsführer gesagt und dabei sehr zufrieden geguckt. Hätte Isabella diesen Kommentar nicht für völlig unpassend gehalten, hätte sie sich vielleicht sogar für das Kompliment bedankt. So schwieg sie. Sie wusste, dass andere sie für gut aussehend hielten, das hatte sie schon immer gewusst, und anscheinend hatte ihre Ausstrahlung nicht nachgelassen, nur weil sie fünfzig geworden war. Isabella legte keinen Wert darauf. Im Gegenteil, sie wünschte sich, nichts mehr davon hören zu müssen. An ihrem Aussehen konnte sie nichts ändern, also machte sie das Beste daraus. Die anderen interessierte ihr Äußeres weitaus mehr als sie selbst.

Die Marketingchefin hatte sich unbehaglich gewunden, ihr war der Kommentar des Kollegen offenbar peinlich. »Wir hätten sehr gerne, dass Sie weiter für Nordic Sea arbeiten. Eine Geschäftsführerposition können wir Ihnen leider nicht anbieten, aber es wäre großartig, wenn Sie die Produktentwicklung verantworten würden. Wir planen selbstverständlich, weiterhin in Schweden zu produzieren, auch wenn der Firmensitz London sein wird«, sagte sie.

»Und wo wäre dann mein Arbeitsplatz?«, fragte Isabella.

»Sowohl hier als auch in Schweden. Ich will ganz offen zu Ihnen sein: Falls Sie sich nicht vorstellen können, die Hälfte der Zeit im Londoner Hauptsitz zu arbeiten, könnte das problematisch werden. Wir sind kein Unternehmen, das per Telefon und E-Mail kommuniziert. Wir möchten unsere Mitarbeiter vor Ort wissen«, sagte sie mit einem beschämten Lächeln.

Anscheinend war der jungen Marketingchefin klar, wie altmodisch das klang. Bei Nordic Sea Cosmetics hielten sie die Sitzungen via Skype ab. Das war sowohl effektiv als auch umweltfreundlich, so wie es dem Selbstbild des Unternehmens entsprach.

»Ich verstehe«, sagte Isabella. Mehr brauchte sie nicht hinzuzufügen. Zuallererst musste sie entscheiden, ob sie verkaufen wollte. Halb hier und halb dort zu wohnen, konnte sie sich jedenfalls nicht vorstellen. Entweder – oder. Ein Zuhause. Eine Festung. Ein Versteck. Das reichte. Wo dieses Zuhause lag, war fast egal. Sie hätte natürlich nichts gegen einen Balkon mit Meerblick gehabt, wichtiger aber war ihr die Wohnung selbst. Sie durfte nicht zu groß sein. Isabella brauchte den vollen Überblick. Die volle Kontrolle. Überraschungen waren gefährlich. Isabella war da ganz anders als ihre beste Freundin Carina, sie wollte noch nicht einmal Geburtstagsgeschenke haben. Daran würde sie vermutlich arbeiten müssen, wenn sie nach London zöge. Dort würde sie nicht alles vorhersehen können. Einerseits fand sie das furchtbar, andererseits stellte es eine Herausforderung dar. Wenn sie darüber nachdachte, war ihre Dreizimmerwohnung in Stockholm absolut perfekt. Das dritte Zimmer benutzte sie für ihre Fitnessübungen und als Büro; bevor sie morgens den Computer einschaltete, ging sie eine halbe Stunde aufs Laufband. So einen Raum würde sie auch in London brauchen. Sie war überzeugt, dass Bewegung ihr guttat, vor allem jetzt, wo ihre Periode nicht mehr pünktlich kam.

Eigentlich machten Isabella die Wechseljahre nichts aus. Bisher hatte sie nur wenig davon mitbekommen, mal abgesehen von den Hitzewallungen und ein paar zusätzlichen Kilos. Sie konnte nicht viel beitragen, wenn andere Frauen von Stimmungsschwankungen und abnehmender Libido berichteten. Sie war noch nie besonders launisch gewesen, und ohne ein regelmäßiges Sexleben war es schwer zu sagen, ob sie ihre Lust verloren hatte oder nicht. Wahrscheinlich eher nicht. Die Begegnung mit dem Mann auf dem Flughafen ließ dies zumindest vermuten, dachte sie, als sie ihren Rock nach dem Meeting in den Schrank ihres Hotelzimmers hängte.

Carina schrie beinahe ins Telefon.

»Das ist ja großartig, vielleicht ziehst du wirklich hierher, stell dir bloß vor!« Isabellas beste Freundin war außer sich vor Freude, und Isabella lachte, als sie hörte, wie sich Carinas Stimme vor Aufregung überschlug.

»Ganz ruhig, noch ist überhaupt nichts entschieden. Wann kommst du?« Sie hatten verabredet, sich vor dem Abendessen in Isabellas Hotel zu treffen.

»Bald. Andrew ist gerade reingekommen. In ungefähr einer Stunde bin ich da.«

Sie hatten sich drei Monate nicht gesehen. Isabella freute sich fast genauso sehr, ihre Freundin wiederzutreffen, wie über die Millionen, die sie erwarteten, wenn sie ihre Firma verkaufte.

Seit sie sich als Fünfzehnjährige beim Jugendtheater kennengelernt hatten, waren sie unzertrennlich. Die extrovertierte Carina hatte in der Maske gearbeitet, und Isabella hatte gerade ihre erste Rolle am Theater bekommen. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Carina übernahm sofort den Part als Isabellas Beschützerin. Sie sprach für Isabella und ließ niemanden in ihre Garderobe, wenn Isabella ihre Ruhe vor pickeligen Teenagerjungs haben wollte.

Als Carina einige Jahre später Andrew kennengelernt hatte und nach England gezogen war, versprachen sie, einander immer beizustehen, und das hatten sie auch getan. Obwohl sie in verschiedenen Ländern lebten, kümmerte sich die Freundin darum, dass Isabella in Ruhe gelassen wurde. Als die Scheidung öffentlich geworden war, hatte Carina die Presse angerufen und mit Klagen gedroht, während Isabella sich einschloss und vor der Welt versteckte.

Isabella saß in der Lobby und las Zeitung, als erst Chanel No. 5 angerauscht kam und dann Carina. Zur Feier des Tages hatte sie ihrem Outfit einen afrikanischen Touch verliehen, was eigentlich gar nicht zu ihrem kupferroten Haar passte, ihr aber ausgezeichnet stand. Jeder drehte sich nach ihr um.

»Komm her«, sagte Isabella und breitete die Arme aus. Die Freundin warf sich hinein und begann zu weinen. »Aber was hast du denn, Carina? Was ist los?« Das waren keine Freudentränen. Irgendetwas musste passiert sein. Sie schob die Freundin von sich, damit sie ihr in die Augen sehen konnte. »Was ist bloß passiert? Du bist doch nicht etwa krank?«

»Andrew hat eine andere. Er will sich scheiden lassen«, wimmerte Carina. »Er hat vor, das Haus zu verkaufen und mich rauszuschmeißen. Kann ich für ein paar Tage zu dir nach Stockholm kommen?«

5

Elsa war dankbar für die Abendkurse, die sie jahrelang besucht hatte. Englisch zu sprechen fiel ihr gar nicht schwer, bemerkte sie, als sie die Oxford Street entlangspazierte. Später würde sie sich ein Taxi zum Flughafen nehmen, um zurück nach Stockholm zu fliegen. Sie hatte angenommen, dass Bernhard ihr zuliebe extra langsam und deutlich gesprochen hatte, aber so war es wohl nicht gewesen, dachte sie. Vielleicht konnte sie mehr, als sie geglaubt hatte?

Eigentlich schade, dass sie nicht länger bleiben würde. Hätte sie doch wie geplant jemanden gehabt, dem sie folgen könnte! Aber ganz allein wusste sie nicht, was sie hier tun sollte. Sie würde einfach zurückfliegen und noch einmal von vorn anfangen. Immerhin hatte sie ein anderes Land besucht. Sie wünschte sich, Lennart wäre am Leben, und sie könnte ihm von ihrer Reise erzählen. Dass er sie verstanden hätte, bezweifelte sie allerdings. Vermutlich hätte er sie für verrückt gehalten, weil sie sich unter fremden Leuten nach einer Reisebegleitung umsah. Erzählt hätte sie es ihm trotzdem gerne. Fast spürte Elsa ein wenig Trotz in sich aufsteigen, als sie darüber nachdachte.

Sie hatte schon überlegt, ob sie vielleicht dabei war, seltsam zu werden. Aber eigentlich hatte sie nicht das Gefühl. Sie war weder vergesslich noch aggressiv, und es fiel ihr auch nicht schwer, Gesprächen zu folgen. Sie war jedoch einsam, seit Lennart gestorben war. Zwar glaubte sie nicht, dass sie auf ihren Reisen neue Freunde finden würde, doch sie bekäme wenigstens etwas anderes zu Gesicht.

Wie zum Beispiel London. Wenn auch nur für vierundzwanzig Stunden, aber immerhin. Sie hatte ein Bier getrunken, Fish und Chips gegessen und war vom Hotel zur Oxford Street spaziert. Dort war sie schon einmal gewesen, und auch wenn sie nichts wiedererkannte, so klang der Straßenname vertraut.

Sie wollte rechtzeitig in Heathrow sein. Die Kontrollen bei der Einreise hatten unglaublich lange gedauert, und vermutlich würde es bei der Abreise nicht schneller gehen.

Die Wohnung hatte sich in den letzten anderthalb Tagen kein bisschen verändert. Prüfend fuhr sie mit dem Finger über das Regal, in dem das Foto ihrer Eltern stand. Kein einziges Staubkörnchen.

Elsa fühlte sich rastlos, als wäre ihr das Abenteuer der letzten vierundzwanzig Stunden nicht genug gewesen. Sie wollte etwas unternehmen, aber außer Kreuzworträtsel fiel ihr nichts ein. Damit hatten Lennart und sie sich gerne die Zeit vertrieben. Als sie keinen Stift fand, holte sie stattdessen die Unterlagen hervor, die sie für ihre Reiseabenteuer besorgt hatte: Pass, Personalausweis, Auslandskrankenversicherung und Visum. Außerdem hatte sie Euro, US-Dollar und Bath eingewechselt. Nicht dass es sie nach Thailand gezogen hätte, aber sie entschied ja nicht, wohin es gehen würde.

Sie konnte in insgesamt fünfzehn Länder reisen, inklusive Australien. Dahin wollte sie genauso wenig wie nach Thailand, dann schon lieber nach Neuseeland. Sie hatte so schöne Bilder von dort gesehen.

Ganz unten in ihrer Handtasche lag ein Stift, also machte sie sich doch an das Kreuzworträtsel. »Big Apple« – drei plus vier Buchstaben.

Siri hatte gesagt, Amerika sei einfach phantastisch, und Elsa müsse unbedingt hinfahren.

»Und da gehst du dann in einen Schwulenclub«, hatte sie gesagt. »Da muss man unbedingt hin.«

Weshalb genau sie in so einen Club sollte, wusste Elsa nicht. Bei solchen Behauptungen verzichtete sie lieber auf Nachfragen.

Die Freundin wollte sie nur schockieren, aber Elsa war schwer aus der Fassung zu bringen. Sollten die Leute doch in Clubs gehen, wie sie wollten, das war ihr völlig egal. Elsa war zwar selbst prüde, dabei aber kein bisschen konservativ oder verbohrt. Ganz im Gegenteil.

Im Jahr zuvor war sie auf dem Pride Festival gewesen, um die Parade anzuschauen. Sie hatte ganz hinten auf dem Bürgersteig gestanden und kaum etwas gesehen, aber sie hatte die Musik und fröhliches Lachen gehört. Heimlich hatte sie gewünscht, sie würde sich trauen, selbst mitzulaufen. Aber sie hatte keine homosexuellen Verwandten, niemanden, für dessen Rechte sie demonstrieren konnte, also stellte sie sich stattdessen an den Straßenrand, um so ihre Unterstützung zu zeigen. Innerlich feuerte sie lauthals diejenigen an, die zu offenbaren wagten, wer sie wirklich waren.

Sie selbst wusste nicht mehr, wer sie eigentlich war. Sie fühlte sich verloren zwischen dem jungen Mädchen, das nach Freiheit gelechzt hatte, und der Frau, zu der sie in ihrer Ehe geworden war.

Hätte sie doch nur eine Freundin gehabt, der sie sich hätte anvertrauen können. Als Lennart noch lebte, hatte es ihr nichts ausgemacht, dass sie keine eigenen engen Freunde hatte. Wenn sie andere Leute trafen, dann meistens Nachbarn, ein Paar in Lennarts Alter und ein junges Paar aus ihrer Straße, auf dessen Kinder Elsa manchmal aufgepasst hatte. Damals hatte Elsa sich vorgestellt, sie übe für die Kinder, die ihr Sohn Claes einmal haben würde. Doch jetzt, wo er schon fast fünfzig war, glaubte sie nicht mehr daran. Sie hatte nie gefragt. Er war seit über zehn Jahren verheiratet, aber auf Enkelkinder würde sie wohl verzichten müssen.

Als Elsa das Haus verkauft hatte, war der Kontakt zu den Nachbarn eingeschlafen. Im ersten Jahr war sie noch zu einem Grillabend eingeladen worden, sie wohnte ja nicht weit weg, aber weil es sie so traurig gemacht hatte, ohne Lennart dorthin zu gehen, hatte sie alle weiteren Einladungen abgesagt. Seit ein paar Jahren hatte sie nichts mehr von den ehemaligen Nachbarn gehört. Und sie hatte sich genauso wenig gemeldet. Das war eben so, auch wenn es ihr manchmal ein bisschen leidtat.

Siri kannte Elsa schon seit Jahrzehnten. Sie hatten sich als junge Mädchen kennengelernt. Siri war das völlige Gegenteil von Elsa: extrovertiert, charmant und erfolgreich bei den Männern. Trotzdem war es oft Elsa gewesen, mit der sich die Männer bis in die frühen Morgenstunden unterhielten. Nicht um mit ihr zu flirten, sondern wegen ihrer warmherzigen und klugen Art. Jedenfalls hatte Siri sie früher so beschrieben. »Elsa, du solltest es zu deinem Beruf machen, mit den Leuten zu sprechen. Ich verstehe einfach nicht, wie du so ruhig und selbstsicher sein kannst. Woher weißt du das alles?«, hatte Siri gesagt, als sie noch jung waren, und dabei ihr rosa Kaugummi um den Zeigefinger gewickelt. Elsa fühlte sich alles andere als selbstsicher und gesprächig. Zuzuhören war eben einfacher. Die Leute wussten meistens selbst, was sie brauchten, und wollten sich etwas von der Seele reden. Sie musste fast gar nichts sagen, sie ließ sie einfach immer weiter über ihre Sorgen plappern.

Als Elsa Lennart kennengelernt hatte, entfernten sich die Freundinnen voneinander, denn Siri blieb unverheiratet, während Elsa sich ins Familienleben stürzte. Der Kontakt riss trotzdem nicht ab, und als Lennart starb, war Siri eine wichtige Stütze für Elsa gewesen. »Du hast mir immer geholfen«, hatte Siri gesagt. »Jetzt kann ich mich endlich bei dir revanchieren.«

Siri hatte ein gutes Herz, doch trotz ihrer siebenundsechzig Jahre war sie vor allem hinter Männern her, und an denen war Elsa nun mal überhaupt nicht interessiert. Statt tanzen zu gehen, wie Siri immer wieder vorschlug, trafen sie sich zum Kaffee. Elsa hörte sich gerne Siris neueste Abenteuer an. Sie selbst hatte nicht so viel zu erzählen, aber eines Tages würde sie sicherlich auch Interessantes berichten können. Noch war es allerdings nicht so weit. Ihr würde es zwar nichts ausmachen, wenn jemand sie auslachte, weil sie fremde Menschen verfolgte, trotzdem verzichtete sie lieber auf gute Ratschläge. Sie hatte zu lange vom Reisen geträumt. Erst wollte sie noch ein paar Erfahrungen sammeln, dann konnte sie erzählen.

Problematisch würde es nur, falls sie längere Zeit fort sein sollte. Über diese Möglichkeit hatte sie lange nachgedacht. Im schlimmsten Fall würde sie eben Claes anrufen und ihn bitten, ihre Blumen zu gießen und sich um die Post zu kümmern. Aber das würde sie nur im Notfall tun. Ihre Rechnungen bezahlte sie online, an ihrer Tür hing ein Zettel, dass sie keine Reklamesendungen wollte, und dem Hausmeister hatte sie gesagt, dass sie in der nächsten Zeit viel verreist sein würde, falls er aus irgendeinem Grund in ihre Wohnung müsse. Sicherheitshalber hatte sie ihm Claes’ Nummer gegeben und ein stilles Gebet losgeschickt, dass niemand ihn würde anrufen müssen.

Drei Wochen hielt Elsa es zu Hause aus, dann fuhr sie wieder zur Vasagatan.

Nach zwei erfolglosen Versuchen – einmal war sie in Bandhagen gelandet, das andere Mal in einem Bus Richtung Västerås – traf sie einen Entschluss. Sie würde nicht länger der dritten Person am Zebrastreifen vor dem Bahnhofsgebäude folgen, stattdessen würde sie sich einfach die dritte Person ausgucken, die den Arlanda-Express bestieg.

So schnell sie konnte, ging sie mit ihrer Reisetasche über der Schulter Richtung Zug. Sie beeilte sich, am Automaten ein Ticket zu kaufen. Vor Aufregung zitterten ihr die Knie. Kaum hielt sie das Ticket in der Hand, eilte sie zum richtigen Gleis. Eins, zwei, drei – zählte sie leise vor sich hin, bevor sie den Zug bestieg.

»Ist hier frei?«, fragte Elsa die Frau, der sie sich gegenübergesetzt hatte.

»Natürlich, bitte sehr«, antwortete die Frau.

Elsa lächelte. »Wohin sind Sie unterwegs?«

»Nach New York.«

»Ach, welch ein Zufall, ich auch.«

Am Flughafen ging Elsa viermal zur Toilette. Amerika. Dieses Mal durfte sie ihre Reisebegleiterin, die sie sich auserkoren hatte, nicht wieder verlieren. Zum Glück hatte sie kupferrotes Haar und trug Kleider, die eher nach Indien als nach Schweden gepasst hätten. Die Armreifen der Frau klirrten laut. Fast als würde man eine Kuh mit Glocke verfolgen, dachte Elsa zufrieden, als sie hinter der Frau her zum Gate ging.

Das Ticket nach New York war teuer. Fast zwanzigtausend Kronen. »So viel?«, hatte Elsa am Schalter gefragt und zu hören bekommen, welches Glück sie habe, überhaupt noch ein Ticket zu bekommen. Beim nächsten Mal solle sie doch einfach früher buchen, hatte die Frau gesagt und freundlich gelächelt, während sie Elsa die Unterlagen reichte.

Es war viel Geld, aber wenn Elsa mit der buntgekleideten Frau reisen wollte, blieb ihr keine andere Wahl. Sie hatte die Zähne zusammengebissen, ihre Kreditkarte gezückt und für den Hin- und Rückflug bezahlt. Die Rückreise in einer Woche. Am wichtigsten war, dass sich das Ticket umbuchen ließ.

Das Flugzeug war groß, viel größer als die Maschine, mit der sie nach London geflogen war. Um zu ihrem Platz zu gelangen, musste sie die Business Class durchqueren. Die Sitze hier sahen gemütlich aus, aber an ihrem eigenen Platz gab es auch nichts auszusetzen. Auf ihrem Sitz lagen eine Decke, ein Kissen und Kopfhörer. Elsa glaubte nicht, dass sie schlafen können würde. Ihre Gefühle schwankten zwischen totaler Panik und erwartungsvoller Aufregung. Vielleicht würde sie nie wieder zurückkehren. Was, wenn sie ermordet, zu Hackfleisch verarbeitet und in den Hudson River geworfen würde? Genauso gut konnte die Reise phantastisch werden. Falls die farbenfrohe Dame unternehmungslustig genug war, würde sie eventuell sogar das Empire State Building besteigen.

Auf dem John F. Kennedy Airport herrschte Chaos. Das Wetter war schlecht. Anscheinend gebe es zu wenig Personal, hörte Elsa jemanden sagen. Bereits als sie aus dem Flugzeug stiegen, bildeten sich Schlangen.

Elsa passte das hervorragend. So konnte sie die Frau gut im Auge behalten, ihr ein freundliches Lächeln schenken und hoffentlich auch fragen, wo sie unterkommen würde. Sie verfluchte sich, weil sie nicht eher gefragt hatte. Diesen Fehler machte sie nun schon zum zweiten Mal. In Zukunft würde sie sich immer im selben Atemzug nach Reiseziel und Unterkunft erkundigen.

Zum ersten Mal in ihrem Leben drängelte Elsa. Rückwärts. Die anderen Passagiere schauten erstaunt, als Elsa Platz machte und ihnen den Vortritt ließ.

»Hallo, erinnern Sie sich noch an mich? Wir saßen zusammen im Arlanda-Express«, sagte sie lächelnd.

Die Frau mit den roten Haaren sah sie an, dann erschien ein freundlicher Ausdruck auf ihrem Gesicht. »Natürlich. Sie wollten auch nach New York. Hatten Sie eine gute Reise?«

»Danke, ja. Das Essen hätte besser sein können, aber alles andere war in Ordnung. Und Sie?«

»Ich habe fast die ganze Zeit geschlafen, so geht der Flug am schnellsten vorbei.« Sie strich sich übers Haar, das sie nun zu einer Banane aufgesteckt trug. Elsa schaute fasziniert zu. So eine Frisur hätte sie nie zu tragen gewagt, und sie bewunderte alle, die sich das trauten. Ihr eigenes Haar war mausgrau. Ungefähr wie ihre Augen, die auch keine richtige Farbe hatten. »Gesprenkelt« stand in ihrem Pass, wie sie heute Morgen gesehen hatte. Das war doch wohl keine Farbe? Elsa wusste, dass sie nicht hübsch war, und ihr war klar, dass sie sich das selbst Jahre zuvor so ausgesucht hatte. Sie benutzte nicht einmal mehr Lippenstift. Sie kam sich vor wie ein Clown, wenn sie sich das Gesicht anmalte. Es sollte so bleich bleiben, wie es war, auch wenn sie das unsichtbar machte.

Elsa räusperte sich. »Und in welchem Hotel werden Sie unterkommen?«, fragte sie so beiläufig, wie sie nur konnte.

»Ach, ich habe alte Freunde hier, bei denen ich wohne. Und Sie?«

Elsa antwortete nicht. Sie fiel in Ohnmacht.

6

Sam hatte schon immer in Manhattan gewohnt und konnte sich keinen besseren Ort vorstellen. An einem Herbstmorgen durch New York zu joggen war einfach das Größte. Dabei konnte er am besten nachdenken, und so ging es ihm auch heute.

Seine Gedanken drehten sich um die Wohnung in Stockholm. Alexander war es egal, ob er während seines Studiums in einer Miet- oder Eigentumswohnung wohnen würde.

»Du bist derjenige, dem so etwas wichtig ist, Papa. Ich brauche einen Schreibtisch und ein Bett, mehr nicht.«

Sam war sich bewusst, dass er seinen Sohn verwöhnte. Nur wenige Studenten hatten die Qual der Wahl. Dabei trat sein Sohn alles andere als schnöselhaft auf, er war ein freundlicher, zuvorkommender junger Mann. Und das war schließlich das Wichtigste, überlegte Sam. Die Kinder von mehreren seiner Bekannten waren drogenabhängig, wofür er überhaupt kein Verständnis hatte. Aber er selbst war ja auch einer der wenigen, die nie Marihuana ausprobiert hatten, nicht einmal während seiner Highschoolzeit. Das war einfach nicht sein Ding, und anscheinend geriet Alexander nach ihm.

Während Sam immer schneller lief, dachte er, dass Vater und Sohn vermutlich zu viel schwedisches Blut in ihren Adern hatten. Er hatte nie das Bedürfnis gehabt, zu rebellieren, weil es nichts gab, wogegen er sich hätte auflehnen können. Obwohl er Anfang der siebziger Jahre Teenager gewesen war, hatte er moderne Eltern gehabt, die mit ihrem Sohn redeten und ihn in die Gespräche der Erwachsenen einbezogen. Sie hörten sich seine Ansichten an und respektierten sie. Sam war sich sicher, dass er das seiner Mutter zu verdanken hatte. »Deine Mutter ist eine sehr kluge Frau«, pflegte sein Vater zu sagen.

Erst als Sam einen leichten Blutgeschmack im Mund wahrnahm, verringerte er sein Tempo. Der Riverside Park war zu dieser Jahreszeit am schönsten, dachte er, während er langsam nach Hause joggte. Es war erst sieben Uhr, und abgesehen von ein paar Joggern war der Park menschenleer und friedlich. Er würde schnell frühstücken und dann mit dem Fahrrad Richtung Süden zur Arbeit fahren.

In dem großen Büro begrüßte Sam seine Angestellten. Als er sich auf seinem Schreibtischstuhl niedergelassen hatte, drehte er ihn so, dass er aus dem Fenster schauen konnte. Siebenunddreißigstes Stockwerk.

Seit dem 11. September war ein weit oben gelegenes Büro nicht mehr so erstrebenswert. Zumindest nicht für Sam. Trotzdem lebte er von diesen hohen Gebäuden. Er kaufte und verkaufte sie, genau wie sein Vater es getan hatte. Eines Tages würde das Unternehmen Alexander gehören, wenn er so weit war. Und wenn Alex überhaupt wollte natürlich. Genauso gut konnte man die Immobilien verkaufen, was aus Alexander einen ziemlich reichen jungen Mann machen würde. Er sollte sich selbst aussuchen, welches Leben er sich wünschte. Dem Alleinerben von Sams Immobilienimperium standen alle Türen offen.

Als Sam die Leitung der Firma übertragen bekam, hatte er keine Wahl gehabt. Er war zwanzig gewesen, als sein Vater starb, und er hatte keine Sekunde gezögert, die Verantwortung für Duncan’s Inc. zu übernehmen. Seine praktisch veranlagte schwedische Mutter hatte zwar gemeint, er könne die Firma verkaufen und aus seinem Leben machen, was er wolle, aber auf dem Ohr war Sam taub gewesen. Jetzt stellte sich die Frage, was Alexander vorhatte. Sam versuchte, ihn nicht zu beeinflussen. Er sollte selbst über seine Zukunft bestimmen.

»Ja?« Sam drehte sich zur Tür.

»Eine Gloria Beal möchte Sie sprechen, Sir.«

Sam seufzte. »Danke, Jane. Und hören Sie bitte auf, mich ›Sir‹ zu nennen. Ich heiße Sam, wie Sie wissen.« Er lächelte seine neue Assistentin an. »Okay, schicken Sie sie rein. Aber nur, wenn Sie mir in fünf Minuten helfen, sie wieder loszuwerden.«

Jane nickte und lächelte.

Wenige Sekunden später kam Gloria hereingestürmt.

»Sam, Liebling, ich musste einfach herkommen, wenn du dich nicht bei mir meldest«, trompetete sie und zog einen Flunsch. Sie setzte sich auf die Schreibtischkante und ließ ihr mit Bedacht platziertes, wohlgeformtes Bein baumeln.

»Ich habe nie behauptet, dass ich mich melden würde«, sagte Sam, der zwar die Nacht mit ihr genossen hatte, nicht aber den Morgen danach. Gloria war einer seiner Fehlgriffe der letzten Zeit, und er hatte sich vorgenommen, sich nur noch mit Frauen zum Abendessen zu verabreden, mit denen er sich wirklich gerne unterhielt. Ansonsten musste er eben auf Sex verzichten. Er hatte ohnehin genug davon. Er hatte kein Bedürfnis mehr danach. Alle seine Beziehungen waren gescheitert. Allein ging es ihm besser. Nur er und Alex. Das reichte.

»Aber du wolltest mich doch anrufen«, sagte Gloria mit Kleinmädchenstimme. Sam erschauderte. Wie hatte er sie je attraktiv finden können?

»Nein, du wolltest, dass ich dich anrufe, und so leid es mir tut, jetzt habe ich wirklich keine Zeit mehr.« Er lächelte aufmunternd. »Such dir doch lieber einen Mann in deinem Alter«, schlug er vor. »Ich bin viel zu alt und desillusioniert für dich.« Er hielt ihr die Tür auf. Gloria war zwar nur ein paar Jahre jünger als er, aber das Kompliment schien sie zu freuen. »Du hast natürlich recht, Liebling. Ich brauche einen jüngeren Mann«, sagte sie, bevor sie aus seinem Büro rauschte.

Auf die Party am Abend hatte er überhaupt keine Lust, dachte er, als er die Tür hinter ihr schloss. Der Geruch ihres schweren Parfüms hing noch in der Luft. Lieber spendete er einer Wohltätigkeitsorganisation mehrere Tausend Dollar, als zu einer dieser langweiligen Dinnerpartys zu gehen. Auf genau so einer Veranstaltung hatte er Gloria kennengelernt, geschieden und mit mehr Geld, als sie jemals würde ausgeben können. Jetzt verfluchte er seine Tischnachbarin. Käme die Party am Abend nicht einem Projekt zugute, das seinem Vater unglaublich wichtig gewesen war, hätte er sich gedrückt und behauptet, er wäre in Europa, oder etwas in der Art. Er hatte überlegt, einen seiner Angestellten mitzunehmen, aber das wäre nicht besonders nett gewesen. Seine Mitarbeiter hatten etwas Besseres verdient als langweilige Charity-Veranstaltungen mit reichen Gästen.

Er würde einen Whiskey trinken, mehr nicht. Nach allzu vielen Gläsern landete er in den falschen Betten, und das wollte er von nun an vermeiden.

Er verstand einfach nicht, weshalb Männer unbedingt im Smoking zu erscheinen hatten. Die Fliege drückte ihm die Luft ab, der gestärkte Kragen kratzte – das war alles andere als bequem. Samuel Duncan war denkbar schlecht gelaunt. Helfen würde nur, so dachte er, als er ins Taxi stieg, wenn die Dinnerparty vorbei wäre, ehe sie angefangen hat. Die meisten Gäste fuhren in ihren Limousinen vor. Sam war reich genug, um darauf zu pfeifen.

Auf der Suche nach seinem Platz nickte er bekannten Gesichtern zu, vermied aber jeglichen Blickkontakt. Er hatte keine Lust, sich zu unterhalten, und würde die Veranstaltung nach dem Dessert so früh wie möglich verlassen. Niemand sollte denken, dass er für irgendetwas zu haben war. Als Tanzpartner beispielsweise. Er hatte noch nie gerne getanzt, trotzdem war er meistens geblieben und hatte pflichtschuldig mit sämtlichen Damen seine Runden auf dem Parkett gedreht. Einige klebten an ihm, zeigten ihm, dass sie auch zu ganz anderen Walzern bereit waren. Von außen betrachtet mochten diese Partys nett sein, dachte Sam. Aber er verabscheute all das, was sich hinter den Juwelen und dem festen Händedruck versteckte. Die Männer waren nämlich kein bisschen besser als ihre Frauen. Alle spielten sie Theater, ein zynisches Stück, das Sam verachtete.

Wenn schon, dann tanzte er am liebsten mit den älteren Damen, die seine Mutter noch gekannt hatten. Sie waren meistens freundlich, und in ihrer Gesellschaft konnte Sam sogar lachen.

Seine Mutter hatte es nicht leicht mit der höheren Gesellschaft gehabt, als sie nach New York gekommen war. Es hatte viele Jahre gedauert, bis die alteingesessenen Familien der Upper East Side den jungen Duncan und seine schwedische Frau akzeptiert hatten.

Sam war so schnell wie möglich auf die andere Seite des Central Park gezogen. Natürlich war es angenehm, reich zu sein. Ein Leben in Armut war nicht gerade verlockend, aber er kam wirklich gut ohne das Gehabe der New Yorker Oberschicht aus. Seine schwedische Mutter hatte ihm Manieren beigebracht. So nannte sie es jedenfalls, wenn man alle Menschen gleich behandelte.

»Excuse me.« Die Frau sprach mit starkem Akzent, und Sam stand auf, um ihr den Stuhl zurechtzuschieben. Für eine Veranstaltung wie diese war die Frau unerhört bleich, fast farblos, dachte Sam verwundert, während er ihr half, Platz zu nehmen. Alle Frauen um ihn herum trugen etwas Glitzerndes. Außer dieser hier. Hätte er nicht gewusst, wie streng die Sicherheitskontrollen waren, hätte er geglaubt, sie habe sich im Lokal geirrt. Ihr Kleid schien eher für ein schmuddeliges Büro in Brooklyn gemacht als für eine Dinnerparty wie diese.

»Guten Abend«, sagte Sam, als er sich hinsetzte.

»Guten Abend«, antwortete die Frau und winkte einer anderen Dame zu, die in jeder Hinsicht ihr Gegenteil zu sein schien. Von der anderen Seite des Raums kam sie zusammen mit einem von Sams Geschäftspartnern auf ihren Tisch zumarschiert.

Sam stand auf, um sie zu begrüßen. Er mochte den Mann und seine Ehefrau, die offenbar an diesem Abend nicht dabei war.

»Nein, sie ist so erkältet, dass sie lieber zu Hause geblieben ist. Stattdessen begleiten mich diese charmanten Damen aus Schweden«, sagte er und stellte Sam Carina und Elsa vor. Sam verspürte Erleichterung. Carina war eine angenehme Person, er kannte sie bereits flüchtig von einem früheren Abend, und seine Tischnachbarin mochte zwar eine graue Maus sein, aber sie hatte etwas Unschuldiges an sich. Zumindest würde sie ihn nicht in den Hintern kneifen.

»Hej, Elsa, es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er auf Schwedisch und streckte die Hand aus.

»Ebenso«, antwortete sie verwundert und setzte sich auf den Stuhl, den Sam ihr zurechtgerückt hatte.

»Sind Sie zu Besuch in New York?«, fragte er.

»Ja, das kann man so sagen.« Elsa lächelte.

»Woher kennen Sie die Johnsons?« Sam lächelte zurück.

»Gar nicht, sie sind Carinas Bekannte.«

Die sympathische, unprätentiöse Schwedin gefiel ihm. Etwas an ihr erinnerte ihn an seine Mutter. Vielleicht der warme Schimmer in ihren Augen oder ihre Art, ihm wirklich zuzuhören? Sie unterhielten sich über Alex, über Stockholm und darüber, dass sie beide einen geliebten Menschen verloren hatten. Nie zuvor hatte Sam einer wildfremden Person so viel von sich erzählt. Meistens drehten sich die Gespräche auf diesen Dinnerpartys um Investitionen, Urlaubsreisen und anstrengende Angestellte. Und meistens legte sich früher oder später unter dem Tisch eine Hand auf seinen Schenkel.

Mama hätte sie gemocht, dachte er, sie hätten beste Freundinnen sein können. Er wusste nicht genau, weshalb er sich ihr so vorbehaltlos öffnete, aber drei Stunden später wusste er, dass diese Frau noch eine wichtige Rolle in seinem Leben spielen würde. Und das, ohne dass er romantische Verirrungen fürchten musste.

»Was meinst du, Elsa, genehmigen wir uns einen Whiskey?«

7

Die Zeit raste nur so dahin. Isabella schüttelte den Kopf, als ihr klar wurde, dass ihr Besuch in London bereits über einen Monat her war. Sie hatte beschlossen, ihre Firma zu verkaufen und in Rente zu gehen, oder wie man das nun nennen sollte, wenn man mit Anfang fünfzig keine Lust mehr hatte, zu arbeiten. Sie würde nicht länger für die Firma tätig sein, dann hätte sie sie genauso gut weiterhin selbst leiten können. Nein, sie träumte von einem ruhigen Leben. Lange Fußbäder, viele Bücher und Spaziergänge. Sie musste nur noch entscheiden, ob sie in Stockholm bleiben oder zumindest für einige Zeit nach England gehen wollte.

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