Herzgezeiten - Küstenglück in Greetsiel - Anja Seefeld - E-Book

Herzgezeiten - Küstenglück in Greetsiel E-Book

Anja Seefeld

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Beschreibung

Mit Rückenwind ins Liebesglück

Jule wünscht sich nichts sehnlicher, als ihren langjährigen Freund Sebastian endlich zu heiraten. Aber der hat nur seine Karriere im Kopf. Da kommt die Hochzeitseinladung ihrer besten Freundin Katharina gerade recht. Vielleicht überzeugt das Sebastian ja davon, den nächsten Schritt zu wagen.

Doch während Jule sich Hoffnungen macht, entdeckt ihre Schwester Sebastians Profilbild auf einer Dating-App. Mit gebrochenem Herzen macht sich Jule allein auf den Weg nach Greetsiel - fest entschlossen, ihrer besten Freundin einen unvergesslichen Hochzeitstag zu bereiten.

Dabei hilft ihr ausgerechnet Fahrradverleiher Nils. Eigentlich ist der dorfbekannte Flirtkönig das Letzte, was Jule jetzt gebrauchen kann. Doch mit seiner unkonventionellen Art zaubert er ihr ein Lächeln ins Gesicht. Und als er sich dann auch noch von seiner romantischen Seite zeigt, schlägt sie ihre Zweifel kurzerhand in den ostfriesischen Wind. Bis Sebastian plötzlich vor der Tür steht, um Jule zurückzugewinnen ...

Band 2 der romantischen und warmherzigen Wohlfühl-Roman-Reihe in Greetsiel.

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Seitenzahl: 444

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

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Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

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Epilog

Über die Autorin

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Impressum

Cover

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Inhaltsbeginn

Impressum

    

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Über dieses Buch

Jule wünscht sich nichts sehnlicher, als ihren langjährigen Freund Sebastian endlich zu heiraten. Aber der hat nur seine Karriere im Kopf. Da kommt die Hochzeitseinladung ihrer besten Freundin Katharina gerade recht. Vielleicht überzeugt das Sebastian ja davon, den nächsten Schritt zu wagen.

Doch während Jule sich Hoffnungen macht, entdeckt ihre Schwester Sebastians Profilbild auf einer Dating-App. Mit gebrochenem Herzen macht sich Jule allein auf den Weg nach Greetsiel – fest entschlossen, ihrer besten Freundin einen unvergesslichen Hochzeitstag zu bereiten.

Dabei hilft ihr ausgerechnet Fahrradverleiher Nils. Eigentlich ist der dorfbekannte Flirtkönig das Letzte, was Jule jetzt gebrauchen kann. Doch mit seiner unkonventionellen Art zaubert er ihr ein Lächeln ins Gesicht. Und als er sich dann auch noch von seiner romantischen Seite zeigt, schlägt sie ihre Zweifel kurzerhand in den ostfriesischen Wind. Bis Sebastian plötzlich vor der Tür steht, um Jule zurückzugewinnen ...

1

Der unverwechselbare Zauber des Briefkastens ergriff mich, kaum dass ich meine Einkaufstüten durch die Haustür in den Flur bugsiert hatte. An manchen Tagen versprühte der alte Kasten diese Magie großzügig, um seine Besitzerin auf die Überraschungen hinter seiner leicht zerbeulten Blechtür vorzubereiten. Sprechen konnte er ja leider nicht.

Ein handgeschriebenes Namensschildchen wies mich als ebendiese Besitzerin aus. Julia Wiedemann. Wohnung in der dritten Etage, Briefkasten in der dritten Reihe. Das Einzige, was in dieser gelb gestrichenen Altbau-Oase in Düsseldorf seine Ordnung hatte.

Mit dem Unterarm wischte ich mir die verschwitzten Locken aus dem Gesicht und zog den Fuß zurück, der die hölzerne Eingangstür bislang am Zufallen gehindert hatte. Mit einem »Rums« fiel sie ins Schloss.

Dieser Tag hatte bisher nichts hervorgebracht, was einen Platz in der Dankbarkeitsspalte meines Tagebuchs verdiente. Das Gespräch mit Daniel, meinem Chef in der Werbeagentur, hatte sich in die Länge gezogen wie Kaugummi. Und mit ihm der ersehnte Feierabend. Viel zu spät hatte ich im Supermarkt den Einkaufswagen im Slalom durch die Gänge manövriert. Dabei war ich mir zunehmend sicher gewesen, als Einzige einen Warnhinweis auf ein drohendes Einkaufsverbot nach diesem Freitagnachmittag verpasst zu haben.

Umso erfreuter folgte ich jetzt dem Briefkastenzauber. Der Blechkasten beherrschte durchaus auch die schwarzen Flüche, die wahlweise teuer oder nervenaufreibend endeten. Heute strahlte er eindeutig weiße Magie aus.

Ich kramte den Schlüssel aus meiner mit Wollresten selbst gehäkelten Umhängetasche. Dabei schob ich mich auf Zehenspitzen zwischen zwei Kinderfahrrädern hindurch, deren neongelbe Warnfahnen mein Gesicht kitzelten. Über den Kinderwagen des jüngsten Mitglieds unserer Hausgemeinschaft hinweg reckte ich meinen Arm so weit vor, bis ich das Briefkastenschloss erreichte.

Ein matt glänzender weißer Umschlag purzelte in meine Hände. Ich bewunderte das Schmuckstück von allen Seiten, bevor ich mir die in goldener Farbe eingeprägten Buchstaben K und J ans Herz drückte. Katharina und Jasper. Meine beste Freundin, mit der ich seit der ersten Klasse die Höhen und Tiefen des Lebens teilte, und der Mann, dem sie ins Netz gegangen war.

Ich schob den Umschlag in die Tasche, griff meine Einkäufe und trat den Weg nach oben an. Die Holzstufen ächzten unter mir wie Senioren, die die Last eines bewegten Lebens auf ihren Schultern trugen. Dabei war ich, beschwingt von der bezaubernden Post, so leichtfüßig wie lange nicht mehr unterwegs.

Schräger Kindergesang drang durch die Wohnungstür der Webers, vor der sich wie üblich ein buntes Sammelsurium an Schuhen aller Größen türmte. Ich schmunzelte bei dem Gedanken an die regelmäßigen farbenfrohen Spektakel in meiner Küche, bei denen die Weber-Kinder und ich uns in berühmte Maler verwandelten. Vermutlich zeugten die eigenwilligen Töne vom Beginn einer weiteren vielversprechenden Karriere.

Aus dem zweiten Stock bahnte sich der verführerische Duft italienischer Kräuter den Weg an meine Nase. Als hätte er auf mich gewartet, lehnte Stefano barfuß und mit hochgekrempelten Hemdsärmeln am Türrahmen und strahlte mir entgegen.

»Julia, mia bella, come stai? Lust auf Pasta?« Er zog das Geschirrtuch von seiner Schulter und wedelte mir damit einen weiteren Schwall des köstlichen Duftes zu.

Das Problem war, dass mein Magen zwar zu jeder Zeit Lust auf Pasta vermeldete, Stefano aber bisweilen auf ein Körperteil hörte, das ihm eher Lust auf etwas anderes signalisierte.

»Vielleicht beim nächsten Mal, ich habe gerade eingekauft.« Ich hob eine der Tüten in die Höhe. »Trotzdem danke«, erteilte ich ihm eine möglichst nette Abfuhr.

»Sicuro?«, hakte er mit einem gekonnten Aufschlag seiner langen Wimpern nach und schüttelte seine dunklen Locken.

»Ganz sicher.« Ich warf ihm einen Luftkuss zu und setzte meinen Weg fort.

Nachdem ich die Wohnungstür mit dem Hinterteil ins Schloss gedrückt hatte, kickte ich die Sandalen von den Füßen. Barfuß tapste ich über die Holzdielen durch den Flur in die Küche. Unterwegs umrundete ich einige Kartons, in denen gesammeltes Material auf mein nächstes DIY-Projekt wartete. Sebastian hatte kürzlich mit einem Besuchsstopp gedroht, wenn das Chaos nicht umgehend verschwinden würde. Dabei war ich überhaupt nicht chaotisch. Höchstens ein klitzekleines bisschen. Ich war bloß überaus kreativ. Die Weber-Kinder sahen das zum Glück genauso. Bedauerlicherweise waren sie in dieser Frage meine einzigen Fürsprecher. Darum hatte ich Sebastian zuliebe Besserung gelobt.

Mit einem erleichterten Schnaufen stellte ich die Einkäufe auf dem Tisch in der Mitte des Raumes ab. Die Abdrücke und Kerben in seiner Holzplatte zeugten von dem langen und turbulenten Leben des Familienerbstücks. In der Spüle an der rechten Wand stapelte sich das Frühstücksgeschirr. Die letzten Feinheiten für ein neues Herzensprojekt, auf dessen Umsetzung in der Agentur ich hoffte, hatten sich am Morgen vor den Abwasch gedrängelt. Die begrenzte Zeit, die täglich und überhaupt im Leben zur Verfügung stand, erforderte eben, Prioritäten zu setzen. Das hatte ich zum Leidwesen meiner Eltern schon früh beschlossen und die Hausaufgaben gerne mal für ein spontanes Wandtattoo im Kinderzimmer geopfert.

Ich öffnete die Fenster gegenüber der Tür, um ein bisschen frische Luft in die Wohnung zu lassen. Der August gab bislang alles, um den verregneten Juli wieder wettzumachen. Ein Windstoß bauschte die hellgelben Vorhänge zu beiden Seiten auf. Er ließ die Sammlung von Bildern, Notizen und Terminen, die mit bunten Magneten am Kühlschrank daneben befestigt war, leise rascheln.

Erschöpft sank ich auf einen der unterschiedlichen Stühle, die als Flohmarktschätze an meinen Tisch gewandert waren, und fischte den Umschlag aus der Tasche. Vorsichtig öffnete ich die Lasche an der Rückseite, zog die Einladungskarte heraus und betrachtete den geschwungenen, goldenen Druck auf der Vorderseite.

Nicht gesucht und doch gefunden!

Wir heiraten am 6. September und möchten Dich und Deine Begleitung einladen, diesen besonderen Tag gemeinsam mit uns in der Pension Herzfischer zu feiern.

Katharina König & Jasper Jensen

In vier Wochen wurde es ernst. Obwohl die beiden das große Ereignis schon angekündigt hatten, löste sich beim Anblick der Karte eine Träne aus meinem Augenwinkel. Das Motto passte perfekt. Nicht genug damit, dass Kathi ihre ambitionierte Karriere in einer globalen Düsseldorfer Anwaltskanzlei gegen ein neues Leben im ostfriesischen Greetsiel eingetauscht hatte. Ihre große Liebe war zudem einer der wenigen dort übrig gebliebenen Krabbenfischer. Die beiden hatten sich vorletztes Jahr auf einer Dienstreise in seiner Heimat kennengelernt. Dabei hatte Kathi genau genommen von ihrer Anwaltskanzlei den Auftrag gehabt, Gefallen an einem Grundstück zu finden, nicht an dessen Besitzer. Das Schicksal hatte seine eigenen Pläne geschmiedet. Inzwischen war Jaspers Heimat ihr gemeinsames Zuhause.

Ich fuhr mit einem Finger die goldenen Buchstaben auf der Karte nach. Die Freude über das große Glück der beiden paarte sich mit Wehmut angesichts der Entfernung, die seither zwischen Kathi und mir lag, und der Hoffnung, dass das Schicksal ähnliche Absichten für Sebastian und mich hegte. Vielleicht winkte es ihm mit der Teilnahme an Katharinas Hochzeit ein wenig zu?

Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, dass noch ein bisschen Zeit blieb, bevor er aus der Bank nach Hause kam. Schnell verräumte ich die Einkäufe und ließ mich mit dem Handy in der Hand auf den Stuhl fallen. Mit zitternden Fingern tippte ich den Kontakt meiner Freundin auf dem Display an. Das entfernte Tuten des Freizeichens dehnte sich zu einer gefühlten Ewigkeit aus. Zur Beruhigung biss ich in einen der Schokoladendonuts, deren Anziehungskraft in der Auslage des Bäckers deutlich magischer war als die der Salatbar.

»Ihr Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar, bitte hinterlassen Sie eine Nachricht nach dem Ton.«

»Hey, Kathi«, nuschelte ich mit vollem Mund, »ich war am Briefkasten. Ruf mich zurück!« Nach einer kurzen Pause fügte ich mit inzwischen schokoladenfreier Stimme hinzu: »Bitte!«

Ich tippte erneut auf das Display, steckte das Handy wieder ein und griff zu den zwei Paketen Mehl und der Milch, die ich für Frau Scholz von nebenan mitgebracht hatte. Das Frühstücksgeschirr würde schon nicht weglaufen. Ich schlüpfte zurück in meine Schuhe und huschte in den Hausflur.

Es dauerte einen Moment, bis die alte Dame die gegenüberliegende Wohnungstür öffnete. Das Strahlen, das ihr von Lach- und Sorgenfalten gleichermaßen geprägtes Gesicht überzog, hätte mich für jede Wartezeit der Welt entschädigt.

»Fräulein Julia, meine Liebe, das ist aber fein, dass Sie an mich gedacht haben. Da kann ich mir gleich noch ein paar Pfannkuchen backen.« Mit zittrigen Händen griff sie nach ihrer Bestellung.

»Lassen Sie mal gut sein, Frau Scholz, ich stelle die Sachen direkt in die Küche«, wehrte ich ab und folgte ihr in die Wohnung.

»Was bekommen Sie denn?« Sie zog eine Küchenschublade auf, in der sie ihr Portemonnaie aufbewahrte.

Vertraut mit ihrer finanziellen Situation winkte ich ab. »Zur Feier des Tages geht das heute auf mich«, platzte ich heraus, »meine Freundin heiratet.« Zur Bestätigung zog ich die Einladungskarte aus der Tasche und drückte sie ihr in die Hand.

Frau Scholz betrachtete einen Augenblick lang in Gedanken versunken die Karte, bevor sie diese aufklappte und las. Dann legte sie die Hochzeitskarte vor sich auf den Tisch und klatschte in die Hände. »Oh, wie wunderbar, wenn zwei Menschen sich gefunden haben! Ist das die nette junge Dame, die früher so oft hier bei Ihnen zu Besuch war?«

»Genau die. Jetzt wohnt sie ja leider so weit entfernt«, fügte ich leise hinzu.

»Was halten Sie davon? Ich mache uns einen Tee, hole mein altes Fotoalbum heraus, und wir schwelgen ein bisschen im Hochzeitsfieber?« Sie strich über ihre zu einem Knoten zusammengesteckten grauen Haare und sah mich erwartungsvoll an.

»Ein andermal gerne, Frau Scholz, aber heute bin ich auf dem Sprung zu meinem Freund Sebastian, um ihn mit den guten Nachrichten zu überraschen. Schließlich soll er ja meine Begleitung bei der Feier sein.« Ich hob bedeutungsvoll die Augenbrauen.

»Wie schade.« Kurz huschte ein Ausdruck des Bedauerns über ihr Gesicht, bevor sie ihre faltige Hand leicht wie eine Feder auf meinen Arm legte. »Aber das verstehe ich natürlich. Und wer weiß, vielleicht fangen Sie ja den Brautstrauß und sind die nächste glückliche Braut.« Sie zwinkerte mir aus wässrig blauen Augen zu, was sie in diesem Moment um Jahre jünger aussehen ließ.

Ich seufzte. »Na ja, wenn Sebastian mich fragt, dann sage ich nicht Nein.«

2

Mit den aufregenden Neuigkeiten im Gepäck und klopfendem Herzen eilte ich zu meinem »Knallfrosch« – einem giftgrünen Kleinwagen mit einer kolossalen Portion Eigensinn unter der Motorhaube. Das veranlasste ihn nicht selten zur Verweigerung seiner Dienste. Dann halfen nur Stefanos technische Überredungskünste. Heute kooperierte mein Fröschchen verdächtig zuverlässig. Womöglich plante er, sich auf diese Art bei mir einzuschmeicheln, um Sebastians bayrischen PS-Protz aus dem Rennen um die Reise an die Küste zu werfen.

Ich ergatterte einen Parkplatz unweit des Neubaus, in dem Sebastian wohnte. Das glich ohne Tiefgaragenplatz hier einem Sechser im Lotto. Mein Auto war der einzige Farbtupfer im Einheitsgrau des Finanzsektors im Herzen Düsseldorfs. In unserem bunten Altbauviertel verschmolz der grüne Kleinwagen wie ein Chamäleon mit der Umgebung. Hier glich er einem Marsmenschen nach der Erdlandung.

Ich spurtete zur Tür und presste den Finger mehrfach hintereinander auf den Klingelknopf. Ein Knacken ertönte in der Sprechanlage, gefolgt von Sebastians Stimme, deren genervter Unterton mich selbst durch die elektrische Leitung erreichte.

»Ja, bitte?«

»Ich bin's, Jule«, japste ich ins Mikrofon.

»Julia?«, tönte es blechern aus dem Lautsprecher zurück.

Wie viele Jules kannte er denn? Vorsichtshalber winkte ich in die Kamera, die oberhalb meines Kopfes angebracht war. Mit einem Summton sprang die Haustür auf. Ich stieg in den Aufzug und drückte auf das D für Dachgeschoss. Unterwegs versuchte ich mithilfe des verspiegelten Innenraums, meine rote Lockenpracht zu bändigen, beendete das aussichtslose Unterfangen aber umgehend wieder. Dafür hätte ich die Wegstrecke des Fahrstuhls im Empire State Building benötigt.

Sebastian wartete in der geöffneten Wohnungstür auf mich. In den Händen hielt er sein Tablet, von dem ich insgeheim befürchtete, dass es eines Tages dort festwachsen würde. »Julia, schön, dich zu sehen. Waren wir verabredet?«

Nicht auszuschließen, dass er das in seinem elektronischen Terminkalender überprüft hatte, während ich auf dem Weg nach oben gewesen war.

Er löste den Blick vom Display und sah mich fragend an. Kein einziges seiner blonden Haare tanzte aus der Reihe, und das weiße Hemd war knitterfrei. Nur die aufgekrempelten Ärmel signalisierten den Feierabendmodus. Sein müdes Lächeln und der fehlende Glanz seiner stahlblauen Augen straften sein perfektes Aussehen allerdings Lügen.

»Überraschung!«, rief ich und drückte ihm im Vorbeigehen einen Kuss auf die Lippen. Ein bisschen gemeinsame Zeit würde uns beiden guttun. Ich ließ meine Schuhe und die Tasche gleich hinter der Tür auf die dunklen Hochglanzfliesen plumpsen.

Sebastian räusperte sich neben mir.

»Schon gut«, warf ich mit erhobenen Händen ein, bevor er zu seiner üblichen Erklärung ansetzte. Ich nahm die Schuhe, stellte sie zu seinen auf das chromglänzende Schuhregal und hängte meine Tasche an die Garderobe. »Zufrieden?«

Er verdrehte die Augen.

Mit dem Zeigefinger tippte ich auf sein Tablet. »Du arbeitest doch nicht etwa immer noch?« Wenn man Excel-Tabellen heiraten könnte, dann hätte er sicher keine Sekunde gezögert, auf die Knie zu fallen und die entscheidende Frage zu stellen.

»Hey, Vorsicht!«, ermahnte er mich und brachte das Gerät ruckartig vor mir in Sicherheit. »Nicht, dass du meine Präsentation durcheinanderbringst. Ein zusätzliches Meeting mit einem Großkunden dieses Wochenende. Da darf nichts schiefgehen!« Er strich sich mit einer Hand durch die Haare, bevor er auf die Smartwatch an seinem Handgelenk schaute.

Damit hatte sich die gemeinsame Zeit vermutlich erledigt. Ich schluckte gegen den Kloß in meiner Kehle an, zu dem sich die Enttäuschung zusammengeballt hatte.

»Ich habe mir gerade einen Espresso gemacht, möchtest du auch einen?«, bot Sebastian mir mit einem Blick über die Schulter auf dem Weg in die Küche an.

Ich nickte, weil mich der Kloß am Sprechen hinderte, und tapste auf den kühlen Fliesen hinter ihm her. Kaffee war seine Schokolade. Eine Tasse und ein aufgeschlagener Ordner auf dem Glastisch waren die einzigen Gegenstände, die darauf hinwiesen, dass wir uns nicht in den Ausstellungsräumen eines Möbelhauses aufhielten. Zwischen den weißen Hochglanzfronten der Schränke blitzte ein Kaffeeautomat aus Edelstahl hervor. Der Traum eines jeden Barista und Sebastians Heiligtum.

Während er auf verschiedene Knöpfe an der Maschine drückte, bis der Duft von frischem Kaffee mit einem zischenden Geräusch den Raum erfüllte, durchquerte ich die geöffnete Schiebetür hinaus auf die Dachterrasse. Ich lehnte mich ans Geländer. Die letzten Strahlen der Abendsonne verwandelten den Himmel über der Skyline Düsseldorfs in ein Aquarellgemälde aus ineinander verlaufenden Pastellfarben.

Mein Atem beruhigte sich.

Als Sebastian mit den leise klirrenden Espresso-Tassen anstelle seines Tablets neben mich trat, beschloss ich, die Gunst der Stunde zu nutzen. Ich nahm ihm die Tassen aus den Händen und stellte sie auf dem Holzboden ab. Sanft lehnte ich den Kopf an seine Brust und sog die vertraute Mischung aus herbem Aftershave und Haargel ein. Sein Herz pochte an meinem Ohr. »Ich habe eine Überraschung für dich«, murmelte ich.

Er umfasste meine Taille und zog mich näher zu sich heran. »Ich habe aber nicht viel Zeit ...«, flüsterte er mit rauer Stimme und strich mir mit den Fingern über den Nacken.

Ich rückte ein Stück von ihm ab. Das war nicht das, was ich mir unter einem romantischen Abend vorgestellt hatte. Jedenfalls nicht übergangslos. Ich atmete tief durch. »Nicht, was du wieder denkst. Ich will dir was Wichtiges zeigen.« An der ruppigen Art, wie er seine Tasse vom Boden hochnahm, erkannte ich seine unterdrückte Enttäuschung. Unbeirrt flitzte ich in den Flur und kehrte mit der Einladungskarte zurück. Mein Herz hüpfte wie auf einem Trampolin.

Sebastian hatte inzwischen auf einem der schwarzen Lederstühle in der Küche Platz genommen. »Wenn du schon mal hier bist, dann können wir gleich eine Terminsache klären«, bremste er meinen Aktionismus, den Blick wieder auf sein Tablet geheftet.

»Die da wäre?«, fragte ich und schob die Karte hinter dem Rücken mit zitternden Fingern von einer Hand in die andere. Meine Überraschung verdiente seine volle Aufmerksamkeit.

»Morgen in vier Wochen findet das jährliche Talent Management Weekend in Frankfurt statt, und ich habe eine Einladung erhalten. Mit Partnerin.« Er lehnte sich zurück und sah mich mit weit geöffneten Augen an.

In vier Wochen. Der letzte Hüpfer hatte das Netz verfehlt, und mein Herz landete unsanft auf dem Boden. Neben ihm schlug die Karte auf, die mir vor Schreck aus den Händen geglitten war.

»Wow, Julia, deine Begeisterung kennt ja keine Grenzen. Du machst ein Gesicht, als hätte ich dich zu einem Survival-Trip im Dschungel eingeladen und nicht etwa zu einem First-Class-Event in der Firmenzentrale.« Er bückte sich und hob die Karte auf. »Mit was hantierst du da überhaupt die ganze Zeit herum?«

»Meine Überraschung.« Ich unterdrückte ein Zittern in der Stimme. »Du erinnerst dich? Katharina und Jasper planen schon seit Längerem ihre Hochzeit, und heute kam die Einladung. In vier Wochen ist es so weit, und sie haben mich ... uns eingeladen. Ich hatte gehofft, dass wir beide gemeinsam in den Norden fahren könnten.« Ich pausierte kurz. »Meine Freundin und diese Hochzeit bedeuten mir wirklich viel, Sebastian. Und es würde mir noch mehr bedeuten, mit dir zusammen daran teilzunehmen.« Mit einer Hand strich ich versöhnlich über seine Schulter.

Sebastian klappte die Karte auf und überflog den Text. Dann gab er sie mir zurück und tippte auf dem Tisch etwas in sein Tablet. Er drehte sich zu mir herum. In seiner Miene lag geschäftsmäßiges Bedauern. Den gleichen Gesichtsausdruck brachte er vermutlich täglich den Kunden der Bank entgegen, deren Kreditwunsch er ablehnte.

Womöglich war das eines der Talente, die bei seinem jährlichen Meeting entwickelt wurden.

»Es tut mir leid, Julia, aber das nennt man dann wohl eine ›klassische Terminkollision‹.«

So viel zu den Plänen des Schicksals. Offenbar hatte es meinen Termin vergessen. »Auf keinen Fall verpasse ich diese Hochzeit!« Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Unsere Blicke kreuzten sich wie Schwerter in einem Duell. Kurz bevor die Klingen aufeinandertrafen, senkte ich die Waffe versöhnlich. »Bitte, Sebastian, wenigstens einen Tag, nur zur Trauung.«

»Unmöglich. Niemand lehnt eine Einladung für das Talent Management ab, der in der Bank weiterkommen will.« Er sagte das mit einer Selbstverständlichkeit, als handelte es sich um das Grundgesetz. »Und niemand kreuzt da ohne Anhang auf. Das wirkt ja, als wäre man sozial inkompetent. Soll ich vielleicht eine von deinen Schwestern mitnehmen? Am besten noch mitsamt dem Baby, wenn es bis dahin ausgebrütet ist?«

Seine letzten Worte trafen mein Herz wie kleine Pfeilspitzen. Dabei wäre das für mich endlich mal ein Zeichen von echter männlicher Sozialkompetenz. Es schien, als würden wir in diesem Fall nicht nur in entgegengesetzten Richtungen durch das Land fahren, sondern überhaupt durch das Leben.

»Wenn dir diese Hochzeit wichtiger ist als Frankfurt, warum fragst du dann nicht Anna oder deine Mutter, ob sie dich begleiten? So eine Hochzeit ist doch ohnehin eher ein Frauending.« Er winkte ab.

Meine Schultern sackten nach unten. »Nichts gegen meine Familie, aber ich habe mich darauf gefreut, Zeit mit dir zu verbringen.«

»Perfekt. Dann komm mit mir nach Frankfurt.« Seine Mundwinkel verbreiterten sich zu einem Grinsen. »Sieh es doch mal so, sollten wir uns irgendwann mal für ein gemeinsames Leben entscheiden, dann kommt mein Erfolg ja auch dir zugute.«

Genau da lag das Problem. Ich entzündete immer wieder den Funken der Hoffnung auf dieses gemeinsame Leben, nur damit er daraufhin die Glut erstickte. Ich schlich zurück in den Flur und stopfte die Karte in die Tasche.

Sebastian war mir gefolgt und verharrte im Türrahmen der Küche. »Hey, jetzt sei nicht sauer, okay? Im Moment habe ich wirklich viel um die Ohren.« Er trat näher an mich heran, hob mit dem Zeigefinger mein Kinn an und sah mir in die Augen. »Das wird auch wieder besser werden. Pass auf, ich verspreche dir, dass ich mir eine Lösung überlege. Und außerdem halte ich mir das nächste Wochenende frei, und wir gehen gemeinsam shoppen. Deal?« Er hielt mir eine Hand hin, damit ich einschlug.

Ich zögerte. »Was denn shoppen?«, fragte ich und blickte ihn hoffnungsvoll an. Vor meinem inneren Auge rollte eine Auswahl an möglichen Hochzeitsgeschenken wie auf einem Laufband vorbei.

»Ein passendes Outfit für Frankfurt zum Beispiel.« Sein Blick glitt über das bunte Blumenmuster meines Sommerkleides, bevor er mir zuzwinkerte.

Natürlich, für Frankfurt.

In dem Moment ertönte der Klingelton seines Handys. Er zog seine Hand zurück, griff in die Hosentasche und schaute auf das Display. »Sorry, aber da muss ich rangehen. Wir telefonieren.« Er nickte mir zu, nahm das Gespräch an und verschwand in der Küche.

»Danke, du brauchst mich nicht zu verabschieden, ich finde allein raus«, flüsterte ich und zog die Wohnungstür mit einem leisen Klacken hinter mir ins Schloss.

3

Die Straßenlaternen erwachten nacheinander zum Leben und tauchten das Innere meines Autos in ein gedämpftes Licht. Um mich herum herrschte Stille. Selbst das entfernte Rauschen des abendlichen Straßenverkehrs prallte außen an den geschlossenen Fenstern ab.

Mit den Unterarmen auf dem Lenkrad abgestützt, schaute ich durch die Windschutzscheibe an der Häuserfront hinauf, unfähig, den Zündschlüssel im Schloss herumzudrehen. Vereinzelt wurden Lichter eingeschaltet. Wenn ich den Kopf ein wenig in den Nacken legte, gelang es mir, bis zu Sebastians Wohnung hinaufzuschauen. Alles dunkel. Ob er dort mit mir gemeinsam grübelte oder längst wieder in seiner Zahlenwelt versunken war?

Ich lehnte mich zurück an die Kopfstütze. Meine Optionen bewegten sich in engen Grenzen. Bei näherer Betrachtung standen genau zwei davon zur Auswahl. Ich blieb hier an Ort und Stelle sitzen, was im Laufe der Nacht vermutlich zu einer Genickstarre führen würde. Es sei denn, ein aufmerksamer Anwohner verdächtigte mich vorher, eine verdeckte Ermittlerin oder gar eine Stalkerin zu sein. Die Alternative war, ich fuhr endlich los.

Ich schüttelte den Kopf, in der Hoffnung, das Dilemma so loszuwerden. Sebastian hatte mir versprochen, eine Lösung zu finden, mahnte ich mich zur Vernunft und angelte über die Schulter nach dem Anschnallgurt.

Während ich im Halbdunkel versuchte, das Gurtschloss zu treffen, ertönte vom Beifahrersitz der Klingelton meines Handys aus der Wolltasche. Sicher hatte Sebastian es sich anders überlegt. Ich ließ den Gurt los, zog den Beutel zu mir herüber und wühlte mich blindlings durch die Unmengen von Ausrüstungsgegenständen, die Frau täglich benötigte. Kaum hatte ich eine Ecke des Telefons zu fassen bekommen, hüllte sich das Innenleben der farbenfrohen Wollreste in Schweigen.

Ich zog das Handy mit einem Ruck heraus und warf den Rest meiner Habseligkeiten zurück auf den leeren Sitz neben mir. Mit angehaltenem Atem starrte ich auf das Display, aber die Gesichtserkennung hielt mich im Dunkeln offenbar ebenfalls für eine verdeckte Ermittlerin. Folgerichtig verweigerte sie mir jeglichen Zugriff. Hektisch tippte ich die Geheimzahl ein. Der Bildschirm vibrierte kurz, behielt aber sein Zahlendisplay erbarmungslos bei. Ich atmete einmal tief ein und wieder aus und sprach die vier Ziffern leise mit. Endlich leuchtete das Bild von mir und meinen Schwestern auf. Unsere Mutter hatte es beim letzten Weihnachtsfest von uns geschossen, kurz nachdem Svenja mit den Baby-News herausgeplatzt war.

Mit klopfendem Herzen warf ich einen Blick auf die Anzeige der verpassten Anrufe. Dort erschien nicht etwa Sebastians Name, sondern Katharinas. Ich wischte den kurzen Anflug von Enttäuschung beiseite. So schnell fand selbst ein Sebastian Wingenfeld keine Lösung, und ein Anruf von meiner besten Freundin war eine würdige Alternative. Ich tippte ihren Kontakt und das Lautsprechersymbol an.

Sie meldete sich nach dem ersten Freizeichen. »Hey, Jule, schön, dich zu hören. Kein FaceTime? Alles in Ordnung bei dir? Ist das neue Familienmitglied angekommen?«

»Hallo, Kathi. Nein, meine Schwester ist nach dem letzten Stand immer noch kugelrund, und ja, es ist alles in Ordnung. Ist nur gerade eine ungünstige Situation für Bilder, das Licht ist aus.«

Ein lauter Pfiff tönte aus dem Lautsprecher. »Wenn das so ist, wir können auch später sprechen«, bot sie mit belustigter Stimme an.

»Nicht, was du denkst«, rechtfertigte ich mich schon zum zweiten Mal an diesem Abend. »Ich bin nur gerade im Auto.«

»Was sich bekanntlich nicht ausschließen soll«, scherzte Katharina weiter.

»Das Zusammenleben mit Jasper scheint dir ja gut zu bekommen«, gab ich zurück. »Womit wir beim Thema wären. Eure Hochzeitskarte ist heute angekommen.« Ich schloss die Augen und genoss für einen Augenblick die Wärme, die sich rund um mein Herz ausbreitete. »Das ist so romantisch.«

»Hör bloß auf. Nix mit Romantik. Das ist purer Stress. Du ahnst nicht, was man alles planen muss für so eine Hochzeit. Und obendrein gibt jetzt nicht nur eine Mutter gute Tipps, sondern gleich zwei bombardieren uns damit.« Katharina stöhnte. »Heute Nachmittag haben wir mit meiner Schwiegermutter den Blumenschmuck ausgesucht. Das musst du dir so vorstellen: Jasper steht zwischen den vielen Sträußen und nickt zu jedem Vorschlag. Wiebke rennt wie ein aufgescheuchtes Huhn durch den Laden, und ich komme kaum hinterher, meiner Mutter die Auswahlfotos zu schicken.«

Ich lachte bei der Vorstellung, mit meiner eigenen Mutter in einem Blumengeschäft zu stranden. Sie griff grundsätzlich zu den Stängeln, die ihre Köpfe schon hängen ließen, um sie zu Hause aufzupäppeln. Ihrer Ansicht nach hielten solche Pflanzen aus Dankbarkeit am längsten. Dazu Sebastians Mutter, für die es nur eine mögliche Farbe bei Blumen aller Art gab – Weiß. »Du Arme hast mein volles Mitgefühl«, neckte ich sie. »Obwohl ich mir Schlimmeres vorstellen kann als einen Nachmittag im Blumenparadies.«

»Am Ende hat Wiebke mir das Handy aus der Hand genommen, und die Mütter haben selbst gewählt.« Katharina seufzte. »Lass dich überraschen. Ich bin so gespannt, Jule, was du sagst, wenn du den Blumenschmuck am Hochzeitstag siehst.«

Ich schluckte. Der Hochzeitstag ...

»Aber du hast schon recht«, fuhr sie fort, »noch schlimmer ist, dass ich so ganz nebenbei auch noch die letzten Arbeiten vor der Eröffnung der Pension erledigen und mich gleichzeitig um die ersten Mandanten in meiner eigenen Kanzlei kümmern muss. Dagegen war mein Anwaltsleben in Düsseldorf ein Kururlaub.« Sie hielt kurz inne und fügte dann etwas leiser hinzu: »Wenn du nur nicht so weit weg wärst, Jule! Und du bist wirklich sicher, dass du nicht schon vor der Hochzeit herkommen kannst?«

Während ich versuchte, das Chaos in meinem Kopf zu einer vernünftigen Erklärung zu sortieren, beobachtete ich im Seitenspiegel den Lichtkegel eines sich nähernden Fahrzeugs. Auf gleicher Höhe angekommen, vollführte der Fahrer wilde Gesten, um mich zum Ausparken zu bewegen und meinen Stellplatz zu ergattern. Ich schüttelte den Kopf. Mit einem letzten unmissverständlichen Handzeichen fuhr er weiter und zerriss dabei mit einem Hupkonzert die Stille. Ich zuckte zusammen und spähte hinauf zu Sebastians Fenster. Immer noch alles dunkel. Die Erleichterung wurde verdrängt von der Erkenntnis, dass er sich womöglich schlafen gelegt hatte, ohne einen weiteren Gedanken an meine Bitte zu verschwenden.

»Hallo, Erde an Jule? Bist du noch da?«, tönte es aus dem Handy. »Was ist denn da los bei dir, und warum um alles in der Welt hockst du überhaupt im Auto herum?«

»Sorry, ich war nur kurz abgelenkt. Das ist gerade alles etwas kompliziert hier«, entschuldigte ich mich. »So leid es mir tut, aber ich kann wirklich nicht eher kommen. Erinnerst du dich an diesen Werbeauftritt, in den ich so viel Herzblut gesteckt habe?«

»Den für die Kinderkleidung zum Selbstgestalten?«, hakte Katharina nach.

»Genau den«, antwortete ich. »Daniel hat heute lange mit mir darüber geredet und mir versprochen, sich mein Konzept übers Wochenende noch mal durch den Kopf gehen zu lassen. Wenn er mir am Montag das Go gibt, dann geht es direkt los.«

»Schade für mich«, seufzte Katharina, »aber ich drücke dir natürlich trotzdem die Daumen. Mit deinen tollen Ideen hättest du dieses ganze Hochzeitsding hier im Handumdrehen gewuppt. Umso mehr freue ich mich, wenn du bei der Trauung endlich mal wieder neben mir sitzt«, lachte sie. Dann fügte sie verschwörerisch hinzu: »Wir hätten da nämlich auch noch einen kleinen Anschlag auf dich vor.«

»Hör mal, Kathi, wegen der Hochzeit ...«, stotterte ich. Im Hintergrund hörte ich Jasper irgendetwas rufen. Katharina hielt anscheinend die Hand über das Mikrofon, denn ich verstand nur Bruchteile ihrer Antwort. Er schien ungeduldig auf die Bekanntgabe des angekündigten Überfalls zu warten.

Die Luft im Auto erschien mir auf einen Schlag unerträglich warm. Ich kurbelte das Seitenfenster ein Stück herunter. Mit der lauen Sommerluft wehte eine Prise Optimismus zu mir herein. »Also wegen der Hochzeit ...«, startete ich einen weiteren Versuch.

Für einen Moment herrschte Stille am anderen Ende der Leitung. »Was ist mit der Hochzeit?«, fragte Katharina. Ihre Stimme hatte einen alarmierten Unterton angenommen.

»Na ja, ich freue mich riesig auf den Tag und bin auch gleich mit der Einladung zu Sebastian gefahren. Also, vorher war ich noch kurz bei Frau Scholz, du weißt ja, die alte Dame, die neben mir ...«

»Jule, komm auf den Punkt«, unterbrach sie mich. »Was willst du mir wegen der Hochzeit sagen?«

»Es ist so ... Sebastian ist am selben Wochenende auf ein wichtiges Meeting nach Frankfurt eingeladen«, näherte ich mich dem Problem an.

»Das ist blöd«, antwortete Katharina, »aber auch nichts Neues bei Sebastian. Dann fährt er halt nach Frankfurt, und du kommst alleine. Es wird sich schon ein Junggeselle finden, der sich über deine Gesellschaft freut.«

»Aber bei dem Meeting wird erwartet, dass die Teilnehmer in Begleitung kommen.« Damit war die Katze aus dem Sack.

Erneutes Schweigen am anderen Ende der Leitung.

»Kathi?«, flüsterte ich.

Ein Räuspern drang aus dem Lautsprecher. »Ich fasse noch mal kurz zusammen ...«

In solchen Situationen schaltete meine Freundin in das, was ich den »Anwaltsmodus« nannte.

»Du hast eine Einladung für zwei in Greetsiel, Sebastian hat eine Einladung für zwei in Frankfurt. Am selben Tag. Sofern ihr niemanden kennt, der euch klonen könnte, gibt es nicht viele Möglichkeiten. Ihr einigt euch auf ein Event, ihr schafft beide Einladungen an einem Wochenende, oder ihr geht getrennte Wege.« Eilig fügte sie hinzu: »Natürlich nur für dieses Wochenende.«

Im Augenblick war ich mir überhaupt nicht sicher, ob Sebastians und meine Wege wirklich nur an diesem Wochenende in verschiedene Richtungen führten.

»Ach, Kathi. Ich habe mich so gefreut, auf die Hochzeit ... und auf die gemeinsame Zeit mit Sebastian.«

»Daher weht der Wind«, prustete Katharina. »Es geht dir gar nicht um mich, du treulose Tomate. Kann es sein, dass du gehofft hast, ihn auf den Geschmack zu bringen? Nur so ein ganz kleines bisschen?«

»Natürlich geht es zuallererst um deine Hochzeit. Ich wünsche mir nichts mehr für dich, als dass dein Hochzeitstag der schönste Tag in deinem Leben wird«, protestierte ich. »Aber ich gestehe, zu einem Antrag von Sebastian würde ich auch nicht Nein sagen. Man wird ja wohl noch träumen dürfen. Andererseits kann ich auch verstehen, dass dieses Meeting in der Bank für ihn wirklich wichtig ist. Ach, es ist nur ... immer ist irgendetwas wichtiger.« Ich atmete tief durch. »Aber er hat mir versprochen, sich eine Lösung zu überlegen.«

»In dem Fall hätte ich da noch ein unschlagbares Argument für dich. Du weißt doch, der Anschlag. Also eigentlich braucht man keine Trauzeugen mehr, doch Jasper und ich würden gerne an diesem Brauch festhalten, und deshalb wollten wir dich fragen, ob du unsere Trauzeugin sein möchtest?«

Mein Herz drehte sich vor Freude einmal um die eigene Achse. »Im Ernst?«, krächzte ich mit vor Rührung geschwächter Stimme ins Telefon.

Offenbar hatte Jasper sich inzwischen an Katharina herangepirscht, denn aus dem Lautsprecher ertönte ein zweistimmiges: »Und? Sagst du Ja?«

»Wie könnte ich dazu Nein sagen, ihr Verrückten. Es wäre mir eine Ehre.« Für einen Moment erfüllten die Jubelschreie aus meinem Handy den Innenraum des Autos.

»Dann fällt Frankfurt aus?«, hakte Katharina noch mal nach.

»Davon gehe ich jetzt mal ganz fest aus. So wichtig kann ja kein Meeting sein, dass man die Trauzeugin nicht zur Hochzeit begleitet.« Die Worte klangen ein bisschen so, als spräche ich sie nur laut aus, um mich selbst zu überzeugen.

Anscheinend war es mir nicht gelungen, das zu verbergen, denn sie fügte hinzu: »Wenn alle Stricke reißen, dann kommst du alleine, Jule, oder bringst einfach Anna als Begleitung mit. Ich wollte ohnehin noch mal mit deiner Schwester sprechen. Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie die Hochzeitsfotos schießen könnte.« Jaspers Stimme erklang im Hintergrund. »Natürlich nur, wenn Sie Zeit hat«, fügte Katharina hinzu. »Vielleicht kannst du ein gutes Wort für uns einlegen?«

»Das mache ich gerne«, antwortete ich, und ein Lächeln stahl sich vorsichtig zurück auf meine Lippen. »Wie ich Anna kenne, wird sie sich das Event nicht entgehen lassen.«

»Und, Jule, du weißt, dass du hier jederzeit willkommen bist. Je eher, desto besser.«

»Danke, Kathi.« Ich schickte ihr einen Kuss durch die Leitung. »Ich melde mich.«

»Tschüss, Jule, hab dich lieb.«

Ich stopfte das Handy zurück in die Tasche und startete den Motor, ohne noch mal zu Sebastian hinaufzuschielen.

Nach kurzem Stottern erwachte der Knallfrosch aus dem Parkplatzschlaf. Gleich morgen früh würde ich versuchen, Sebastian zu erreichen, ehe er zu seinem Meeting aufbrach.

Am Ende hatte dieser Tag doch einen Eintrag in der Dankbarkeitsspalte meines Tagebuchs verdient. Denn das war das Gute an solchen mittelmäßigen Tagen wie diesem, die Aussicht, dass es morgen deutlich besser wurde.

4

Die Aufregung des gestrigen Tages und die schwüle Sommernacht hatten gemeinsam dafür gesorgt, dass ich mich die halbe Zeit in meinem Bett herumgewälzt hatte. Als der Mond seinen Platz für die Sonne räumte, deren erste Strahlen vorsichtig durch die Vorhänge lugten, beschloss ich, es mit dem frühen Vogel zu halten. Nur das unbekümmerte Zwitschern gelang mir an diesem Samstagmorgen nicht so recht, bevor ich die Hochzeitsfrage geklärt hatte.

Ich schwang die Beine aus dem Bett und griff nach meinem Handy. Über Nacht hatte es unter dem Kopfkissen gelegen. Geholfen hatte es genauso wenig wie damals das Schlafen auf dem Mathebuch. Keine neuen Mitteilungen. Mit dem Finger tippte ich Sebastians Kontakt an, um ihn zu sprechen, bevor er zu seinem Meeting verschwand. Ich lauschte dem Tuten mit angehaltenem Atem, bis die Mailbox sich einschaltete. Enttäuscht hinterließ ich ihm eine Nachricht: »Hallo, Sebastian. Bitte ruf mich doch mal zurück, wenn du das abhörst. Es gibt Neuigkeiten von Katharina. Bis später.«

Warten gehörte nicht unbedingt zu meinen Kernkompetenzen. Um mich abzulenken, spülte ich das schmutzige Frühstücksgeschirr vom Vortag, das inzwischen weitere Gesellschaft bekommen hatte. Trotz zweimal polierter und gegen das Sonnenlicht überprüfter Gläser saß ich schon nach kurzer Zeit erneut in der Küche und starrte den Sperrbildschirm an. Der schwieg mich, inmitten des sauberen Geschirrs, von der Tischmitte aus an, während vor dem geöffneten Fenster die Stadt den neuen Tag mit einer Symphonie aus Taubengurren und Autohupen begrüßte.

Ich griff das Handy und surfte planlos durch das Internet. Ein Bericht über das Versenden von Wünschen an das Universum fesselte meine Aufmerksamkeit. Ungläubig schüttelte ich den Kopf. Es klang zu leicht, um wahr zu sein. Einzige Bedingung: eine konkrete Formulierung. Die Neugier gewann die Oberhand. Einen Versuch war es wert.

Ich sauste in den Flur, um mein Tagebuch und das Schreibzeug aus der Tasche zu holen. Neben die Dankbarkeitsspalte, mit dem letzten Eintrag vom gestrigen Abend, zeichnete ich eine weitere Rubrik mit der Überschrift Liebes Universum ... Darunter trug ich den ersten Wunsch ein, der mir am Herzen lag. In meiner schönsten Schrift. Nicht, dass das Universum an der Leserlichkeit scheiterte.

... ich wünsche mir einen Heiratsantrag.

Das war für den Anfang womöglich eine etwas zu große Sache. Ich kaute au dem Ende des Bleistifts. Ein wenig Bescheidenheit schadete nie.

... ich wünsche mir, mit meiner großen Liebe an Kathis Hochzeit teilzunehmen.

Schon besser, aber keine echte Herausforderung. Sebastian hatte ohnehin eine Lösung versprochen. Ein bisschen mehr Anstrengung war sicher drin. Es handelte sich immerhin um das Universum.

Ich lehnte mich zurück und ließ den Blick durch den Raum schweifen, bis dieser auf das weiße Kindershirt traf, das auf einem Bügel an der Klinke hing. Der Prototyp meines aktuellen Werbeprojektes.

... ich wünsche mir, dass ich all die kreativen Ideen und Events planen darf, die mir durch den Kopf schwirren.

Perfekt.

Ich räumte den Küchentisch leer, um Platz für den gesamten Inhalt eines der DIY-Kartons aus dem Flur zu schaffen. Der Anblick meiner gesammelten Schätze ersetzte die Glückshormone einer ganzen Tafel Schokolade. Von wegen Chaos ... Dazu nahm ich ein paar Kunstwerke der Weber-Kinder von der Wand. Vorsichtshalber schloss ich das Fenster, damit der Luftzug meine Ordnung nicht durcheinanderpustete.

Die Grundidee unseres Kunden basierte auf individueller Kinderkleidung. Die Gemälde der kleinen Nachwuchskünstler dienten mir als Vorlage für unterschiedliche Elemente. Eigenhändig bemalt, wurden diese dann nach Lust und Laune von den Kindern mit Druckknöpfen an der Kleidung befestigt. Passend zu verschiedenen Trägern und ihrer Stimmung. Damit wurde man der kindlichen Kreativität und gleichzeitig dem Nachhaltigkeitsgedanken gerecht. Ein Shirt für alle Lebenslagen. Vererben an die jüngeren Geschwister ausdrücklich erwünscht.

Die Rückenschmerzen von der gebückten Haltung über dem Küchentisch erinnerten mich nach einer Weile daran, dass es Zeit für eine Pause war. Ich stand auf, lockerte meine Arme und betrachtete die unterschiedlichen Elemente, die vor mir ausgebreitet lagen. Ich befestigte sie nacheinander an dem weißen Shirt und hielt es in die Höhe.

In Gedanken sah ich einen kleinen Jungen mit dem grünen Bagger auf der Brust, der in einem Sandkasten ein großes Loch buddelte. Ein Mädchen lief durch den Zoo. Das Shirt verziert mit dem Seehund, ihrem Lieblingstier. Selten hatte ein Projekt mein Herz mit solcher Wärme geflutet.

Ich lief hinüber ins Wohnzimmer und schnappte mir den Laptop. Nachdem ich alles fotografiert und die Bilder dem Konzept hinzugefügt hatte, verpackte ich die Teile sorgfältig in meinem Rucksack. Zusätzlich erstellte ich einen Plan für eine Reihe von Events, in denen der Hersteller zum gemeinsamen Gestalten einlud. Ich klappte den Laptop mit einem leisen »Plopp« zu und legte zuversichtlich eine Hand darauf. Mit der Unterstützung des Universums hatte ich die perfekten Voraussetzungen, um Daniel am Montag zu überzeugen.

Mein Enthusiasmus hatte einen positiven Nebeneffekt – abgesehen von der Tatsache, dass ich anders als sonst den ganzen Tag über keine Schokolade gegessen hatte: Ich hatte nicht einen Gedanken an Sebastian verschwendet. Das bedeutete leider gleichzeitig, dass mich kein Nachrichtenton aus meinem Arbeitseifer gerissen hatte.

Sicherheitshalber wischte ich noch mal über den Bildschirm, aber das änderte nichts an seinem Schweigen. Wie die dunklen Wolken einer aufziehenden Gewitterfront näherte sich die Ungewissheit wieder und drohte, mir den morgigen Sonntag zu verhageln.

Ich wog die Erste-Hilfe-Maßnahmen ab: Schokolade oder ein Treffen mit meinen beiden Schwestern? Ich entschied, dass es sich um eine existenzielle Krise handelte, die das ganze Paket erforderte, und schrieb in unsere WhatsApp-Gruppe:

Lust auf Schokokuchen für drei?

Die Antwort von Anna ließ nicht lange auf sich warten. Meine jüngere Schwester hatte ihr Telefon in jeder Lebenslage in Reichweite.

Klingt nach einem Notfall, Schwesterherz. Krisensitzung morgen 14 Uhr im Café Himmel? Ich packe Svenja ein. Schokokuchen für dreieinhalb

Ihr seid die Besten. XOXO

Unser Drei-Mädel-Haus war wie eine Sammlung an verschiedenen Farben, die gemeinsam ein Kunstwerk mit dem Titel Familie bildeten. Mein Fels in der Brandung. Erst recht, seit es Katharina in die Ferne gezogen hatte. Ich zückte den Bleistift, zog das Tagebuch auf dem Tisch näher zu mir und fügte das Wort »Familie«, umrandet von einem Herzchen, in die Dankbarkeitsspalte des heutigen Tages ein.

5

Meine Schwestern winkten mir schon von Weitem aus den dunkelgrauen Stühlen aus Korbgeflecht im Außenbereich des Cafés zu. Ein weißer Ampelschirm schaukelte sacht über ihren Köpfen und schützte sie vor der Sonne, die von einem wolkenlosen Himmel strahlte. Auf dem runden Holztisch vor ihnen standen eine Flasche in einem Kühlgefäß und zwei halb gefüllte Gläser.

Fröhlich plappernde und lachende Menschen schoben sich an diesem Sonntagnachmittag zu Fuß und auf Fahrrädern gemeinsam mit mir über das Kopfsteinpflaster. Sie hielten Ausschau nach einem Eis oder einem kühlen Getränk und verwandelten die Straße vor dem Café mit ihrer Sommerkleidung in einen bunt gesprenkelten Laufsteg.

»Hey, Jule«, rief Anna mir zu, sobald sie mich in Hörweite wähnte. Sie sprang auf und schob die Sonnenbrille auf ihre makellos glatten Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Das eng anliegende weiße Shirt betonte ihre schlanke Figur und bildete einen perfekten Kontrast zu ihrer sonnengebräunten Haut. Wie immer lenkten einige männliche Interessenten ihre Blicke verstohlen in ihre Richtung. Die anderen drehten gleich den ganzen Kopf zu Anna.

Meine ältere Schwester Svenja lief derzeit außer Konkurrenz. Ihre Aufmerksamkeit gehörte rundum einem einzigen männlichen Wesen. Wobei »rund« die perfekte Beschreibung war. Sie strich sich gedankenversunken über den Bauch, den sie in ein geblümtes Kleid gezwängt hatte.

»Hey, Anni, schön, dich zu sehen«, begrüßte ich meine Schwester und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Dann beugte ich mich runter. »Hey, Svenja, wie geht es dem Neuzugang in unserer verrückten Familie? Irgendwelche Updates zum Ankunftstermin?« Ich strich über ihre Babykugel.

Svenja verzog die Mundwinkel und schnaubte. »Interessiert sich neuerdings jeder Mensch nur noch für diesen Bauch? Reicht es nicht, dass Mama mich fast stündlich anruft, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen, und Papa schon dabei ist, den Garten in einen Spielplatz zu verwandeln?« Sie fuhr sich durch den neuen Kurzhaarschnitt, ihr erstes Zugeständnis an das Mama-Leben. »Von meinem eigenen Mann mal ganz zu schweigen.« Svenja deutete auf die größere der beiden Taschen, die den letzten freien Platz für mich reservierten. »Der nötigt mich neuerdings, jeden Ausflug wie einen Survival-Trip vorzubereiten.«

Anna grinste. »Daran wirst du dich wohl gewöhnen müssen. Ob du willst oder nicht. Warte erst mal ab, wenn der kleine Mann auf der Welt ist und das Kommando in deinem Leben übernimmt.« Sie wandte das Gesicht in meine Richtung und wackelte mit den Augenbrauen.

»Ach was«, widersprach ich. »Wozu hat er denn zwei Tanten? Gemeinsam werden wir das kleine Bündel schon schaukeln. Was kann es denn Schöneres geben, als ein neues Menschenkind auf der Welt?« Annas Stirn legte sich in Falten, während ich in Gedanken das Baby bereits in meinen Armen hielt.

Svenja hob abwehrend die Hände. »Okay, okay. Ihr habt gewonnen. Dann lasst mich jetzt aber wenigstens noch die Zeit genießen, in der ich ohne schlechtes Gewissen schlemmen kann. Wo bleibt der versprochene Schokoladenkuchen, Jule?«

Schmunzelnd verfrachtete ich die Taschen auf den Boden und setzte mich zwischen meine Schwestern. Wenig später war ein Großteil der Enttäuschung über Sebastians Schweigen mit der Schokolade auf der Zunge geschmolzen.

Dieser Zustand hielt genau so lange an, bis Anna zielsicher Salz in die Wunde streute. »Also, Schwesterherz, dann mal raus mit der Sprache. Welcher Schandtat von Sebastian haben wir dieses Mal die Schokoladenorgie zu verdanken?« Sie fixierte mich mit ihrem Blick.

»Na ja, ganz so schlimm ist es nun auch wieder nicht«, wiegelte ich ab. »Ich bin bloß enttäuscht. Vorgestern habe ich Kathis Hochzeitseinladung im Briefkasten gehabt.«

»Echt jetzt? Sie macht wirklich ernst mit ihrem Krabbenfischer?«, unterbrach mich Svenja. Bei Hochzeiten war sie in ihrem Element. »Wann ist es denn so weit? Hast du die Einladung dabei? Lass doch mal sehen.«

»In vier Wochen«, antwortete ich und kramte den Umschlag aus der Häkeltasche zu meinen Füßen. Ich schob ihn Svenja über den Tisch zu.

Sie zog die Karte heraus und betrachtete den Text mit glänzenden Augen. Dann sanken ihre Mundwinkel nach unten. »Wie schade. Genau um den Geburtstermin. Ich wäre so gerne dabei gewesen.«

»Du weißt doch gar nicht, ob du überhaupt eingeladen bist«, stoppte Anna ihren Enthusiasmus. »Macht ja nicht jeder so ein Brimborium wie du und Tobias.«

Svenja legte die Karte ab und blitzte Anna an.

»Und überhaupt, jetzt lass Jule doch erst mal ausreden«, rügte Anna sie weiter.

Ich versuchte, die Wogen zu glätten. »Ich habe mit Kathi telefoniert und sie hat mich gebeten, ihre Trauzeugin zu werden. Über die Details der Feier haben wir noch gar nicht gesprochen.«

Svenja seufzte und schob sich eine weitere Gabel voll Kuchen in den Mund.

An Anna gewandt fügte ich hinzu: »Allerdings hat Kathi mich gebeten, dich zu fragen, ob du die Hochzeitsfotos für die beiden schießen könntest?«

»Augen auf bei der Berufswahl, sage ich da nur.« Mit einem triumphierenden Lächeln in Svenjas Richtung verschränkte Anna die Arme vor der Brust und stieß dabei versehentlich den Ampelschirm an, der bedenklich über unseren Köpfen wackelte.

Svenja streckte ihr die Zunge heraus.

Ich bemühte mich, gleichzeitig den Sonnenschirm und das Gespräch wieder in ruhigere Bahnen zu lenken. »Natürlich bin ich gleich am Freitagabend noch mit der Einladung zu Sebastian gefahren, um ihn zu überraschen.«

»Dann ist doch alles perfekt«, sagte Anna, die inzwischen ebenfalls die Karte überflogen hatte. Dabei sah sie mich jedoch an, als handelte es sich nicht um eine Feststellung, sondern eher um eine Frage.

»Er hat abgesagt. Wichtige Termine in der Bank«, sagte ich.

Svenja verschluckte sich derart an ihrem Kuchen, dass ich ein wenig Sorge hatte, das Baby würde hier und jetzt die Flucht aus dem mütterlichen Kugelbauch antreten. »Ernsthaft?«, brachte sie zwischen zwei Hustenanfällen hervor. »Wie kann man denn an einer so bedeutenden Angelegenheit wie einer Hochzeit nicht teilnehmen wollen? Und erst recht, wenn die eigene Freundin die Trauzeugin ist?«

Ich klopfte ihr behutsam auf den Rücken, bis sie wieder gleichmäßig atmete. Vorsichtshalber füllte ich ihr Glas mit Wasser auf und nötigte sie, etwas davon zu trinken. Darauf hatte früher schon unsere Oma Wiedemann bei allen erdenklichen Notfällen vertraut.

»Das mit der Trauzeugin weiß er ja noch nicht, weil er das ganze Wochenende wegen eines Meetings unterwegs ist«, erwiderte ich. »Und ein bisschen kann ich ihn schon verstehen. Er will eben immer hundert Prozent geben.«

»Immer, außer bei dir!«, echauffierte sich jetzt meine jüngere Schwester. Einige Köpfe drehten sich zu uns herum. Das hinderte Anna keineswegs daran, lautstark weiterzuschimpfen. »Es ist ja okay, seine Arbeit wichtig zu nehmen. Aber es gibt doch auch noch ein Privatleben!«

Svenja pflichtete ihr auf ihre Art bei. »Wenn man jemanden wirklich liebt, Jule, dann ist man bedingungslos für ihn da, wenn es drauf ankommt.«

»Sag ich doch«, bekräftigte Anna. »Wie soll das denn erst mal bei eurer eigenen Hochzeit werden? Zum Schluss musst du da auch alleine hingehen?«

Ich blinzelte eine Träne weg. »Er meint, ich soll eine von euch mitnehmen«, flüsterte ich.

»Zu deiner eigenen Hochzeit?«, entrüstete sich Anna.

»Zu Kathis Hochzeit«, fügte ich leise hinzu.

Svenja legte mir eine Hand auf den Arm und streichelte darüber. »Hör mal, Jule. Eine Partnerschaft sollte auf gegenseitiger Unterstützung und Kompromissen beruhen. So wie bei Tobias und mir.«

Anna verdrehte die Augen.

Svenja ließ sich davon nicht beirren. »Du steckst so oft für ihn zurück. Wenn Sebastian nicht bereit ist, auch mal nachzugeben, ist das vielleicht ein Zeichen, dass er noch nicht der Richtige ist«, sagte sie zaghaft. »Der Richtige ist irgendwann einfach da. Und plötzlich weiß man, das ist genau der Partner, nach dem man sein Leben lang gesucht hat. Katharina und Jasper sind das beste Beispiel.«

Ich zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht war ihm auch einfach gar nicht bewusst, wie sehr er dich enttäuscht. Ihr solltet noch mal darüber reden«, lenkte Svenja ein.

Sie würde ohne Zweifel eine wunderbare Mutter werden. Bei Anna war ich mir da nicht so sicher.

»Ach was, der Typ ist einfach ein Lackaffe!«, sagte sie.

Meine große Schwester sandte ihr einen strafenden Blick über den Tisch zu.

»Was denn? Stimmt doch. Dem geht es ja gar nicht um die Arbeit, dem geht es einfach nur um sich, um sonst gar nichts. Und für sein Liebesleben hält er sich unsere Schwester warm.«

»Also wirklich, Anni, jetzt mach aber mal einen Punkt!«, rügte Svenja sie mit einem besorgten Seitenblick auf mich.

»Jule, hör mal«, Anna rückte mit ihrem Stuhl ein Stück zu mir herum, »ich will doch bloß nicht, dass du dich ausnutzen lässt.«

»Ich weiß«, antwortete ich, »und ihr habt ja auch irgendwie recht. Aber es gibt auch schöne Momente mit Sebastian.« Nach einer kurzen Pause fügte ich trotzig hinzu: »Und außerdem hat er mir versprochen, sich eine Lösung zu überlegen.«

Für eine Weile schwiegen wir, und jede von uns hing ihren eigenen Gedanken nach. Ich beobachtete die Menschen um mich herum. Es schien, als gäbe es nur Paare auf der Welt. Ich zog mein Handy ein Stückchen aus der Tasche und linste verstohlen auf die Mitteilungen.

Annas Argusaugen war das nicht entgangen. »Und, hat er eine Lösung geschickt?«, fragte sie und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

Ich schüttelte den Kopf und ließ das Telefon wieder in dem bunten Wollbeutel verschwinden.

»Weißt du, was wir jetzt machen?« Anna schob ihr Gedeck beiseite. Mit einer Hand bedeutete sie der Bedienung, die sich voll beladen zwischen den Stühlen hindurchschlängelte, eine neue Flasche Wasser zu bringen. »Zum Abkühlen«, erklärte sie uns mit verschwörerisch gesenkter Stimme und platzierte ihr Handy mitten auf dem Tisch. »Wir schauen uns mal an, was der Markt sonst noch so Heißes zu bieten hat.« Sie wischte ein paarmal über das Display, bis sich eine Dating-App öffnete.

Svenja sog hörbar die Luft ein. »Du hast dich nicht wirklich da registriert, oder?«

»Na klar. Soll ich leben wie eine Nonne, oder was? Erspart einem außerdem einen Haufen Probleme, wie man bei euch beiden sieht.« Sie nahm die Sonnenbrille vom Kopf, legte sie beiseite und senkte das Gesicht über das Telefon.

»Gucken kann man ja mal«, sagte Svenja zögerlich, nur um dann erstaunlich behände ihren Bauch näher an die Tischplatte zu schieben. »Solange du mir kein Bild von Tobias zeigst.«

Anna lachte.

»Ich weiß nicht«, wehrte ich ab und rückte ein Stück nach hinten.

Aber Anna erklärte unserer großen Schwester schon, wie man die »Angebote«, wie sie sich ausdrückte, in die engere Wahl wischte oder eben nicht. Sie unterbrach ihre Ausführungen kurz, um das bestellte Wasser von dem Tablett zu nehmen, das die junge Kellnerin ihr hinhielt.

»Findet ihr das hier nicht ein bisschen seltsam?«, fragte ich im Flüsterton, um erneut meine Bedenken anzumelden, und schielte zu den anderen Gästen.

»Mensch, Jule«, ermunterte mich Anna, »du musst ja nicht gleich heiraten. Bloß mal die Alternativen abchecken, bevor du dich von dem Schnösel weiter bevormunden lässt.«

Beide schauten mich jetzt erwartungsvoll an. Dabei kicherten sie wie Schulmädchen, die sich heimlich in der Jugendherberge auf den Jungen-Flur geschlichen hatten.

Zögerlich ließ ich mich von ihrer Stimmung anstecken. Gemeinsam musterten wir ein paar verlockende Exemplare und sonderten die weniger ansprechenden aus.

Genau wie damals auf der Klassenfahrt nahm der Spaß ein jähes Ende. Nur war es heute nicht die strenge Frau Müller, die ihn beendete, sondern das Bild eines blonden Mannes, der mir verdächtig bekannt vorkam. Im weißen Hemd mit lässig hochgekrempelten Ärmeln strahlte er mir von Annas Handy-Bildschirm entgegen.

Für ein paar Atemzüge verschwand die Welt um mich herum. Ich war allein mit Sebastians Foto und dem alles übertönenden Geräusch meines eigenen Herzschlags in den Ohren. Wie ferngesteuert zog ich das Handy näher zu mir heran und las den Text unter dem Foto.

Charmante Begleitung für eine Geschäftsreise gesucht. Gute Gesellschaft, interessante Gespräche und jede Menge Spaß inklusive. Wenn du gerne neue Menschen kennenlernst und die Business-Welt kein Fremdwort für dich ist, dann sollten wir uns kennenlernen und sehen, ob die Chemie zwischen uns stimmt.

Mein Kopf glich einem vakuumierten Gefrierbeutel, aus dem man mit der Luft zugleich alle Gedanken herausgezogen hatte.

Anna nahm mir das Telefon behutsam aus der Hand.

Es änderte nichts. Das Bild hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt wie auf eine Festplatte.

Svenjas Stimme durchbrach das Schweigen zwischen uns. »Ich habe es ja kommen sehen. So was geht doch nie gut. Das passiert, wenn man das Glück herausfordert.«

»Denkst du vielleicht, ich habe das so geplant?«, verteidigte sich Anna, die sich als Erste wieder gefangen hatte. »Außerdem hast du auch mitgemacht, oder etwa nicht?« Herausfordernd musterte sie Svenja.

Die schüttelte den Kopf. »Wenn das nicht der Plan war, hast du dann wenigstens einen Plan dafür, was wir nun machen?«

»Ich habe immer schon gesagt, dass Sebastian ein egoistischer Lackaffe ist. Und jetzt haben wir auch endlich den Beweis.« Anna tippte auf den Bildschirm ihres Handys. »Was gibt es da noch zu überlegen. Du musst ihn abschießen, Jule, und zwar sofort.«

Inzwischen hatte mein Gehirn seine Tätigkeit wieder aufgenommen. Unentschlossen wog ich ab, in welchen Ordner das Bild von der Festplatte gehörte. Ordner Wut oder Ordner Enttäuschung? Ich entschied mich vorerst für eine Zwischenablage.

»Bitte, streitet doch nicht. Vielleicht ist das alles nur eine Verwechslung? Jemand hat Sebastians Bild geklaut und es als seines ausgegeben?«, warf ich hoffnungsvoll in die Runde, überzeugte damit aber nicht mal mich selbst.