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Eine authentische Hospital Romance aus der Feder einer Ärztin Sie wünscht sich eine Familie. Mit dem Mann, der an ihre Seite gehört. Genau der falsche Zeitpunkt, um sich in einen anderen zu verlieben ... Ein Baby ist alles, was Mila zu ihrem perfekten Glück noch fehlt, seitdem sie ihr Medizinstudium abgeschlossen hat und ihrem Traummann nach Hannover gefolgt ist. Doch innerhalb weniger Tage zerbricht ihre heile Welt. David zieht sich immer mehr zurück, und der neue Job als Assistenzärztin in der Anästhesie entwickelt sich zum Desaster. Als Mila ihren Freund am meisten braucht, lässt er sie im Stich. Dafür drängt sich der unnahbare, aber attraktive Oberarzt Sayan in ihr Leben. Plötzlich ist sie auf seine Hilfe angewiesen und muss alles infrage stellen, wovon sie zuvor geträumt hat ...
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Der Roman spielt hauptsächlich in allseits bekannten Stätten, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von Adobe-StockEPub-Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9764-1
Anna HenselHerzkrank
Kapitel 1
„Verdammt, du fühlst dich so gut an“, raunt David und drückt meine Handgelenke fester ins Kissen.
Die halbdunklen Umrisse unseres Schlafzimmers verschwimmen vor meinen Augen. Mit einem Seufzen schließe ich meine Lider, erwidere blind seinen Kuss und spüre mit jeder Faser meines Körpers das Vertrauen, das ich diesem Mann schenke. Er bewegt sich schneller, und mit jedem Stoß treibt er mich näher zum Abgrund – bis ich schließlich falle.
Ich unterdrücke einen Schrei, so heftig überrollt mich die Welle. David hält nicht inne, während ich durch die reißenden Fluten treibe, bis er sich selbst über mir verkrampft. Nur ein kehliger Laut kommt über seine Lippen. Als er meine Arme loslässt, umschlinge ich seine Schultern, so fest ich kann, und drücke meine Nase gegen seinen Hals. Der Verkehrslärm der Großstadt hallt durch das gekippte Fenster. Das Boxspringbett knarzt leise und David rollt sich neben mich. Ich muss grinsen und ziehe die Decke bis zu meinem Kinn. Als ich an die zwei Striche auf meinem Ovulationstest denke, durchströmt mich ein Glücksgefühl, wie es mir selbst der schönste Orgasmus nicht verschaffen könnte. Wir haben eine neue Chance. Diesmal muss es klappen.
„Was ist los?“ Er streichelt meine Wange. „Du warst am Anfang so abgelenkt.“
„Vielleicht ein bisschen.“ Ich stütze mich auf den Unterarm, um in seine braunen Augen sehen zu können. „Heute ist mein Eisprung. Ich wollte dir keinen Druck machen, deswegen hab ich nichts gesagt.“
Er sieht mich eine Weile an, dann zuckt sein Mundwinkel. „Eigentlich hast du recht. Ohne Zwang macht’s mehr Spaß.“
Die vertrauten Lachfältchen in seinem Gesicht wecken ein warmes Gefühl in meiner Brust. Ich kuschle mich eng an seine Seite. „Ob das Baby wohl deine Haarfarbe haben wird?“
„Hoffentlich deine.“ Er fährt über meine leicht zerzauste, rote Mähne.
„Ich wünsche mir ein Mädchen, das wie du aussieht. Ein süßes Kleinkind mit deiner Nase, das in deine Arme springt und ‚Papa‘ sagt …“
David seufzt und schweigt für einen Moment. „Freust du dich auf morgen?“
„Klar. Die zwei Monate nach der Prüfung waren viel zu lang. Aber Sorgen mache ich mir trotzdem. Als Ärztin trage ich die volle Verantwortung für alles, was ich tue. Vielleicht bringe ich noch am ersten Tag jemanden um.“
„Unsinn. Du warst die fleißigste Studentin, die diese Klinik je betreten hat. Erinnerst du dich, wie Dr. Yousef dich bekniet hat, die Stelle anzunehmen?“
„Das ist Monate her. Ahmet hat seinen Oberarztposten gekündigt.“ Wehmütig denke ich an meinen Lieblingsoberarzt zurück, der jetzt mit seiner Frau die Welt umsegelt. „Ob sie wohl sauer sind, wenn ich meine Schwangerschaft verkünde? Gleich zu Beginn meiner Facharztweiterbildung?“
Als er nicht sofort antwortet, plappere ich weiter. „Ich arbeite definitiv bis zum Mutterschutz, egal wie dick der Bauch ist. Und nach ein oder zwei Jahren steige ich in Teilzeit wieder ein. Der Kindergarten der Klinik soll super sein.“
„Ja, bestimmt.“ David sieht mir nicht mehr in die Augen. Er beginnt zwischen den Laken nach seinen Boxershorts zu kramen.
„Hast du’s so eilig?“ Ich richte mich auf und schlinge die Decke um meine Brust.
Noch während er die Unterhose hochzieht, schnappt er sein Handy. „Ein Mandant, da muss ich zurückrufen. Tut mir leid, Maus.“
Er steht auf und öffnet den Vorhang. Das Licht des warmen Augustnachmittags strömt in den Raum. David ist verdammt sexy – groß, dunkelhaarig, breit gebaut. Als Strafverteidiger kämpft er mit unfassbarer Leidenschaft für seine inhaftierten Mandanten und studiert bergeweise Verfahrensakten, um deren Familien Hoffnung zu geben. Nach fast fünf Jahren kann ich immer noch nicht ganz begreifen, dass das mein Freund ist, der sich jetzt Hemd und Jeans überzieht und das Handy ans Ohr klemmt.
„Eine Hausdurchsuchung?“, fragt er in die Leitung und zwinkert mir ein letztes Mal zu, bevor er das Zimmer verlässt. Ich seufze. Zugegeben, seine Arbeit fordert auch ihren Tribut.
Ich lasse mich zurück in die Kissen fallen und stemme mein Becken in die Luft, damit Davids Soldaten auf jeden Fall ihr Ziel erreichen. Danach lümmle ich noch eine Weile im Bett, bis ich es nicht mehr aushalte. Ich ziehe mir Top und kurze Hosen über, setze mich an meinen Schreibtisch am Fenster und krame den Notizblock aus der Schublade.
Als Erstes setze ich das blaue Kreuz bei ‚GV‘, dann das grüne Plus in der Spalte für den Ovulationstest. Basaltemperatur, Muttermund und Schleim habe ich heute früh schon eingetragen. Zufrieden betrachte ich die selbst gezeichnete Tabelle. Mittlerweile kenne ich meinen Zyklus besser als ein Börsenmakler seine Bilanzen. David findet, ich übertreibe es damit, aber bei dieser Angelegenheit will ich nichts dem Zufall überlassen.
Auf nackten Füßen tapse ich über die Dielen unserer geräumigen Dachgeschosswohnung. Die Keramikoberflächen der Küche glänzen ohne einen einzigen Krümel. David sitzt an seinem Glasschreibtisch im offenen Wohnbereich und tippt etwas in den Computer. Durch die bodentiefen Fenster weitet sich der Blick auf die Terrasse und eine atemberaubende Sicht über die Dächer von Hannover-Mitte.
An diesen Luxus konnte ich mich noch nie richtig gewöhnen, obwohl ich seit einem Jahr hier wohne. Mein WG-Zimmer in Berlin war kaum mehr als eine Besenkammer, aber trotzdem total gemütlich. Wenn ich daran denke, dass allein der Preis von Davids Tiefgaragenplatz das Jahreseinkommen vieler Familien übersteigt, wird mir etwas mulmig. Trotzdem habe ich darauf bestanden, ihm Miete zu zahlen, wenn ich endlich mein eigenes Geld verdiene.
Ich lege die Arme von hinten um seine Schultern.
„Haftbeschwerde“, murmelt er und gibt mir einen Kuss auf den Hals. Dann hackt er weiter in die Tasten.
Ich lasse mich auf die Ledercouch fallen und schnappe mir den Striebel aus dem Regal, das Standardwerk für Anästhesisten, das in Form und Gewicht einem großen Pflasterstein ähnelt. Ziellos blättere ich durch die Seiten, kann mich aber nicht konzentrieren.
Ich schalte den Fernseher ein.
„… vom ersten Tag an. Schon im Mutterleib habe ich meine Hand über dich gelegt, und ich werde dich immer schützen. Nach der Stillzeit vertraue ich auf die Folgemilch von …“
Die Modelmutter drückt ihr Baby an ihr Herz und lächelt in die Linse. Die gefühlvolle Hintergrundmusik gibt mir den Rest. Ich hämmere auf den roten Knopf der Fernbedienung und das Bild wird schwarz.
David wirft mir einen verwunderten Blick zu. Hastig wende ich mich ab und wische meine Augen. Scheiße, heule ich etwa wegen einer Fernsehwerbung?
Es dauert nur fünf Sekunden, bis er bei mir ist und den Arm um meine Schultern legt. Am liebsten würde ich mich zwischen den Kissen verkriechen. Jetzt wird er mich für vollkommen hysterisch halten. Ich schniefe.
„So schlimm?“, fragt er schließlich.
Ich will ihn nicht mit meinen albernen Sorgen quälen, schließlich hatten wir erst letzte Woche einen Streit darüber. Wir drehen uns jedes Mal im Kreis, ohne eine Lösung zu finden. Langsam befürchte ich, dass unsere Familienplanung für David nur noch mit Schmerz und Stress verbunden ist.
„Er wird wieder negativ sein“, platze ich schließlich doch heraus. „Genau wie die letzten elfmal. Wir versuchen es jetzt fast ein Jahr. Wann hört das endlich auf?“
Er streicht beruhigend über meinen Rücken. „Natürlich werden wir irgendwann Kinder haben, aber manchmal dauert das eben. Haben wir es wirklich so eilig?“
„Mich zermürbt einfach dieses Warten, jeden Monat aufs Neue.“ Ich starre auf die Glasvitrine gegenüber des Sofas. „Wir haben alles, um dem Baby ein gutes Zuhause zu bieten. Jetzt habe ich sogar mein Studium abgeschlossen. Unser Leben ist perfekt, aber irgendwie fehlt das Wichtigste.“
„Unsinn“, flüstert er. „Warum genießen wir nicht einfach die Zeit, in der wir noch keine Verpflichtungen haben? Maik reist nächsten Februar drei Monate quer durch Asien. So was würde ich mit dir auch gern mal machen.“
„Mit Kindern kann man genauso gut verreisen. Meine Schwester war letztes Jahr sogar in Schweden zelten, als die Kleine noch ein Baby war.“
„Ja, stimmt.“ David späht unsicher in meine Augen. „Versteh mich nicht falsch, ich will eine Familie mit dir. Aber ich hab mir das alles einfacher vorgestellt. Du scheinst kaum noch etwas anderes als deinen Zyklus im Kopf zu haben, und du leidest darunter. Mich setzt es auch unter Druck.“ Er zögert. „Vielleicht ist es ein Zeichen, dass es nicht klappen will. Weil wir noch nicht bereit für ein Baby sind.“
Meine Eingeweide ziehen sich schmerzhaft zusammen.
„Ein Zeichen? Seit wann bist du abergläubisch? Es hat biologische Ursachen, wenn wir unfruchtbar sind. Wir könnten eine Kinderwunschklinik aufsuchen.“
„Spermaproben abgeben? Künstliche Befruchtung?“ Er sieht mich an, als spräche ich chinesisch. „Meinst du das ernst? Wir sind gerade mal 26.“
„Ja, das klingt jung. Aber glaubst du, meine Mutter hätte damals geahnt, dass sie mit Anfang dreißig in die verfrühte Menopause kommt? Wenn es mir wie ihr geht, bleiben mir nur noch ein paar Jahre für eigene Kinder.“
„Bisher gibt es keine Hinweise, dass du ihre Diagnose geerbt hast. Findest du nicht, dass du dich da in etwas verrennst?“
Meine Frauenärztin hat nur gesagt, dass man es im Voraus nicht nachweisen kann. Aber ich presse die Lippen zusammen und spreche den Einwand nicht laut aus. Wir haben diese Diskussion oft genug geführt und ich kenne seine Meinung dazu. Ein unangenehmes Schweigen erfüllt den Raum, bis David zögerlich weiterspricht.
„Vielleicht ist es besser, wenn wir eine Pause einlegen.“
Ich höre die Worte, aber sie dringen nicht ganz zu meinem Verstand durch.
„Was soll das bedeuten? Willst du wieder anfangen zu … zu verhüten?“
„Nur für eine Weile. Merkst du denn nicht, wie verrückt dich diese Babysache macht? Ich möchte einfach wieder Zeit zu zweit genießen. Ohne dass dieses Gespenst ständig zwischen uns schwebt.“
Ich löse mich aus seiner Umarmung. Seine bedauernde Miene sagt mir, dass er es ernst meint. Ich atme tief durch. Mein Blick verliert sich hinter der Fensterscheibe, in den blassroten Silhouetten der Hausdächer. David hat jedes Recht der Welt, morgen in die Drogerie zu gehen und Kondome zu kaufen. Das hier ist auch sein Leben, und ich kann das Baby schließlich nicht mit mir selbst zeugen.
„Vielleicht habe ich dich wirklich zu sehr eingeengt. Tut mir leid.“ Mechanisch stehe ich auf. David sieht mir schweigend nach.
Eigentlich wollte ich heute noch joggen gehen. Aber als ich meine Laufschuhe zugeschnürt habe, bleibe ich einfach auf dem Boden im Flur sitzen.
Seine Worte hallen in mir nach. Hat David recht? Verliere ich mich in irrationalen Befürchtungen? Ja, ich sorge mich, dass ich die Ovarialinsuffizienz meiner Mutter geerbt haben könnte und meine fruchtbare Zeit zu früh abläuft. Aber eigentlich steht hinter meinem Wunsch ein viel tieferes Bedürfnis, das in den letzten Jahren immer stärker wurde. Ich möchte ein kleines Wesen im Arm halten, seine weiche Babywange an meine drücken. Mein Kind, das zu mir gehört, das mich braucht. Eigentlich ist das das Natürlichste auf der Welt. Für diesen Wunsch sollte sich keine Frau rechtfertigen müssen, egal ob mit achtzehn oder fünfundvierzig.
Mit dem Verstand weiß ich, dass mein Leben voller anderer schöner und erfüllender Dinge ist – zum Beispiel meiner Arbeit in der Klinik, die ich liebe und bei der ich auch für andere Menschen da sein kann. Oder meine Familie in Thüringen, die ich jedes dritte Wochenende besuche, und meine beste Freundin Helen, die vor ein paar Wochen ihre Sachen gepackt hat, um mir nach Hannover zu folgen. Bis eben dachte ich, dass David und ich uns einig wären, dass ein Kind unsere Beziehung vollkommen machen würde. Mit ihm gemeinsam darauf hinzufiebern war für mich ein wichtiger Teil unserer Liebe. Vielleicht hat mein Wunsch mich blind gemacht, und ich habe darüber vergessen, was uns als Paar noch ausmacht – und was David braucht.
„Mir tut es leid. Vergiss, was ich gesagt habe.“
Erstaunt hebe ich den Kopf. David kniet sich neben mich.
„Wir schaffen das“, flüstert er. „Lass es uns weiter versuchen.“
Ich greife nach seiner Hand. „Ich verstehe dich. In letzter Zeit bin ich nicht mehr ich selbst. Keine Ahnung, warum ich mich so reinsteigere. Natürlich belastet dich das.“
Sein Daumen streicht über meinen Handrücken. „Wir gehen die Sache lockerer an, okay?“
„Ich höre auf mit den Urintests“, verspreche ich. „Die machen mich ohnehin verrückt. Vom Buchführen werde ich nicht schneller schwanger. Und falls es geklappt hat, werde ich das früh genug merken.“
„Das klingt gut.“ Er zieht mich in seine Arme. „Danke, Maus. Ich hätte nicht zweifeln sollen. Ich will doch auch, dass wir bald zu dritt sind.“
Erleichtert sinke ich an seine Brust. „Ich liebe dich.“
Kapitel 2
Der Handywecker reißt mich um 6:15 aus dem Schlaf. Benommen tippe ich auf das Display, damit David nicht wach wird. Ich blinzle in die Morgendämmerung. Beim Anblick der schlafenden Gestalt kommt die Erinnerung an gestern wieder hoch. Ich habe ihm versprochen, das Thema Schwangerschaft ab sofort ruhen zu lassen und keine Teststreifen mehr zu benutzen. Wie soll ich das durchhalten?
Vor Müdigkeit halb gelähmt krame ich im Schrank nach Jeans und T-Shirt, da vibriert mein Handy noch mal. Frauenarzt, heute 17:20.
Ob David sich wünscht, dass ich den Termin absage? Die Blutuntersuchung habe ich vor Wochen vereinbart und heute bekomme ich nur die Ergebnisse – und damit einen ersten Hinweis, ob bei mir körperliche Ursachen für eine Unfruchtbarkeit vorliegen.
Versunken in Grübeleien binde ich meine Haare zum Zopf. Wie die meisten Rothaarigen bin ich nicht nur leichenblass, sondern besitze auch keine Wimpern und Augenbrauen – zumindest keine sichtbaren. Ich kaschiere diesen Mangel wie jeden Tag mit Augenbrauenstift und Lidstrich. Das muss reichen, eine Klinik ist schließlich kein Catwalk.
Die Morgensonne strahlt quer durch die Glasfront unserer Terrasse, als ich mir in der Küche mein Pausenbrot schmiere. Ein müder David taucht auf und lässt die Espressomaschine gurgeln. Nachdem ich meine Tasche fertig gepackt habe, schließt er mich fest in seine Arme.
„Mach dir keine Sorgen. Deine Kollegen haben dich sicher vermisst.“
„Hm.“ Meine Stirn sinkt gegen seine Schläfe. „Und Helen hat mir eben geschrieben, wo sie auf mich wartet.“
„Na siehst du. Heute Abend erzählst du mir alles.“
Sein Abschiedskuss fällt inniger als sonst aus. Lächelnd steige ich die Treppe hinunter zu meinem Fahrrad. Der angenehm frische Fahrtwind bläst mir die Haarsträhnen aus dem Gesicht. Ich radle an den morgendlichen Blechlawinen und den vielen gestressten Berufspendlern vorbei. Wegen der Nähe zu Davids Wohnung habe ich mir das Oststadt-Klinikum letztes Jahr für mein praktisches Jahr ausgesucht. Und nachdem ich im PJ das Haus kennenlernen durfte, war für mich klar, dass ich hier weiterarbeiten will.
Der weiße Gebäudekomplex ragt vor mir auf, als ich in der Straßeneinfahrt von meinem Rad absteige. Hinter den raumhohen Fenstern liegen Patientinnen und Patienten, jeder mit seinem eigenen Paket an Sorgen oder Schmerz beladen. Ab heute gehöre ich zu den Ärzten, in die diese Menschen ihr Vertrauen setzen. Ich erinnere mich an die Zeit kurz nach dem Abi und mein FSJ im OP-Bereich, in dem ich mich entschieden habe, mich für einen Medizinstudienplatz zu bewerben. Damals hätte ich nie gedacht, dass es sogar an der Berliner Charité klappen würde. Und jetzt stehe ich hier und werde mein Wissen nutzen, um Entscheidungen zu treffen, die im besten Fall Leben retten können. Dieser Gedanke beflügelt mich, auch wenn ich nur zu deutlich meine Nervosität spüre.
Die Kronen der Zierbäume wiegen sich im Wind und weisen in einer langen Reihe den Weg zum Haupteingang. Ich blicke suchend über die Sitzbänke am Rand des Parks, bis ich auf der letzten Davids Schwester Helen entdecke.
„Du Streberin.“ Grinsend stoppe ich neben meiner Freundin. Im Buch auf ihrem Schoß glänzen ihre bunten Textmarkierungen neben Fotos halb präparierter Gedärme. „Um diese Uhrzeit zu lernen ist ungesund.“
Sie streicht ihr perfektes, kastanienbraunes Haar zurück und erwidert mein Grinsen mit einem Augenrollen. „Im Gegensatz zu dir hab ich mein Examen noch nicht in der Tasche.“ Sie steckt das Chirurgiebuch in ihren Rucksack, wo ich den Rücken eines weiteren Wälzers erkenne. „Wenn ich damals nicht in Biochemie durchgerasselt wäre, hätte ich jetzt auch meine Approbation.“
„Das lag nur an deiner Prüfungsangst.“ Wir nehmen den gepflasterten Weg zum Eingang und ich schiebe mein Rad nebenher. „Bis zur Mündlichen hast du noch ewig Zeit. Mach dir nicht so viel Stress. Du fängst gerade dein PJ an, das ist der beste Teil des Studiums.“
„Nein, ich mache mir noch zu wenig Stress. Dr. Reichart fragt in seinen OPs die unmöglichsten Sachen. Und wenn ich da keine Ahnung habe …“
„Dann geht’s dir wie all seinen Studenten. Was der Reichart fragt, steht wahrscheinlich nicht mal in seinem eigenen Bücherregal.“ Beim Fahrradständer bleibe ich stehen und ziehe das Schloss vom Lenker. „Aber ich hab gehört, ein großer Vorbau soll seine Sympathien erhöhen.“
„Ach ja?“ Sie lehnt sich keck an den Pfosten der Fahrradüberdachung. „Wie hast du es dann geschafft, bei ihm in der Mündlichen zu bestehen?“
Dass Helen bei ihrer schlanken Figur ein absolutes Busenwunder ist, während ich kaum ein A-Körbchen füllen kann, war in unserer WG-Zeit Anlass für diverse Witze und Sticheleien. Und ich liebe meine beste Freundin dafür.
Während wir durch den Hauptflur des Klinikums zum Bekleidungsautomat laufen und uns in die Schlange einreihen, fragt sie mich über die Gewohnheiten und Macken sämtlicher lehrbeauftragter Ärzte aus, insbesondere von denen der Bauchchirurgie, wo sie vor zwei Wochen ihr praktisches Jahr begonnen hat. Ich tapse von einem Fuß auf den anderen, bis wir endlich an der Reihe sind und unsere Sachen aus dem Automaten ziehen. Mit dem Stapel weißer Klamotten über dem Arm bleibt Helen neben der kleinen Menschentraube vor dem Aufzug stehen.
„Komm.“ Ich schiebe sie zum Treppenhaus. „Der Fahrstuhl ist für frisch Operierte und alte Leute.“
Sie öffnet den Mund, aber statt zu antworten starrt sie einem Typen hinterher, der offenbar denselben Gedanken wie ich hatte. Helen stupst mich an und nickt in seine Richtung, als er vor uns die Stufen hochjoggt. Ich kenne ihn nicht, und das Einzige, was mir von hinten an ihm auffällt, ist, dass er bei seiner Körpergröße wahrscheinlich nur knapp durch eine normale Tür passt.
„Er ist der Hammer“, zischt sie, als der Riese im Flur zur Männerumkleide verschwindet.
Ihr verstrahlter Blick irritiert mich. „Was habe ich verpasst?“
Sie grinst. „Er sieht aus wie Jason Momoa.“
„Wie wer?“ Ich halte ihr die Tür zur Frauenumkleide auf.
Helen geht hindurch und wirft ihre Sachen auf eine der Bänke. „Mensch, Aquaman. Der zweite Teil kam doch erst letztes Weihnachten ins Kino.“
Ich ziehe meinen Pulli aus. „War er nicht auch der Pferdetyp, der bei Game of Thrones die Wasserstoffblonde misshandelt hat?“
„Daran erinnerst du dich?“ Sie wirft mir einen verschmitzten Blick zu. „In Aquaman ist er viel cooler, versprochen.“
„Hm, ich stehe nicht so auf Superhelden. Aber wenn dieser Meeresgott im Treppenhaus dir so gefällt, willst du ihn nicht mal auf ’nen Kaffee einladen?“
„Auf keinen Fall.“ Helen reißt die Augen auf, als hätte ich eine Expedition zum Mond vorgeschlagen. „Angeblich ist er erst 33, aber schon Oberarzt. Bei seinem Aussehen vögelt er sich wahrscheinlich durch die ganze Klinik. Nein, durch ganz Hannover.“
Ich schnaube. „Red dich nicht raus. Du solltest langsam anfangen, dein Single-Leben zu genießen. Kann es sein, dass du Jonas immer noch nachtrauerst?“
„Keine einzige Träne“, behauptet sie und klemmt ihr Namensschildchen an das weiße Poloshirt der Klinik. „Hast du die Bilder von ihm und dieser Tussi auf Insta gesehen? Offenbar hat er Carolin schon wieder abserviert.“
Meine und Helens Mädels-WG hat sich nach meinem zehnten Semester aufgelöst, weil ich von Berlin nach Hannover zu David gegangen bin, und Helen bei ihrem Freund Jonas eingezogen ist. Die Beziehung scheiterte allerdings an seinem chronischen Flirtzwang, weswegen sie mir ein Jahr später nach Hannover gefolgt ist, um hier bei ihrem PJ einen Neuanfang zu wagen.
Ich beschwöre Helen, Jonas nicht mehr auf Insta zu stalken, und tröste sie. Ein paar Minuten später habe ich mich von ihr verabschiedet und wische meinen Chip über das Lesegerät an der Glastür zur Intensivstation. Den Zugang habe ich glücklicherweise noch aus meiner Studentenzeit. Als ich die Klinke des Besprechungsraums runterdrücke, zeigt die rote Leuchtanzeige im Flur exakt 7:29.
Mir folgen die Augenpaare von dreißig anwesenden Ärztinnen und Ärzten, die den Raum um den Konferenztisch bevölkern. Ich lasse mich auf den einzigen freien Stuhl an der Wand fallen. Unser kurz vor der Rente stehender Chefarzt beginnt über neue Verfahrensanweisungen zu schwadronieren, während mir reihum ein paar Kollegen zunicken und die Assistentin im zweiten Jahr neben mir ein „Willkommen zurück“ in mein Ohr flüstert. Ich grinse sie an, aber ein fremdes Gesicht lenkt mich ab.
Helens Schwarm aus dem Treppenhaus ist mein neuer Oberarzt.
Sie hat vollkommen übertrieben, was sein Aussehen betrifft. Ich sehe ein zweites Mal hin. Okay, er ist ein Schrank. Sein Stuhl wirkt unter seinem riesigen, breiten Körper wie ein Spielzeug aus einem Puppenhaus. Er hat lange schwarze Haare. Welcher Mann trägt heutzutage bitteschön einen Haarknoten? Seine Haut ist cappuccino-braun und der linke Arm bis zum Handgelenk tätowiert. Rasiert hat er sich das letzte Mal wahrscheinlich Weihnachten. Kaum zu fassen. Kein Arzt in einer leitenden Position sollte so herumlaufen.
Er bemerkt mich, und sein Blick bohrt sich für eine Sekunde in meine Iris. In diesem Moment beendet der Chef seinen Monolog. Der Kerl wendet sich ab und beugt sich über ein Blatt Papier am Tisch.
„Andreas, du bist heute in Saal eins“, sagt er zu einem älteren Kollegen, der sogleich gehorsam nickt. Welche Verfahren und Besonderheiten er für Saal eins ankündigt, bekomme ich nicht mehr mit. Seine Stimme ist tiefer als jeder Bass und unglaublich männlich.
Die Assistentin neben mir rutscht auf ihrem Stuhl herum. Obwohl der Riese nur den heutigen OP-Plan durchgeht, scheinen plötzlich alle Anwesenden zu erwachen. Ich reibe mir über die Stirn und lehne mich dann betont gelassen zurück. Die übliche Diskussion über die fehlenden Intensivbetten folgt. Der Neue beendet sie erstaunlich schnell, indem er anweist, dass der überzählige Patient länger im Aufwachraum betreut wird. Niemand äußert Bedenken, wie das zu Zeiten seines Vorgängers üblich gewesen wäre.
Jetzt wird mir in vollem Umfang klar, dass er Ahmet seit zwei Monaten als Leiter der Intensivstation ersetzt. Dort bin ich für das nächste halbe Jahr eingeteilt, also werde ich jeden Tag mit diesem Alphatier zusammenarbeiten. Helen hat recht: Jemandem wie ihm muss sein Aussehen zu Kopf gestiegen sein. Wahrscheinlich ist er ein Macho, der Frauen nur als Dekoration für sein Bett betrachtet.
Ich husche als eine der Ersten aus der Tür des Besprechungsraums. Das vertraute Piepsen der Beatmungsgeräte und Überwachungsmonitore beruhigt mich ein wenig. Eine blau gekleidete Schwester hetzt mit einem Infusionsbeutel an mir vorbei. Als ein Ruf aus einem Patientenzimmer schallt, packe ich kurzerhand beim Lagern mit an. Eine der beiden Schwestern lächelt mich dankbar an und wir wuchten den beatmeten Patienten zu dritt auf die Seite. Das Pflegepersonal gnädig zu stimmen ist die erste und wichtigste Überlebensregel für jeden Anfänger nach dem Medizinstudium.
Ich sehe einen Moment zu lange in das bewusstlose Gesicht des Mannes, aus dessen Mund ein Beatmungsschlauch und aus dessen Nase eine Magensonde ragt. Als ich zum ersten Mal eine Intensivstation betreten habe, hat mich der Anblick der unbeweglichen Menschen, deren Körper nur von Maschinen am Leben erhalten werden, ziemlich beängstigt. Es ist nicht wie in Arztserien, in denen der heroische Doktor nach fünf Elektroschocks betreten die Arme sinken lässt und seinen Kollegen ‚Wir haben ihn verloren‘ zuraunt. In Wirklichkeit verläuft das Sterben langsamer und weniger dramatisch. Verschwiegen wird im Fernsehen auch, was aus denen wird, deren Leben auf der Intensivstation gerettet wurde. Viele ehemals Beatmete fristen den Rest ihres Daseins in einem Pflegeheim und finden nie wieder richtig ins Leben.
Aber mein Mitleid hilft diesem Mann nicht weiter. Ich löse den Blick von seinem Gesicht und beginne, die Schläuche an seinem zentralen Venenkatheter zu entwirren, die sich mit dem EKG-Kabel verheddert haben. Am Schicksal der Patienten kann ich nichts ändern, aber zumindest meinen unbedeutenden Teil beitragen, ihre Situation erträglicher zu machen. Ich erkundige mich bei der Schwester, wie stressig ihre Arbeit zurzeit ist, und plaudere mit ihr. Kurz darauf werde ich Zeugin, wie sie sich mit der Kollegin am Nachbarbett zankt, wer von ihnen heute den neuen Oberarzt bei der Visite begleiten darf. Bin ich doch in einer Arztserie gelandet? Was hat dieser Kerl nur an sich?
Am Stationstresen drucke ich zwei Belegungspläne aus. Der andere Assistenzarzt kommt mit seiner Kaffeetasse in der Hand herbeigeschlurft. Tim ist Anfang dreißig, ein blonder, rundgesichtiger Kerl und im vierten Jahr seiner Facharztweiterbildung.
„Fleißig wie immer.“ Er lässt sich auf den Bürostuhl neben mir sinken und nippt an seinem Kaffee. „Eigentlich kann ich direkt wieder nach Hause gehen.“
Ich schiebe ihm seinen Belegungsplan hinüber und grinse nervös. „Hör bloß auf. Was glaubst du, wann sie mich hier alleine einteilen?“
„Machst du dir etwa Sorgen? Hast du nicht die Hälfte des Eingriffskatalogs für den Facharzt noch während des Studiums absolviert? Zwanzig Pleurapunktionen, die hast du doch früher an einem Tag gemacht. Und Ahmet kam aus dem Schwärmen nicht mehr raus, weil du beim Diktieren immer vor ihm wusstest, was er schreiben will.“
Ich seufze wehmütig. Ahmet hatte die sonderbare Vorliebe, seine Assistenzärzte und Studenten als Diktiersklaven zu missbrauchen. Aber niemand hat es ihm übel genommen, allein wegen der Ehre, den Ergüssen dieser ärztlichen Koryphäe lauschen zu dürfen. In den ersten Tagen meines Anästhesie-Abschnitts stand ich wie ein Schatten hinter ihm und habe schnell gemerkt, welches Medikament oder Utensil er als Nächstes brauchte, bis ich die gebrummte hohe Auszeichnung bekam: Ich durfte den zentralen Venenkatheter festnähen, den er zuvor gelegt hatte. Das war der Beginn der aufregendsten Zeit meines Lebens, und Ahmet ist es zu verdanken, dass ich mich überhaupt für die Fachrichtung Anästhesie entschieden habe.
Niemand kann ihn ersetzen – schon gar nicht dieser Typ mit dem Haarknoten.
„Wie ist der neue Oberarzt so?“, frage ich mit möglichst unbeteiligter Miene. Tim hat gerade seinen privaten Mailaccount auf dem Computer geöffnet und wirft mir einen Seitenblick zu.
„Sayan? Der sieht aus, als ob er einem gleich den Arm bricht, was?“ Er lacht. „Keine Sorge, der Eindruck täuscht. Eigentlich ist er ein großer Teddy.“
Offenbar ist Tim genauso verliebt in ihn wie Helen und die Schwestern.
Trotzdem rolle ich meinen Stuhl direkt neben ihn und frage leiser: „Und sonst? Ist er gut?“
„Handwerklich ein absolutes Genie, eine Trachealkanüle schafft er in drei Minuten. Sein Hirn ist ein Schwamm, er kennt jedes Fachpaper quasi auswendig. Von ihm wirst du viel lernen. Aber ich glaube, er weiß noch gar nicht, dass du da bist. Er ist ziemlich verpeilt, was Organisation betrifft.“ Er beugt sich an mein Ohr und grinst. „Willst du die Story von letzter Woche hören? Die Sekretärin musste ihm …“
„Flirten mit der Famulantin?“, unterbricht ihn die Ultra-Bassstimme. Sofort rutsche ich von meinem Kollegen weg. Der Neue lehnt mit seinem tätowierten Arm am Tresen und blickt auf uns herunter. „Deine Arbeitsmoral war schon mal besser, Tim.“
„Muss doch unsere neue Mitarbeiterin einweisen“, nuschelt Tim und schließt hastig seinen Mailaccount. Der Turm beugt sich vor und streckt mir die Hand entgegen.
„Sayan“, stellt er sich vor. Dr. med. Sayan Allahyari, leitender Oberarzt, lese ich auf seinem Schild. Eine Sekunde bin ich irritiert, bis mir wieder einfällt, dass das Duzen in der Anästhesie vollkommen üblich ist.
„Mila.“ Ich lasse seine Riesenhand schnell wieder los. Jetzt muss ich aufklären, dass ich hier gar kein Praktikum mache, aber ich bringe kein Wort über die Lippen.
„Erster Tag heute?“ Seinen dichten Bart umspielt ein nachsichtiges Lächeln.
„Ja.“ Meine Stimme wird fester. „Aber ich bin keine Famulantin. Sondern Ärztin.“
Und eigentlich müsstest du das wissen, denn du schreibst die Dienstpläne!
Er hebt die Brauen. Diesen zweifelnden Blick kenne ich nur zu gut. Ich sehe deutlich jünger aus und muss sogar beim Kauf von Schnapspralinen noch meinen Ausweis zeigen. Statt etwas zu sagen, deutet Sayan auf meine Brust.
Ich greife nach meinem Schild. Mila Volkmann, Medizinstudentin, steht da auf dem Kopf geschrieben.
„Hab es noch nicht ausgetauscht“, erkläre ich unnötigerweise.
„Frau Welke wird sicher so nett sein.“ Er nickt in Richtung des Sekretariats. „Du bist also im ersten Weiterbildungsjahr?“
„Ja, hab vor zwei Monaten mein Staatsexamen gemacht.“ Ich sehe hilfesuchend zu Tim, der sich gänzlich unbeteiligt gibt. Die zwei Schwestern, denen ich eben beim Lagern geholfen habe, gesellen sich mit an den Tresen und mustern Sayan unauffällig, was nicht zu meiner Entspannung beiträgt.
„Intensivmedizin steht ab dem dritten Jahr an“, erklärt er ruhig. „Vorher musst du die Grundlagen beherrschen. Routine in den Anästhesietechniken bekommen – intubieren, periphere Zugänge, Narkoseverfahren. All das lernst du im OP.“
Tim, dieser Verräter, nickt auch noch zustimmend. Dabei weiß er genau, dass ich schon auf der Intensivstation eingearbeitet bin. Ahmet war wegen des Personalmangels froh, dass ich mich habe breitschlagen lassen, meine Weiterbildung hier zu beginnen.
„Dr. Yousef hat mich eingeteilt“, bringe ich nur hervor.
„Verstehe.“ Sein Blick sagt alles und nichts. „Aber jetzt bin ich für die Dienstpläne zuständig. Hast du schon einen Mentor?“
Ich versuche mich zusammenzureißen. „Michael.“
Er kramt seinen OP-Plan hervor, den er heute Morgen vorgelesen hat. Auf der Rückseite ist allerlei unleserliches Gekrakel. „Saal acht“, schließt er.
„Alles klar.“ Ich springe von meinem Bürostuhl auf und drücke mich an ihm vorbei.
„Warte mal.“ Mit einer Berührung am Arm hält er mich auf. „Dort entlang.“
Er führt mich in die entgegengesetzte Richtung, in den Flur zum Sekretariat, und schenkt mir wieder dieses beruhigende, aufmunternde Lächeln. Ich versuche einen freundlichen Gesichtsausdruck, aber innerlich brodle ich. Warum habe ich meine Zähne nicht auseinanderbekommen?
„Unsere neue Kollegin braucht ein Namensschild“, weist er seine junge, blondierte Sekretärin an, als wir deren Büro betreten. Sie springt geflissentlich auf und kramt in einer der Papierablagen. Sayan sieht mir in die Augen. „Einen erfolgreichen ersten Arbeitstag, Mila.“
Der Dank bleibt mir im Hals stecken, und ich nicke nur. Sein breiter Rücken verschwindet im Türbogen, und er eilt zurück zur Station, um mit Tim durchzusprechen, welche Patienten heute geröntgt, punktiert oder verlegt werden.
„Hat er es etwa vergessen?“, fragt die Sekretärin. „Vor zwei Tagen habe ich ihn daran erinnert, dass du heute hier anfängst. Habe ihm sogar den Weiterbildungskatalog ausgedruckt und hingelegt. Na ja, so viel, wie er zu tun hat, ist es kein Wunder …“
Sie entschuldigt sich noch mindestens dreimal für die Schusseligkeit ihres Vorgesetzten und klingt dabei wie seine treusorgende Ehefrau. Ich werfe das alte Namensschild in ihren Mülleimer und versichere ihr, dass es überhaupt kein Problem ist. Nach und nach reicht sie mir einen Stapel Dokumente: Verfahrensanweisungen und allen möglichen Papierkram, den ich unterschreiben oder bei der Personalabteilung abgeben muss. Als ich endlich aus dem Büro entkommen bin, schließe ich mich in die nächste Toilette ein, hocke mich gegen die Wand und vergrabe das Gesicht in den Händen.
Scheiße, was war das denn?
Kapitel 3
Es dauert zehn Minuten, bis ich mich einigermaßen beruhige. Eigentlich ist doch gar nichts Schlimmes passiert. Gut, er hat mich wie eine Praktikantin behandelt und von der Station geschmissen. Aber sein Vorgehen entspricht nur dem üblichen Ablauf der Weiterbildung, und einen Vorteil hat es: Sayan und ich arbeiten ab sofort in getrennten Bereichen, und ich werde diesem Platzhirsch höchstens noch bei der Frühbesprechung begegnen.
Die Frau von der Zentralsterilisation füllt gerade die Kleiderstapel auf und wirft mir einen mitleidigen Blick zu, als ich in die sonst ausgestorbene OP-Umkleide geschlurft komme. Ich schmeiße den Papierstapel in meinen Spind, wechsle die Klamotten von Weiß zu Grün und knote meine Haare so, dass sie unter die Haube passen.
Auf dem Weg zum Saal durchquere ich die makellosen Flure. Unterwegs grüße ich ein paar Kollegen, die ihre ersten Narkoseeinleitungen hinter sich gebracht haben und an der OP-Zentrale sitzen. Durch die Bullaugen der Schiebetüren blitzen schemenhaft grüne Tücher und Hauben. Ich ziehe meinen Mundschutz hoch und drücke den elektrischen Türöffner für Saal acht.
Auf dem Boden um den Schulterchirurgen hat sich bereits eine beträchtliche Pfütze seiner Spülflüssigkeit gebildet. Er trägt Gummistiefel und rattert mit seinem mikroinvasiven Shaver über den Knochen des Schulterdachs, der stark vergrößert über die Monitore flimmert. Die Atmosphäre ist hochkonzentriert, deswegen husche ich lautlos hinter das Tuch.
„Hey“, raune ich Michael zu. „Sayan hat mich zu dir geschickt.“ Ich versuche fröhlich zu klingen.
Sein Kuli fällt auf das hastig vollgekrakelte Protokoll. Mit dem Schultersaal hat Michael heute den mit Abstand stressigsten Arbeitsplatz erwischt. Dennoch lässt er den Hocker neben dem Narkosegerät leer zurück, schiebt mich auf den Flur und zieht den Mundschutz von seinem bartstoppeligen Gesicht. Schon im PJ war er mein Mentor.
„Erst mal, willkommen zurück.“ Als er mich kurz in die Arme schließt, merke ich, wie ich ihn vermisst habe. „Was ist passiert?“
Ich erzähle ihm von der Begegnung auf der Intensivstation, die meine Karriere dort innerhalb von fünf Minuten beendet hat.
Michael stößt ein Lachen aus und fasst sich an die Stirn. „Der halbe Intensivplan für September ist noch leer. Du solltest eigentlich Tim ersetzen, der in die Chirurgie rotiert. Dann muss unser neuer leitender Oberarzt in Zukunft wohl selber Nachtschichten schieben.“
Ich lehne mich gegen die Wand, erleichtert, endlich jemanden getroffen zu haben, der Sayan nicht blind vergöttert. „Er wusste nicht mal, dass ich heute hier anfange. Hat mich für eine Famulantin gehalten.“
Er schüttelt den Kopf. „Bei ihm wundert mich gar nichts mehr – außer, dass die Station nach zwei Monaten unter seiner Führung noch steht.“
So ärgerlich kenne ich Michael gar nicht. Wenn er schlecht über jemanden redet, dann muss mit Sayan wirklich etwas im Argen liegen. So wie Michael sich seit Jahren als Ausbilder engagiert, verstehe ich ohnehin nicht, warum er nicht zum Oberarzt befördert wurde – zumal Sayan ein paar Jahre jünger zu sein scheint.
„Eigentlich macht es ja nichts“, beschwichtige ich ihn schnell. „Hier ist sicher genug zu tun.“
„Allerdings. Wir haben heute acht Schultern auf dem Plan und er ist schlecht gelaunt.“ Er deutet durch das Bullauge in Richtung des Operateurs. „Komm, den ersten Katheter machen wir zusammen.“
Ich nicke zerstreut, mit den Gedanken noch bei der Sache mit Sayan. Michaels assistierende Pflegekraft schiebt gerade das Ultraschallgerät in den Einleitungsraum.
„Na, das Examen gut überstanden, Frau Volkmann?“ Schwester Heike ist die einzige Anästhesiepflegerin, die mir gegenüber auf dem Siezen besteht. Ihr Blick gleitet prüfend herunter zu meinen Füßen. „Und immerhin heute nicht meine Latschen an.“
Mittlerweile war ich lange genug an dieser Klinik, um über die Gepflogenheiten persönlich beschrifteter Schuhe Bescheid zu wissen. Ich zwinge mich zu einem Lächeln.
„Übernimmst du drüben, Heike?“, bittet Michael. Sie geht in den OP, um dort seine Narkose zu überwachen, während wir den Einleitungsraum betreten.
Der nächste Patient schnarcht schon verkabelt auf seiner Liege. Froh, endlich etwas zu tun zu bekommen, schnappe ich mir seine Akte. Michael hat derweil die Laborwerte am Computer geöffnet und nickt mir auffordernd zu.
Als ich den ungefähr 50-jährigen Mann sanft wachrüttle und mit meinem üblichen Spruch begrüße – diesmal allerdings darauf achte, mich als Assistenzärztin vorzustellen –, schaffe ich es endlich zu meiner gewohnten Professionalität zurück. Name und Operationsart stimmen mit den Angaben auf dem Protokoll überein, das Kreuz prangt korrekt auf der linken Schulter, er hat nicht gefrühstückt und keine Fragen mehr. Außerdem ist der Patient empfänglich für meine Scherze, und das hebt meine Laune. Mit zwei Millilitern Midazolam schicke ich ihn zurück ins Reich der Träume. Ab heute darf ich Medikamente verabreichen, eigenverantwortlich. Ein komisches Gefühl.
Michael breitet das Regionalanästhesie-Set auf dem fahrbaren Tisch aus und assistiert mir. Das Gesicht des Patienten verschwindet unter dem Lochtuch, nur die geplante Einstichstelle am Hals bleibt sichtbar. Mit leicht fahrigen Fingern ziehe ich den Plastiküberzug über den Schallkopf, den Michael mir reicht. Aber mit seiner geduldigen Art hat er ein Talent dafür, mir Ruhe und Selbstbewusstsein einzuflößen. Es dauert einen Moment, dann finde ich die Perlschnur des Nervengeflechts auf dem Monitor. Nach einer letzten Rückversicherung in seine Richtung steche ich zu. Mein Blick springt zwischen Ultraschallbild und Nadel hin und her, während der Schatten des Betäubungsmittels sich um die hellen Nervenstränge verteilt.
„Den Nächsten machst du allein.“ Michael grinst, bevor er zurück in den OP eilt. Erleichtert klebe ich das Pflaster über den Schmerzkatheter und befestige die Pumpe. Wenn der Patient heute frisch operiert auf Station liegt, kann er sich bei Schmerzen mit einem Druck auf diesen Knopf selbst helfen.
Ich entsorge den Berg Plastikabfälle ordnungsgemäß in den schwarzen Sack. Schwester Heike guckt bei ihrer Rückkehr trotzdem skeptisch, als zweifle sie daran, ob übereifrige Ärztinnen am ersten Arbeitstag schon Interskalenus-Katheter legen sollten. Ich nehme mir fest vor, mich in Zukunft nicht von ihrer Kritik ärgern zu lassen, sondern jeden Hinweis ernst zu nehmen, immerhin hat diese Frau dreißig Jahre mehr Berufserfahrung als ich.
Die Narkoseeinleitung meines ersten Patienten läuft zu meinem Erstaunen wie geschmiert, und Michael muss kein einziges Mal eingreifen. Der Schulterchirurg späht trotzdem ungeduldig durch den Spalt der Schiebetür. Eine Anfängerin wie ich ist eine ernste Gefahr für seinen OP-Zeitplan. Zu dritt schieben Michael, Heike und ich die Patientenliege und den Infusionsständer in den Saal und schließen den schlafenden Mann wieder an die Beatmungsmaschine an.
Während ich damit beschäftigt bin, seinen abgesackten Blutdruck zu stabilisieren, will das chirurgische Team schon mit der Lagerung beginnen. Dann piept das Narkosegerät laut – der Patient kann nicht beatmet werden. Ich spüre den vertrauten Adrenalinschub und überprüfe hektisch, ob alle Schlauchverbindungen dicht sind.
„Ein bisschen zerstreut bist du aber schon, oder?“ Michael drückt den O₂-Flush-Knopf, weil keine Luft im System war. Sofort hört das Gebimmel auf.
Ich unterdrücke einen Fluch. Wieder habe ich über Sayans Worte gegrübelt. Ob ich meinen Fehler alleine rechtzeitig bemerkt hätte?
„Sorry, das darf nicht passieren. Ich muss mich echt besser konzentrieren.“
„Keine Sorge, du wirst schnell wieder reinfinden.“ Michael greift den Hinterkopf und Tubus des Patienten, während der Chirurg und seine Schwestern dessen Glieder umfassen. „Ich übernehme hier. Geh du mit Heike den Nächsten reinholen.“
Der Schultersaal ist reine Akkordarbeit. Die nächsten drei Schmerzkatheter lege ich mit Assistenz von Schwester Heike, lasse mich jedoch von ihrem strengen Blick nicht aus der Ruhe bringen und nehme mir genügend Zeit, bis ich die Nervenstränge mit dem Schallkopf gut darstellen kann, so lange das eben dauert. Kein einziges Mal muss ich meinen Mentor rufen, und mit jedem festgeklebten Katheter-Pflaster werde ich ein bisschen entspannter. Auch die Laune des Chirurgen bessert sich, denn seit Michael und ich parallel arbeiten, sind unsere Wechselzeiten viel kürzer geworden. So eine Anfängerin ist also doch nicht immer hinderlich für seine Operationszahlen.
Ich habe es fast geschafft, Sayans Bassstimme aus meinem Kopf zu verdrängen. Aber als ich um die Mittagszeit herum – mit Heike in ein höfliches Gespräch über ihre letzte Urlaubsreise vertieft – wieder über dem Lochtuch stehe, ragt plötzlich ein großer Schatten im Türspalt des Einleitungsraums auf. Was zum Teufel macht er hier? Die grüne OP-Kleidung betont Sayans dunklen Teint, und selbst die alberne Haube sieht an ihm einfach nur umwerfend aus.
Meine Gedanken lassen mich zusammenzucken. Der Schallkopf verrutscht, das Bild der Nervenstränge verschwindet. Ich lächle Sayan nervös zu, was er durch meinen Mundschutz natürlich nicht sehen kann, und hoffe inständig, dass er einfach weitergeht. Aber natürlich bewirkt mein sonderbares Gebaren genau das Gegenteil.
„Alles gut, Mila?“ Er kommt näher und sieht auf die Nadel in meiner Hand.
„Ja“, betone ich. „Michael ist im Saal. Er hat mir erlaubt, dass ich …“
Sayan schaut mich erwartungsvoll an, aber meine Erklärung verebbt im Nichts.
„Lass dich von mir nicht stören.“ Seine schwarzen Augen zwinkern mir ermutigend zu.
Doch als ich den Schallkopf wieder in den Hals des Patienten drücke, flackern über den Monitor nur graue Sternchen.
„Noch mal sprühen“, bitte ich Heike, die die Haut mit einem Schwall Desinfektionsmittel benetzt. Jetzt ist zumindest das Bild wieder scharf, aber die Anatomie dieses Mannes scheint sich vollkommen verändert zu haben. Ich beginne zu schwitzen. Meine Hand rutscht vor und zurück, kippt den Schallkopf in alle Richtungen. Wo ist die verdammte Perlschnur? Eben waren die Nervenstränge doch glasklar darstellbar. Die Nadel in meiner Rechten fängt an zu zittern.
„Ganz ruhig.“ Sayan tritt neben die Liege. „Such dir die Jugularis interna. Fang noch mal von vorn an.“
Aber es funktioniert nicht, ich finde nicht mal die große Halsvene. Mein Puls ist auf hundertachtzig. Als ich meine zitternde Rechte abstützen will, rutsche ich mit der Nadel ab und ramme sie mitten ins Lochtuch, woraufhin der Patient sich plötzlich aufbäumt und vor Schmerz jault. Ich stolpere panisch einen Schritt rückwärts.
Sayan hat genug von meiner Vorstellung. Als Erstes schnappt er sich eine Propofol-Spritze vom Tresen und ballert dem Patienten eine Dosis in den Zugang, die andere zur Narkoseeinleitung benutzt hätten. Dann nimmt er mir die Nadel und den Schallkopf ab – ohne Handschuhe – und hat den Katheter im Hals des Mannes versenkt, noch bevor ich auf dem Bildschirm etwas erkennen konnte.
„Fünf … noch mal fünf …“, weist er Heike an, die die Spritze am anderen Ende des Schlauchs bedient.
Nach einer Minute ist das Propofol im Gehirn des Mannes angekommen und der bimmelnde Monitor verkündet, wie erwartet, dass er nicht mehr atmet. Heike hält den Sauerstoffschlauch bereit, aber Sayan beschränkt sich darauf, den Kopf des Patienten ziemlich brutal zu überstrecken. Der beginnt mit einem gurgelnden Geräusch, wieder zu atmen.
„Hilft auch bei schnarchenden Ehemännern.“ Er zwinkert Heike zu.
Ich halte mich am Tresen fest, um nicht umzukippen. Mir ist übel, am liebsten würde ich einfach abhauen. Sayan lässt Heike den Katheter festkleben und kommt zu mir herüber.
„Ich rede mit Michael.“ Er mustert mich besorgt.
„Nein, das ist nicht notwendig“, protestiere ich.
„Mila.“ Er berührt meinen Ellbogen. „Den ISK beherrschen nicht mal die Hälfte unserer Fachärzte. Es gibt keinen Grund, dass du diese Technik an deinem ersten Arbeitstag lernen musst. Als Assistentin im ersten Jahr.“
Die letzten Worte betont er und sieht mir in die Augen. Ich bringe kein Wort heraus.
„Hast du heute schon Pause gemacht?“ Er nickt zu der Uhr hin, die 12:46 zeigt.
Ich schüttle den Kopf.
„Danke“, murmle ich und löse mich vom Tresen, froh, endlich seinem Blick zu entkommen.
Sicherheitshalber verschwinde ich hinter der nächsten Ecke, bevor ich mich an die Wand stütze. Was ist nur mit mir los? Warum verwandle ich mich in Gegenwart dieses Mannes jedes Mal in ein tollpatschiges Kind? Wenn ich an seinen mitleidigen Gesichtsausdruck denke, krampfen sich meine Eingeweide vor Scham zusammen. Und jetzt geht er auch noch zu Michael, um sich zu beschweren.
Michael, der sich heute Morgen schon über Sayan aufgeregt hat. Ich haste zurück und durchquere den Einleitungsraum, wo Heike gerade die benutzten Nadeln in den Sicherheitsbehälter wirft. Durch den Spalt der Schiebetür erkenne ich den tätowierten Arm von Sayan und den Rücken von Michael, den er aus dem Saal geholt hat.
„– vollkommen normal, dass sie am ersten Tag ein bisschen nervös ist.“ Michaels leise Stimme weht zu mir herüber.
„Nein, sie ist komplett überfordert“, raunt Sayan zurück. „Mila hätte sich mit ihrer Kanüle fast selbst aufgespießt. Ich hatte Sorge, dass ich sie gleich ohnmächtig da raus trage.“
„Und jetzt zweifelst du an der Qualität meiner Ausbildung?“ Michael verschränkt die Arme. „Sie ist verantwortungsbewusst und weiß, wann sie mich zu Hilfe rufen muss. Manch anderer im zweiten oder dritten Jahr ist nicht so weit.“
„Da ist mein Eindruck leider anders. Mila überschätzt ihre Fähigkeiten massiv. Eine Anfängerin wie sie braucht mehr Führung. Sie sollte erst mal nur zuschauen, bevor sie selbst eine Nadel in die Hand nimmt. Es geht hier schließlich um die Sicherheit unserer Patienten.“
Ich kralle mich an der Türkante fest. Zum Glück ist Heike mit dem piepsenden Spritzen-Perfusor zugange und hört die beiden nicht. Michaels Stimme wird lauter.
„Ehrlich gesagt hatte ich vor, ihr nächste Woche ihren eigenen Saal zu geben.“
Oh Gott, er klingt, als ob er ihm gleich den Schädel einschlagen will.
„Aber die Dienstpläne mache ich“, erwidert Sayan gefährlich ruhig. „Und für mich steht die Ausbildung unserer Assistenzärzte an erster Stelle. Auch wenn wir dadurch weniger Operationen schaffen.“ Er ruckt mit dem Kopf in Richtung des OP-Saals. „Denn am allerwenigsten interessieren mich die Eingriffszahlen von dem Typen da.“
Seine Worte sind zu einem Flüstern geworden, sodass ich mich vorbeuge. Plötzlich blickt Sayan über Michaels Schulter direkt in meine Augen. Er wendet sich wieder seinem Gesprächspartner zu.
„Ich denke, ich war deutlich. Mila arbeitet ab sofort nur noch unter Aufsicht eines Facharztes.“
Im Vorübergehen bedenkt er mich mit einem seiner beschwichtigenden Blicke, bevor er mit langen Schritten verschwindet. Michael steht wie eingefroren im Flur. Hierarchische Machtworte sind in unserer Abteilung vollkommen unüblich. Deswegen wundert es mich nicht, dass er ungläubig den Kopf schüttelt.
„Dieser arrogante …“ Er verbeißt sich das nächste Wort. „Kennt dich seit fünf Minuten und mischt sich in meine Ausbildung ein.“
„Er hat’s bestimmt gut gemeint“, nuschle ich. „Außerdem ist er Oberar–“
„Hattest du jemals das Gefühl, dass ich dich verheize?“, zischt er. „Um die Taschen unserer Chirurgen zu füllen?“
„Nein, natürlich nicht.“ Ich schlucke und will weitersprechen, aber er winkt ab.
„Geh Pause machen, Mila.“ Als ich den Mund öffne, setzt er nach: „Du hast mich gehört. Runter in die Kantine mit dir.“
Er langt nach dem elektrischen Türöffner des Saals und scheint innerlich immer noch zu kochen. Auf dem Weg durch die Flure reiße ich meinen Mundschutz ab und pfeffere ihn in einen Mülleimer. Als ich meinen Spind erreicht habe, ziehe ich als Erstes das Handy heraus und schreibe Helen: Kommst du in die Cafeteria? Notfall.
Kapitel 4
„Das hat er ihm echt gesagt?“
Helens Augen kullern beinahe heraus, als ich ihr von dem belauschten Gespräch zwischen meinem Oberarzt und meinem Mentor erzähle. Der Mittagsansturm in der Kantine ist vorbei, nur wenige Tische sind besetzt.
„Michael hat sich davon überzeugt, dass ich den Katheter alleine hinbekomme, und war die ganze Zeit in der Nähe. Trotzdem hat Sayan ihn total zusammengefaltet. Er meint, ich gefährde das Leben unserer Patienten.“
„Oh Mann.“ Sie verzieht mitfühlend das Gesicht. „Als wäre es nicht schon krass genug, dass er dein Oberarzt ist und du jeden Tag mit ihm zusammenarbeitest …“
„Er leitet die Intensivstation und hat mich in den OP verbannt“, erinnere ich sie und stochere lustlos in meinen Nudeln.
„Trotzdem. Wenn Aquaman mir über die Schulter guckt, könnte ich mich auch keinen Moment konzentrieren.“
„Er wird dafür sorgen, dass ich keine Nadel mehr in die Hand nehme und unter ständiger Aufsicht stehe. Das ist auch kein Wunder, nach meinem unfassbar dämlichen Auftritt. Du müsstest mal sehen, wie er mich immer anlächelt. So als hätte ich den Verstand einer Zimmerpflanze.“
„Jeder Anfänger macht mal einen Fehler.“ Helen kratzt ihren Teller leer. „Außerdem kennt er dich erst seit heute, oder? Vielleicht hat er grundsätzlich ein Problem mit Frauen. Oder besser, mit Frauen in anspruchsvollen Berufen.“
Ich pruste versehentlich in mein Wasserglas. „Glaubst du, er denkt, Ärztinnen sollen zurück hinter den Herd? Nur weil er … aus dem arabischen Kulturkreis stammt?“
„Keine Ahnung.“ Sie beugt sich vor. „Die halbe Klinik scheint über ihn zu reden. Absoluter Spezialist, besitzt sämtliche Zusatzweiterbildungen, dazu noch souverän und engagiert. Nur die Assistentin auf meiner Station meinte, er hätte ihr mal einen sexistischen Spruch reingedrückt.“
Ich runzle die Stirn. „Also, höflich war er zu mir.“
„Und er nimmt angeblich reihenweise Schwestern mit auf sein Bereitschaftszimmer.“ Helen grinst schief.
„Was Leute eben so tratschen“, wiegle ich ab, obwohl mich ihre Worte irgendwie verunsichern. „Mit wem mein Oberarzt privat zu tun hat, ist mir vollkommen egal. Ich werde ihm in Zukunft aus dem Weg gehen. Wenn unsere nächste Begegnung wieder so abläuft, kann ich meinen Job bald an den Nagel hängen.“
„Tja, schade eigentlich. Aber solche Männer meidet man besser wirklich.“ Sie zieht eins ihrer Lehrbücher aus dem Rucksack. „Sag mal, hast du verstanden, wie dieser Whipple funktioniert? Reichart hat mich in der Visite gefragt …“
„Du meinst Traverso-Longmire?“, korrigiere ich sie geistesabwesend, während sich vor meinem inneren Auge diverse Szenen von Sayan und seinen Krankenschwestern abspielen. Ich schüttle mich kurz, dann schiebe ich meinen Teller beiseite und beuge mich mit Helen über das Buch.
Viel entspannter komme ich in den Saal zurück. Michael steht allein am Kopfende der Liege und beatmet seine Patientin per Maske, weil er den Tubus nach der OP offenbar zu früh gezogen hat. Seine Miene wirkt immer noch kühl.
„Bist du abgelöst worden?“, frage ich vorsichtig. Sein ironisches Lächeln ist Antwort genug. Die Pausenablösung hat nie gut funktioniert, und zurzeit herrscht absoluter Personalmangel.
„Geht … Geht es schon los?“ Die Patientin schlägt die Augen auf und schiebt die Beatmungsmaske weg, um sich die Nase zu reiben. Während ich die Liege mit der Fernbedienung herunterfahre, versichert Michael ihr, dass die OP vorbei und gut verlaufen ist, was er auf dem Weg zum Aufwachraum einige Male wiederholen muss.
Weil unser Saal das Programm heute so schnell abgearbeitet hat, haben wir noch eine minimalinvasive Fuß-OP dazubekommen. Eigentlich nur ein kurzer Eingriff, doch die ängstliche Mittdreißigerin wünscht sich eine Vollnarkose. Michael lässt mir bei der Einleitung freie Hand, aber die gute Stimmung von heute Morgen ist verflogen. Als sie verkabelt und beatmet im Saal liegt, verabschiedet er sich kurz in den Aufenthaltsraum.
„Ich schick dir Heike rüber. Ruf mich, wenn was ist.“ Mit müden Augen verlässt er den Saal, wahrscheinlich um den ersten Schluck Wasser seit Beginn seiner Schicht zu trinken.
Natürlich ist Heike nicht begeistert, dass er sie beim Regale auffüllen stört, weil sie mich bei einer vollkommen ereignislosen Narkose beaufsichtigen soll. Ich stelle die Beatmungsparameter am Gerät ein und frage mich beklommen, ob Michael mich seit Sayans Ansage selbst für überfordert und unfähig hält.
Plötzlich erscheint mir die pulsierende EKG-Kurve feiner und fragiler, der piepsende Herzton so vergänglich. Unter der Haube der Patientin fallen Strähnen ihres blonden Haars auf die Liege. Bewusstlos und ohne eigene Atmung ist sie abhängig von mir und dem dünnen Schlauch in ihrem Hals. In der Anästhesie kann der kleinste Fehler einen Menschen umbringen, nirgends sind Ärzte so nah an Leben und Tod. Aber genau wegen dieser Herausforderung habe ich mich für die Fachrichtung entschieden.
Ich straffe die Schultern und hole das Cuffdruck-Messgerät aus der Schublade. Auch wenn das hier nur eine Fünf-Minuten-OP wird, werde ich jede Sicherheitsregel befolgen, die meine Kollegen nach jahrelangem Berufsalltag längst für überflüssig halten. Niemand soll mir mehr vorwerfen, ich gefährde meine Patienten.
Trotz meiner Eile grüße ich den Unfallchirurgen Brandner freundlich, der den Fuß zu desinfizieren beginnt. Als ich das nächste Mal über das Tuch luge, hat er den Schnitt gesetzt, ohne ein Wort zu sagen. Ich beeile mich, mit meinem Protokoll hinterherzukommen.
„Alles gut?“ Michael tritt etwas besser gelaunt neben mich. Ich nicke, unendlich erleichtert, dass ich es diesmal nicht vermasselt habe.
Der Chirurg näht zu und erzählt dabei von seinem letzten Segeltörn, die Schwestern lachen über seine Witze, und wir ziehen gemeinsam die Tücher von der schlafenden Patientin.
„Das Kreuz ist doch dort.“
Der 16-jährige Praktikant, der heute kaum ein Wort gesagt hat, deutet schüchtern auf den Fuß der Frau. Bleierne Stille legt sich über den Saal. Ich lasse die Blockerspritze in meiner Hand sinken, sehe zwischen dem schwarzen Kreuz auf ihrem Knöchel und dem Verband, den Brandner gerade wickelt, hin und her. Das kann nicht real sein, ich muss träumen.
Der Chirurg fängt sich als Erster und dröhnt: „Die Markierung ist falsch.“
„Nein.“ Alle Köpfe drehen sich zu mir. „Rechts, hab sie vor der Einleitung gefragt.“ Ich greife mein Protokoll vom Narkosegerät, und da steht es, in meiner eigenen Handschrift.
„Laut Computer auch“, fügt Michael hinzu, der am Wandmonitor mit dem Cursor über den Plan fährt. Seine Stimme klingt wie zerbrechendes Glas.
Alle starren Brandner an, der den linken Fuß bandagiert hat. Er befiehlt der OP-Schwester, in die Akte zu sehen. Die hitzige Diskussion bekomme ich nur halb mit. Begriffe aus Davids Strafrecht schwirren durch meinen Kopf. Fehlende Einwilligung, grob fahrlässiger Behandlungsfehler, Körperverletzung.
„Nein“, widerspricht Michael dem Chirurgen laut. „Wir lassen sie aufwachen. Bevor wir das richtige Bein operieren, muss sie erst informiert werden. Und zustimmen.“ Er verengt die Augen. „Mit zwei bandagierten Füßen kann sie selbst auf Krücken nicht gehen.“
Die nachfolgende Szene läuft wie ein Film vor mir ab. Wir bringen die Patientin in den Aufwachraum, wo der Operateur mit ihr sprechen soll. Das schlechte Gewissen quält mich. Warum habe ich nicht eher über das Tuch geschaut? Vor der Schleuse zieht Michael mich beiseite, die Falte zwischen seinen Brauen strenger als je zuvor.
„Wieso habt ihr kein Team-Time-Out gemacht?“
„Er hat einfach angefangen. Ich war im Stress, weil ich wusste, dass ich gleich wieder ausleiten muss …“ Mir steigen Tränen in die Augen.
„Hey.“ Michael fasst meinen Arm. „Brandner hat geschnitten, nicht du. Aber trotzdem darf das nicht passieren. Wir sind dafür verantwortlich, vor dem Schnitt die richtige Seite zu überprüfen. Alle im OP anwesenden Ärzte.“
Entschlossen verbeiße ich mir jede weitere Rechtfertigung. „Du hast recht.“
Michael wendet sich ab und ich wische mir hastig über die Augen.
„Heute ist echt nicht dein Tag, was?“ Er stößt ein leises Lachen aus und zückt sein Telefon. „Und meiner auch nicht. Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen.“
„Unsinn, du warst kaum fünf Minuten weg. Wen rufst du an?“
„Wir müssen den Chef informieren.“ Er tippt eine Nummer ein, hält aber inne. „Nein, der ist schon zu seinem Kongress.“
Sein genervter Blick lässt meine Eingeweide brennen, weil ich genau weiß, wen er jetzt anrufen muss. Sayan wird Michael skalpieren. Wenn die beiden heute noch mal aufeinandertreffen, gibt es Tote, und das ist meine Schuld.
„Ich übernehme das.“ Schnell greife ich nach seinem Telefon. Als er die Hand zurückzieht, beharre ich: „Es war mein Fehler, also werde ich dafür geradestehen.“
Er sieht mir in die Augen, dann nickt er. Bevor ich es mir anders überlegen kann, tippe ich Ahmets Nummer ein, die jetzt Sayans sein dürfte.
„Ja?“, meldet sich eine raue Stimme, den Lärm der Intensivstation im Hintergrund.