No Cure for Love - Anna Hensel - E-Book

No Cure for Love E-Book

Anna Hensel

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Beschreibung

Herz über Kopf. 

Doktortitel, Professur: Die 24-jährige Ellen hat als angehende Ärztin ehrgeizige Pläne. Doch vorher verschlägt es sie ausgerechnet ins Provinzkrankenhaus St. Elias: Patienten statt Reagenzgläser. Das nervt mindestens so sehr wie Kollege Timo, der sie mit seinem Helfersyndrom so richtig auf die Palme bringt. Oder steckt etwas anderes dahinter? Egal, Ellen hat eh kein Interesse an einer Liebesbeziehung – bis sie mit ihm im Bett landet. Dann passiert Ellen auch noch ein fataler Fehler auf der Arbeit und plötzlich sind alle ihre Zukunftspläne in Gefahr.

Intensive Hospital-Romance zum Mitfiebern. Opposites Attract trifft auf Workplace Romance.

💉 Von einer Ärztin geschrieben – authentisch, emotional und fesselnd!

"No Cure for Love" ist ein in sich abgeschlossener Einzelband.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Das Buch

Willkommen im St. Elias!Doktortitel, Professur – die 24-jährige Ellen hat ehrgeizige Pläne für ihre medizinische Karriere. Ihre erste Stelle als Assistenzärztin führt sie ausgerechnet ins Provinzkrankenhaus St. Elias: Patienten statt Reagenzgläser. Das nervt mindestens so sehr wie Kollege Timo, der sie mit seinem Helfersyndrom zur Weißglut treibt. Oder steckt da mehr dahinter? Ellen hat kein Interesse an einer Beziehung – bis sie mit ihm im Bett landet. Doch dann macht sie einen fatalen Fehler, der alles infrage stellt …

Die Autorin

© Privat

Anna Hensel, Jahrgang 1990, studierte in Jena Medizin und arbeitete als Ärztin in mehreren Kliniken. In ihrer zweiten Schwangerschaft entdeckte sie nach einem romantischen Traum ihre Leidenschaft für das Schreiben. Und was lag da näher, als ihren Beruf als Inspirationsquelle zu nutzen? Ihr Debütroman über eine junge Ärztin erschien nur wenige Jahre später, weitere Hospital-Romances folgten. Mit ihrem Ehemann und ihren Söhnen lebt sie in Niedersachsen, wo sie neben der Arbeit in einer Klinik an neuen Liebesromanen schreibt. Auf Instagram teilt sie ihre kontroversen Gedanken zu allen Themen des Lebens.

Instagram: @anna_hensel_

TikTok: @anna.hensel

Facebook: anna.hensel.589

Homepage: www.anna-hensel.de

Der Verlag

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Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

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Viel Spaß beim Lesen!

Anna Hensel

No Cure for Love

Loomlight

Liebe Leser:innen,

dieser Roman enthält potenziell triggernde Inhalte. Auf der letzten Seite findest du eine Themenübersicht, die Spoiler für die Geschichte beinhaltet.

Obwohl die Liste nach bestem Wissen angelegt wurde, erhebt sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit, da Auslöser und deren Wahrnehmung vielfältig sein können. Außerdem findest du am Ende des Buches ein Glossar mit den wichtigsten medizinischen Begriffen.

Wir wünschen dir das bestmögliche Leseerlebnis!

Anna Hensel und das Loomlight-Team

Kapitel 1

Die Frau auf dem Sitz gegenüber sieht mich schon wieder an. Kein Wunder, denn draußen ist es noch stockduster und viel Spannendes passiert an einem Februarmorgen um kurz nach sieben in Jenas Straßenbahnen nicht. Da stellt ein Fahrgast mit einem Kuchenblech auf dem Schoß fast schon eine Sensation dar.

Ich schenke ihr ein kleines Lächeln, das sie erwidert.

»Das riecht ja gut.« Sie deutet auf die Geschirrtücher, in die ich das Blech gewickelt habe und durch die der Duft nach frischem Gebäck dringt.

Ich nicke. »Heute ist mein erster Arbeitstag.«

»Oh.« Sie nestelt an einer Nadel ihrer brünetten Hochsteckfrisur. »Ihre neuen Kollegen werden sich sicher freuen.«

»Das hoffe ich.« Mein Fuß wippt auf und ab. Eigentlich bin ich gar nicht die übermotivierte Berufsanfängerin, ganz im Gegenteil. Vielleicht habe ich mir bei dem Kuchen besonders viel Mühe gegeben, um das zu kaschieren. Ich will das Beste aus den nächsten fünf Monaten machen, auch wenn ich mir nie ausgesucht hätte, meine medizinische Laufbahn an einer kleinen Provinzklinik zu beginnen.

Vor der Fensterscheibe rast ein Radfahrer vorbei, fast so schnell wie die Bahn. Seine Frontleuchte wirft einen Strahl in die Düsternis, die von den vorbeiziehenden Lichtkegeln der Straßenlaternen erhellt wird.

Ich wende mich der Frau zu. »Eigentlich ist Backen ja gar nicht mein Ding. Das Rezept hat mir meine beste Freundin rausgesucht. Um die Streusel perfekt anzuordnen, habe ich eine halbe Stunde gebraucht. Zuerst sind sie zwischen den Kirschen versunken, aber mit größeren Teigklumpen sah es komisch aus und – na ja, als sie vom Pilates zurückkam, wollte sie wissen, ob in der Küche eine Bombe explodiert ist.«

Keine Ahnung, warum ich das erzähle. Die Fremde zieht ihren Steppmantel enger um ihre Schultern und schaut verständnisvoll. »Wo fangen Sie denn an?«

Bevor ich antworten kann, lenkt der Radfahrer mich ab. Er macht einen Schlenker auf den Bordstein und gerät bei der hohen Geschwindigkeit ins Schlingern.

»Stopp«, rufe ich gegen die Scheibe, als könnte ich ihn damit aufhalten. Ungebremst rast er in einen Stromkasten und fliegt über den Lenker. Wo er landet, sehe ich nicht mehr.

Ich springe auf und drücke das Blech der Fremden in die Hand, die mich nur perplex anstarrt. Mit großen Schritten haste ich zum Ausgang, wo es einen quälenden Moment dauert, bis die Türen an der Emil-Wölk-Straße endlich aufgleiten. Viel kann ich ohne Ausrüstung oder Medikamente nicht ausrichten, aber was, wenn er reanimiert werden muss? Hier gibt es nicht mal einen AED in der Nähe. Ich renne auf die Stelle zu, wo sich um den Radfahrer bereits eine Traube besorgter Pendler schart.

»Lassen Sie mich durch, ich bin Ärztin.«

Diesen Satz wollte ich schon immer mal sagen. Nur nicht ausgerechnet heute.

Alle Köpfe wenden sich zu mir und die Menge teilt sich. Gott sei Dank – das Unfallopfer ist bei Bewusstsein und presst die Hände in einer leicht verkrampften Haltung gegen die Stirn. Sein Helm ist verrutscht. Die Frau, die neben ihm hockt, erhebt sich hastig und macht mir Platz. Ich knie mich auf den eisigen Bordstein.

»Können Sie mich hören?« Ich berühre den Mann an der Schulter. »Haben Sie Schmerzen?«

Er stöhnt und löst die Hände vom Gesicht. Ich blinzle verwundert. Seit wann fährt Dr. Mark Breitenbach Rad? Die verschwitzten blonden Haare kleben ihm in der Stirn und die Überraschung in seinen Augen verrät mir, dass er mich ebenfalls erkannt hat.

»Nee«, knurrt er. »Fühlt sich an wie eine sanfte Akupunktur.«

Okay, sein Sarkasmus funktioniert noch. Und sein Gedächtnis scheinbar auch. Damit wäre ein schweres Schädel-Hirn-Trauma schon mal ausgeschlossen.

»Darf ich?«, frage ich mit professioneller Höflichkeit und zücke mein Smartphone, um ihm in die Pupillen zu leuchten. »Welchen Tag haben wir heute?«

»Lass den Mist, mein Kopf ist in Ordnung.« Mark drückt sich in eine sitzende Position hoch und sieht sich nach seinem motorisierten Sportbike um, das neben dem Stromkasten auf dem Pflaster liegt. Gegenüber rollt eine Linie vier ein, was den Großteil der Schaulustigen dazu bewegt, zu den sich öffnenden Türen zu eilen.

»Trotzdem sollte dich jemand durchchecken«, sage ich. »Wieder aufs Rad steigen wäre keine gute Idee. Am besten rufe ich dir einen RTW.« Ich halte mein Handy ans Ohr. Er grummelt nur leise, während ich der Leitstelle unseren Standort durchgebe. »Sie sollten gleich hier sein.«

Mark setzt seinen Helm ab und wischt sich Dreck von seiner teuren Armani-Jacke. Er wirft mir einen Seitenblick zu und senkt die Stimme. »Warum meldet sie sich nicht bei mir?«

»Das weißt du ganz genau.« Ich presse die Lippen zusammen und hoffe inständig, dass die Sanitäter schnell eintreffen. »Sicher, dass du okay bist?« Ich deute auf den aufgerissenen Stoff seiner hellgrauen Hose.

Er ignoriert meine Frage. »Katja hat mich blockiert, oder?«

Ich schweige. Insgeheim bin ich stolz auf meine Freundin, dass sie es durchgezogen hat und nicht schwach geworden ist. Trotzdem werde ich mich aus der Sache raushalten und ihm auch nicht die Meinung geigen. Schließlich muss ich in fünf Monaten an der Uniklinik wieder mit ihm zusammenarbeiten.

»Schon gut«, brummt er. »Ist unwichtig.«

Ich schnaube leise. Diese Gleichgültigkeit passt viel besser zu ihm. Wir starren beide in die Scheinwerferlichter eines Lasters und der endlosen Reihe an Pkws, die sich durch den Berufsverkehr der Karl-Marx-Allee drängen. Nach ein paar Minuten taucht der Rettungswagen am Ende der Straße auf und parkt am Bordstein. Bevor die zwei Sanitäter Mark erreicht haben, rappelt er sich auf die Füße, humpelt ihnen entgegen und empfängt sie mit einem brüderlichen Handschlag. Danach helfen sie ihm doch tatsächlich, sein Pedelec in den RTW zu laden. Ich grüße sie kurz und wende mich ab, weil ich hier nicht mehr gebraucht werde.

Die leuchtende Anzeigetafel der Haltestelle informiert mich, dass die nächste Linie drei erst in neunzehn Minuten kommt. Ich sinke auf die eiskalte Wartebank und stelle mir das Gesicht meines neuen Chefarztes vor, wenn ich zu spät in die Frühbesprechung reinplatze. Ohne meinen Einstandskuchen, denn der ist ja in der Bahn weitergefahren. Sieht so aus, als wäre mein Start am St. Elias ruiniert, bevor ich überhaupt dort angekommen bin.

Von meinem allerersten Tag als Ärztin träume ich bereits, seit meine Nanny mir im Alter von fünf Jahren einen Plastik-Arztkoffer geschenkt hat. Aber so wie heute hätte ich mir diesen Tag nie vorgestellt. Mit zusammengebissenen Zähnen rufe ich mir die Worte meiner Mutter in Erinnerung. Ich muss das durchziehen, schließlich stellt das St. Elias für meine berufliche Zukunft meine einzige Chance dar.

Als ich meine frierenden Hände in meine Jackentaschen schiebe, ertaste ich einen unbekannten, weichen Gegenstand. Ich ziehe ein farbiges Bändchen heraus und muss trotz meiner Anspannung lächeln. Zwar liegt unsere Anfangszeit im Internat mittlerweile vierzehn Jahre zurück, aber Katjas Anblick mit Hunderten dieser Freundschaftsbändchen am Arm werde ich trotzdem nie vergessen. Du rockst das St. Elias!, steht auf dem Zettel, an den sie es geknotet hat. Ich reiße ihn ab. Obwohl das Armband eindeutig für ein Kind geflochten wurde, gelingt es mir, es um mein Handgelenk zu binden. Ein Typ am anderen Ende der Bank schlürft an einem To-go-Becher und blickt skeptisch zu mir herüber. Ob ich so etwas als 24-Jährige noch tragen kann? Katja würde das eindeutig bejahen. Verdammt, sie hat recht, ich werde das Ding rocken.

Als ich den Klinikvorplatz endlich erreiche, hat sich der Horizont längst aufgehellt. Über dem Bergkamm tauchen die ersten Sonnenstrahlen auf und hüllen den Gebäudekomplex in blassgoldenes Morgenlicht. Der hintere Flügel schmiegt sich direkt ans Ufer der Saale, die sich durch Baumgruppen und Wiesen schlängelt. Doch ich schenke dem malerischen Anblick kaum Beachtung und drücke die Glastür des Portals auf. Mittlerweile bin ich zwar leicht verschwitzt, aber zum Umziehen habe ich vor der Besprechung keine Zeit mehr. Ich eile zum Treppenhaus, öffne im Gehen meine Jacke und setze die Brille ab, die von der Winterkälte beschlagen ist. Hinter mir hallen Schritte im Gang wider.

»Morgen«, grüße ich gestresst. Über die Schulter erkenne ich die Umrisse eines großen, dunkelhaarigen Mannes im weißen Outfit der Klinik.

»Guten Morgen.« Er schließt zu mir auf. »Kann ich helfen?«

Seine tiefe, warme Stimme klingt in meinen Ohren nach, auch wenn ich ohne Brille kaum mehr als verschwommenen Nebel sehe. Ich verlangsame meine Schritte.

»Für die Station B4 bin ich hier richtig, oder?«

»Absolut. Da will ich auch gerade hin.« Er beobachtet meine Versuche, die Gläser an dem dicken Stoff meines Ärmels zu putzen, und deutet auf meine Jacke. »Darf ich?«

»Ähm, danke.« Ich lasse es zu, dass er mir die Winterjacke von den Schultern streift – was er erstaunlich sanft und geübt tut – und reibe die Brille an meinem langärmligen Shirt trocken. Etwas desorientiert versuche ich, sie mir aufzusetzen. Dabei verheddern sich die Bügel in meinen Haaren und rutschen mir aus der Hand. Mit einem leisen Scheppern fällt meine Brille zu Boden. Scheiße, was ist eigentlich mit mir los?

Hastig hocke ich mich auf den hellgrünen Linoleumboden und taste nach dem Gestell. Obwohl der Flur hell erleuchtet ist, fühle ich mich wie ein Tiefseetaucher, der auf dem Meeresgrund seine Lampe verloren hat. Mein freundlicher Helfer ist schneller, kniet sich neben mich und reicht mir die Brille. Ich schiebe sie mir vorsichtig auf die Nase.

Die Umrisse meines Gegenübers werden scharf – gestochen scharf. Er ist jung, höchstens ein paar Jahre älter als ich. Schwarze Strähnen fallen ihm in die Stirn, ein Dreitagebart umrahmt seinen kantigen Kiefer. Unter seinem Kittel ragt ein Hemdkragen hervor, und an seinen Mundwinkeln hängt ein sanftes Lächeln. Am meisten jedoch bannen mich seine dunkelgrauen Augen, die unverwandt in meine blicken.

Ein Schönling auf meiner Station – das kann ja heiter werden. Natürlich hilft er mir noch mit einem rücksichtsvollen Griff auf die Beine. Ich lasse seine große Hand schnell wieder los. Katja würde bei so einem Gentleman der alten Schule wahrscheinlich dahinschmelzen, aber ich finde dieses Getue aus dem letzten Jahrhundert eher albern.

»Ist alles in Ordnung?«, fragt er, sobald wir beide stehen. Sein Blick ist so besorgt, als wolle er mich gleich hier auf dem Gang verarzten.

»Danke, alles bestens.« Ich nehme ihm meine Jacke ab. Mit einem Blick auf die Leuchtanzeige im Flur setze ich meinen Weg zum Treppenhaus fort. »Wenn man davon absieht, dass ich am ersten Arbeitstag schon vier Minuten zu spät bin.«

»Keine Sorge, Jankowski kommt selbst immer ein paar Minuten später.« Er folgt mir. »Ich bin übrigens Timo, fünftes Jahr in der Inneren.«

»Ellen.« Ich nehme die ersten Stufen. »Dann sind wir in nächster Zeit Kollegen. Mein Vertrag ist allerdings auf fünf Monate befristet.«

»Tatsächlich?« Er klingt fast bedauernd. »Warum?«

»Die Jenaer Uniklinik hatte erst ab Juli eine Stelle frei. Meine Doktormutter hat mich hierher vermittelt, damit ich die Grundlagen wie das Sonografieren lernen und nebenbei weiter forschen kann. Unsere Studie muss bis Ende des Jahres Ergebnisse liefern, damit wir die Drittmittelfinanzierung behalten.«

»Wow.« Er hebt die Brauen, als wäre das gar nicht seine Welt. »Heißt das, du sitzt nach Feierabend noch vor deinen Reagenzgläsern?«

»Ja, im Grunde schon, vor meinen Bakterienkolonien.«

»Klingt hart. Viel Erfolg dabei.« Er sieht mich von der Seite an. »Du kannst mich in Zukunft gerne rufen, falls du nochmal deine Brille verlierst.«

Ich schnaube, kann aber ein Grinsen nicht unterdrücken. »Werd ich mir merken. Und sonst? Kannst du noch mehr außer Frauen retten und Witze reißen?«

Sein höfliches Lächeln wird breiter. »Vielleicht, wenn ich mir Mühe gebe. Ich könnte dir zum Beispiel den Weg zum Arztzimmer zeigen.«

Wir erreichen den oberen Treppenabsatz. Timo führt mich zu einer Tür, die er mir galant aufhält. Beim Hindurchtreten spüre ich ein verdächtiges Herzklopfen, das ich auf meine Nervosität schiebe.

Die Frühbesprechung hat tatsächlich noch nicht begonnen. In das enge Arztzimmer verteilen sich drei PC-Arbeitsplätze, auf denen Patientenkurven und Papierstapel verstreut liegen. In der Raummitte steht ein Konferenztisch, den mehrere ringförmige Spuren von Tassen zieren. Auf der Heizung stapeln sich Aktenordner mit Jahreszahlen – offenbar ein provisorisches Archiv für Arztbriefe – doch der Blick entschädigt für das Chaos. Durch die Glasfront sieht man aus luftiger Höhe die ruhig dahinströmende Saale, die Silhouette eines Dorfs und den bewaldeten Bergkamm, hinter dem mittlerweile die Sonne aufgegangen ist und ins Zimmer strahlt. Wow. Allein für diese Aussicht hat es sich gelohnt, eine Klinik so weit draußen zu errichten.

»Morgen allerseits.« Chefarzt Dr. Jankowski tritt durch die offene Tür. Er mustert meine Winterjacke und Skinny-Jeans, bevor er mir wieder in die Augen sieht. »Frau Pahlke, Sie haben es also geschafft.«

»Ich hatte noch keine Zeit, mich umzuziehen«, entschuldige ich mich. »Unterwegs gab es einen Notfall.«

»Verstehe«, erwidert er etwas steif und umrundet den Konferenztisch, an dem bereits drei Kolleginnen Platz genommen haben. Alle tragen Bereichskleidung, ich bin die Einzige im Freizeitlook. Wenn ich die Geschichte im Detail ausbreite, klingt das erst recht wie eine Ausrede. Ich hänge meine Jacke über eine Stuhllehne, entschlossen, diesen Moment hinter mich zu bringen. Dabei spüre ich, dass Timo mich beobachtet.

»Geht es dem Radfahrer gut?« Eine Krankenschwester an Dr. Jankowskis Seite steht auf. Die Stuhlbeine schrammen über den Boden. »Leider habe ich den Sturz nicht gesehen, aber die Leute in der Bahn haben erzählt, dass es übel aussah.«

Nachdem ich sie drei Sekunden lang angestarrt habe, rastet die Erkenntnis ein, dass ich vorhin in der Bahn mit ihr geplaudert habe. Im blauen Kasack sieht sie anders aus, aber die brünette Hochsteckfrisur und die freundlichen Grübchen erkenne ich wieder.

»Ja, der Radfahrer hatte einen ziemlichen Dickschädel«, erkläre ich. »Robust in jeder Hinsicht. Wir kennen uns von der Uniklinik. Die Sanis haben ihn abgeholt.«

»Oh.« Dr. Jankowskis Blick verändert sich. »Sie haben einem verunfallten Kollegen geholfen? Dem Himmel sei Dank, dass alles gut gegangen ist.«

Die Schwester tritt näher und beugt sich an mein Ohr. »Mein Name ist übrigens Rebecca. Deinen Kuchen habe ich gerettet. Die Streuselanordnung ist wirklich gelungen!«

Ich werfe ihr ein dankbares Lächeln zu. Auch wenn die Pflegerinnen auf der B4 bestimmt alle sehr nett sind, habe ich meine Lieblingsschwester bereits gefunden.

»So, dann noch mal offiziell«, erhebt der Chefarzt die Stimme, nachdem wir um den Konferenztisch Platz genommen haben. »Heute darf ich Ihnen unsere neue Kollegin vorstellen, Frau Pahlke. Willkommen am St. Elias.«

Während er ein paar Worte zu meiner Begrüßung hinzufügt, lächle ich und sehe in die Gesichter der Umsitzenden. Außer Rebecca tragen alle weiße Kittel. Die leitende Oberärztin Dr. Mahmoud erkenne ich von der Klinik-Website. Die beiden jüngeren Frauen links und rechts von Timo müssen ebenfalls Assistenzärztinnen sein. Und das war’s. Kaum zu glauben, aber mehr als sieben Stühle sind nicht besetzt.

Als Erstes berichtet Rebecca von den nächtlichen Vorfällen und Neuaufnahmen auf Station. Ich höre so konzentriert wie möglich zu, kann aber nicht verhindern, dass mein Blick zwei- oder dreimal zu Timo wandert.

Der Stoff seiner Kittelärmel spannt sich deutlich über seinen Oberarmen. Offensichtlich hängt er in seiner Freizeit nicht nur über medizinischen Fachbüchern, sondern macht auch Kraftsport. Mit seinem schwarzen Hemdkragen sieht er trotzdem spießig aus. Die meisten Ärzte tragen das bequeme Poloshirt der Klinik unter dem Kittel, und kommen nicht im schicken Hemd hierher, als wären sie gleich zu einer Dinnerparty verabredet. Zumindest hat er die Krawatte weggelassen. Aber es würde mich kein Stück wundern, wenn er seinem Outfit morgen noch einen Schlips in Altherren-Rosa hinzufügen würde.

In diesem Moment dreht Timo den Kopf zu mir. Sein Mund verzieht sich zu einem Grinsen, an dem ich ablesen kann, was er denkt. Oh Mann, mein Auftritt mit der Brille wird mir noch ewig nachhängen. Ich unterdrücke ein Augenrollen und wende mich schleunigst wieder meiner Patientenliste zu. Ich bin hier, um zu arbeiten.

»Frau Aydin«, sagt die Oberärztin zu der einen jungen Kollegin. »Sie übernehmen Zimmer eins bis zehn, wie letzte Woche.«

Die Angesprochene nickt, ohne von ihrem Papier aufzublicken. Müde streicht sie sich ihr dichtes schwarzes Haar hinters Ohr. Obwohl wir erst Mittwochmorgen haben, wirkt sie bereits ziemlich überarbeitet.

»Soll ich wieder die Außenlieger machen?«, fragt Timo, der sich entspannt zurücklehnt.

Dr. Jankowski nickt. »Und unsere neue Kollegin kann mit fünf Zimmern einsteigen.«

»Ist das nicht etwas viel?«, wirft Timo ein. »Zehn Patienten, gleich am ersten Tag?«

»Frau Pahlke?« Der Chefarzt sieht mich an. »Trauen Sie sich das zu?«

»Ähm, ich …« Keine Ahnung, was mich gerade mehr schockiert – dass Timo den Chef offen infrage stellt, oder dass dieser sich das sogar gefallen lässt.

»Hast du schon mal mit Orbis gearbeitet?«, setzt Timo ruhig nach. »Unsere Kliniksoftware ist nicht ganz unkompliziert für Einsteiger.«

»Nein, an der Uniklinik hatten wir SAP«, erwidere ich irritiert. »Aber das ist kein Problem, mit neuer Software komme ich schnell zurecht.« Im praktischen Jahr habe ich bereits eigene Patienten betreut, also gibt es keinen Grund, dass er sich um mein Wohlergehen sorgen muss. Ich wende mich dem Chef zu. »Fünf Zimmer klingen perfekt für den Anfang. In den nächsten Tagen dürfen es gerne mehr sein.«

»Gut«, sagt Dr. Jankowski. »Sie nehmen die Elf bis Fünfzehn, ganz hinten im Gang. Bei Fragen können Sie sich jederzeit an unsere Oberärztin wenden.«

Frau Dr. Mahmoud nickt mir freundlich zu. Nur Timo hebt an der anderen Seite des Tischs die Brauen. Ich ignoriere ihn und streiche mir Zimmer elf bis fünfzehn an.

Nachdem auch die brünette Assistenzärztin ihre Zimmer zugeteilt bekommen hat, gehen wir gemeinsam die Bettenliste durch. Der Chef ruft am Beamer Befunde und Laborwerte auf. Bei meinen Patienten schreibe ich akribisch mit, bis der Rand meines Stationsbogens mit Diagnosen und Anweisungen bekritzelt ist. Röntgen über Orbis anmelden, telefonisch Konsile anfordern, einen Pflegeheimplatz über den Sozialdienst organisieren, und für die drei Patienten, die ich heute nach Hause schicken soll, sind noch keine Entlassungsbriefe vorbereitet. Egal, ich liebe Herausforderungen.

Bei einem Seitenblick bemerke ich, dass Timo mich und meine Aufzeichnungen skeptisch mustert, als hätte ich mir zu viel vorgenommen. Hat der Kerl etwa beschlossen, ungefragt meinen Beschützer zu spielen? Nur weil ich neu an dieser Klinik bin, heißt das noch lange nicht, dass ich mich zitternd an seinen Kittelsaum klammern muss. Ich werde ihm zeigen, was ich draufhabe, damit hier von Anfang an keine Missverständnisse aufkommen.

Kapitel 2

»Und Herr Fischer in der Zwölf hat Rollvenen, da hat Sabine kein Blut bekommen.«

Ich nicke Schwester Corinna zu, die laut ihrem Namensschild hier die Stationsleiterin ist. Mein Kopf schwirrt bereits. Nach der Frühbesprechung habe ich es gerade so geschafft, zur Umkleide zu eilen und mich in meine Arztkleidung zu werfen.

»Die Röhrchen liegen auf dem Stationstresen, nicht zu übersehen«, fügt sie hinzu. »Der Transportdienst holt das Labormaterial gegen zehn.« Sie wirft mir ein aufmunterndes Lächeln zu und läuft zurück in Richtung der B4.

Ich krakle das Wort Blut neben Herrn Fischers Namen, wo kaum noch Platz ist. Wer waren noch mal die beiden, die einen i.v.-Zugang brauchten? Hoffentlich hat Corinna die Namen auf die Viggo-Pflaster geschrieben.

»Ellen«, unterbricht jemand in ruhigem Ton meine Gedanken. Ich drehe mich um und begegne Timos Blick, der am Konferenztisch des Arztzimmers lehnt. »Falls es dir doch zu viel wird, kann ich dir ein paar Patienten abnehmen.«

Diesmal muss ich mich wirklich bemühen, nicht die Augen zu verdrehen. Stattdessen lächle ich und hebe entschlossen das Kinn. »Danke, das wird nicht nötig sein. Außerdem habe ich kein Problem mit Überstunden.«

»Überstunden? Keine Sorge, die machen wir sowieso alle.« Er taxiert mich. Offenbar glaubt er, ich leide unter Selbstüberschätzung. Aber er sagt nichts mehr, sondern beugt sich vor und schreibt die Zahlen 1645 auf meinen Belegungsplan. »Meine Durchwahl, falls du Hilfe brauchst. Ich hole mir erst mal ’nen Tee.«

Egal, was passiert, diese Nummer werde ich nicht anrufen.

Trotzdem nicke ich und sehe dabei zu, wie Timo zur Tür geht.

»Übrigens.« Auf halbem Weg bleibt er stehen und beugt sich an mein Ohr. Seine tiefe Stimme senkt sich zu einem Flüstern. »Schickes Armband.«

Ich ignoriere das sonderbare Gefühl, das seine Nähe in meinen Kniekehlen auslöst.

»Hat meine beste Freundin in der fünften Klasse gemacht«, gebe ich ungerührt zurück. »Ich kann sie gerne fragen, ob sie dir auch eins flechten würde.«

»Klar, warum nicht?« Er zwinkert auf eine nervige, aber leider gut aussehende Art. Ich versuche ihn mir bildlich mit einem Freundschaftsbändchen vorzustellen. Wahrscheinlich denkt er, dass selbst Kinderschmuck seiner Männlichkeit nichts anhaben könnte. Timo senkt noch mal die Stimme. »Denk bitte trotzdem an die Hygienevorschriften. Kein Schmunk an den Unterarmen.«

Bevor ich etwas erwidern kann, dreht er sich bereits um und verschwindet im Flur. Ich unterdrücke den Impuls, ihm etwas nachzurufen. Zähneknirschend knote ich das Armband ab, stecke es in meine Kitteltasche und ärgere mich, dass ich nicht selbst an die Regeln zum Arbeitsschutz gedacht habe.

Ich wende mich den zwei Assistenzärztinnen zu, mit denen ich im Arztzimmer zurückgeblieben bin, und stelle mich ihnen vor. Die Schwarzhaarige, die in der Besprechung kaum etwas gesagt hat, heißt Derya. Nach wenigen Sätzen vertieft sie sich wieder in den Computer und die Laborwerte ihrer Patienten. Ist sie schüchtern oder nur im Zeitstress? Dafür ist die brünette Assistentin, Pauline, umso gesprächiger.

»Mensch, freue ich mich, dass du da bist.« Sie dreht sich schwungvoll auf ihrem Bürostuhl. »Endlich bin ich nicht mehr das Küken!«

Ich muss grinsen. »Tja, dann versuche ich mal, nicht aus dem Nest zu fallen. Bist du auch im ersten Weiterbildungsjahr?«

»Ja, habe im September angefangen. Damals habe ich nicht mal die Zimmertüren meiner Patienten gefunden. Aber mittlerweile fühlt es sich an, als wäre ich schon hundert Jahre hier. Keine Sorge, du kriegst das auch alles hin.« Sie hüpft von ihrem Stuhl hoch. »Komm, ich zeige dir, wo du deine Fieberkurven findest.«

Dankbar folge ich Pauline durch den Flur. Sie plaudert munter weiter und erklärt mir ein paar Details über die Stationsabläufe, doch etwas lenkt mich ab. Warum ist mir diese Wölbung unter ihrem Kittel vorher nicht aufgefallen? Sie muss mindestens im siebten oder achten Monat sein. Was macht eine schwangere Ärztin in der Klinik, zwischen Dauerstress und resistenten Keimen? Müsste sie sich nicht auf ihre Entbindung vorbereiten und zu Hause auf ihrem Sofa Atemübungen machen?

»Es stört mich nicht, wenn du das Übliche fragst«, sagt sie, als sie meinen Blick bemerkt. »Also, wann es so weit ist, und was es wird.«

Ich lächle ertappt. »Wann ist es so weit? Und was wird es?«

»Ein Mädchen.« Sie drückt die Glastür zur Station auf. »Der ET ist am neunten April, in knapp drei Wochen beginnt der Mutterschutz. Mein Freund und ich haben das Babyzimmer fast fertig. Gestern habe ich die Stoffwindeln in den Wickeltisch eingeräumt. Richtig süße Dinger mit Elefanten und Pinguinen.« Ein Strahlen breitet sich auf ihrem sommersprossigen Gesicht aus.

»Freut mich. Dann steht euch ja eine spannende Zeit bevor.«

Das meine ich ehrlich, auch wenn ich wie eine hohle Sprüchebox klingen muss. Bisher bin ich kaum mit Babys in Berührung gekommen. Natürlich wünsche ich Pauline, dass sie Erfüllung in der Mutterrolle findet. Andererseits wird sie bei ihrem Wiedereinstieg als Ärztin unweigerlich mit Hindernissen zu kämpfen haben. Ob sie wirklich geplant hat, ihre Weiterbildung gleich im ersten Jahr für ein Kind zu unterbrechen?

»Wie hat denn der Chef reagiert, als du es ihm gesagt hast?« Ich zögere. »Wenn das keine indiskrete Frage ist.«

»Er hat sich aufgeregt, dass ich ihm die Schwangerschaft verschwiegen habe. Aber sonst hätte er mich ja nie eingestellt.« Sie zuckt mit den Schultern. »Die dicke Luft hat sich schnell gelegt. Vielleicht hat der Chef in der Zwischenzeit mal ›Geschlechtsdiskriminierung‹ gegoogelt. Jedenfalls bemüht er sich seitdem, alle Arbeitsschutz-Regeln für Schwangere einzuhalten. Keine infektiösen Patienten, keine Nachtdienste. Und mit Nadeln hantiere ich auch nicht. Die Zugänge für meine Patienten legt mir Timo immer.«

Ach, der Frauenretter. Hätte ich mir ja denken können.

»Das kann ich auch für dich übernehmen.« Wir betreten das Stationszimmer, in dem Corinna hinter der Glasscheibe sitzt und ihren Pflegebericht in die Tasten hackt.

»Du musst erst mal mit deinen Zimmern klarkommen.« Pauline zieht die Schublade eines fahrbaren Schranks auf. »Hier findest du die Akten, nach Alphabet sortiert – zumindest meistens. Wenn ein Patient nicht auffindbar ist, musst du auch bei den anderen Buchstaben gucken.«

Über das Schiebeschränkchen gebeugt nehmen wir uns die Akten der Neuaufnahmen vor, die letzte Nacht mit akuten Beschwerden eingeliefert wurden. Ich versuche die krakelige Schrift auf dem Bogen der Notaufnahme zu entziffern. Doch leise Gesprächsfetzen wehen vom anderen Ende des Raums hinüber und lenken mich ab.

»… oder die normalen Platten aus Polyurethan«, sagt jemand.

»Ja, darüber habe ich letztens einen Artikel gelesen«, höre ich Timos markante Stimme. »Naturfaserplatten sollen gute Dämmeigenschaften haben, und sie werden in Deutschland hergestellt.«

Ich schaue in Richtung der Küche, die sich direkt an das Stationszimmer anschließt. Doch die hohen Schränke versperren mir die Sicht. Offenbar unterhält sich Timo mit einem der Pfleger. Worüber reden die beiden? Die Antwort des anderen verstehe ich nicht, und will mich gerade wieder meinem Aufnahmebogen zuwenden.

»Hast du geschaut, ob der Vertrag auch Dämmschäden abdeckt?«, hallt Timos Stimme herüber. »Für so was gibt es bei Eigentumsversicherungen meist eine Extraklausel.«

Ich halte irritiert inne. Welcher Mann Ende zwanzig liest in seiner Freizeit Artikel über die Dämmeigenschaften von Naturfasern? Oder kennt sich mit Vertragsklauseln in Eigentumsversicherungen aus? Offenbar ist Timo genauso langweilig, wie es sein steifer Hemdkragen vermuten lässt. Kopfschüttelnd fokussiere ich mich auf die Akte vor mir. Doch es hat keinen Sinn, ich kann dieses Gekrakel nicht entziffern.

»Pauline? Hast du eine Ahnung, was das heißen soll?«

»Zeig mal her.« Sie zieht die Akte zu sich und runzelt die Stirn. »Einige Kollegen aus der Notaufnahme haben echt eine Sauklaue. Ist das ein P oder ein D?«

»Könnte auch ein O sein.« Ich beuge mich zu ihr und wir rätseln über die Bedeutung der drei Worte auf dem Bogen. Bis wie aus dem Nichts eine wohlbekannte, tiefe Stimme ertönt.

»Demenz, Diarrhö und Diabetes.« Timo tritt mit einer halbleeren Teetasse in der Hand hinter uns und beugt sich über meine Schulter.

»Das soll der Aufnahmegrund sein?« Ich drehe mich zu ihm um. »Was haben die drei Sachen denn bitte miteinander zu tun?«

Er nimmt einen Schluck Tee und lehnt sich mit einem Arm an den Aktenschrank. »Klassische Tripel-D-Trias. Wusstet ihr nicht, dass Zuckerentgleisungen bei Demenzkranken Durchfall auslösen können?«

»Oh, ja«, sagt Pauline mit dem typischen Gesichtsausdruck einer Studentin, die gerade eine Wissenslücke überspielen will.

»Den biochemischen Mechanismus hätte ich gerne mal erklärt.« Ich verschränke die Arme und mustere Timos amüsierte Miene und das Funkeln in seinen Augen. »Die Zuckermoleküle relaxieren über die Hirnzellen den Darm, was?«

»Ja, so ungefähr. Kann ich dir gern mal in Ruhe bei einer Tasse Tee erklären.«

Pauline schaut verwirrt zwischen mir und Timo hin und her.

»Er verarscht uns«, sage ich. »Den Quatsch mit der Trias hat er sich gerade ausgedacht.«

»Sei dir da nicht so sicher.« Timo presst die Lippen zusammen, doch sein Kittel bebt vor Lachen. »Es gibt Dinge, die die Forschung noch gar nicht –«

Weiter kommt er nicht, denn Pauline haut ihm unsanft gegen den Oberarm. Timo hebt lachend die Hände zur Kapitulation. Dieses Spiel wirkt so vertraut, als wäre das nicht ihr erster Kampf.

»Liegt es an Ellen, dass du so abdrehst?« Pauline versucht, eine saure Miene zu machen, muss aber auch grinsen. »Oder hast du dich heute am Pillenschrank bedient?«

»Das bleibt mein Geheimnis.« Sein Blick wandert von ihr zu mir. Mit einem Mal verblasst sein Lächeln, und der Ausdruck seiner dunklen Augen wird ruhig und ernst. »Um auf deine Frage zurückzukommen, Ellen.« Er deutet auf meinen Bogen. »Die Notaufnahme hat nicht immer Zeit für eine ausführliche Dokumentation. Deswegen solltest du dich nie auf Befunde deiner Kollegen verlassen und dir immer selbst ein Bild machen. Also geh aufs Zimmer und schau dir den Mann an.« Er leert den Rest seiner Teetasse, lächelt mir kurz zu und läuft zur Küchenzeile.

Dort räumt er die Tasse ordnungsgemäß in den Geschirrspüler ein. Danach, und jetzt traue ich meinen Augen kaum, sortiert er sämtliches Geschirr in die Maschine ein, das von den Schwestern und Pflegern neben der Spüle abgestellt wurde. Alles passiert innerhalb weniger Sekunden, und als er die Klappe der Maschine schließt, zeigen sämtliche Tassenhenkel in dieselbe Richtung. Ich blinzle. Timo ist nicht nur ein Spießer, sondern auch ein Pedant.

Er schlendert zur Tür. Auf halbem Weg dreht er sich noch mal zu mir um.

»Dein Kirschkuchen ist übrigens echt lecker«, ruft er und verschwindet in den Flur. Ich merke, dass sich ein bescheuerter Teil von mir wie ein kleines Mädchen freut.

»Du hast Kuchen mitgebracht?« Pauline schreckt auf. »Du hast ja keine Ahnung, was es bedeutet, als Schwangere mit Süßkram unterversorgt zu sein.«

Sie zischt ab in Richtung Küche, ohne ihren Aktenstapel weiter zu beachten. Ich sehe ihr amüsiert nach, beschließe aber, selbst noch keine Pause einzulegen. Immerhin warten meine Patienten auf mich. Ich klemme mir alle zehn Fieberkurven unter den Arm und trete in den Stationsflur. Hinter all den Anweisungen und Befunden stecken Menschen, die gerade eine miese Zeit durchmachen. Ich bin hier, um ihr Leid zumindest ein bisschen zu lindern. Meine weißen Turnschuhe quietschen auf dem Linoleumboden, während ich mich auf den Weg zu den hinteren Zimmern mache.

Heute ist mein erster Tag als Ärztin, egal unter welchem Dach. Sechs Jahre lang habe ich auf diesen Moment hingearbeitet und seit meiner Kindheit davon geträumt. Wenn ich in der Grundschulzeit mal krank wurde, durfte ich vormittags die Wiederholungsfolgen von In aller Freundschaft im Fernsehen schauen. Ich wollte genauso wie dieser schmalzlockige Dr. Stein werden, der mit wehendem Kittel und einem mitfühlenden Lächeln angelaufen kommt, wenn ein Kind sich mit Bauchschmerzen windet oder eine Fieberkranke theatralisch um Atem ringt. Bei der Erinnerung muss ich grinsen. Und trotzdem, mein sechsjähriges Ich hätte vor Freude seinen Plastik-Arztkoffer in die Luft geworfen, wenn es hätte sehen können, dass sein Wunsch achtzehn Jahre später Realität wird. Heute, hier und jetzt.

Vor Zimmer elf bleibe ich stehen und hänge mir mein Stethoskop um den Hals. Ich hole mein Handy aus der Kitteltasche und schieße ein Selfie von mir, als kompetente und seriöse Klinikerin mit dem Stationsflur im Hintergrund. Zuerst schicke ich es Katja, und, nach kurzem Zögern, auch meiner Mutter. Dann drücke ich die Tür zu meinen ersten zwei Patienten auf.

Kapitel 3

Mit eiskalten Fingern schalte ich das Licht in meiner düsteren Wohnung an und befreie mich aus der Jacke. Der Stress des Tages pulsiert noch in meinen Adern. Obwohl ich mich bis in die letzte Körperzelle ausgelaugt und erledigt fühle, ist es eine befriedigende Art der Erschöpfung. Ich wollte nicht Feierabend machen, bevor alle Entlassungsbriefe für morgen vorbereitet waren.

Bei meinem letzten Gang zur Station, um die Akten zurückzubringen, haben die Schwestern gerade eins meiner Betten neu belegt. Die junge Patientin hatte ziemlichen Bammel vor ihrer Magenspiegelung, also habe ich mir Zeit genommen und sie unfreiwillig mit meinen misslungenen Skizzen des Magenquerschnitts erheitert. Am Ende haben wir über die Inkompetenz ihres Freundes gelacht, der ihr ein wahlloses Sammelsurium aus Abendkleidern in die Kliniktasche gepackt hat. Als ich endlich aus der Klinikpforte getreten bin, war es schon halb acht.

Mit einem Seufzen sinke ich auf meinen Bettrand. Morgen darf ich mich nicht mit meinen Patienten verquatschen, damit ich es nach Feierabend ins Labor schaffe. Auch Katja scheint noch unterwegs zu sein. Am späten Nachmittag habe ich ihr in ein paar kurzen Nachrichten von meinem chaotischen Morgen und der Begegnung mit Mark berichtet und versprochen, ihr alles vom St. Elias zu erzählen, sobald wir beide zu Hause sind.

Meine Mutter dagegen hat nicht auf mein Selfie reagiert. Ich scrolle durch unsere Nachrichten. Meine Frage nach ihrem Konzertbesuch, die ich ihr vorgestern geschickt habe, ist ebenfalls ungelesen. Andere Töchter würden sich nach zwei Tagen vielleicht Sorgen machen, doch ich weiß, wie viel Mama um die Ohren hat. Weil sie alle Energie in ihren Job steckt, kennt die Wissenschaft sie als die Professorin, die mit einem neuen Single-Layer für Halbleiter die Digitaltechnik revolutioniert hat.

Trotzdem schaffe ich es nach all den Jahren immer noch nicht, sie nicht manchmal zu vermissen. Ob sie überhaupt weiß, dass heute mein erster Arbeitstag war? Einem Impuls folgend drücke ich den grünen Hörer in der Ecke. Es piepst an meinem Ohr, bis ich auflege.

Ich starre auf mein Kopfkissen, wo meine Kuschelrobbe Heuli liegt. Für einen Moment bin ich wieder zehn Jahre alt und höre die Stimme meiner Internatsbetreuerin, die mir sagt, dass meine Telefonzeit heute ausfällt, weil meiner Mutter ein dringender Termin dazwischengekommen ist. Ich drücke meine Nase in Heulis weiches Fell und atme seinen vertrauten Geruch ein. Erst Sekunden später begreife ich, was ich da tue.

Himmel, was ist nur mit mir los? Seit heute bin ich Ärztin und habe immer noch mein altes Kuscheltier im Bett liegen. Ich nehme die Robbe und stopfe sie in meinen Kleiderschrank, ganz unten in das Fach mit den Socken.

Nachdem ich eine endlose Weile an die Decke gestarrt habe, lenkt mich ein Vibrieren ab. Beim Blick auf das Display traue ich meinen Augen kaum. Schnell hebe ich ab. »Mama! Ich hatte gehofft, dass du Zeit hast.«

»Hallo, mein Schatz.« Sie klingt außer Atem, als wäre sie gerade durch die Tür unseres Einfamilienhauses in Ilmenau getreten. »Tut mir leid, dass ich mich nicht eher gemeldet habe. Um auf deine Frage zu antworten, ja, das Konzert am Samstag war fabelhaft. Ich wollte dich vorgestern Abend anrufen, aber dann –«

Zerstreut unterbricht sie sich. Ich grinse. So beginnen unsere Gespräche immer. Vor allem, seit sie letztes Jahr zur Institutsdirektorin befördert wurde.

»Kein Problem«, erwidere ich wie üblich. »Hattest du Stress an der Uni?«

»Ich hatte dir von der neuen Arbeitsgruppe erzählt, oder? Für den Silizium-Keramik-Sensor. Die Rechtsabteilung hat endlich alles geklärt, und jetzt zögert die DFG wegen der Finanzierung.« Sie seufzt. »Aber mach dir darum keinen Kopf. Wie war dein Einstieg? Ist die Klinik so hinterwäldlerisch, wie du befürchtet hast?«

Nach der langen Funkstille hatte ein Teil von mir befürchtet, Mama könnte enttäuscht von mir sein. Stattdessen klingt sie ehrlich interessiert, und das erleichtert mich.

»Verglichen mit der Uniklinik ist das St. Elias wirklich ein Mauseloch. Das EDV-System stammt aus der Steinzeit. Trotzdem ist es irgendwie nett, so klein und familiär. Und die Stationsarbeit ist echt eine Herausforderung, das hätte ich nicht gedacht.«

Ich beginne wie ein Wasserfall zu erzählen. Von meiner Visite, meinen ärztlichen Kolleginnen, von Schwester Rebecca, die mit einem Wägelchen voller Abführmittel über die Station fährt, und von meiner psychosomatischen Patientin, die mir gesten- und wortreich geschildert hat, wie sich ihre Eingeweide winden. Bis ihre Töchter aufgetaucht sind, die einen Karton voller medizinischer Vorbefunde mitgebracht haben.

»Das klingt wirklich anstrengend«, sagt Mama. »Können denn die Schwestern nicht die Gespräche mit den Angehörigen übernehmen? Du als studierte Ärztin musst dich doch nicht mit so was herumschlagen.«

»Ach, das macht mir nichts aus.« Ich wickle mir eine Haarsträhne um den Finger, die aus meinem Zopf entflohen ist. »Die beiden waren eben besorgt um ihre Mutter.«

»Hat Dr. Jankowski dir wenigstens den Kontrastmittel-Ultraschall gezeigt? Dafür hatte deine Doktormutter dich doch dorthin geschickt.«

»Ähm, noch nicht.« Ich setze mich aufrecht. »Daran habe ich ehrlich gesagt nicht mehr gedacht. In meinen Patientenzimmern war so viel zu tun.«

»Hm.« Es folgt eine kurze, betretene Stille. »Es klingt fast, als würden sie dich als Hilfskraft einsetzen. Dabei kannst du viel mehr als das.«

Ich spüre das altbekannte Ziehen in der Magengegend, so wie früher, wenn ich aus der Schule nur eine Zwei oder Drei statt einer Eins mit nach Hause gebracht habe. Du kannst doch viel mehr als das, hat sie bei solchen Gelegenheiten gesagt. Sie wurde nie laut, aber die Enttäuschung in ihrer Stimme hat mir auch damals ins Fleisch geschnitten.

»Mama, ich lerne im St. Elias viel«, versichere ich ihr. »Selbst im tollsten Labor der Welt könnte ich keine neuen Behandlungsmethoden erforschen, wenn ich nie Erfahrungen mit echten Patienten gesammelt hätte.«

»Ja, sicher. Ich möchte doch nur, dass du deine Intelligenz nicht verschwendest. Mit vier Jahren konntest du lesen und schreiben, und mit fünf hast du fehlerfrei die Strukturformel von Vitamin B12 aufgezeichnet. Damals wusste ich, dass du eine große Zukunft vor dir hast.«

Ein warmes Gefühl breitet sich in meiner Brust aus. Mama hat immer an mich geglaubt, mich stets in meinen Zielen unterstützt. Und letztlich hat sie recht.

»Diese Übergangssituation nervt mich doch selbst.« Ich lehne mich in den Kissen zurück und nestle an meiner Jeans. »Vielleicht sollte ich Frau Hofstetter noch mal fragen, wie es mit dem Stellenplan aussieht. Man weiß nie, ob jemand ausfällt, oder …«

»Gute Idee, Schatz. Hartnäckigkeit zahlt sich manchmal aus.«

»Das erledige ich bald«, verspreche ich. »Und was ist sonst los bei euch? Wie geht’s Papa?« Diese obligatorische Frage stelle ich ihr immer, weil er nicht gern telefoniert.

»Seine Knie machen ihm weiter zu schaffen. Laut dem Erfurter Sportarzt ist es wohl altersbedingte Arthrose. Natürlich wurmt ihn das ungemein. Dein Vater glaubt ohnehin seit Monaten, der Prodekan wolle ihn bald ersetzen und in Rente schicken.«

»Papa und Rente? Da müssen sie wohl mindestens warten, bis er 80 ist.«

Wir plaudern weiter über das Intrigennetzwerk an ihrer Fakultät und über den Stand der Experimente für meine Doktorarbeit. Als ich mich nach einer halben Stunde von Mama verabschiede und mein Zimmer verlasse, ist Katja bereits nach Hause zurückgekehrt und fläzt sich mit ihrem Handy auf dem Sofa. Ihre Wangen glühen von der Kälte und in den Strähnen ihres violetten Pixie Cuts tauen winzige Eiskristalle.

»Wie war’s?«, fragt sie ohne Einleitung. »Nun erzähl schon. Eingebildete Chefärzte? Tyrannische Schwestern? Heiße junge Kollegen?«

»Tss.« Ich lasse mich auf die Couch fallen. »Nur Letzteres, wenn du es genau wissen willst.«

»Echt?« Sie richtet sich auf. »Jetzt will ich es ganz genau wissen.«

»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Er ist ein Schnösel.«

Und dann sprudelt doch die ganze Geschichte aus mir heraus, angefangen bei Timos und meiner ersten Begegnung im Flur. Nach seinem Auftritt in der Frühbesprechung habe ich versucht, mich von ihm fernzuhalten. Trotzdem sind wir uns dauernd über den Weg gelaufen. Vielleicht wartet Timo nur darauf, dass ich einen Fehler mache und er mich retten kann. Nachdem ich diese Theorie versehentlich laut ausgesprochen habe, fängt Katja an zu grinsen.

»Du stehst auf ihn«, folgert sie messerscharf.

»Verwechselst du da nicht etwas?« Ich schlage die Beine übereinander. »Nicht ich bin diejenige, die bei Typen mit Stethoskop schwach wird.«

Das hat gesessen. Vielleicht sogar zu gut. Ich will mich gerade entschuldigen, da winkt Katja ab. »Von wegen, die Zeiten sind vorbei.« Sie steht auf und holt die Fernbedienung vom Sideboard. »Ich denke keine Sekunde an Mark. Nur an Simon, den Duke of Hastings.«

»Oh Gott.« Ich verdrehe die Augen. »Na, der hat immerhin bessere Manieren. Ist die vierte Staffel immer noch nicht erschienen?«

»Nein, aber wozu länger warten? Komm, wir schmeißen uns eine Pizza in den Ofen und gucken die alten Folgen.«

Ich widerspreche nicht, weil ich Hunger habe und keine Lust mehr, auch nur einen Finger zu rühren. Eigentlich stehe ich überhaupt nicht auf diese Herzschmerz-Schnulzen, aber ich habe Katja versprochen, ihrer Lieblingsserie Bridgerton eine Chance zu geben. Nach dem Desaster mit Mark tut ihr Ablenkung gut. Wenn Kerle im realen Leben so sanftmütig und herzensgut wären wie in dieser Scheinwelt, würde selbst ich mir noch mal überlegen, ob ich echt als Single sterben will.

»Was sagt es über unsere Emanzipation aus, dass das die erfolgreichste Netflix-Serie aller Zeiten war?« Ich deute auf das Fernsehbild. »Wünschen wir Frauen uns insgeheim so was? Den ganzen Tag in einer schicken Villa sitzen? Nichts tun außer uns schminken, Rüschenkleider auswählen und einen reichen Mann heiraten?«

»Simon ist nicht nur reich«, beschwert sich Katja, ohne den Blick von Simons und Daphnes Darbietung auf dem Parkett zu lösen. »Er ist anständig, höflich, zurückhaltend …« Sie seufzt theatralisch. »Tja, vielleicht hast du recht. Wenn es heutzutage solche Männer gäbe, will ich auch Haushälterin und wohlhabende Ehegattin werden.«

Wir grinsen beide und wenden uns wieder dem Bildschirm zu. Das Geplapper der Ballgesellschaft plätschert an mir vorbei, die Geigenklänge versetzen mich in Trance. Bei den Fracks und Seidenwesten der Adelsmänner muss ich wieder an Timo denken. Irgendwie kann ich ihn mir gut mit so einem Spazierstock oder auf einem englischen Edelross vorstellen. Er würde sich tief vor seiner Angebeteten verbeugen, sie in sein wunderschönes Schloss verfrachten, sie vor jedem Leid beschützen und den Versorger spielen. Ja, das würde zu ihm passen.

Keine Ahnung, warum der Kerl mich so triggert, ich kenne ihn ja kaum. Ich weiß nur, dass solche Kavaliere mich selbst in meinen schwächsten Momenten kaltlassen. Sie gehören in eine andere Zeit. Dorthin, wo Simon gerade staubwirbelnd auf seinem Hengst davonreitet, weil er sich seine Gefühle für Daphne noch nicht eingestehen kann.

Beim Abspann vergießt Katja ein paar Tränen. Das liegt wahrscheinlich nicht nur an dem eben gesehenen Drama. Ich laufe ins Bad, um ihr ein Taschentuch zu holen.

»Hier.« Ich setze mich neben sie. Sie schnieft, auch wenn sie es mit einem Lächeln abzutun versucht.

»Du denkst doch an Mark, oder?«, frage ich, nachdem sie sich das Gesicht abgewischt hat. Sie stöhnt leise und wir lehnen uns zurück in die Couch, während die gefühlvolle Musik des Abspanns unser Wohnzimmer erfüllt.

Seit der Teeniezeit teilen Katja und ich das Schicksal, nie wirklich Glück mit Männern zu haben. Ich habe schon vor Jahren beschlossen, dass es den Stress nicht wert ist und ich keinen Partner brauche. Seit dieser Entscheidung geht es mir gut, sehr gut sogar. Ich konnte all meine Energie in mein Studium und meine künftige Laufbahn als Forscherin investieren, genauso wie meine Mutter es immer getan hat. Wenn ich in der Medizinforschung etwas ähnlich Großes erreiche wie sie, helfe ich damit in der Zukunft vielleicht Tausenden Menschen. Während sich Liebesbeziehungen am Ende immer in Tränen und Schmerz auflösen, könnte ich auf so einen Erfolg ein Leben lang stolz sein. Doch Katja sieht das etwas anders. Sie gibt nicht auf und sucht weiter nach einem Mann, der ihr Leben vervollständigt.

»Ja, ich weiß, ich sollte ihn vergessen.« Ihre Stimme wird resoluter. »Immerhin kennt dank ihm die halbe Uniklinik meine Schamhaarfarbe und die Unfallchirurgen machen bis heute Witze darüber, wie tief ich angeblich einen Schwanz in den Hals bekomme. Mark hat mir genug Gründe gegeben, nie wieder mit ihm zu reden.«

»Ganz genau«, bestärke ich sie. Beim Gedanken an sein Verhalten wird mir schlecht.

»Trotzdem war ich neugierig, warum er mich unbedingt kontaktieren will.« Sie kaut auf ihrer Lippe. »Hätte ja sein können, dass er nur seinen Rasierapparat bei mir vergessen hat oder was weiß ich. Aber als ich ihn heute nach Feierabend angesprochen habe, hat er mich total umgehauen. Er wollte sich bei mir entschuldigen, Ellie.«

»Wow, echt?« Ich starre sie ungläubig an. Bisher dachte ich, Marks Ego hätte jeden Rest Mitgefühl in seinem Hirn verdrängt.

»Das ist nicht alles«, fährt sie fort. »Was er mir erklärt hat, rückt unsere Geschichte in ein anderes Licht. Er hat früher etwas Übles erlebt, und seitdem …«

Eine betretene Stille entsteht.

»Macht das einen Unterschied? Wir beide hatten auch keine leichte Kindheit. Trotzdem behandeln wir unsere Mitmenschen nicht wie Dreck.«

»Nein, du verstehst das nicht.« Sie schließt die Augen, öffnet sie wieder, und sieht mich flehentlich an. »Versprichst du mir, es für dich zu behalten? Mark hat nie mit jemandem darüber gesprochen, und er hat mich schwören lassen …«

Offensichtlich will sie sich die Sache von der Seele reden, also nicke ich. »Du weißt, dass du dich auf mich verlassen kannst.«

Katja blickt zum düsteren Fenster und den Lichtreflexionen, die sich von unserer Lampe in der Scheibe spiegeln. »Seine Mutter ist an Brustkrebs gestorben, als er sieben war. Für seinen Vater und ihn brach die Welt auseinander. Mark hat viel Mist angestellt und die Schule geschwänzt. Anfangs hat sein Vater ihn unterstützt und bei einer Therapie begleitet. Über die Jahre fing sein Dad allerdings an, immer mehr zu trinken. Eines Abends kam er nicht mehr nach Hause. Mark hat tagelang allein in der Wohnung ausgeharrt, bis ihn eine Nachbarin gefunden hat.« Sie macht eine Pause. »Sein Vater wurde später tot an einem Flussufer entdeckt.«

Mir fehlen die Worte. Leider weiß ich nur zu gut, wie es sich anfühlt, seine Eltern zu vermissen. Aber meine Mama und mein Papa leben, es geht ihnen gut. So eine Geschichte hätte ich nie hinter Marks abgebrühter Fassade vermutet.

»Das klingt übel. Was ist danach aus ihm geworden?«

»Seine Tante hat ihn aufgenommen. Er ist wieder zur Schule gegangen und sein Leben kam in stabile Bahnen.« Katja schnäuzt sich und steckt das Taschentuch in die Vordertasche ihres Hoodies. »Trotzdem hat er nie gelernt, anderen zu vertrauen. Gefühle für jemanden zu entwickeln macht ihm Angst. Deswegen hat er mich sitzen lassen und diesen Mist in der Klinik erzählt. Mittlerweile bereut er das zutiefst.«

Ich schweige. Kann so ein Trauma eine Rechtfertigung dafür sein, jemandem das Herz zu brechen? Vielleicht ist diese Geschichte wirklich der Grund, warum Mark so ein Arsch wurde. Dennoch, Katja sollte auf sich aufpassen.

»Mark tut mir so leid«, fährt sie fort. »Und seit gestern grüble ich, wenn er das alles nicht durchgemacht hätte … oder wenn ich ihm irgendwie helfen könnte …«

»Katja«, unterbreche ich sie vorsichtig. »Du bist nicht diejenige, die ihm helfen kann. Nicht, wenn du selbst daran kaputtgehst.«

»Ich weiß«, erwidert sie schließlich. »Klar, ich muss auch an mich denken. Nur irgendwie brauchte ich jemanden … der mir das noch mal sagt. Danke, Ellie.«

Sie beugt sich vor und ich umarme sie fest. So sitzen wir eine Weile auf der Couch, dicht aneinandergeschmiegt. Genauso wie damals im Internat, wenn wir uns im Pyjama beide unter dieselbe Bettdecke gekuschelt haben.

Kapitel 4

Ich klappe den Insulinplan von Herrn Meißner zu und sehe Rebecca über den Visitenwagen hinweg an. »Du kennst dich echt gut mit den Insulinarten aus.«

»Ach was.« Sie winkt ab. »Früher war ich Schwester in der Diabetesambulanz.«

»Danke, dass du dir die Zeit nimmst. Immerhin hast du genug zu tun.«

»Von Stress sollte man sich nicht den Tag ruinieren lassen. Habe ich dir eigentlich schon die Bilder von meinen Babys gezeigt?«

Ich schüttle den Kopf, während sie ihr Smartphone zückt. Obwohl Rebecca mit Ende dreißig wohl in einem passenden Alter wäre, stellen sich ihre Babys nur als drei ausgewachsene Katzen heraus, die sich auf einer Fensterbank in der Sonne aalen.

»Echt süß«, sage ich und meine es ernst. »Als Kind wollte ich immer eine Katze haben. Aber das ging nicht, weil …«

Ich breche ab. Über meine Vergangenheit spreche ich eher ungern. Unter einem Internatskind stellen sich viele zuerst ein vernachlässigtes Wesen vor, das von seinen Eltern abgeschoben wurde. Daher ernte ich meist betroffene Blicke. Sobald die Leute dann erfahren, in welchem Internat ich war, halten sie mich zusätzlich für elitär und abgehoben.

Doch Rebecca stellt gar keine Fragen und swipt weiter zum nächsten Foto. »Du kannst gerne mal vorbeikommen und sie besuchen. Spätestens zu unserem Sommerfest, da kommt die ganze B4 in meinen Garten.«

»Oh, das klingt super.« Verlegen drehe ich meinen Kuli in der Hand. Bevor Rebecca sich falsche Vorstellungen macht, sollte ich lieber klarstellen, dass ich ab Sommer gar nicht mehr hier arbeiten werde. Also erzähle ich ihr von meiner Stelle an der Uniklinik.

»Du bist in der Forschungsgruppe von Prof. Dr. Hofstetter?« Sie reißt die Augen auf. »Die Robert-Koch-Preisträgerin? War sie nicht letzte Woche in der Zeitung?«

»Ja«, murmle ich nur, weil gerade eine vertraute, hochgewachsene Gestalt am Stationstresen aufgetaucht ist. Bei Rebeccas Ausruf hat Timo sich zu uns umgedreht. Ob er unsere Unterhaltung mitgehört hat?

Er sieht mir quer über den Flur in die Augen und streicht sich sein dunkles Haar aus der Stirn. Für einen Moment kann ich meinen Blick nicht von ihm lösen, weil er wie aus einem verdammten Pinterest-Board ausgeschnitten aussieht. Als ich mich schließlich zu Rebecca umdrehe, merke ich, dass sie sich auch mit verträumtem Blick von Timo abwendet. Oh Mann, was ist das hier für ein Film?

»Na los, lass uns weitermachen.« Entschlossen drücke ich die nächste Zimmertür auf, und Rebecca folgt mir. Frau Mertens liegt adrett gekleidet auf ihrer weißen Decke. Das zweite Bett ist leer, seit ich ihre Zimmergenossin entlassen habe.

»Guten Morgen«, grüße ich die ältere Dame. »Wie geht’s Ihnen heute? Ist der Durchfall schon besser?«

»Mir geht es fabelhaft, Frau Doktor.« Sie strahlt. »Heute Nachmittag kommt meine Tochter aus Saalfeld zu Besuch.«

Als ich ihren Bauch abtaste, verzieht sie trotzdem vor Schmerzen das Gesicht, und ihre Zunge sieht trocken aus. Vielleicht eine Campylobacter-Infektion, aber das Ergebnis ihrer Stuhlprobe steht noch aus.

»Sie müssen mehr trinken«, sage ich nachdrücklich, öffne die Sprudelflasche auf ihrem Nachttisch und fülle ihr Glas bis zum Rand.

»Sie erinnern mich an meine Tochter«, erwidert Frau Mertens zuckersüß und greift nach dem Glas. »Das sagt sie auch immer.«

»Na dann, bestellen Sie ihr schöne Grüße von mir.« Ich lächle. Irgendwie habe ich eine Schwäche für solche lieben Omas. Vielleicht liegt das daran, dass ich meine eigenen Großeltern nie kennenlernen durfte.

Nach der Visite verabschiedet sich Rebecca in ihre Pause, gerade als Pauline um die Ecke stürmt. Trotz ihres Babybauchs hat sie immer ein Mordstempo drauf.

»Wo bleibst du?« Sie stoppt vor meinem Wagen. »Wir sind spät dran fürs Mittagessen.«

»Schon gut«, seufze ich. Eigentlich habe ich noch viel zu tun. Aber Pauline hat recht, ein Loch im Magen ist dabei nicht hilfreich. Ich schreibe meinen letzten Eintrag in die Fieberkurve und folge ihr ins Treppenhaus.

»Hat Becki in dir ein neues Opfer gefunden?«, fragt sie schelmisch. »Für ihre supersüüüßen Katzenfotos?«

»Tss.« Ich schwinge mich neben ihr die Stufen hinab. »Sie ist echt nett. An der Uniklinik haben sich die Schwestern nie so viel Zeit für die Assistenten genommen.«

»Ja, sie ist super. Aber auch die größte Klatschbase der Station. Alles, was du Becki erzählst, weiß hinterher die ganze Klinik.«

Wir betreten die Cafeteria, deren Panoramafenster Blick auf das Saaleufer bietet. Auf der dahinterliegenden Terrasse könnte man im Frühling wunderbar essen, doch jetzt bedeckt eine Eisschicht die Holzdielen und die Bäume ragen kahl in den bewölkten Himmel. Wir reihen uns in die Schlange ein und setzen uns mit unseren beladenen Tabletts zu Timo und Derya. Pauline plaudert wie üblich los und erzählt von einem schwierigen Patientenfall, woraufhin Timo ihr geduldig Ratschläge gibt. Ich erwische mich mehrmals dabei, dass ich ihn länger ansehe als nötig.

Für einen Mann hat er ungewöhnlich volle Lippen, die sich beim Sprechen weich um jede Silbe schmiegen. Wie sie sich wohl anfühlen? Ich stelle mir vor, wie sie mich berühren und sanft über meine Haut streichen … und zucke zusammen. Verdammt, von meinen Cannelloni habe ich nur drei Bissen gegessen, und mich auch in keiner Weise am Gespräch beteiligt.

»Wie sieht’s aus?«, frage ich in die Runde, um mich von meinen absurden Gedanken abzulenken. »Wer kommt morgen zur Medizinerparty?«

»Oh, die gibt’s noch?«, fragt Pauline zerstreut. »Ehrlich gesagt war ich seit dem fünften Semester nicht mehr in der Rose. Aber klar, ähm, ich habe nichts vor.« Sie wendet sich unschlüssig an die anderen beiden. »Geht ihr auch hin?«

Derya zuckt nur mit den Schultern, woraufhin Pauline Timo ansieht. Dieser ist gerade damit beschäftigt, seine Wasserflasche leer zu trinken.

»Ach, lass ihn«, sage ich. »Er muss bestimmt noch seine Steuererklärung machen.«

Irgendwie ist mir das rausgerutscht, und es tut mir im selben Moment leid. Trotzdem muss ich grinsen. Mein Grinsen verblasst allerdings in dem Moment, als Timos Kopf sich zu mir dreht. Er scheint nicht sauer zu sein, im Gegenteil, er lächelt.

»Meine Steuererklärung habe ich vor zwei Wochen erledigt. Die geht jedes Jahr pünktlich zum ersten Februar ans Finanzamt.«

Oh Gott. Ich wünsche mir, dass das ein Scherz ist, aber seine todernste Miene bestätigt mir das Gegenteil.

»Ich komme gerne mit«, schließt er in seiner ruhigen Art.

»Ähm – cool.« Mehr fällt mir nicht ein. Stattdessen wird mir heiß. Ich ziehe meinen Kittel aus und hänge ihn über meine Stuhllehne.

Eine Minute später klingelt Paulines Telefon. Sie stopft sich die letzten Bissen in den Mund, bevor sie rangeht. Es scheint unsere Oberärztin zu sein, denn sie steht auf und klemmt ihr Tablett unter den Arm. Derya verabschiedet sich und folgt ihr.

Timo bewegt sich kein Stück, obwohl sein Teller ebenfalls leer ist. Ich esse weiter und spüre dabei seinen Blick auf mir ruhen. Er lehnt sich mit den Unterarmen auf die Tischplatte und hat offenbar nicht das Bedürfnis, etwas zu sagen.

Mir jedoch kommt das Schweigen mit jeder Sekunde drückender vor. Auf der Suche nach einem unverfänglichen Thema blicke ich auf die Soßenreste auf Timos Teller.

»Bist du auch Vegetarier?« Was für eine blöde Frage. Wahrscheinlich mochte er einfach Cannelloni.

Doch zu meiner Überraschung nickt er. »Seit mittlerweile vier Jahren.«

»Tatsächlich?« Ich lasse meine Gabel sinken.

»Meine Schwester hat mir bei einem unserer Familientreffen die aktuelle Ausgabe des Fleischatlasses mitgebracht. Sie kann sehr überzeugend sein.« Er lächelt. »Ich habe mir das Heft bis zur letzten Seite durchgelesen. Das hat meine Einstellung geändert.«

Diese nüchterne Sichtweise passt irgendwie zu ihm. Obwohl es bei mir völlig anders abgelaufen ist, muss ich zugeben, dass mich das ein bisschen beeindruckt.

»Und du?«, fragt er zurück.

Hinter ihm steht eine Gruppe von Ärztinnen und Pflegern mit lautem Stuhlrücken auf, und die Cafeteria um uns leert sich allmählich. Ich hole Luft. Normalerweise würde ich abwiegeln und mit einer Floskel antworten. Aber Timos Blick verharrt mit seelenruhigem Interesse auf meinem Gesicht.

»Als ich sieben war, hatten wir ein Au-pair aus Schweden.« Ich sehe hinab auf meinen Teller. Von all meinen wechselnden Nannys ist mir Alina damals am meisten ans Herz gewachsen. »Sie konnte professionell reiten, und meine Eltern wollten, dass ich das auch lerne. Deswegen waren wir fast täglich auf einem Hof in Oehrenstock. Neben den Pferden hatten sie noch Kaninchen und Hühner. Eine der Hennen ist mir oft nachgelaufen, darum habe ich sie Hündchen getauft. Als Siebenjährige fand ich das witzig. «

Timo lächelt, obwohl er vermutlich bereits ahnt, wie die Geschichte endet.

»Eines Tages musste Hündchen geschlachtet werden. Ich wollte nicht mehr auf den Hof und habe mich geweigert, zu essen. Alina hat mich getröstet und vegetarische Rezepte rausgesucht.« Ich halte gedankenversunken inne. »Ihre Pfannkuchen mit Himbeersoße waren die leckersten der Galaxie.«

Er mustert mich eine Weile nachdenklich. »Meine Schwester ist auch ein Talent in der Küche. Der MDR veranstaltet doch diesen Kochwettbewerb in Erfurt. Seit Jahren versuche ich sie zu überreden, sich dort anzumelden.«

Irgendwie finde ich seine Antwort nett. Er bohrt nicht weiter nach, weil er gemerkt hat, dass das Familienthema mein wunder Punkt ist.

»Und was hält sie ab?«, frage ich.

»Seit ihr Sohn auf der Welt ist, hat sie viel um die Ohren. Der Kleine ist mein erster Neffe. Deswegen verwöhne ich ihn ziemlich.«

Als Onkel kann ich mir Timo lebhaft vorstellen. Bei mir ist der Zug für Geschwister längst abgefahren. Also werde ich nie Tante, wobei mich das nie sonderlich gekümmert hat.

»Du solltest essen, die Röntgen-Demo beginnt gleich.« Timo deutet auf meine Portion, die inzwischen nur noch lauwarm ist. »Oder soll ich dir helfen?«

»Ähm, wenn du willst? Die Portionen sind riesig.«

»Erstaunlich.« Timo beugt sich über den Tisch und schiebt gekonnt eine meiner Cannelloni mit der Gabel auf seinen Teller. »Mir sind sie nämlich regelmäßig zu klein.«

Danach essen wir zügig auf, um die Besprechung nicht zu verpassen. Trotzdem grinse ich unbestimmt in mich hinein, ohne zu wissen, warum. Am Ende stapelt er unsere Tabletts akkurat übereinander und trägt sie zur Geschirrrückgabe. Ich warte neben dem Tisch auf ihn und spüre wieder dieses dämliche Herzklopfen in der Brust. Als Timos große Gestalt mir entgegenkommt, setze ich eine coole Miene auf und gehe in Richtung des Ausgangs.

»Ellen.« Er berührt mich am Arm und hält mich auf. »Dein Kittel.«

»Oh.« Peinlich berührt wende ich mich um. Doch Timo ist schneller, entfaltet meinen Kittel und hält ihn mir galant hin. Ich verdrehe nur ein bisschen die Augen, dann schlüpfe ich mit seiner Hilfe hinein wie eine Dame in ihren Reisemantel. Unwillkürlich muss ich an Daphne Bridgerton und Simon Basset denken.

»Danke.« Ich spüre seinen Atem an meinem Hals und versuche mir nichts anmerken zu lassen. Schnell drehe ich mich um. »Keine Ahnung, warum ich so zerstreut bin. Der Stress in dieser Abteilung bringt mich noch um.«

Im selben Moment bereue ich das Gesagte schon wieder. Denn jetzt tritt der besorgte Ausdruck auf Timos Gesicht, den ich von gestern kenne.

»Du musst an deinem zweiten Tag als Ärztin nicht alles allein hinbekommen.« Sein Blick dringt in mich. »Es ist keine Schande, um Hilfe zu fragen.«

»Schon gut.« Ich seufze und laufe zum Treppenhaus.

»Nein, ist es nicht.« Timo folgt mir die Stufen empor. »Dein Ehrgeiz und dein Engagement beeindrucken mich. Aber die Grenze zur Überforderung ist manchmal fließend.«

Ich umklammere das Treppengeländer und erwidere nichts. Eben am Tisch hatte ich das Gefühl, ich könnte ihn falsch eingeschätzt haben, und schon zeigt er sich wieder als überfürsorglicher Beschützer. Dabei habe ich ihm nie Anlass gegeben, an meiner Arbeit zu zweifeln.

»Ellen, ich mein’s ernst.« Timo biegt neben mir in den Flur zur Radiologie ein. »Wenn du dich selbst überschätzt, kann das für deine Patienten gefährlich werden.«

»Danke, Herr Oberlehrer.« Ich sehe ihn scharf an. Timo hebt eine Braue – nur die linke. Ohne noch weiter auf ihn zu achten haste ich in den Demo-Raum und quetsche mich auf einen Platz zwischen Pauline und einer anderen Kollegin. Während die unzähligen Bilder durchlaufen, versuche ich, nicht weiter über Timo nachzugrübeln.

Nach der Besprechung eile ich nach oben auf die B4. Zerstreut suche ich meine Patientenkurven, bis mir einfällt, dass ich den Visitenwagen vor Frau Mertens’ Zimmer stehen lassen habe. Kurz bevor ich den Wagen erreicht habe, springt die Tür auf und eine aufgelöste Blondine mittleren Alters tritt heraus.

»Sind Sie Ärztin? Meine Mutter ist ohnmächtig geworden!«

Kapitel 5

Bei dem panischen Ruf bin ich selbst kurz versucht, mich nach einem Arzt umzusehen. Eine Sekunde später wird mir klar, dass ich das jetzt bin, und renne ins Zimmer.

Die alte Dame liegt zusammengekrümmt neben einem Rollstuhl. Ich schreie in den Gang nach Schwester Rebecca, bevor ich mich neben sie auf den Boden knie.

»Wir wollten gerade spazieren gehen.« Die Tochter schluchzt hinter mir. »Als ich ihr in den Rollstuhl helfen wollte, ist sie einfach niedergesackt.«

»Frau Mertens!« Ich drehe sie auf den Rücken. Sie blinzelt nur kurz und stöhnt. Zum Glück nicht ohnmächtig, aber eindeutig bewusstseinsgetrübt.

»Hatte sie irgendwelche Beschwerden? Bevor sie kollabiert ist?« Ich suche nach dem Puls am Handgelenk. Er ist schwach und kaum zu tasten.