Herzstücke - Karlheinz Braun - E-Book

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Karlheinz Braun

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Beschreibung

Niemand hat das deutschsprachige Theater der vergangenen sechzig Jahre so intensiv begleitet wie Karlheinz Braun. Von der Frankfurter 'neuen bühne' mit ihren Uraufführungen von Günter Grass bis Nelly Sachs ging er 1959 in den Suhrkamp Verlag, wo er den Theaterverlag aufbaute: von Max Frisch, Peter Weiss und Martin Walser bis zu Martin Sperr und Peter Handke. Braun gehörte zu dem legendären Lektorat, das 1968 den Suhrkamp Verlag nach dem 'Aufstand der Lektoren' verließ und den Verlag der Autoren gründete, der in den nächsten Jahrzehnten zur wichtigsten Adresse deutscher Theater- & Filmautoren werden sollte. 'Herzstücke' erzählt diese Geschichte und damit die von über hundert Autoren wie Botho Strauß, Dea Loher, Heiner Müller, Rainer Werner Fassbinder, Thea Dorn, Wim Wenders & F. K. Waechter. Der Blick zurück eines leidenschaftlichen Theatermenschen auf ein Leben mit Autoren, ihre Erfolge und Niederlagen, und damit auch eine große Kulturgeschichte des deutschen Theaters und Films aus erster Hand. Karlheinz Braun über: Thomas Bernhard | Bertolt Brecht | Wolfgang Deichsel | Hans Magnus Enzensberger | Jenny Erpenbeck | Rainer Werner Fassbinder | Marieluise Fleißer | Dario Fo | Dieter Forte | Max Frisch | Günter Grass | Peter Handke | Nino Haratischwili | Elke Heidenreich | Wolfgang Hildesheimer | Gert Jonke | Heinar Kipphardt | Ursula Krechel | Fitzgerald Kusz | Hartmut Lange | Peter Lilienthal | Dea Loher | Gert Loschütz | Heiner Müller | Edgar Reitz | Erika Runge | Hansjörg Schneider | Martin Sperr | Botho Strauß | F. K. Waechter | Martin Walser | Peter Weiss | Wim Wenders | Urs Widmer | u.v.m.

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Inhalt

[Cover]

Titel

ERSTER TEIL 1932–1953

Woher? Wohin?

Früh übt sich

Wie es wirkt

Wenn’s kribbelt

Selber spielen

Paris, Paris

ZWEITER TEIL 1955–1959

Studenten machen Theater

Günter Grass

Schlacke

Das Modell Brecht

Wolfgang Hildesheimer I

Von Ubu zu Schau auf Deutschland

Vom Erlanger Sitz- und Hüpftheater

Das Jahr der glücklichen Zufälle I

Max Frisch, philologisch betrachtet

Das Jahr der glücklichen Zufälle II

DRITTER TEIL 1959–1969

Nachrichten aus dem Verlag I – Der Anfang

Dieter Waldmann

Nachrichten aus dem Verlag II – Die Lust auf Neues

Erwin Piscator und Hans Henny Jahnn

Nachrichten aus dem Verlag III – Gute Stimmung

Wolfgang Hildesheimer II

Max Frisch II

Der Brecht-Boykott

Nachrichten aus dem Verlag IV – Der Aufbruch

Blick aufs Drama 1962 oder Fünf Arten, der Wirklichkeit beizukommen

Peter Weiss I

Nachrichten aus dem Verlag V – Erste Schritte

Konrad Wünsche und Hans Günter Michelsen

Nachrichten aus dem Verlag VI – Mittendrin

Martin Walser

Heinar Kipphardt

Peter Weiss II

Buckwitz, Piscator und eine Theaterolympiade

Experimenta 1

Peter Handke I

Edward Bond

Experimenta 2

Mein TAT

Gerlind Reinshagen

Heiner Müller I

Marieluise Fleißer

Martin Sperr I

Bazon Brock

Hartmut Lange

Jochen Ziem

Achtundsechziger

Nachrichten aus dem Verlag VII – Eine Bilanz

Harald Mueller, Alf Poss und Thomas Bernhard

Walter Boehlich und Siegfried Unseld – Eine Gegenüberstellung

Nachrichten aus dem Verlag VIII – Der Aufstand der Lektoren

VIERTER TEIL 1969–1976

Wie der Verlag der Autoren entstanden ist

Nachrichten aus dem Verlag IX – Der Anfang

Die erste Premiere

Theater morgen und die Revolution der Mittel. Ein utopischer Rückblick

Experimenta 3

Gerhard Rühm und Konrad Bayer

Peter Handke II

Botho Strauß I

Nachrichten aus dem Verlag X – Programme und Personen

Auch Hörspiele brauchen einen Verlag

Ohne Verlag geht bei Drehbüchern nichts

Experimenta 4

Wolfgang Wiens

Wer schreibt wie?

Polittheater: Renke Korn, Gerhard Kelling, Erasmus Schöfer, Erika Runge

Armand Gatti

Heinrich Henkel

Dieter Forte

Urs Widmer I

Hans Magnus Enzensberger

Martin Sperr II

Richard Hey

Rainer Werner Fassbinder I

Wolfgang Deichsel I

Heiner Müller II – Der Autor und seine Verlage

Botho Strauß II

Die Wirklichkeit und der Streit um den Realismus

Nachrichten aus dem Verlag XI – Fünf Jahre später

Harald Sommer und Helmut Eisendle

Yaak Karsunke

Karl Otto Mühl

Ursula Krechel

Gert Loschütz

Auch mal spielen: Peter Rühmkorf, Günter Herburger, Johannes Schenk, Peter Sattmann, Werner Simon Vogler

Altes revitalisieren

Kindertheater mit Grips

F.K. Waechter

Experimenta 5

MundArt

Rainer Werner Fassbinder II

Dario Fo

Fitzgerald Kusz

Jürgen Lodemann und Reinfried Keilich

Die Wüste lebt

Nachrichten aus dem Verlag XII – Veränderungen

Brief an die Autoren I

FÜNFTER TEIL 1976–1979

Jetzt im Theater

War da was?

Ein paar selbstverständliche Sätze zum Theater (1978)

Brief an die Autoren II

SECHSTER TEIL 1979–1989

Nachrichten aus dem Verlag XIII – Zurück

Botho Strauß III

Heiner Müller III – Varia

Wolfgang Deichsel II

Allerlei Vermischtes 1980

Friederike Roth

Gustav Ernst, Ludwig Fels und Klaus Pohl

Hansjörg Schneider

Bernd Schroeder und Elke Heidenreich

DIE AUTORENFILMER

Urs Widmer II

Horst Wolf Müller, Ernst-Jürgen Dreyer, Klaus Hoggenmüller, Stefan Dähnert

Versteller gesucht

Nachrichten aus dem Verlag XIV – Probleme und Personen

Rainer Werner Fassbinder IV

Theater-Autoren international

Kinder- und Jugendtheater-Autoren international

Botho Strauß IV

Experimenta 6

Blick zurück auf DDR-Autoren

SIEBTER TEIL 1989–2004

Kerstin Specht

Gert Jonke

Dea Loher

Wilfried Happel

Theresia Walser

Was ist aus dem Verlag geworden?

Nachrichten aus dem Verlag XV – Neue Personen, neue Projekte

Hirn- und Herzensbücher

Autoren am Ende des Jahrhunderts

Heiner Müller IV

Warum ich kein Stück von Botho Strauß inszeniere. Eine Fiktion

Experimenta 7

Brief an die Autoren III

Die Vertreibung des Autors aus dem Theater. Eine Brandrede

Simon Werle

Die Fünf, fünfzig Jahre später

Älter werden

Zukünftige Nachrichten aus dem Verlag XVI

Herzstück

NACHWORT

Quellen und Anmerkungen

REGISTER

Autorenporträt

Über das Buch

Impressum

ERSTER TEIL 1932–1953

Woher? Wohin?

Der Vater Karl war ein evangelischer Kraftfahrzeugmechaniker aus Idstein im Hintertaunus, die Mutter Mathilde, geborene Schuhmacher, eine katholische Näherin aus dem nicht weit entfernten Camberg. Da eine Mischehe in beiden Kleinstädten heftig missbilligt wurde, zog das Paar nach Frankfurt, wo ich am 4. Juli 1932 in der Universitätsklinik geboren wurde. Zuerst wohnte die Familie in der Arbeitersiedlung Hellerhof, dann in der Niddastraße 68 im Bahnhofsviertel, wo der Vater in einer Hinterhofwerkstatt einen Gebrauchtwagenhandel aufzog. Karl Braun war ein tüchtiger und geselliger Geschäftsmann, die Firma wuchs und mit ihr auch die Familie. Im Laufe der Jahre bekam ich vier Brüder, die sich später alle dem Fahrzeughandel widmeten, Dieter, Norbert, Manfred und Erich. Heute betreiben sie mit der AVG Trucks GmbH einen der größten deutschen LKW-Fahrzeugmärkte.

Die Eltern waren eher unpolitisch, sie mochten die Nationalsozialisten nicht. Der Vater entging der Rekrutierung für die Wehrmacht, indem er sich mit seiner Firma zum Gütertransport nach La Rochelle am Atlantik absetzte. Die Mutter floh 1943 mit ihren fünf Söhnen vor der großen Bombardierung Frankfurts in das elterliche Geburtshaus nach Camberg. Von dort fuhr ich täglich mit der Bahn ins 21 km entfernte Limburger Gymnasium. Nach Kriegsende kam der Vater in einem russischen ZIS-Laster zurück, mit dem er sein Geschäft neu aufbaute. 1950 zog die Familie wieder nach Frankfurt, in eine wiederhergestellte Wohnung der Ruine Emserstraße 33, die sie in den folgenden Jahren gemeinsam wiederaufbaute. Für mich war das Goethe-Gymnasium nicht weit.

Früh übt sich

Mächtig stolz war ich, ein etwas schmächtiger gerade zehnjähriger Knirps, dass ich diese herrschaftliche Wohnung in der oberen Niddastraße entdeckt hatte: »Wohnung zu vermieten!« stand da auf einem Schild im Fenster. Wir wohnten damals in der unteren Niddastraße, wo sie auf die Hohenzollernstraße stieß (heute Düsseldorfer Straße), in einem düsteren Hinterhaus, unten hatte der Vater seine Werkstatt mit dem Gebrauchtwagenhandel: Auto-Braun. Die mit dem dritten Bruder hochschwangere Mutter suchte schon länger nach einer größeren Wohnung, – und ich fand sie, ein paar hundert Meter weiter am heute nicht mehr vorhandenen Niddaplätzchen, nahe der Gallusanlage. Eine klassizistische Stadtvilla, in der wir die erste Etage beziehen konnten: hohe, lichte Räume mit großen Flügeltüren. Der Vater schaffte für den Salon eine Garnitur ausladender Ledersessel an, die wir nach dem Krieg nirgendwo mehr unterbringen konnten. Auf der Rückseite des Hauses ein kleiner Park mit einer gewaltigen Rotbuche. Für die Braun-Söhne ein idealer Spielplatz. Aber interessanter war das Bahnhofsviertel, das wir mit seinen Flussnamen-Straßen in Besitz nahmen. Wir und unsere Freunde waren die Niddabande, die gegen die Weserbande kämpfte, oder die Elbebande unterstützten, die sich gegen die Moselbande wehrte – das Viertel war für uns ein Labyrinth von Hinterhöfen und Durchgängen, dunklen Lieferanteneingängen und verlockenden Eisdielen. Schon damals war das gründerzeitliche Viertel ein Ort vielerlei Vergnügungen, das riesige jungendstilige Schumann-Theater lockte allabendlich Tausende Besucher mit Zirkus und Revuen, auch Operetten, und auf der Kaiserstraße, dem damaligen Prachtboulevard, gab es ein halbes Dutzend schmaler Kinos mit Namen wie Lichtburg oder Excelsior, Rex oder Hansa oder auch den üppigen Gloria-Palast. Kino war das »Theater für alle«, und Marie, unser rotlockiges sommersprossiges Hausmädchen, war ganz wild darauf. Ich verdanke es Marie, die mich sonntagnachmittags in die Kinos auf der Kaiserstraße schmuggelte, dass ich Marika Rökk, Johannes Heesters, Zarah Leander, Heinz Rühmann und wie sie alle hießen, kennenlernte. Der Schulbub war ein früher Fan der großen UFA-Stars. Faszinierender waren nur noch die Revuen und Operetten im Schumann-Theater, die in dem 4500-Platz-Theater mit großem Aufwand en suite gegeben wurden und die mich und den Schulfreund Wolfgang begeisterten. Dabei war Wolfgang der musikalisch Versiertere, denn er sang mit schönstem Knabensopran im Frankfurter Motettenchor, ich dagegen mühte mich nur mit anfängerhaftem Klavierspiel. Unsere Talente (und Ansprüche) genügten jedoch, um Das Land des Lächelns vor eingeladenem Publikum nachzuspielen. Dafür montierten wir in den offenen Flügeltüren der Wohnung Bettlaken als Theatervorhang, dekorierten dahinter einiges Mobiliar und Topfpflanzen, verwandelten uns mit wenigen Kostümteilen in die Protagonisten der Operette, und schon spielten, tanzten und sangen wir zu zweit vor wohlgesonnenem Publikum eine Digest-Fassung der Operette – eine frühe Kinderversion von Michael Quasts späterer tolldreister Unternehmung, die Offenbach-Operetten allein mit einem Pianisten zu spielen, zu tanzen und zu singen. Das war ein herrliches selbstgemachtes Kindertheater, aber mitten im schönsten Spiel flippten wir plötzlich aus, und die Szene geriet zu einer selbstdarstellerischen Stripteasenummer. Peinlich, die nackten Knaben mit erregten Pimmeln, nein, so was geht doch nicht. Aber warum ist mir die Szene überhaupt noch in Erinnerung? Kinderspiele, die dann mit dem Heulen der Sirenen bald endeten. Im Keller verbrachten wir die Bombenangriffe, kletterten danach aufs Dach, um die brennende Stadt zu sehen, am nächsten Vormittag sammelten wir auf dem Schulweg Granatsplitter in Zigarrenkisten. Wir hatten keine Angst, es war alles sehr aufregend. Nach den ersten schweren Luftangriffen verzog sich die Familie in das elterliche Haus der Mutter nach Camberg im Hintertaunus, wo sich der evangelische Großstadtjunge in einer stockkatholischen Provinz wiederfand.

Siebzig Jahre später sprach mich nach einer Diskussion um das Frankfurter Volkstheater, bei der ich auf dem Podium saß, eine Frau an. Sie führte mich zu einem massigen alten Mann im Rollstuhl. Es war der Schulfreund Wolfgang, den ich seit unseren Kinderspielen nicht mehr gesehen hatte. Er hatte sie wohl auch nicht vergessen. Nicht lange nach diesem Wiedertreffen las ich seine Todesanzeige in der Zeitung.

Wie es wirkt

In Camberg, im Haus des Großvaters, überlebten wir den Krieg. Es waren inzwischen fünf Söhne, jeder sollte eigentlich ein Mädchen sein, aber mit dem fünften gaben es die Eltern auf. Als Ältester musste ich etwas Ersatz für den Vater sein, der mit seiner Firma in La Rochelle für die Wehrmacht fuhr. Wir waren nicht gut gelitten im erzkatholischen Camberg. Man verübelte der Mutter immer noch, dass sie den evangelischen Mann aus dem nur wenige Kilometer entfernten Idstein geheiratet hatte, und die Söhne waren natürlich alle Protestanten. So fühlten wir Buben uns nicht nur als Großstädter fremd in der kleinen Stadt, sondern vor allem auch wegen der falschen Konfession. Aber die Ablehnung stärkte unseren Willen zur Selbstbehauptung, vor allem bei mir, und so war es ganz natürlich, dass ich dort heimisch wurde, wo sich die Minderheit versammelte, in der evangelischen roten Backsteinkirche mit dem Pfarrhaus in einem großen Garten am Rande der Stadt. Der verständnisvolle Pfarrer hatte immer Zeit für den ständig fragenden Schüler, einer seiner Söhne war in meinem Alter, so wurde die Pfarrerfamilie zu einem zweiten Zuhause. Und ich stellte mir für die Zukunft ein ähnliches Leben vor, mit Kirche, Pfarrhaus und Garten, abgetrennt von der lärmenden Welt, ein ruhiges Leben mit Frau und Kindern. Das hatte weniger mit der Religion zu tun, obwohl die bei dem Jugendlichen auch eine gewisse Rolle spielte, es war eher dieses genügsame, pflichtbewusste Leben, wie ich es später bei Stifter wiederfinden sollte. Ich beteiligte mich selbstverständlich an bestimmten Arbeiten für die Kirche und die Gemeinde. Besonders angetan hatte es mir die Orgel, die ich zu bestimmten Zeiten spielen durfte; mein Klavierspiel war inzwischen ganz passabel, es reichte für Mozarts A-Dur Klavierkonzert KV 488, das ich mangels Orchester mit einer Schallplatte immer zusammen mit Lili Kraus spielte (die Kadenzen ließ ich sie alleine spielen). Es muss fürchterlich geklungen haben, zumal Schallplatte und Klavier nicht aufeinander abgestimmt waren, aber mit Orchester zu spielen, das war einfach das Größte. Mit den Klavierkenntnissen und gelegentlicher Unterstützung des Organisten konnte ich mir ein einfaches Orgelspiel selbst beibringen. Es reichte sogar zur Not, dass ich wenige Male, wenn der Organist unpässlich war, den Gottesdienst am Sonntagvormittag an der Orgel begleiten durfte. Das waren die bewegenden Höhepunkte in diesen ersten Nachkriegsjahren, in der selbst in der Kleinstadt mit noch vielen Bauern der Hunger und die Not groß waren. Viele Väter waren noch in Gefangenschaft, meiner schaffte es mit den Amerikanern vom Atlantik in den Hintertaunus zu kommen. Mit einem ZIS, den er dann in Camberg wegen des Benzinmangels zu einem holzvergasenden Lastwagen umbaute. Für die älteren Söhne hieß das, tagelang aus Scheiten kleine Klötzchen zu hacken, mit denen der Kessel des Holzvergasers gefüttert wurde. Und da es auch lange keine Autos zu kaufen und zu verkaufen gab, verlegte sich der Vater kurzfristig auf den Pferdehandel – was historisch gesehen ja die gleiche Branche war. Diese unmittelbare Nachkriegszeit war für mich befreiend, besonders von der Hitlerjugend, die ich verabscheute, aber nicht wegen ihres Nazitums, sondern weil die »Kameraden« alle viel größer und stärker und lauter waren als ich, der ich lieber in einem Versteck auf der Stadtmauer Werner Bergengruen las oder auf der Orgel improvisierte.

Irgendwann kam die Idee auf, in der Kirche ein Theaterstück aufzuführen. Wie nach dem Krieg in den Großstädten das Bedürfnis nach Theater besonders groß war, so muss es wohl auch in der Kleinstadt gewesen sein. Es gab eine ganze Reihe von Laienspiel-Vertrieben, die mit dünnen Heften Stücke anboten, die dem Bedürfnis nach Diskussion und Selbstbefragung, auch nach Trost, Rechnung trugen. Diese Vertriebe wandten sich auch direkt an die Kirchen, von denen sie annahmen, dass sie solche Laienspiele in ihrer Gemeinde befördern könnten. Ich suchte aus dem Angebot ein Stück aus. Ich weiß heute zwar weder den Autor noch den Titel, sehe aber noch das Titelblatt des Heftes vor mir, die schwarzweiße Zeichnung eines zusammenbrechenden Soldaten. Es war ein Heimkehrer-Drama für Laien (so wie später Borcherts Draußen vor der Tür eines für Profis wurde), das ich dann mit einer kleinen Gruppe einstudierte. Ich hätte das alles wahrscheinlich längst vergessen, hätte es da in der überfüllten Kirche nicht die eine Szene gegeben: ich ließ den heimkehrenden Soldaten in voller Montur von hinten aus dem Kirchenportal auftreten. Langsam, Schritt für Schritt, die schweren Stiefel knallten auf dem Steinboden, so schritt der Heimkehrer durch den Mittelgang der Kirche bis vorne zum Altar – und die Gemeinde atmete schwer, schluchzte und heulte, und das alles, ohne dass bisher ein einziges Wort gefallen war. Das hat mich doch schwer beeindruckt. Das war doch etwas anderes als Das Land des Lächelns. Ich staunte, dass und wie man mit Theater die Menschen zum Fühlen und vielleicht auch zum Denken verführen kann, wie es selbst ein Pfarrer und die Religion gewöhnlich nicht schaffen. Die Schritte des Soldaten habe ich nie vergessen.

Wenn’s kribbelt

Die Schule der Camberger Diaspora war in Limburg an der Lahn, das Gymnasium auf dem Schafsberg, 21 km von Camberg entfernt. Die Fahrschüler mussten einen sehr frühen Zug nehmen, den sie erst nach einem halbstündigen Fußmarsch bis zum Bahnhof erreichten – wenn er denn kam in den letzten Kriegsjahren. Manchmal blieb er auch stehen, wenn er von Tieffliegern beschossen wurde. Aber wir erlebten den Krieg nicht in Furcht und Schrecken, sondern eher als ein Abenteuer, das wir selbstverständlich bestehen würden. Das Gymnasium in der Bischofsstadt war natürlich auch katholisch, aber daran hatten wir uns inzwischen gewöhnt. Das Besondere am Unterricht waren die Stunden bei einem passionierten Musiklehrer. Er brachte uns die musikalischen Grundlagen bei, als wären sie für zukünftige Profis bestimmt. Wir lernten den Kontrapunkt, versuchten selbst zu komponieren, studierten die Sonatenform, den Aufbau von Sinfonien – und selbst große Opern. Unvergesslich ist mir, wie er uns Wagners Der fliegende Holländer nahebrachte. Den Stoff, die Handlung, die Figuren, die Komposition. Wir wurden Kenner von Wagners früher Oper. Auf die Theorie folgte dann die Praxis. Wir machten eine Klassenfahrt nach Wiesbaden, wo Der fliegende Holländer von der Staatsoper gegeben wurde. Es war meine erste Opernaufführung. Und sie hat mich überwältigt. Ich saß in der ersten Reihe des zweiten Rangs, bestaunte die wilhelminische Pracht, den verschwindenden Lüster, und schon die Ouvertüre ließ mich an den Rand des Sitzes rutschen. Während des zweiten Auszugs brach mir der Schweiß aus, und ich fing an zu zittern. Im dritten schließlich rieselte es mir dazu den Rücken herunter, immer wieder, und als sich der düstere Seemann als Fliegender Holländer zu erkennen gibt und Senta sich »treu dir bis zum Tod« ins Meer stürzt, war ich ebenso aufgewühlt wie Wagners Musik. Und wusste von da an: immer wenn es den Rücken herunterrieselt, ist es Kunst. Manche Erfahrung im Leben hat dies bestätigt. Aber nicht immer: beim nächsten Ausflug nach Wiesbaden, der der Zauberflöte galt, hat es nicht gerieselt. Sehr enttäuschend war das. Aber damals wusste ich noch nichts vom Dionysischen und vom Apollinischen in der Kunst. Bei Wagner hat es immer gerieselt.

Selber spielen

Ab 1950 wieder in Frankfurt. Endlich wieder im Bahnhofsviertel. Zwar liegt das Goethe-Gymnasium nur am Rande, aber ist auch zu Fuß gut von der Emserstraße zu erreichen, wo Tante Ochse dem Vater ein Haus hinterlassen hatte, von dessen vier Stockwerken nur noch eines stand, eine Ruine in der fast vollständig zerstörten Straße am Bahndamm. Die galt es mit eigenen Kräften wiederaufzubauen, und so reinigten wir Tag für Tag Backsteine aus den umliegenden Schuttbergen, um sie wieder verwenden zu können. Bald konstruierte der Vater einen Aufzug, der von einem Automotor getrieben wurde, und wir fuhren mit entsprechender Gangschaltung die Stockwerke rauf und runter. Es war harte Arbeit, es gab schrundige Hände, aber wir waren fröhlich, eine neue Zeit war angebrochen. Auch das Autogeschäft entwickelte sich: Auto-Braun hatte neben dem Goethe-Gymnasium auf einem geräumten Trümmergrundstück eine Ausstellungsfläche gefunden, unter einer mächtigen Blutbuche, die noch heute zu besichtigen ist.

Das Goethe-Gymnasium war die tägliche Pflicht, zur Kür wurde mir aber das Theater. Ich war ein leidenschaftlicher Theatergänger geworden: zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben hatte ich ein Theaterabonnement, und zwar für Fritz Rémonds Zootheater, das damals neben kleinen Klassikern und bewährten Komödien auch die neuesten Hits aus Paris und New York spielte. Fritz Rémond war ein Striese und zugleich Becketts Krapp, seine Schauspieler ein exquisites Ensemble großer oder bald großer Namen: das Zootheater vom »Fisch« (wie er gerne genannt wurde) war für mich das betörende Schauspiel(er)theater überhaupt. Und es gab die Städtischen Bühnen. Zwar spielten Oper und Schauspiel noch im Notbehelf der Börse, aber im Dezember 1951 schon sollte das »Große Haus« eröffnet werden, das in den zerstörten Mauern des alten Schauspielhauses neu errichtet wurde. Ich musste da unbedingt dabei sein, meldete mich für die beiden Eröffnungsproduktionen als Statist, und so tanzte ich als Lehrbub mit den Mädeln von Fürth auf der Festwiese der Meistersinger von Nürnberg – und war der Erste, der bei der Schauspieleröffnung mit Goethes Egmont öffentlich die jungfräulichen Bretter des neuen Theaters betrat. Das ging so: in Lothar Müthels Inszenierung öffnete sich langsam der Vorhang vor einem leeren Palast-Saal (von Caspar Neher). Nach einer kurzen Stille wurde die linke Flügeltür aufgestoßen, ich trat als Lakai hervor und schmetterte: »Ihre Majestät, die Regentin!«. Und dann rauschte Anita May herein, gefolgt von Hofleuten, und das Spiel begann. Doch eine andere Szene hat mir mehr bedeutet: in jeder Aufführung schlich ich mich in die Kulissen, um zu beobachten, wie Bernhard Minetti als Herzog von Alba wortlos eine Treppe herabstieg. Mit durchgedrücktem Kreuz setzte er die schwarz bestrumpften Beine so auf die Stufen, dass er zu schweben schien. Ich war jedes Mal hingerissen und empfand den Gang als große Schauspielkunst.

Theater als körperlicher Ausdruck beeindruckte mich. So war es irgendwie folgerichtig, dass ich in Herbert Freunds Ballettkurs landete, in dem uns ein paar Grundlagen des klassischen Balletts beigebracht wurden, aber auch das pantomimische Handwerk. Pantomime war sehr angesagt in diesen Jahren, inspiriert von Jean-Louis Barraults Les Enfants du paradis und Marcel Marceaus »Bip«. Das Training war hart, aber da war nur wenig Ehrgeiz, es noch zu einem professionellen Danseur zu bringen. Dafür war ich schon zu alt. Immerhin habe ich es noch bis in den verstärkten Ballettchor gebracht, und – kurz nach dem Abitur 1953 – in Boris Blachers Ballett Hamlet und in der Nussknacker-Suite getanzt. Später, 1957, längst bei der neuen bühne, gab ich in Heinrich Kochs Hannibal-Inszenierung noch mit einer Pantomime ein mehr solistisches Gastspiel.

Aber noch bin ich auf dem Goethe-Gymnasium, wo es wieder einen Lehrer gab, der für mich wichtig wurde. Dr. Minssen unterrichtete Gemeinschaftskunde, und das war vor allem die Einführung in Gesellschaftstheorie und Politik, aber dies alles in einer undogmatischen und freizügigen Art, wie ich es aus dem katholischen Limburg nicht kannte. Sein Unterricht war ein Colloquium über Gott und die Welt, und die Welt war zudem noch französisch angehaucht, denn Minssen hatte eine Französin zur Frau: mein erster Kontakt zur französischen Kultur, der zu einem deutsch-französischen Schüleraustausch führte. Der französische Austauschschüler war zufällig ein Sohn des Präsidenten der Banque de France, ich residierte also in einem Palais in der Avenue de Paris, die in Versailles direkt zum Schloss führt, und, da wir Freunde wurden, im folgenden Sommer auch im familieneignen Schloss an der Loire – ich erlebte also die Grande Nation, wie sie sich am glanzvollsten präsentierte. Jean-Luc dagegen, der Austauschschüler, erlebte die Deutschen in der Familie eines Gebrauchtwagenhändlers in Frankfurt. Der schon damals oppositionelle Sohn eines Bankiers war natürlich gegen die in Frankreich besonders ausgeprägte Elite eingestellt, setzte sich später von seiner Familie ab, wurde Reporter bei Le Monde und kam im Vietnam-Krieg um.

Der so geschätzte Lehrer Minssen vergab an die Klasse eine besondere Aufgabe: Die Schüler sollten Referate über die Organisation und die Funktionen der Stadtverwaltung halten, jeder durfte sich sein Spezialgebiet aussuchen. Ich wählte: Kultur in Frankfurt. Und musste nun über die verschiedenen Sektionen des Kulturbetriebs recherchieren. Natürlich fing ich mit dem Theater an und bat wie ein gelernter Reporter die Pressestelle der Städtischen Bühnen um ein Gespräch. Ich erinnere mich, wie ich in dem halbzerstörten (oder im Wiederaufbau begriffenen?) alten Schauspielhaus ruinöse Treppen hochstieg bis in die oberste Etage, wo mich ein junger Dramaturg empfing, der mir ausführlich schilderte, was ein Dramaturg macht und wie denn so ein Theater funktioniert. Er hat mich gut instruiert. Er hieß Hans Peter Doll, war später Intendant in Heidelberg, Braunschweig und Stuttgart, in schwieriger Zeit als Interimsintendant auch wieder in Frankfurt: »Papa« Doll war zeitlebens ein guter Freund, und wir haben uns immer mal wieder an das Gespräch im alten Schauspielhaus erinnert. Offenbar hat es Früchte getragen.

Paris, Paris

Nach dem Abitur im März 1953 schrieb ich mich an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Germanistik, Romanistik und Philosophie ein. Der Vater war auf rührende Weise stolz auf den Sohn, der als Erster der Familie eine Universität besuchte. Nach ihm sollte es ein Studium sein, mit dem ich eine künftige Familie gut versorgen könnte. Aber das war für mich kein Kriterium. Die ersten drei Semester verliefen wie übliche Anfangssemester, daneben aber hatte ich immer noch viele »Auftritte« bei den Städtischen Bühnen. Aus Interesse an französischer Literatur und um mein Französisch zu verbessern, ging ich im Herbst 1954 an die Sorbonne, nicht zuletzt auch um einer Freundin aus dem Ballettensemble nahe zu sein, die im berühmten Studio der Markova den Sprung von der Gruppen- zur Solotänzerin machen wollte. Das Pariser Jahr, zuerst in einem Appartement »sous les toits du Montmartre« mit seinen Revuen, besonders die der Nouvelle Eve, später – um den bekannten »Follies« des Quartiers zu entkommen – in einer Bude in der Arbeitervorstadt Asnières, war gefüllt mit Entdeckungen der französischen Kultur, mit dem Lernen der Sprache, mit Corneille und Proust, vielen Theater- und Ballettbesuchen, einer kurzen Hospitanz bei Racine-Proben mit Madeleine Renaud und Edwige Feuillère in Jean-Louis Barraults Théâtre du Rond-Point, mit Ferien bei Jean-Luc im Familienschloss an der Loire, aber auch einer Reise nach Avignon und ins Rhone-Delta, in die Camargue, kurz: Frankreich und insbesondere Paris erfüllten alle (klischeehaften) Erwartungen, die ein junger Deutscher Anfang der fünfziger Jahre hatte.

ZWEITER TEIL 1955–1959

Studenten machen Theater

Von Paris zurück nach Frankfurt, von der Sorbonne wieder an die Goethe-Universität, da hatte ich viel Französisches in mir, nicht nur die Sprache. Hier traf ich auf die neue bühne, das Studententheater der Universität, die gerade Cocteaus Taschentheater spielte, in einem schönen Saal des inzwischen denkmalgeschützten Studentenhauses (das heute »Studierendenhaus« heißt). Die neue bühne war 1953 von Matthias Büttner und Ulrich Hüls gegründet worden, die wie so viele der zwischen 1930 und 1935 Geborenen, in den ersten Nachkriegsjahren Abitur machten und dann an die noch teilweise in Trümmer liegenden Universitäten gingen. Sie hatten den Krieg noch bewusst erlebt, hatten beim Wiederaufbau sowohl der Trümmerhäuser wie auch der privaten Existenzen geholfen, hörten Jazz, lasen Hemingway und Gide – und spielten Theater. Überall in Deutschland entstanden ab Mitte der fünfziger Jahre Studententheater, meist Studiobühnen genannt. Die in Frankfurt zeichnete sich in ihrer Frühzeit durch einen exquisiten Spielplan aus, etwa mit dem Volksstück vom Doktor Faust oder der Fabel von der Matrone von Ephesus in zwei Variationen von Lessing und Christopher Fry, oder Pirandellos Der Tonkrug. Ulrich Hüls entwickelte ihn dann weiter mit Stücken von André Gide, Jean Cocteau und Prosper Mérimée, und plante als nächstes Stück Alfred de Mussets lieblose Komödie Man spielt nicht mit der Liebe. Ein exquisites frankophiles Programm literarischer Raritäten, dem die delikate choreografisch-pantomimische Regiearbeit von Hüls entsprach. Das gefiel mir. Also machte ich mit und gab in der Musset-Komödie einen dünnen, sehr stilisierten Priester. Das war aber auch schon die letzte Regiearbeit von Ulrich Hüls, der kaum studierte, die neue bühne vielmehr als Sprungbrett zu einem Stadttheater nutzte. So stand die kleine Truppe spielsüchtiger Studenten ohne Anführer da. Nicht dass der wirklich fehlte. Das Studententheater kannte ja weder Hierarchien noch eine rigide Aufgabenteilung. Jeder konnte machen, wozu er Lust hatte, die Arbeitsteilung ergab sich aus den Vorlieben der Einzelnen, aber natürlich wurden handwerkliche Arbeiten, Bühnenbilder und Kostüme und auch alles Organisatorische, Geldbeschaffung oder Werbung, kurz: die vielfältig strukturierte Arbeit eines Theaterbetriebs kollektiv betrieben, als gemeinsame Arbeit für ein gemeinsames Ziel. Vor allem dadurch unterschied sich dieses Off-Theater, das den Begriff in den fünfziger Jahren noch nicht kannte, von den Staats- und Stadttheatern, deren Hierarchie vom Pförtner bin zum Generalintendanten.

Man könnte das Studententheater dieser Jahre durchaus schon als frühen Vorläufer eines »antiteater« verstehen, als jugendliche Gegenbewegung zum etablierten »alten Theater«, das sich zudem noch ohne große Unterbrechung aus der Nazizeit in die neue Republik retten konnte. Mit meist dem gleichen Personal. Nicht, dass uns dies damals schon bewusst gewesen wäre oder dass wir uns gar programmatisch vom etablierten Theater abgesetzt hätten: es war immer noch das Vorbild, dem das Studententheater fast überall nacheiferte. Aber etwas Besonderes sollte es schon sein. Wir nannten es »ein Theater des kritischen Bewusstseins«.

Was konnte aber das Besondere in Frankfurt sein? Frankfurt war traditionell kaum der Platz für ein exponiertes Schauspielertheater wie es in München oder Wien das Publikum anzog, in Frankfurt galten eher kritische Inhalte sowie innovative Formate, und seine Universität war die Heimstatt der Kritischen Theorie von Adorno und Horkheimer, die über das Institut für Sozialforschung hinaus ihre Wirkung entfaltete. Vor allem aber: Die von den Bomben verwüstete Stadt meinte, alles dafür verantwortliche Alte abschneiden zu müssen, um alles neu zu machen. Und ein nicht unerheblicher Teil ihrer Studenten als angeblich geistiger Avantgarde sah sich aktiv in diesem Aufbruch. In der neuen bühne war der Aufbruch bisher jedoch weniger in einem inhaltlichen Programm festzustellen als in der genüsslichen Zubereitung der französischen »cuisine dramatique.« Die hat mir natürlich gemundet.

Günter Grass

Es gab in der altehrwürdigen Germanistik der Goethe-Universität einen jungen Dozenten, der sich um aktuelle deutschsprachige Literatur und ihre Autoren kümmerte, ein betriebsamer Mann, der in den Verlagen ein- und ausging, ein Promoter und Vermittler ohnegleichen und zugleich Herausgeber der wichtigsten Literaturzeitschrift, der Akzente. Walter Höllerer war kein abgehobener Germanistikprofessor, der damals vierunddreißigjährige Oberfranke war selbst Lyriker (Der lag besonders mühelos am Rand des Weges) und verkehrte mit seinen nur wenig jüngeren Schülern wie unter seinesgleichen. Ganz selbstverständlich interessierte sich Höllerer auch für die neue bühne, er gehörte einfach dazu, kritisierte und machte Vorschläge – ich habe sein meckerndes Lachen noch im Ohr. Eines Tages im Jahr 1956 gab er mir den Durchschlag eines Schreibmaschinen-Manuskripts, 35 Seiten eines zweiaktigen Stücks mit dem Titel Hochwasser. Der Autor sei ein junger Grafiker und Lyriker, habe einen Gedicht-Band mit dem Titel Die Vorzüge der Windhühner veröffentlicht, lebe zur Zeit in Paris, dies sei sein erstes Stück und ob wir es nicht uraufführen wollten. Wir lasen und diskutierten. Und wollten. Ein poetisches Drama mit leicht absurden Zügen im Kontext von Beckett und Adamov, aber auch mit Blicken zu Brecht und Wilder. Die Naturkatastrophe als Metapher für die politische Katastrophe der Deutschen zehn Jahre zuvor – und die unmittelbare Nachkriegserfahrung von Grass, »als man so tat, als wäre da nur ein Verkehrsunfall passiert, und man ohne weiteres wieder da anfing, wo man vor 45, oder vor 33, aufgehört hat … daß bereits während der Katastrophe die Restauration der Zustände, wie sie vorher gewesen sind, geplant wird. Das und der Protest gegen diese Restauration ist der eigentliche Inhalt von Hochwasser.«1So Grass über sein Stück. Und natürlich war es diese Perspektive auf die Westdeutschen, die uns interessierte.

Wir stürzten uns voller Begeisterung in die Proben. Ich hatte keine Skrupel, neben der Regie auch noch die dankbare Rolle des Rattenmännchens Strich zu übernehmen, das sich mit seinem Weibchen Perle vor dem Hochwasser aufs Dach gerettet hat und von dort aus das Geschehen böse kommentiert. Die Uraufführung am 20. Januar 1957 mit Günter Grass im Publikum war ein überregionales Ereignis: es kamen nicht nur die Studenten, sondern auch Zuschauer aus dem sich entwickelnden Literaturbetrieb der Republik. Grass war schon mehr als ein Geheimtipp und sorgte bei der Gruppe 47, auf deren Treffen er bereits ein Jahr zuvor Hochwasser gelesen hatte, für Aufmerksamkeit. Die Uraufführung, die überregionale Resonanz beim Publikum und bei der Presse – die neue bühne hatte einen neuen Anfang gemacht. Der sich auch in vielen Einladungen zu Gastspielen bemerkbar machte: wichtig waren die Internationale Theaterwoche der Studentenbühnen in Erlangen (eine Art frühes Berliner Theatertreffen) sowie Aufführungen am Stadttheater Istanbul, wichtig vor allem aus dem Bedürfnis der Studenten im Nachkriegsdeutschland, andere Länder, andere Kulturen kennenzulernen.

Und Grass war zufrieden. Man spürte: das Theater war für ihn ein völlig neues Terrain. »Ich bin etwas aufgeregt«, schrieb er aus Paris, »und hätte gern ein Auge und ein Ohr bei Ihren Proben … Wenn ich den Sinn einer Studentenbühne recht verstehe, liegt er wohl auch darin, dass ein noch unerfahrener Autor einiges lernen kann.« Aber nicht nur der Autor konnte etwas lernen, alle Mitwirkenden lernten von Tag zu Tag – und es war ein lustvolles Lernen.

Für einige aus der Hochwasser-Truppe wurde die neue bühne zu einem Scheideweg. Hans Martin, der den Kongo spielte, wurde Schauspieler; Ute Koska, die Ratte Perle war viele Jahre Souffleuse an der Berliner Schaubühne; Wolfgang Kaus, ein fröhliches Temperament, der nach seiner Rolle in Hochwasser nur noch »Leo« hieß, wurde ebenfalls Schauspieler und später für über 30 Jahre künstlerischer Leiter von Liesel Christs Frankfurter Volkstheater. Und nicht zuletzt Gabriele Schwarzenstein, die die weibliche Hauptrolle Jutta spielte, und die zwei Jahre später die Hauptrolle in meinem Leben spielen wird, als Ehefrau und Mutter der beiden Kinder. Einer aus dem Team sollte in der ästhetischen Erziehungsanstalt neue bühne für mich noch eine besondere Rolle spielen: Gunthard Lamche, allen bekannt nur unter dem Namen »Schlacke«.

Letzte Woche habe ich dieses Kapitel geschrieben, heute, am 13. April 2015 ist Günter Grass gestorben. Welch seltsame Koinzidenz. Ich sehe ihn noch als jungen Mann vor mir. Das Fernsehen zeigt jetzt einen alten Mann mit 87 Jahren.

Schlacke

Er schlenderte in gleißender Sonne vor dem Haupteingang der Uni, hochgewachsen, schwarzhaarig, in einem weißen Anzug – und aß eine große Gelbrübe. Ich starrte ihn an: Der würde sich doch auf der Bühne gut machen. Es stellte sich heraus, dass er seit kurzem als Architekt im Universitätsbauamt bei Ferdinand Kramer arbeitete. Nach Abschluss seines Studiums an der Ulmer Hochschule für Gestaltung war dies seine erste Stelle. Die Ulmer HFG von Otl Aicher und Max Bill war nach dem Krieg die ideelle Nachfolgerin des Bauhauses, und so war er bei dem vom Frankfurter Uni-Präsidenten Max Horkheimer aus der Emigration zurückgeholten alten Bauhaus-Architekten Ferdinand Kramer am richtigen Platz. Er hieß Gunthard Lamche, aber alle nannten ihn Schlacke. Ich suchte in diesen Tagen nicht nur schauspielende Studenten für die Uraufführung von Günter Grassens Hochwasser, sondern auch einen Bühnenbildner. Da kam mir der Architekt gerade recht, zumal Grass für das Hochwasser ein richtiges zweistöckiges Haus mit Dach und Schornstein auf der Bühne forderte: Schlacke ließ sich nicht lange bitten, dachte aber weniger an die Realität vortäuschenden Mittel des Theaters, mit denen solch ein Haus normalerweise auf die Bühne gestellt würde, sondern es musste das reale Material sein. Keine bemalte Leinwand, sondern Stein und Zement. Da dies aber schlechterdings nicht möglich war, begnügte Schlacke sich mit Stahlrohren, wie sie beim Hausbau verwendet werden. Mit Stahlrohren montierte er ein mehrstöckiges transparentes Haus, auch die Treppen, ein Bett, und sogar eine große Standuhr, die bei Grass anzeigen sollte, was die Stunde geschlagen hat. Allein den Schornstein, auf den sich zwei Ratten vor dem Hochwasser gerettet hatten, baute er mit richtigen Ziegelsteinen und Zement (der bei der Premiere noch nicht ganz fest war, sodass die Ratten fürchteten, vom Dach zu stürzen.)

Auch bei weiteren Produktionen der neuen bühne bestand Schlacke auf der reinen Funktionalität des Materials, übertrug die radikalen Forderungen des Bauhauses auch aufs Theater, konzentrierte zum Beispiel die vielen Spielorte einer Calderón-Komödie auf perspektivische schwarze Strahlen auf weißen Platten, die je nach Schauplatz umgestellt wurden: ihre Mobilität unterstützte so den Fluss der Szenen. Oder die Aufgabe, einen Schauplatz für Eli, das Holocaust-Drama der Nelly Sachs, zu finden: Schlacke befeuchtete Zeitungsstapel und zündete sie an. Sie verbrannten nur schwer. Mit den nur teilweise verkohlten Zeitungen wurde dann der gesamte Bühnenraum gestaltet. Was sich erst langsam in den nächsten Jahrzehnten auf den Theaterbühnen entwickelte, die Abkehr vom illusionistischen zu in abstrakte Formen gebildeten echten Materialien, das hat Schlacke schon in den fünfziger Jahren an der neuen bühne versucht. Und er blieb nicht beim Bühnenbild stehen – das auch nicht mehr so heißen durfte, es waren vielmehr konkrete Spielräume, – die neue funktionelle Reinheit bezog alles andere ein: Das Programmheft musste strikt quadratisch sein; das alte Bauhaus-Prinzip der konsequenten Kleinschreibung wurde wieder eingeführt, der Druck natürlich in Antiqua. Nicht dass dies alles – von heute aus betrachtet – so völlig neu war. Neu war uns Jungen im Nachkriegsdeutschland die Anknüpfung an die Bewegung des Bauhauses, sowohl in der Architektur (wie den heute denkmalgeschützten Frankfurter Universitätsbauten des Ferdinand Kramer) als auch im Design der Alltagsgegenstände. Neu war auch die Radikalität, mit der so jemand wie Schlacke die neue bühne überzeugte. Überzeugen konnte er auch meinen Vater, ein Apartmenthaus in der Frankfurter Schloßstraße zu bauen. Natürlich nach den hehren Prinzipien des Bauhauses, natürlich in Sichtbeton (man sah am Ergebnis die Überforderung der Baufirma), darin eingesetzt riesige Holzfenster (die sich im Laufe der Jahre verzogen) und obendrauf ein Penthaus, das er als Honorar für sich und Frau und Kind baute. Ein Penthaus mit einem großen Gemeinschaftsraum und mehreren kleinen Zellen, natürlich auch innen in Sichtbeton – all dies verfocht er mit der gleichen Radikalität wie seine Arbeiten bei der neuen bühne, oft zur Verzweiflung des Bauherrn. Aber das Werk wurde vollendet, man sah ihm seine Herkunft an, und wäre es nicht inzwischen mit den üblichen Dämmplatten und haltbareren Aluminiumfenstern verkleidet, müsste es heute unter Denkmalschutz stehen. Schlacke hat sein Penthouse allerdings nie bezogen, irgendwann ging er mit seiner Familie nach Paris, und an seiner Stelle bezog ich mit Frau Gabriele und den Kindern Benjamin und Bettina das Penthaus mit umlaufender Dachterrasse, ein Luftschloss, das wir heute noch bewohnen, der einstmals freie Blick inzwischen durch Hochhäuser begrenzt. Von Schlacke hörten wir lange nichts mehr, bis er eines Nachts blutbeschmiert an der Haustür stand und eine Unterkunft suchte: das war im Mai 1968, er kam direkt von den Pariser Protestaktionen. Wieder Jahr und Tag später erschien er wiederum nachts, diesmal mit einem Dutzend großer Filmdosen, die Dokumentarfilme von irischen Arbeiteraufständen enthielten. Er forderte umstandslos, dass ich in den nächsten Tagen eine Vorführung der Filme organisieren möge, was ich auch irgendwie mit Hilfe der Gewerkschaften hinbekam. Da stand dann Schlacke im dunklen DGB-Saal und kommentierte die Bilder, denn aus irgendeinem Grund gab es keinen Ton. Aber auch die Bilder bewegten sich kaum, denn Schlacke hat die Revolte der irischen Arbeiter nicht inszeniert, er hielt einfach die Kamera drauf, die dann ohne Schnitte in Echtzeit zeigte, was sich stundenlang in einem irischen Hafen zutrug, alles Grau in Grau. Es waren die letzten Bilder, die ich auch von ihm hatte. Er hat sich nie mehr gemeldet. Seine Radikalität aber, die keinen »Kunst«-Anspruch verfolgte, mit der er aber Wahrheiten behauptete, die für ihn unumstößlich waren, hat nicht nur unsere gemeinsame Arbeit damals, sondern auch meine bis heute beeinflusst. Obwohl er kaum jemandem bekannt sein dürfte, muss Schlacke deshalb in diesem Buch stehen.

Das Modell Brecht

Nach dem jungen deutschen entdeckten wir einen älteren belgischen Dramatiker, Michel de Ghelderode, von dessen über fünfzig Stücken die Ballade vom großen Makabren durch Ligetis Oper heute noch bekannt ist. Uns reizte die skurrile, farbenschwelgende, wollüstige Vitalität dieser flandrischen Welt, jederzeit bedroht vom Sensenmann, und so übersetzte ich für die neue bühne zwei seiner Einakter, Ein Abend des Erbarmens und Der Club der Lügner, die wir dann unter dem Titel Maskenmenschen uraufführten. Große publizistische Resonanz gab es zuvor bei der Entdeckung einer alten spanischen Komödie, Calderóns Morgen ist ein neuer Tag – vor allem deswegen, weil die deutsche Fassungvom SPD-Politiker und Bundesrat-Minister Carlo Schmid stammte, der an der Goethe-Universität Politische Wissenschaften lehrte.

An ihrem fünften Jahrestag 1958 schrieb die neue bühne in konsequenter Kleinschreibung zu ihrem Selbstverständnis:

»teamwork ist die erste forderung, es gibt keine spezialisten. die komplexität des theaters wird so von allen beteiligten erfahren: der hauptdarsteller der einen inszenierung sitzt in der nächsten im souffleurkasten. daß so eine gemeinschaft, ein ›ensemble‹ zustande kommen konnte, versuchten die aufführungen zu zeigen … das studententheater weist sich weiter im spielplan aus. … an erster stelle steht die forderung nach dem experiment, dem literarischen experiment, das dem berufstheater auch heute noch aus finanziellen gründen und einem unbehagen am neuen versagt sein muss. die sogenannte freiheit des studententheaters kann sich gerade hier am besten erweisen. zum anderen bleibt die möglichkeit einer literarhistorischen aufführung. auf einen nenner gebracht, verlangt der spielplan des studententheaters stücke, die kein anderes theater spielt. es soll die freiheit haben, einen spielplan aufzustellen, der sich nicht nach dem publikumsgeschmack richtet, es soll den mut zum neuen haben, selbst wenn sich das neue als unbequem oder ungenügend herausstellen sollte. aber es soll in keinem falle in ausgetretenen gleisen sich bewegen, den bereits erwiesenen erfolg eines stückes mit naturgemäß geringeren mitteln nachzuspielen sich bemühen.

aus den möglichkeiten des spielplans kann sich ein entsprechender stil entwickeln, der ganz vom intellekt her bestimmt ist. nicht überraschende perfektion, die dem berufstheater überlassen werden muß, sondern die richtige konzeption, die dem werk eignet und neue wege weisen kann, ist wichtig. so sehr die technische bewältigung eines stückes wünschenswert erscheint, bleibt doch die forderung nach der richtigen konzeption zugleich mit der eines echten experimentellen spielplans maßstab für das studententheater.«2

Soweit der Anspruch. Er sollte nicht genügen. Es fehlte an überzeugenden heutigen Inhalten, an mehr als dem bloß ästhetischem Spiel. So war es wohl kein Zufall, dass uns einer begegnete, der auch die Kleinschreibung praktizierte und das Jahr 1958 für alle bei der neuen bühne zu einem Jahr der ästhetischen wie politischen Bewusstseinswende machte: Bertolt Brecht.

Frankfurt war schon Anfang der fünfziger Jahre durch die Inszenierungen von Harry Buckwitz, dem Generalintendanten der Städtischen Bühnen, die westdeutsche Hochburg der Brecht-Aufführungen. Mitten im Kalten Krieg und unbeirrt von lokalen und überregionalen Anfeindungen brachte Buckwitz bis 1958 allein fünf Stücke zur Aufführung: 1952 Der gute Mensch von Sezuan, 1955 Der kaukasische Kreidekreis, 1958 Mutter Courage und ihre Kinder, und 1957 sogar als Uraufführung Die Gesichte der Simone Machard. Dazu 1952 im Eröffnungsprogramm des neuen »Großen Hauses« für Oper und Schauspiel direkt nach den Meistersinger von Nürnberg Paul Dessaus und Brechts mehrfach in Ostberlin unterdrückte und verbotene Oper Das Verhör des Lukullus. Bei beiden habe ich, der Student der Germanistik und Romanistik in den ersten Semestern, in kleinen Tanz- & Pantomimenrollen mitgewirkt. Brecht und Dessau kamen zu den Lukullus-Proben und luden anschließend ins Hotel Palmenhof ein, wo sie mit den Mitwirkenden über die Oper diskutieren wollten. Ich ging hin, doch so schwer vorstellbar es heute auch ist – die Diskussion fand wegen mangelnden Interesses nicht statt. Aber ich habe wohl Brecht ›Guten Tag‹ gesagt und wusste dabei nicht, wie wichtig in vielerlei Hinsicht er noch für mich werden sollte.

Natürlich hatten die meisten von der neuen bühne die Brecht-Aufführungen am Schauspiel gesehen, wobei sie weniger von Brechts dramatischen Theorien als von den sehr wirkungsvollen Inszenierungen von Harry Buckwitz beeindruckt waren. Der kümmerte sich wenig um die Verfremdungseffekte des epischen Theaters, er ließ – wie er selbst sagte – die Schauspieler »mit undogmatischer Beherztheit« drauflos spielen, mit unglaublichen Publikumserfolgen, mit denen er die heute nicht mehr vorstellbaren politischen Widerstände überwand, diese Stücke überhaupt auf die Bühne zu bringen. Brecht war zwar immer erfreut über die Erfolge an einem großen westdeutschen Theater, aber er war doch vor allem daran interessiert, mit seinen Stücken und seiner Theaterarbeit sein neues »Theater des wissenschaftlichen Zeitalters« zu schaffen. Dafür schrieb er nicht nur die Stücke, sondern dokumentierte auch seine Modell-Inszenierungen in Buchform – zur bewussten Aneignung der Methoden seiner Theaterarbeit.

1958 fiel mir eines der Modellbücher des Berliner Ensembles in die Hände, das Antigonemodell 1948. Ein Stück, das Brecht nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil (auch für Helene Weigel) schrieb, unter Verwendung der Hölderlinschen Übersetzung, und mit einem Vorspiel, das auf einem Transparent mit »Berlin. April 1945« angekündigt wird und in dem zwei Schwestern aus dem Luftschutzkeller in ihre Wohnung zurückkommen. Es kam im Bühnenbild von Caspar Neher im Februar 1948 am Churer Theater zur Uraufführung. Seither ist es nicht mehr gespielt worden. »Da es sich weniger darum handelte, daß sich eine neue Dramaturgie, mehr darum, daß sich eine neue Spielweise an einem antiken Stück versuche, kann die neue Bearbeitung nicht in der üblichen Weise den Theatern zur freien Gestaltung übergeben werden«,3 heißt es im Vorwort. So wurde ein »verpflichtendes Aufführungsmodell« hergestellt, das sich aus Fotografien der Churer Aufführung und Erklärungen ihrer Entstehung zusammensetzt. Sollte das nicht eine lohnende Aufgabe für die neue bühne sein?

Ich wandte mich wegen der Aufführungsrechte an den Suhrkamp Verlag, traf auf ein Fräulein Ritzerfeld, die mir versicherte, die Brecht-Erben – Brecht war vor kaum zwei Jahren gestorben – würden wohl kaum einem westdeutschen Studententheater die Rechte für eine deutsche Erstaufführung eines Brecht-Stückes geben. Ich blieb hartnäckig, weiß aber heute nicht mehr, wie ich es geschafft habe. Jedenfalls überließ uns Helene Weigel die Rechte, jedoch unter einer Bedingung: Die neue bühne müsse einen Dramaturgen vom Brecht-Archiv engagieren, der mit uns das Modell dramaturgisch neu erarbeiten müsse, denn »ein solches Modell steht und fällt natürlich mit seiner Nachahmbarkeit und Variabilität.«

Der Dramaturg hieß Hans-Joachim Bunge, und er war für die neue bühne ein Glücksfall. 1919 geboren, war er zwar schon bei der Wehrmacht und bis 1949 in Kriegsgefangenschaft, war aber doch noch unsere Generation, die wir den Krieg als Heranwachsende erlebt hatten. Bunge war ein höchst unorthodoxer Marxist, der bei der neuen bühne auf in sozialistischen Theorien völlig ahnungslose Studenten traf. Die Abschottung vom Sozialismus der »sogenannten DDR« verlief in den fünfziger Jahren nicht nur physisch entlang der Zonengrenze, sie blockierte auch die Köpfe der Studenten an der Goethe-Universität. Bunge, der Brecht-Berater, öffnete die Köpfe, teils durch ein regelrechtes Marx-Seminar, teils durch höchst effiziente Betrachtungen der Brechtschen Theatertheorie, mit all ihren politischen Implikationen. Nächtelang saßen wir im rotplüschigen Uni-Café an der Bockenheimer Warte, diskutierten wild durcheinander.

Wir, das waren u.a. Gin Mebius (Antigone), meine spätere Frau Gabriele Schwarzenstein (die Ismene), der spätere Schauspieler Hans Martin (Kreon), der spätere Volkstheater-Regisseur Wolfgang Kaus (Bote) – und nicht zuletzt Klaus Völker, der gerade vom Gymnasium kam und später nicht nur Dramaturg, sondern auch zum Brecht-Spezialisten wurde. Ich sehe noch heute das Erstsemester Ursula Järisch (Botin), wie sie nachts beim Verlassen des Uni-Cafés den Bunge am Revers packte und ihn anschrie: »Jetzt sag doch mal in einem Satz, was ist das: dialektischer Materialismus?« Bunge hat es geduldig erklärt, und so entstand die Antigone-Inszenierung zusammen mit dem sich bildenden Bewusstsein ihrer Macher. Plötzlich sahen wir im Wirtschaftswunderland das kapitalistische System anders, plötzlich sahen wir, dem Faschismus grade noch entronnen und in die US-Freiheiten entlassen, auch die Kehrseite des Kapitalismus. Bunge hat mit Marx und Brecht in einem halben Jahr aus theatralisch interessierten Schöngeistern gesellschaftspolitisch engagierte Theaterstudenten gemacht. Die neue bühne wurde zu einem linken Verein, und so war es ganz selbstverständlich, dass sie in den sechziger Jahren die Nähe des SDS fand. Und umgekehrt: der SDS suchte die Nähe der neuen bühne.

Aber neben den Marx-Studien musste das Antigonemodell 1948 auch szenisch auf der Bühne realisiert werden. Caspar Nehers genialer Bühnenraum bestand aus einem Halbrund von Bänken, auf denen die Schauspieler auf ihren Auftritt warteten. Das Spielfeld wurde durch vier angebrannte Holzpfähle gebildet, an denen Skelette von Pferdeschädel hingen. Alle Requisiten und Möbel waren aus Naturmaterialien, Eisenbleche, Holz, Binsen und Ton. Alles schlicht und einfach und ganz im Sinne von Schlackes Ulmer Hochschule für Gestaltung. Alles war auch einfach herstellbar – bis auf die Pferdeschädel. Sie wie an einem normalen Theater aus Pappmaché zu modellieren verbot sich nach unseren strengen Prinzipien, es mussten echte Schädel sein. Also fuhr ich zum Schlachthof und erwarb dort zwei Pferdeköpfe, zwar ohne Haut, aber noch mit allem Fleisch und Sehnen und Fett und Blut, zwei erschreckend ungetüme Kadaver, in der Mitte jeweils in zwei Hälften geteilt. Im nach dem Krieg wiederaufgebauten Haus der Eltern in der Emserstraße gab es einen Keller mit einem alten eingebauten Waschkessel, noch mit Holz und Kohle zu befeuern. Dahin verfrachtete ich meine Schädel, je zwei Hälften passten gerade in den Kessel, wobei ein Drittel von ihnen aus dem Wasser ragte. Sieht man ein Pferd, erscheint sein Kopf im Verhältnis zum Körper eher klein, ein abgelöster Kopf jedoch ist riesig. So ragte der Kopf aus dem Wasser, sollte gekocht werden, um das Fleisch und unbeschreibliche weitere Innereien von den Knochen zu lösen. Zuerst aber löste sich Fett, das als dicker Schaum über den Kesselrand floss, verbunden mit einem üblen Gestank, der bald das ganze Haus durchdrang. Das Fleisch aber wollte sich nicht von den Knochen lösen. Ich kochte mehrere Tage und Nächte, die fettige Brühe floss unaufhörlich – bis ich irgendwann auf die Knochen stieß, das verkochte Fleisch abschaben und das Gerüst dessen, was einmal ein Pferdekopf war, auf der Dachterrasse in der Sonne zum Ausbleichen aufstellen konnte. So bleichten die Köpfe bis zu den Endproben, wurden an den vier Pfählen befestigt – und tropften weiter, tropften über Monate und noch bis ins nächste Jahr, solange wir Antigone spielten. Sie tropften auch im Markgrafentheater Erlangen bei der Internationalen Theaterwoche der Studentenbühnen, im Audimax der FU Berlin, im Börsensaal des Schauspiels Frankfurt (in den uns Buckwitz einlud) – und im Grand Théâtre der Weltausstellung in Brüssel, wo die neue bühne als einzige Vertretung des bundesrepublikanischen Theaters auftrat.

Es war also ein überregionaler Erfolg, beim Publikum und bei der Presse. Es war aber mehr als ein Theatererfolg. Brechts Modellbuch, die Proben und Diskussionen, Bunges »Beratung« – wie wir es nannten –, die gesamte Produktion hat zwar nicht die Welt verändert, aber die Produzenten. Das Brechtsche Modell hatte seine Aufgabe erfüllt, wir sahen die Welt mit anderen Augen, und das sollte auch die weitere Arbeit bestimmen.

Heute, Jahrzehnte später, fallen mir beim Wiederlesen einige Sätze im Modellbuch auf, die nicht gealtert sind: »Der Vorschlag, ein Modell zu benutzen, enthält eine klare Herausforderung an die Künstler unserer Zeit, die nur dem ›Ursprünglichen‹, ›Unvergleichlichen‹, ›Niedagewesenen‹ applaudiert und die das ›Einmalige‹ fordert … Wo bleibt, werden sie fragen, bei Modellbenutzung das Schöpferische? Die Antwort ist, daß die moderne Arbeitsteilung auf vielen wichtigen Gebieten das Schöpferische umgeformt hat. Der Schöpfungsakt ist ein kollektiver Schöpfungsprozeß geworden, ein Kontinuum dialektischer Art, so daß die isolierte ursprüngliche Erfindung an Bedeutung verloren hat … Das Modell ist wahrhaftig nicht aufgestellt, die Aufführungsweise zu fixieren, ganz im Gegenteil! Auf der Entwicklung liegt das größte Gewicht, die Änderungen sollen provoziert und wahrnehmbar gemacht werden, an die Stelle der sporadischen und anarchischen Schöpfungsakte sollen Schöpfungsprozesse mit schritt- und sprunghaften Änderungen treten.«4 Welch Zuversicht in die produktive Arbeitsweise eines Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters! Brecht hat sie uns damals eingeflößt.

Die Spielpläne der neuen bühne inden nächsten Jahren artikulierten so nicht nur literarische, sondern immer dezidierter politische Interessen. Dies natürlich vor dem Hintergrund bundesrepublikanischer Wirklichkeit: der sich immer unversöhnlicher entwickelnden beiden Teilstaaten, der Protestbewegung gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr und nicht zuletzt der zögerlichen Verfolgung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen.

Wolfgang Hildesheimer I

Im Februar 1959 hatte die neue bühne Premiere mit Wolfgang Hildesheimers Einakter Pastorale oder Die Zeit für Kakao, der drei Monate zuvor an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wurde. In dem Stück treffen sich drei Konzernbosse und eine Vorstandssekretärin, von einem Diener musikalisch angeleitet, in idyllischer Landschaft zu einem Gesangsquartett; zwei der Herren überleben das nicht, die anderen verschwinden in eine ungewisse Zukunft. Die neue bühne hatte zwei Jahre zuvor Hochwasser von Günter Grass zur Uraufführung gebracht. Es war ein so großer Erfolg, dass Grass der neuen bühne auch die Uraufführung zweier weiterer Stücke überließ, von denen sie das eine, nämlich Beritten hin und zurück, ein »Vorspiel auf dem Theater«, dem Pastorale voranstellten. Die beiden Autoren zogen einige Prominenz und überregionale Kritiker an, Grass war längst kein Geheimtipp mehr, und Hildesheimer war durch die Uraufführung seines Stücks Der Drachenthron 1955 von Gustaf Gründgens in Düsseldorf zu einem – wie man heute sagen würde – Shooting Star des westdeutschen Theaters geworden. Die Frankfurter Premiere wurde zu einem stürmischen Erfolg, die Autoren wurden gefeiert. Hildesheimer schrieb am 21. Februar 1959 an den Kurt Desch Verlag: »Die Frankfurter Aufführung war hervorragend, ernsthaft, man spürte das intellektuelle Vergnügen am Spiel, und wenn auch einige Dinge der Routine nicht so klappten, hatte die Sache doch weitaus mehr Intensität, war überzeugender, klarer. Es wurde besser gesprochen, alle hatten es besser verstanden. Die Pointen kamen alle! Und nun frage ich mich wahrhaftig: muß man es sich gefallen lassen, dass einem – wie in München (bei den Kammerspielen) – das Stück auf den Kopf gestellt, gekürzt und gleichzeitig zerdehnt wird, der Text verändert, das Geschehen vergagt und mit nutzlosen Aktionen überlagert wird, so daß zweifelhaftes Kabarett herauskommt, wenn – wie in Frankfurt – junge Leute (man kann heute nur mit jungen Leuten arbeiten) die Sache buchstabengetreu, in gleichmäßiger haarscharfer Verfremdung so spielen, wie sie geschrieben ist, und zum Erfolg führen? Es war die erste Aufführung eines meiner Werke, inklusive Drachenthron Burgtheater oder Gründgens oder Hörspiele, die mir wirklich Vergnügen gemacht hat, ich saß in der ersten Reihe und bog mich vor Lachen, so gut fand ich das Stück. Und natürlich die Aufführung, aber die war vom Stück nicht zu trennen. Ich erinnere mich, wie in München nach der Generalprobe Everding beim Mittagessen die Umstellung einer Szene zu verteidigen suchte, indem er sagte, sie sei so, wie ich sie geschrieben habe, nicht spielbar. In Frankfurt war sie nicht spielbar, sondern süperb, dank einem sublimen Regieeinfall. Nun, ich bin froh, daß ich doch hingefahren bin.«5

(Hildesheimers Brief wird hier deshalb so ausführlich zitiert, weil seine Klage über selbstherrliche Regisseure, mutwillige Veränderungen der Stücktexte nicht erst heute, sondern bereits vor über einem halben Jahrhundert zum Theater mit Autoren gehören und den zukünftigen Theaterverleger sein Leben lang begleiten werden.)

Für Hildesheimer war das Pastorale das Schlüsselstück einer poetologischen Wende. In unserem Programmheft schrieb er: »An dem Einakter Pastorale habe ich … eineinhalb Jahre gearbeitet, achtundsiebzig Wochen. Siebenundsiebzig Wochen davon hieß das Stück Die Herren der Welt, hatte drei Akte, die Struktur einer Komödie, klassischen Aufbau, einen positiven und mehrere andere Helden, Haupt- und Nebenhandlung … ging von einem Thema aus, enthielt viel ehrliche, wenn auch sublimierte Entrüstung in leichtem Dialog versteckt, verarbeitete ein Anliegen, machte Aussagen und endete am Ruhetag der siebenundsiebzigsten Woche, fix und fertig, wie es war, im Papierkorb: mit Thema, Entrüstung, Anliegen, Aussage … und alles was dazu gehörte.

Den Montag und den restlichen Teil der achtundsiebzigsten Woche verbrachte ich damit, genau das Gegenteil der vorhergehenden Wochen zu tun, und so entstand das Pastorale: Die Lehre von den Fehlern, Resultat meiner festen Überzeugung, daß das klassische Theater mausetot ist.«6

Das war starker Tobak. Aber es ging weiter: »Pastorale ist mein Bekenntnis zum Formalismus. Es ist um der Form willen geschrieben, um des reinen Spiels willen. Seine Euphonie und seinen Rhythmus … bezieht es aus den Gemeinplätzen des täglichen Lebens, und eben durch diese hat sich ein gut Teil Wahrheit in das Spiel eingeschlichen.«7

Aber wir, die neue bühne sah das anders. Wir hatten im Jahr zuvor die westdeutsche Erstaufführung von Brechts Antigonemodell 1948 herausgebracht, mit der theoretischen, sprich marxistischen Unterstützung von Hans-Joachim Bunge, der alle zu Verfechtern eines neuen »Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters«, also zu Brechtianern, machte. Die betrachteten das Pastorale vor allem mit gesellschaftskritischen Augen, so verkürzte man in einer Publikation seinen Inhalt auf den Satz: »Ein Vokalquartett stellt sich als sinnlicher Abklatsch einer sozialen Welt vor, in der mörderische Brutalität und seelische Infantilität friedlich zusammenhausen.« Und im Hessischen Rundfunk sagte ich: »Dem Formalismus, mit dem Wolfgang Hildesheimer bekenntnishaft kokettiert, schlägt sein eigenes Stück ins Gesicht. Doch ist diese Verwegenheit, sich ein Bekenntnis zu leisten, mit der gleichen Ironie erfüllt, die durch Gesang Konzernherren töten läßt. Warum also das Bekenntnis? Muß man, um das Material zu verstecken, den Zuschauer durch Formales ablenken?« Die neue bühne sah im Pastorale also durchaus noch ein gesellschaftskritisches, wenn auch grotesk übersteigertes Stück mit Aussage und Anliegen – und genoss mit dem Publikum vor allem das virtuose Spiel mit den sprachlichen Klischees. War das bereits »absurdes Theater«?

Es ist heute ganz unvorstellbar, mit welcher Leidenschaft und Überzeugungskraft von 1956 bis 1966 über die antithetischen Positionen eines realistisch-gesellschaftskritischen Theaters und des sogenannten absurden Theaters gestritten wurde – natürlich besonders bei den theoretisch interessierten Studentenbühnen. Schauplatz der Kämpfe waren die Internationalen Theaterwochen der Studententheater in Erlangen, wohin auch immer wichtige Kritiker wie Joachim Kaiser oder Walter Maria Guggenheimer kamen und Autoren wie Enzensberger, Grass, Tankred Dorst und nicht zuletzt Hildesheimer, der dort eine denkwürdige Rede halten sollte.

Von Ubu zu Schau auf Deutschland

Mit einem durchaus veränderten Bewusstsein ging die neue bühne nach ihrer Initiation in die Brechtsche Theaterarbeit in neue Projekte. Damit schien sie allerdings mit einer Theaterform zu kollidieren, die sich zunehmend unter der Trendmarke »Absurdes Theater« ausbreitete, nicht zuletzt auch mit den Stücken von Grass und Hildesheimer. Aber auch wenn die nächsten Jahre bestimmt sein sollten von heftigen Kämpfen zwischen den Vertretern des Brechttheaters und denen des Absurden, so schien das die neue bühne kaum zu tangieren, – begriff sie doch die surrealen Aspekte der absurden Stücke als eine Tradition des europäischen Theaters, die ohne größere Anstrengung mit dem realistischen »epischen Theater« Brechts zu vereinbaren waren. Ein gutes Beispiel dieser Vereinnahmung war ihre Interpretation von Hildesheimers Pastorale. Wie die neue bühne diesen Spagat in den folgenden Jahren hinbekam, mag eine kurze Darstellung ihres Spielplans verdeutlichen.

So wurden 1959 in Alfred Jarrys – wohl zum ersten Mal in Deutschland aufgeführtem König Ubu weniger die surrealistischen Elemente betont als die aggressive Satire. Klaus Völker, der spätere Brecht-Biograf, engagierte sich besonders für dieses Kasperletheater der spießbürgerlichen Leidenschaften, das direkt auf die bundesdeutsche Gesellschaft zielte. »Die neue bühne scheint im Begriff, eine moralische Anstalt zu werden«, so die FAZ – und das Pariser Collège de ›Pataphysique beehrte sie mit einer Konferenz und einer Ausstellung.

Jarrys surrealer Bürgerschreck verstand sich bestens mit dem »Heroisch-episch-satirischen Mysterium unserer Epoche«, dem Mysterium buffo von Vladimir Majakovskij, das 1960 zum ersten Mal in Deutschland gespielt und bei dem nach Majakovskijs Anweisungen die Vertreter der verschiedenen Gesellschaftsordnungen aktualisiert wurden. »Wer auf die Ideen des Kommunismus im literarischen Kleid hereinfällt, der könnte auch reif dafür sein, Chruschtschovs Täuschungsmanöver für bare Münze zu halten«, kommentierte der Bonner Ost-West-Kurier.

Sartres Ehrbare Dirne wurde 1960 von der Ebene des psychologischen Reißers mit Filmeinblendungen (!) von Rassenverfolgungen (US-Südstaaten, Afrika, Auschwitz) auf die eines dokumentarischen Falls gehoben. Mit einem schwarzen Darsteller für die Hauptrolle – lange vor der Blackfacing-Debatte. (!)

Ebenfalls 1960 die Inszenierung eines mittelalterlichen Schwanks von Hayneccius, Hans Pfriem – in einer Bearbeitung des Berliner Ensembles: »Die auf episches Theater trainierte neue bühne hatte mit der Hayneccius-Komödie wenig Mühe.« FR

Mit Die Koreaner reagierte die neue bühne dann 1961 auf den Korea-Krieg. Walter Maria Guggenheimer, Kritiker und Redakteur der Frankfurter Hefte, hatte die Arbeit der neuen bühne immer mit Sympathie verfolgt und das Stück des französischen Autors Michel Vinaver übersetzt. »Regisseur und Schauspieler treten im Programmheft kollektiv auf. Bescheidenheit oder Programm – das ist hier die Frage.« Abendpost

Drei Farcen aus drei Jahrhunderten zeigten 1961 sowohl die Entwicklung einer theatralischen Form und ihrer Ursachen. Dreimal Protest gegen gesellschaftliche Verhältnisse wie gegen die erstarrte Rhetorik des jeweiligen Theaters. Mit Angelo Beolcos Des Ruzante Rede, so er vom Schlachtfelde kommen, Georges Courtelines Die Bumerangs und Wolfgang Hildesheimers Die Uhren.Theater heute konstatierte einen »demonstrativen Gestus, kalte, provokative Schlagkraft« und sah »in solch intellektueller Entschiedenheit … die Chance des Studententheaters«.

Die nächste Uraufführung galt 1962 dem szenischen Entwurf einer künftigen Nobelpreisträgerin: Eli, ein Legendenspiel um das Leiden Israels von Nelly Sachs. Die Studenten griffen damit zu einem Thema, das erst in dem neuen Jahrzehnt für die bundesdeutschen Theater mit den Stücken von Hochhuth, Walser, Kipphardt, Weiss u.a. wichtig werden sollte. Die Städtischen Bühnen Dortmund waren damit einverstanden, dass die neue bühne das Stück vier Wochen vor der offiziellen Uraufführung spielen konnte. Die Dichterin konnte zwar nicht zur Premiere nach Frankfurt kommen, schrieb aber einen Brief an die neue bühne: »Lieber, sehr verehrter Herr Dr. Braun, welche Freude haben Sie mir bereitet! So haben die jungen Schauspieler mit ihrem Herzen den Eli gestaltet. Hans Magnus Enzensberger, Marie-Luise Kaschnitz, Peter Hamm hatten mir von dem großen Eindruck, den sie hatten, schon berichtet. Nun bin ich wieder im Krankenhaus, um Ruhe zu finden zum leben, zum arbeiten. Wie schön sind die Bilder, die Sie mir sandten. Und wie richtig das Angesicht des Michael. Ich glaube fast, diese Jugend wird sich auch für meine mit Mimus erweiterten Dinge eignen, so wichtig, daß man mit dem ganzen Körper das Wort ausatmen läßt – nur so kann die Verbindung von hier nach dort gefunden werden. Ich danke Ihnen sehr tief und viele Grüße und gute Wünsche sende ich Ihnen Ihre Nelly Sachs.«8

Und 1962 ein Lehrstück von Brecht: Die Ausnahme und die Regel. Da sich die Formen der Ausbeutung verändert haben, musste das Stück als Modell der Ausbeutung in Szene gesetzt werden. Es galt die unveränderte Mechanik des Ausbeutens so darzustellen, dass diese als bisher unverändert begriffen werden konnte. Wie realistisch dass Modell war, erfuhren die Studenten dann bei einem Gastspiel in Istanbul, Ankara und vor allem in Ordu, im Osten der Türkei. Ein Gastspiel übrigens unter großen politischen Schwierigkeiten: Brecht war in der Türkei verboten.

Eine literarische Entdeckung dann 1963: Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi von Jakob Michael Reinhold Lenz. Das Interesse der neuen bühne galt einer Komödie von 1774, die im neudeutschen Biedermeier der Adenauer-Republik ihre Entsprechung fand. Wie bei den Soldaten und dem Hofmeister schreibt Lenz, um gegen konkrete gesellschaftliche Missstände zu polemisieren. »Die Inszenierung soll den Text in neuer Funktion zeigen, gewissermaßen als Zitat. Lenz selbst soll kritisiert und sogleich seine eigene Kritik, soweit sie uns noch interessiert, sichtbar gemacht werden … Die groteske Dramatik des Sturm-und-Drang-Dichters ist als demonstratives Mittel im Dienste seiner Gesellschaftskritik zu verstehen.«9

Das Jubiläum 10 Jahre neue bühne wird 1963 mit einem Doppelabend begangen: der erste Abend Gegen die Kriege wareine szenische Collage von Gedichten, Liedern und Texten von Brecht (noch immer gab es den Brecht-Boykott!), der zweite Der Frieden von Aristophanes, sehr frei auf aktuelle Verhältnisse und unter Benutzung der Fassung von Peter Hacks hin adaptiert. Und wie es sich für angehende Wissenschaftler gehört: sie dokumentieren im Programmheft ausführlich ihr Vorgehen: »Wie bearbeiten wir den Aristophanes?«

Mit dem Jubiläum wurde gleichzeitig das langsame Ende der neuen bühne eingeleitet. Es ging einher mit einer stärkeren Politisierung eines Teils der Studentenschaft ab Mitte der sechziger Jahre, die zu den Aufständen von 1968 führen sollte. Der andere Teil wollte das Studium so schnell wie möglich beenden und Geld verdienen, da blieb keine Zeit mehr für künstlerische Aktivitäten. So fehlte der neuen bühne zunehmend der engagierte Nachwuchs, während immer mehr aus der über viele Semester eingeschworenen Truppe die Uni verließen und sich ihren Berufen zuwendeten.

Dennoch gab es im Winter 1964 noch eine aufwendige Produktion mit der westdeutschen Erstaufführung der historischen Komödie Die Schlacht bei Lobositz von Peter Hacks. »Das Stück bildet einen Teil der menschlichen Beziehungen um die Abschaffung des Krieges. Es erhebt den Anspruch, mehr als eine bloße Mißfallensäußerung zu sein«, heißt es im Programmheft von Wolfgang Wiens, einem der später wichtigsten Dramaturgen des deutschen Theaters. Und sein Programmheft nimmt mit seinen reichhaltigen Materialien die ein Jahrzehnt später bei den Stadttheatern aufkommenden Programmbücher vorweg.

Noch einmal kam die neue bühne 1964 groß heraus, und zwar mit einem innovativen Konzept, das erst Jahrzehnte später vom professionellen Theater genutzt und weiter entwickelt wurde. Kein nach allen dramatischen Regeln konstruiertes Stück mit fortlaufender Handlung, sondern eine aus verschiedenen Materialien zusammengesetzte Collage: Schau auf Deutschland hieß die zeitkritische »Revue«, die sich zusammensetzte aus Gedichten und Songs von Brecht und Enzensberger, Szenen von Walser, Hildesheimer und Weiss, einer Beckett nachempfundenen szenischen Darstellung des Grundgesetzes – und als roter Faden Zitae aus den Gesprächen zwischen Vater und Sohn Über Deutschland von R.M. Müller.10 Der Schau auf Deutschland