Heute fahren wir ins Grüne - Karin Hermanns - E-Book

Heute fahren wir ins Grüne E-Book

Karin Hermanns

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Beschreibung

Die kurzen und freundlichen Geschichten sind speziell auf die Bedürfnisse an Demenz erkrankter Menschen zugeschnitten. Im Fokus stehen ganz besondere Ereignisse aus der Jugend und Erwachsenenzeit, die oft mit einem ersten Mal verbunden sind: der erste Kuss, die erste große Liebe, das erste Kind, das erste Auto … Oft erinnern sich Betroffene noch sehr gut an solche Themen. Zu jeder Geschichte gibt es praktische Tipps, wie das Vorgelesene leicht veranschaulicht und vertieft werden kann. Kurze, freundliche Geschichten Viele Tipps fürs richtige Vorlesen Kompetente Autorin mit viel Erfahrung in der Betreuung von Demenzkranken

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Seitenzahl: 92

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Karin Hermanns

Heute fahren wir ins Grüne

Vorlesegeschichten für Menschen mit Demenz

Kaufmann Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

1. Auflage 2014

© 2014 Verlag Ernst Kaufmann, Lahr

Dieses Buch ist in der vorliegenden Form in Text und Bild urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags Ernst Kaufmann unzulässig und strafbar.

Dies gilt insbesondere für Nachdrucke, Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlagabbildung: © Kaufmann Verlag

ISBN Buch 978-3-7806-3144-2

ISBN E-book 978-3-7806-9215-3 (Epub)

ISBN E-book 978-3-7806-9216-0 (mobi)

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Verliebt, verlobt, verheiratet

Liebe versetzt Berge

Der erste Kuss

Der Pelzmantel

Die Nylonstrümpfe

Verlobung mit Hindernis

Hochzeit mit Veilchen

Ein ungewöhnlicher Fund

Familienglück und andere Freuden

Doppelt genäht hält besser

Elternglück

Die unruhige Taufe

Spaghetti bolognese

Im Liegewagen nach Italien

Der begehrte „Lappen“

Wohlstand und seine Zeichen

Der erfüllte Traum

Die Verbannung der Kaffeemühle

Die Wundermaschine

Die streikende Musiktruhe

Wer schön sein will, muss leiden

Der Sieg des Trockenrasierers

Feierabend und sonstige Freizeitvergnügen

Der Hauptgewinn

Die flüchtige Badehose

Der rätselhafte Kinobesucher

Das Funkenmariechen

Alpenglühen

Der Flimmerkasten

Vorwort

Geschichten zu lauschen, die vorgelesen werden, ist für viele Menschen mit Gefühlen von Geborgenheit und Ruhe verbunden. Dies gilt für Demenzerkrankte, die aufgrund ihrer kognitiven Einschränkungen meist nicht mehr selbst lesen können, in besonderer Weise.

Die Geschichten dieses Buches sind dabei so erzählt, dass Demenzerkrankte ihnen in Bezug auf Inhalt und Länge leicht folgen können. Sie schildern einfache, konkrete, alltägliche Sachverhalte und legen einen besonderen Wert darauf, emotional zu berühren und in positive Stimmung zu versetzen. Kognitive Fähigkeiten wie Auffassungsgabe, Aufmerksamkeitsspanne, Erinnerungs- und Abstraktionsvermögen sowie das Verstehen komplexerer Zusammenhänge nehmen im Verlauf der Demenzerkrankung ab, während die emotionale Ansprechbarkeit noch lange erhalten bleibt. Demenzerkrankte haben oft sogar eine besonders hohe Empfindsamkeit für Atmosphäre und Stimmungen.

Auch wenn jedes Leben individuell verläuft, teilen die heutigen Demenzerkrankten viele historische und kulturgeprägte Erlebnisse und Erfahrungen, die in den Geschichten aufgenommen werden. Dazu gehören schöne Ereignisse in der Jugend- und Erwachsenenzeit, die nicht selten mit einem „ersten Mal“ verbunden sind: der erste Kuss, die erste große Liebe, das erste Kind, das erste Auto etc. Die Geschichten sind bezüglich Lebenswelt und -gefühl der Nachkriegszeit und den 50er- und 60er-Jahren nachempfunden und werden wegen der Aufnahmeschwierigkeiten von Demenzerkrankten meist aus der Perspektive einer Person erzählt. Dabei geht es nicht um historische Wahrheiten, sondern es handelt sich um Geschichten, die erinnern helfen und Vorlesern und Zuhörern Spaß machen sollen.

Damit das Vorlesen ein Erfolg werden kann, hier einige Anregungen und Tipps für den Vorleser:

Ob Sie einer Gruppe oder einem einzelnen Menschen vorlesen, setzen Sie sich immer so, dass Sie Blickkontakt haben und alle Sie gut hören können. Lesen Sie langsam, laut, deutlich, mit guter Betonung und machen Sie auf unterschiedliche Personen durch verschiedene Stimmlagen aufmerksam. Machen Sie aus dem Vorlesen ein sinnliches Erlebnis, indem Sie Gegenstände mitbringen und während des Vorlesens präsentieren, die das Gehörte unterstützen und die gesehen, gehört, angefasst, gerochen und eventuell auch geschmeckt werden können. Zu jeder Geschichte im Buch finden Sie jeweils entsprechende Anregungen.

Wecken die Geschichten eigene Erinnerungen, haben diese Vorrang. Gehen Sie darauf ein und fahren Sie später mit der Geschichte fort. Beteiligung und Aktivierung des Zuhörers bzw. der Zuhörer sind wichtiger als jede Buchgeschichte. Wenn Sie unterbrochen haben, nehmen Sie den Faden wieder auf, indem Sie das bereits Gehörte kurz zusammenfassen. Wenn es sich anbietet, geben Sie dem bzw. den Zuhörer(n) ein kleines Erinnerungsgeschenk mit.

Verliebt, verlobt, verheiratet

Liebe versetzt Berge

Morgen war Sportfest in der Schule und Martin betrachtete etwas skeptisch seine nicht gerade muskulösen Beine. Er war in den letzten Monaten stark in die Höhe geschossen, über seinen Lippen und ums Kinn sprießten schwarze Barthaare und er fühlte sich öfter weder Fisch noch Fleisch. Außerdem war er unglücklich verliebt. Zumindest hatte Rosemarie, die aufs benachbarte Mädchengymnasium ging und sechzehn war, bisher wenig Notiz von ihm genommen. Mädchen standen eben mehr auf ordentliche Kerle und nicht auf so schlaksige Bohnenstangen, wie er sich vorkam. Sein Banknachbar Udo hatte da schon bessere Karten. Der war kräftig und auch schon irgendwie männlicher als er. Das hatte Martin zumindest beim Duschen nach dem Sport verstohlen festgestellt.

Seit Wochen quälte sich Martin in der Freizeit mit Liegestützen, Kniebeugen und Klimmzügen an der Teppichstange auf dem Hof herum und hatte wie verrückt jeden Nachmittag etliche Runden auf dem Sportplatz gedreht. Viel genützt schien es ihm nicht zu haben, nur etwas schneller war er geworden. Aber ob es morgen auf dem Sportplatz reichen würde, Udo zu besiegen, war er sich nicht sicher. Die Disziplinen Weitwurf und Springen waren nicht das Problem, die lagen ihm, aber das blöde Laufen machte ihm Kopfzerbrechen. Dabei würde er Rosemarie gerne durch einen schmissigen Lauf beeindrucken. Manchmal schauten nämlich die Mädchen bei den Wettkämpfen am Rand zu und feuerten ihre heimlichen Lieblinge an. Ob Rosemarie wohl kommen würde? Martin wünschte es sich sehnlichst und fürchtete sich zugleich davor. Am besten würde er heute früh schlafen gehen und morgen zum Frühstück ein paar ordentliche Stullen verdrücken. Vielleicht würde das etwas helfen.

Das Sportfest am nächsten Tag nahm seinen Lauf. Beim Weitwurf mit dem Schlagball hatte es Martin auf beeindruckende 54 Meter gebracht und auch der Weitsprung mit 4,90 Meter konnte sich sehen lassen und würde sogar für eine Urkunde reichen. Jetzt kam die Zitterpartie, Sprinten über 100 Meter. Die Mädchen, und darunter auch tatsächlich Rosemarie, standen auf dem Rasen und erwarteten mit Spannung den Startpfiff. Martin kauerte am Startblock und versuchte sich zu konzentrieren. Er fing sogar innerlich an zu beten: „Lieber Gott, lass es klappen, nur dieses eine Mal!“

Dann kam der Pfiff und Martin lief, wie von der Tarantel gestochen, los. Udo war kurz vor ihm und er konnte ihn trotz äußerster Anstrengung nicht bezwingen, als er plötzlich Rosemaries Stimme hörte, die lauthals „Martin schneller, Martin schneller“ brüllte. Da passierte es. Martin wusste selbst nicht wie. Aber seine Beine mussten Rosemaries Anfeuerungsrufe gehört haben, denn sie fingen plötzlich an zu fliegen. Martin rannte, was das Zeug hielt, sah plötzlich Udo neben sich, dann hinter sich und schoss wie ein Pfeil kurz vor ihm als Erster durchs Ziel. Er konnte es nicht glauben, er hatte gewonnen. Er war schneller als Udo und alle anderen gewesen. Am liebsten hätte er geweint, was er natürlich nicht tat, denn Männer weinen nun mal nicht. Kaum hatte er sein Glück begriffen, geschah das nächste Wunder. Rosemarie stand vor ihm, gratulierte ihm und ein flüchtiger Kuss von ihr landete auf seinen Bartstoppeln. War es Wirklichkeit oder träumte er? Die Siegerehrung, bei der der Sportlehrer Martin eine Urkunde überreichte, rauschte an ihm vorbei, denn seine Gedanken und Gefühle waren bei Rosemarie. Sie war es, die seine Beine beflügelt hatte. Vielleicht mochte sie ihn doch. Er würde es herausfinden.

ANREGUNGEN:

Diese Geschichte eignet sich besonders, um über eigene Erinnerungen aus der Zeit der Pubertät zu sprechen. Außerdem bietet es sich an, vor allem mit Männern, über Sport zu reden. Manche demenzerkrankte Männer erzählen gern über ihre sportlichen Leistungen.

Ein Schlagball und Fotos von Sportfesten können die Erinnerung anregen. Vielleicht lässt sich auch eine Sieger- oder Ehrenurkunde von früher auftreiben. Anschließende Ballspiele oder andere noch mögliche sportliche Betätigungen (z.B. mit einem Luftballon, Softbällen etc.) sind eine schöne Erweiterung der Geschichte.

Der erste Kuss

Ingrids Augen brannten, was auch kein Wunder war; das funzelige Licht der Nähmaschine war nicht gerade eine Wucht und das ständige Schauen auf die tackernde Nadel, unter der sie die rutschige Seide auf Kurs zu halten versuchte, war ermüdend. Außerdem tat ihr das Kreuz von der stundenlangen gebückten Haltung weh und die Finger fühlten sich so steif wie die eines Gichtkranken an. Trotzdem war Ingrid voller Freude und stolz wie Oskar, denn das lange Kleid aus Tüll und Seide, das sie morgen auf dem Abschlussball des Tanzkurses tragen würde, war ihr gelungen und sah todschick aus. Ihre schmale Taille würde darin gut zur Geltung kommen und die Riesenschleife im Rücken war ein echter Hingucker. Rolf, ihr Tanzpartner, in den sie sich hoffnungslos verliebt hatte, würde sicher Augen machen.

In Gedanken war Ingrid bereits auf dem Tanzboden und als sie zu ihren eleganten Pumps mit den Pfennigabsätzen schaute, die neben ihrem Bett standen, fingen ihre Füße wie automatisch an, Boogie-Woogie zu tanzen. Sie liebte den schnellen Rhythmus dieses Tanzes, der als etwas verrucht galt, und konnte es kaum erwarten, mit Rolf über das Parkett zu wirbeln.

Rolf war zwar bei allen Damen heiß begehrt, aber wann immer sich die Gelegenheit in den Tanzstunden geboten hatte, hatte er sie aufgefordert. Er war groß und schlank, sah in seinen langen schmalen Hosen, über denen er oft einen Pullover und einen hellen Trenchcoat trug, absolut fesch aus, von seinen eleganten Hüten und Krawatten ganz zu schweigen. Ingrid kam innerlich ins Schwärmen, sah sich schon in den Armen von Rolf, wie er sie nach dem Ball nach Hause begleiten würde und sie vielleicht sogar … Ingrid rief sich innerlich zur Räson. Pfarrer Klump hätte ihre Fantasien sicherlich nicht gutgeheißen. Aber so war das nun mal, wenn man verliebt war. In Rolfs Nähe hatte sie einfach Schmetterlinge im Bauch, gegen die sie sich auch nicht wehren konnte, gutes Benehmen hin, gutes Benehmen her.

Der Ball am nächsten Tag wurde ein unvergessliches Erlebnis für Ingrid. Nachdem alle Paare den Eltern brav alle gelernten Tänze vorgeführt hatten, wurde die Stimmung lockerer und hier und da eine Dame näher als erlaubt an sich herangezogen. Oder ein Pärchen war plötzlich verschwunden und für ein paar Minuten unauffindbar.

Ingrid genoss jeden Tanz mit Rolf und in seiner Nähe klopfte ihr Herz so laut, dass sie Angst hatte, jeder im Saal könnte es hören. Wenn Rolf sie dichter an seinen Körper zog und ihre Wangen sich kurz berührten, spürte Ingrid eine wohlige Gänsehaut, die wie ein warmer Regenschauer über ihren ganzen Körper rieselte. Ihre Wangen glühten, sie lachte und in ihr war ein Sehnen, dem sie nur den einen Namen geben konnte: Rolf.

Die Stunden verflogen im Nu und der Moment war gekommen, den Heimweg anzutreten. Rolf bot Ingrid tatsächlich an, sie nach Hause zu begleiten, und so gingen sie etwas schüchtern nebeneinander her, plauderten über dies und das, aber dann kam’s: Rolf blieb plötzlich stehen, nahm zärtlich und etwas unbeholfen Ingrids Hände, die kalt geworden waren, und zog sie dicht an seinen Körper. Seine Lippen näherten sich den ihren, berührten sie zunächst leicht und sanft, um dann in eine Leidenschaft auszubrechen, dass Ingrid Hören und Sehen verging und sie das Gefühl hatte, von der Erde abzuheben. Und dann hörte sie den Satz, von dem sie immer geträumt hatte: „Ich liebe Sie, Fräulein Ingrid, wollen Sie meine Frau werden?“

Natürlich wurde Rolf nicht ihr Mann, sie war noch viel zu jung für solche Entscheidungen und heiratete viel später Hans, ihren Kollegen aus dem Betrieb. Aber der erste Kuss von Rolf blieb ihr unvergessen im Gedächtnis und war wie eine zärtliche Verheißung für das ganze Leben.

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