Heute für Geld und morgen umsonst - Peter Steinbach - E-Book

Heute für Geld und morgen umsonst E-Book

Peter Steinbach

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Beschreibung

Grimme-Preis für die Drehbücher von »Heimat« – jetzt ein literarischer Wurf Peter Steinbach hat sich als Drehbuch- und Hörspielautor einen Namen gemacht. Mit seinem ersten Roman gelingt ihm etwas Unwahrscheinliches: Mit den Augen seines Erzählers Osvald, eines zehnjährigen Jungen voller Neugier und Sehnsucht, lässt er uns das letzte Kriegsjahr in Leipzig neu sehen. Osvald hat es nicht leicht, aber er ist guter Dinge. Seine Mutter ist hochschwanger, sein Vater meist unterwegs, weil er kriegswichtige Forschungen betreibt, und Osvald darf nicht in die Schule. Eigentlich darf er überhaupt kaum raus, denn wäre sein Vater nicht, wären seine Mutter und er nicht mehr. Vaters Rang verhindert ihre Deportation, schützt aber nicht vor Alltagsdiskriminierung und den Bombern der Engländer, die immer wieder ihre Fracht über der Stadt abwerfen.Osvald beobachtet das Treiben seiner Altersgenossen durch den Feldstecher, flüchtet sich in die Lektüre und bricht immer wieder aus: Mit dem Fahrrad unternimmt er heimlich Expeditionen in die Umgebung und erfährt dabei mehr über die Leute und das Geschehen, als man für möglich hält. Und als seine Mutter mit dem Neugeborenen die Stadt verlassen muss, schlüpft Osvald beim Bäcker Bredno unter und erlebt den Einmarsch der Amerikaner und später die Übernahme der Stadt durch die Russen mit.Peter Steinbach erzählt unerhörte Geschichten aus dem Krieg aus der glaubwürdigen Perspektive seines jungen Helden, der staunend und mit großer Empathie verfolgt, was alltäglich sein soll. Eine neue Stimme, die aus großem zeitlichem Abstand mit ungeheurer Intensität erzählt. »Dieser Roman entwickelt einen ungeheuren Sog und ist so aufgeladen mit Erfahrung, dass es sich alle paar Sätze in einer Pointe entladen muss. Ein Solitär!« (Jan Seghers)

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Seitenzahl: 268

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Inhalt

CoverTitelVorwort12BuchAutorImpressum

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Vorwort

Ein Teil eines zerrissenen Herzens:

Wovon träumt ein kleiner Junge

kurz vorm Erwachen

in dunkler Zeit,

was wünscht er,

was hofft er,

wohin gehen seine Gedanken?

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1

»Stadt, Land, Fluss, Name, Tier, Pflanze, Beruf« spielten Mamma und ich oft vorm Schlafengehen.

Ein, zwei Runden, mehr ging nicht mit ihr, denn sie stand kurz vor der Niederkunft und war ungeduldig und streitlustig.

Sie hatte bei Tier »Hering« geschrieben, und ich hatte auf meinem Zettel »Hering in Gelee« stehen, weil ich von der Seite gespinxt hatte. Das fand sie sehr unverschämt. Es brachte sie aus der Fassung. Wir stritten, sie tobte und rannte hinaus in den Garten.

Oben flog die letzte Tagesarmada der Texaner und Mormonen durch den Abendhimmel der Vorstadt. Das versöhnte sie augenblicklich.

»Lass sie treffen, Ewiger! Lass Bombe für Bombe fallen, mitten rein in die verdammte Nazischeiße. Kenne du keine Gnade, Gott, verschone nicht einen von denen!«, flüsterte sie über ihre gefalteten Hände hinweg.

Ihren dicken Leib konnte man gewiss bis in die Kanzeln sehen. Ich war mir sicher, dass die Neger da oben mit ihren Ferngläsern die Gegend unter sich absuchten.

Aber bei uns gab’s nur Felder zu sehen, ein paar Häuser, eine Straßenbahnendstelle und unser Militärlazarett.

Leider hatte man auf die Kasernendächer weiße Kreise mit roten Kreuzen gepinselt, und so mussten die Flugzeugneger schweren Herzens nach Benzinraffinerien Ausschau halten.

»Sei wieder gut, liebste Mamma!«, bat ich sie. Es war doch wirklich schon Strafe genug, jeden Abend mit ihr dieses Scheißspiel zu spielen, wo sie im Schreiben immer die Schnellste war.

Und jedes Mal die Streitereien bei Zitrone mit »C« oder mit »Z«.

»Das ist Schule, Osvald, das weißt du genau. Das ist kein Spiel!«, sagte sie unversöhnlich.

Ich wusste es ja. Vor vier Jahren hätte ich in die Schule gemusst, nur wollte mich dort keiner haben. Also lernte ich auf diese Weise die Hauptstädte unserer Welt, die Tiere Europas und seine Flüsse und Ströme kennen.

Ich hatte keine Schulfreunde, wie die Nazikinder jenseits des Feldes drüben in der Reihenhaussiedlung oder im Bauverein.

»Wenn du ganz lieb bist, mein Osvald, dann leg ein Stück Zucker ins Fensterbrett, und du bekommst bald eine Schulkameradin!«, hatte sie letztes Jahr gesäuselt. Woher? Warum?, dachte ich. Und wenn ich nun ein Stück Kaninchenscheiße von unserer alten Agnes ins Fensterbrett legte, was dann? Was war in meine Eltern gefahren, jetzt noch ein neues Kind in die Welt zu setzen? Hatten sie an mir nicht genug? Hatte die Mamma nicht das ganze 5. Kriegsjahr über gebetet und geseufzt, und wollte sie sich nicht alle drei Monate ernsthaft aufhängen, wenn das alles so weiterginge mit uns? Ich konnte keine Wäscheleine mehr sehen. Aufhängen stellte ich mir schrecklich vor, vor allem das Abnehmen von einer Mamma. »Bitte, meine liebe, gute Mamma«, versuchte ich es noch einmal, »sei wieder gut!« Sie winkte mich zu sich, und wir beide sahen den Feindbombern hinterher.

»Mein Leben«, sagte sie, »mein Leben liefere ich euch allen aus!«

Das war ein Satz wie aus meinem Lieblingsbuch »Das Naturforscherschiff«. Damit reiste ich um die Welt, da hatten in einer (bestimmten) Gegend Afrikas die Krokodile das Richteramt im Negerdorf. Und die übten keine Barmherzigkeit.

Wir drückten uns, sie gab mir eine kleine Kopfnuss.

»Hering in Gelee, was für eine Idee! Und viel zu lang zum Schreiben!«

*

Wir lebten sozusagen auf freiem Feld. Frau von Wettengel, unsere Gräfin und Rittergutsbesitzerin, hatte uns ihr Altenteil, ein neues Zweifamilienhaus im alten Stil, vermietet – vor allem wegen des Alten und seiner Titel.

Wir konnten vorn und hinten, rechts und links über die Felder sehen. Vorn führte ein schmaler Sandweg zur Landstraße und diese zu den ersten Häusern der Vorstadt – einer Reihenhaussiedlung und dem Rechteck des Bauvereins. Hinter den Reihenhäusern kam wieder ein Stück Feld, und dann die Kaserne.

Alle konnten uns sehen, und wir konnten die Gräfin sehen, wenn sie mit ihrer Gummikutsche auf ihre Felder gefahren kam, um die polnischen Kriegsgefangenen mit der Reitpeitsche über die Ohren zu schlagen.

Wir hatten einen Garten ums Haus. Manchmal kletterten die kranken Soldaten nachts über den Zaun und klauten unsere Kirschen und Pflaumen. Jedes Mal riss mich Mamma dann aus dem warmen Bett, eilte zu den gepackten Koffern und wartete zitternd aufs Anklopfen.

Der Alte nahm das gelassen hin. Er war Bakteriologe, außerdem Germane, und hatte die Ruhe weg.

Mamma war klein und blond und sah eigentlich gar nicht typisch aus, wie ihre früheren Bekannten sich ausdrückten. Der Alte war riesig und bärtig und hatte, wie Mamma immer sagte, keinerlei Humor. »Schneide endlich mal ein anderes Gesicht, Armin!«, sagte sie ihm mindestens dreimal in der Woche, wenn er auf seinem Damenrad von der Arbeit in seinem Institut kam.

Er war ein sauberer ordentlicher Mann, schon wegen seines Berufs. Kaum aber war er zu Hause angekommen, zog er zum Essen die Schlafanzughose an und schmatzte.

Ich war neun und sollte übermorgen am Geburtstag unseres Oberführers zehn werden: Darauf freute ich mich wegen der Fahnen, die dann aus allen Fenstern hängen würden.

Was ich hatte: Rotblondes Haar! Ein Kinderfahrrad mit Hartgummireifen – ohne Rücktritt –, mit dem ich auf dem Sandweg bis zur Landstraße fahren darf und wieder zurück.

Ich habe 364 Bücher in der Abseite auf dem Dachboden, alles geerbt von den weggefahrenen Verwandten. Außerdem habe ich einen handbetriebenen 35-mm-Filmprojektor, eine Menge Filmrollen mit Schauspielern, schönen Männern und Frauen, alle schwarz-weiß, bis auf eine mit Zarah Leander auf dem Eiffelturm, wo hoch über ihr eine blutrote Hakenkreuzfahne weht.

Was ich nicht habe, ist »Ausgang«, wie die Mamma sich ausdrückt. Dafür habe ich mein Lieblingsbuch voller Neger und weniger Weißer.

Und das waren vor allem die Kinder eines Hamburger Reeders. Der hatte ihnen ein Schulschiff gebaut mit Segeln und einer kleinen Dampfmaschine. Mit ihren Lehrern, dem Kapitän und der Besatzung schickte er sie einmal um die ganze Welt. Was wäre ich gern mit ihnen gefahren. Aber sie hätten mich nicht mitgenommen, denn sie waren alle bis zum letzten Matrosen sehr von sich eingenommen und vornehm, hochnäsig und gut erzogen. Das war ich leider nicht.

Aber ich fuhr unsichtbar mit ihnen über die Meere, lesend und gänzlich unbemerkt, das hatte auch seine Vorteile. Meist war ich bei Gerichtsverhandlungen aufseiten der Krokodile und nicht der Neger. Das war spannender, wenn die Neger um ihr Leben schwimmen mussten, was ihnen nur selten gelang.

Die Reederkinder führten jedenfalls ein himmlisches Leben. Jeden Tag ein neues Abenteuer, Elfenbeinstehlen, mit Donnerbüchsen Löwen erschießen, Wutgeheul schwarzer Beninkrieger, die mit ihren Speeren gegen die Repetiergewehre der Weißen keine Chance hatten. Nachts heiseres Hyänengebell, von morgens bis abends Papageien, Krokodile, Haifische, Kraken und Nilpferde.

Mamma meinte, dass wir auch ein himmlisches Leben führten. Um uns herum würde jeden Tag evakuiert, abgefahren, weggeschafft, und die so Abtransportierten beraubt und bestohlen, meist ohne Gerichtsverhandlung. Geschossen würde auch. Gut, wir, die Zeitlers, aßen immerhin Weißbrot und Rinderbraten. Das verdankten wir unserem Alten. Er hatte mächtige Chefs. Bis ganz nach oben waren die mächtig und hatten dafür gesorgt, dass er sein eigenes Institut für seine Forschungen bekam. Oben hofften sie, dass er trotz der weltweiten Vernichtungsgerüchte den Nobelpreis bekäme.

Zweimal hatte man ihn bereits nominiert. Immer kam etwas dazwischen. Einmal war es die Reichskristallnacht und das nächste Mal irgendein angebranntes französisches Dorf – Stockholm machte einen Rückzieher, und Mamma hatte wieder mal Angst, es würde nachts um halb vier klingeln.

Seinen Chefs war sein Anhang egal, solange er an seinem künstlichen Penicillin herumforschte und Aussicht auf Erfolg bestand, die Militärmedizin damit auszurüsten. Erst nach dem Krieg wurden mir all die Zusammenhänge in diesem Spiel klar – nämlich, dass wir, Mamma und ich und ihre Eltern und die ganze Mischpoke der Frankels hoch und runter, zum verschwindenden Volk gehörten, in das der Alte noch vor den Rassegesetzen eingeheiratet hatte.

Er empfand es als Glück, auch weil er dazu noch eine Assistentin hatte, mit der er rumpoussierte, wie es die Mamma verächtlich beschrieb.

Aber er sorgte für uns bis zum süßen Ende.

Das gelang ihm nur, weil er der Hauptglanzpunkt in seinem Fach war. Alle anderen um ihn herum bekamen von diesem Glanz etwas ab – wir eben auch.

Er glaubte, ein heiliges Werk zu tun. Ich hatte ihn im Verdacht, dass er misstrauisch war gegen seine Oberen. Einmal ließ er eine Präzipitinprobe zur Diagnose der Syphilis in Gegenwart irgendwelcher Parteiaristokraten fallen. Sie sprangen beiseite; er sprach beruhigend von harmlosen Koeffizienten. Er wollte das als Warnung verstanden wissen, und sie hielten tatsächlich Abstand zu seinem heiligen Werk, wie er immer wieder erzählte.

Er hatte alle Titel – Professor und Doktor und noch einen Doktor. Er war Rektor und Gesundheitsdirektor und stellvertretender Reichshygieniker für die besetzten Ostgebiete. Er durfte sogar den Ehrendoktor einer Schweizer Universität annehmen und in seinem Briefkopf führen. Nur Politiker war er nicht. Die Partei interessierte ihn einen Dreck, das waren Gangster mit Orden. Er lehnte auch ein Auto ab. Jeden Tag fuhr er auf Mammas Damenrad quer durch die Stadt zu seinem Institut.

Auf der Rückfahrt klemmte immer eine Delikatesse auf dem Gepäckträger. Mal ein Fasan in der Tüte, dann ein dünner Spanholzkarton Uraltlavendel mit der Postkutsche, als Seife und als Eau de Toilette. Und ganz speziell für Mamma gab’s ab und zu ein Kästchen Gütermanns Nähseide in allen Farben.

Und eines Tages brachte er den kleinen Filmprojektor mit den Zelluloidrollen an. »Der gehörte mal einem Herrn Finkelstein aus Radebeul. Kaufmännisch arisiert und ehrlich von mir erworben, mein Junge, zweifle nicht daran!« Damit ließ ich einen halben Kulturfilm über Beutegut aus Brüssel und Paris an der weißen Kinderzimmertür herumzappeln, ich hatte nur kein Publikum.

Er war herzlich und freigiebig, mein Alter.

Die Schwerdtfegern und der Nobelpreis hatten es ihm angetan, ansonsten war er ein Forscher bis auf die Knochen, wie er sagte.

»Ein richtiger Gelehrter ist wie Schiller und Goethe zusammen. Man wird zum Genie geboren, Osvald!«, belehrte er mich. »Sag mal schnell die ›Glocke‹ auf!«

Ja, er konnte unberechenbar sein, aber ich liebte ihn.

Als Mamma mich abends ins Bett brachte, seufzte sie. »Heute hat er sicher wieder eine der unheilbarsten Krankheiten dieser Welt ausgerottet, anstatt sie unter die Nazis zu bringen«, sagte sie traurig.

Drei Monate später sollte sie das wieder über den Alten sagen, nur mit dem Zusatz, dass wir das Nazipack garantiert ohne die vergeblichen Bemühungen des adligen Widerstands losgeworden wären – nur mit einem einzigen Glaskolben voller schwarzer Pocken. Aber er wollte ja nicht.

Sie ging, löschte das Licht, prüfte die Verdunkelungsrolle. Ich dachte über die beiden nach. Je länger Krieg war, desto uneiniger wurden sie.

Er wollte uns durchbringen, sein Gerechtigkeitsgefühl ließ ihn nicht im Stich, aber sein Spiel mit der Schwerdtfegern, seiner Assistentin, machte, dass Mamma ihren Mut verlor. Das mit dem Filmprojektor des Herrn Finkelstein aus Radebeul kam dazu, und keine neue Sendung von Delikatessen aus dem Institut konnte sie trösten oder ihr wieder Mut machen. »Der Pappa gehört nicht mehr richtig zu uns«, sagte sie einmal leise zu mir.

Kaum war ich eingeschlafen, kamen die Scheißengländer. Die Sirenen heulten über die Stadt, der Mond schien am klaren Himmel, das konnte schlimm werden.

Im Keller saßen wir auf Gartenmöbeln. Aus dem Radio klang das Ticktack des Metronoms. Wir lauschten mit erhobenen Köpfen. Keine Flak, keine Flugzeuggeräusche waren zu hören. Mamma flüsterte leise: »Vielleicht ist ja inzwischen Frieden geworden.«

Und ich hatte mich so sehr gefreut, einen feurigen Himmel über der Stadt zu sehen, den Geruch der aus dem Himmel herabregnenden Hölle zu riechen. Tapeten, Leim aus Leinöl, das hatte mir unser Hausfreund, der alte Rand, erklärt, Bohnerwachs und verglühender Hausbrand, das ergäbe diesen unvergleichlichen Mischgeruch, den der Engländer mit seinem Krieg bei uns hervorlockte.

Zehnzentnerbomben voll mit Pikrinpulver, Gummiarabikumkugeln und Hartspirituszusätzen würden unsere Städte einer Duftsinfonie ausliefern, der ein friedlicher deutscher Großbrand nicht das Wasser reichen könne.

Die Krematoriumsgerüche, die manchmal bei ungünstigem Wind von unserem Lazarett über die Felder wehten, seien dagegen wie billiges Parfüm zu beurteilen.

Dem Alten war der Alte sympathisch. Die Mamma meinte, er röche immer ein wenig nach Scheiße.

Das größte Geruchsereignis nach dem alten Rand aber war der langsame Brand des Kühlhauses in der Dantestraße. Brandbomben aus London hätten die tiefgefrorene Butter, die Margarine und das Schweinefett in einen Wasserfall von öligem Mischmasch verwandelt.

Es sei aus allen Öffnungen des Kühlhauses gelaufen, herabgestürzt, wie die Niagarafälle in Amerika. Unten hätten die alten Männer und Weiber mit Milchkannen gestanden und das brennende Zeug aufgesammelt.

Auch die kriegsgefangenen Russen hätte man dort gesehen. Aber nachdem man zwei von ihnen in die fettige Brühe eintauchte, sah der Rest davon ab, deutschen Volksgenossen die holländische Beutebutter wegzuschlürfen. Ohne die Entwarnung abzuwarten, gingen wir drei wieder zu Bett. Ich dachte noch ein wenig über den alten Rand nach. Mamma hatte recht. Irgendwie roch er immer ein wenig nach Scheiße. Ob es daran lag, dass er der Nachbarschaft beim Reinigen verstopfter Abwasseranlagen behilflich war? Oder am Ende sich den Arsch nicht richtig abwischte – wie ich manchmal?

Morgen würde er in die Kirche gehen, wie jeden Sonntag. Er war gutkatholisch, wie er das nannte, und wollte mich immer mitnehmen.

Aber die Mamma hatte was gegen das Missionieren. Sie konnte katholische Nichtarier auf den Teufel nicht leiden. Der alte Rand war aber hartnäckig. Er würde garantieren, dass sich sein geheimer Hilfsausschuss nur mit katholischen, aber nicht mit evangelischen Nichtariern beschäftigte. Der zuständige Bischof sei froh und glücklich gewesen, dass man die meisten dieser Leute nicht aus dem Reich gelassen hätte. Er hätte die letzten zehn Jahre Angst gehabt, dass das Heilige Land an die Juden verloren ginge.

Sonntags nach dem Gottesdienst in der Auferstehungskirche kam er immer zu uns zum Mittagessen.

Der Alte mochte diesen Mann aus dem Volk, diesen pensionierten Fahrradmechaniker, der immer eine Klobürste bei sich hatte, falls in den Ablaufröhren eine Stauung entstünde. Das hatten wir auch den täglichen Fliegerangriffen zu verdanken. Die brachten das Wasserröhrensystem einer Großstadt durcheinander.

»Die bringen es noch fertig, dass die Rieselfelder in die Wasserleitungen zurückrieseln und wir unsere eigene Pisse trinken müssen«, schimpfte er auf unsere Feinde. Und dann ging es los.

Mein Alter schimpfte auf die Akademiker. Kein gutes Haar ließ er an ihnen: Alle seien Pseudogelehrte, besonders die Psychoanalytiker! Alle liefen mit verschissenen Unterhosen herum:

»Lieber Freund Rand!«, dozierte er mitten im Braten. »Alles Gedachte wird umgekrempelt von denen und zertrampelt. Keiner hat auch nur einen originalen Gedanken. Abschreiben, Fälschen und Täuschen, sich damit einen großen Namen machen …« Hier unterbrach ihn Rand und gab den »Senf des einfachen Mannes«, wie die Mamma immer sagte, zum Gericht.

»… und die Menschheit umbringen, ihr Geld stehlen. Räuber, Diebe, Massenmörder! Antichristen, denen die Gier zwischen den Zähnen hervortrieft!«, fügte er hinzu. Der Alte nickte. Sie hielten beide ihre Gabeln in die Luft, als wollten sie gegen Massenmörder fechten.

»Und alle sind im Bunde mit irgendeiner Religion«, sagte der Alte, und Rand machte eine dämpfende Handbewegung mit seiner Gabel. »Nicht die katholische, Herr Professor!«

»Meinetwegen, nicht die katholische. Ich kenne sie zu wenig. Aber unser Reisrandfresser, dem ist die religiöse Reformation auch nicht fremd. ›Amen‹ hier und ›Amen‹ dort, ›Amen‹ zur Volksmotorisierung, ›Amen‹ zur Deutschen Arbeitsfront, ›Amen‹ zum weltweiten Kampf gegen Juda!« Rand nickte und leckte den Teller ab. Das durfte er bei uns, die Zeiten waren danach. Der Alte machte das ein wenig vornehmer mit dem Messer, welches er zum Mund führte mit den Soßenresten.

Mamma war außer sich. Ohne Worte natürlich, aber sie sah mich an, und ich verstand, was sie mir sagen wollte: ihr Lieblingswort »Plebs!«.

Plötzlich, was war in den Alten gefahren, zog er über diesen Grafenbischof aus Münster her.

»Herr Rand, Ihr Bischof da unten beschwert sich, dass ihm seine Jesuitenunterkunft genommen wurde, und auch die Schwesternhäuser wurden enteignet. Auf Auschwitz angesprochen, sprach er von der physischen Macht der Gestapo, aber kein Wort über diejenigen, denen dort das Leben genommen wird.«

Mamma servierte das Dessert, Himbeerpudding von Dr. Oetker. Ich beobachtete seine Hemdenbrust und zählte die Soßenflecke auf der Krawatte.

»Lasset uns nur ja keine unechten Haltungen an den Tag legen, Amen!«, spottete sie. Ein Vierteljahr später sollte er über die edlen Feingeister aus der Armeespitze, die unserem obersten Vivisektionisten mit Sprengstoff ans Leder wollten – mitten im schweren Vergeltungsfeuer der V1 über dem Großraum London –, schwadronieren.

»Leser von erbaulichen Traktaten und Gedichten, Militäresoteriker aus den vornehmsten Regimentern. Na, das wäre vielleicht eine groteske Lebensvariante für euch geworden, wenn die zusammen mit diesem Bischof ans Ruder gekommen wären.«

Mit »euch« meinte der Alte natürlich uns.

»Herr Rand, lieber Freund und Helfer, halten wir uns doch lieber an die Glaubenslehre der Naturforscher und an Edgar Wallace!«

Mamma klatschte ihm seine Portion Himbeerpudding auf den Teller und zog die eine Augenbraue hoch. Das kannte sie inzwischen auswendig – ich auch.

»Lenke nicht wieder ab, Armin!«, sagte sie.

»Von was, Mamma?«

Der Edgar sei nun mal ein großartiger Schriftsteller. Er vergeude seine Fantasie nicht an Psychologen oder unsereinen. Dem ginge es nur um Mönche, Geldsäcke und Frösche, höchstens mal um verrückt gewordene Journalisten. Und – in jedem seiner Romane spiele eine herzerfrischende Blondine eine Rolle. Die müsse jeder lieben, ob Engländer oder nicht, hinter der wären alle Leser der Leihbüchereien her.

»Wie du hinter der Schwerdtfegern!«, konnte sich die Mamma nicht verkneifen zu bemerken.

Ich hatte alle Bücher von Edgar Wallace gelesen, damals hieß der für mich »Wallatze«. Und die Blondine stellte ich mir genauso vor mit hochhackigen Schuhen und konnte die Mamma verstehen, dass sie die nicht ausstehen konnte.

Und so schaltete er schnell auf die Afrikaromane seines Edgars um. Da gab’s keine Sekretärinnen, nur elegante Kolonialoffiziere, die mit einem Dampfkanonenboot den Kongo hinauf- und hinunterfuhren – immer wegen irgendeiner Strafexpedition.

Unterwegs – Gejage, Kartenspiel, schöne Frauen, auch schwarze, schottischer Whisky und Shagpfeifen.

Landete man bei dem aufmüpfigen Dorf, begann die Aktion. Kein bisschen Vernichtungsgedanke, keine Verschwörungstheorie, kein Gerede vom Weltnegertum.

Das imponierte dem Alten, dafür liebte er die Engländer. Wer als Neger nicht parierte, bekam was auf die Fußsohlen, so was wie ein parasitischer Aspekt des Fremdvölkischen kam gar nicht erst auf.

»Gut, sie riechen, die Neger, sie riechen ziemlich streng und durchdringend – aber riechen unsere Ostjuden etwa besser? Der Neger pflückt seine Kakaobohnen und schneidet den Sisal, und damit hat sich’s. Sein volkswirtschaftlicher Status ist besiegelt, während bei uns die Fremdrassigen durch den Schornstein gejagt werden. Auschwitz ist mir, vor allem als Mann der Wissenschaft, ein totales Rätsel!«, sagte er nicht zum ersten Mal. So ging das über das Sonntagsessen mit dem alten Rand – von der Bouillon über den Braten bis zum Oetkerpudding. Dazwischen Wasser, italienischer Weißwein, Aufstoßen, strafende Blicke von Mamma, weil der Alte sich mit dem Ende des kleinen Puddinglöffels in den Ohren bohrte.

Ich verstand von dem Gerede weniger als die Hälfte, aber ich hörte ihnen beim Streiten gern zu. Jedes Wort merkte ich mir, und abends in meinem Bett spielte ich sie alle nach, besonders den Alten.

Nach dem Essen ging der alte Rand und meine Eltern gingen rammeln, so nannte ich das wegen des Lärms, den sie jedes Mal im oberen Stockwerk machten.

Ich verschwand in der hintersten Ecke des Gartens und war traurig, weil sie mir dann so fremd waren und nicht mehr meine richtigen Eltern. Ich wünschte ihnen Besuch oder einen ordentlichen Tagesalarm der Amerikaner. Eine Stunde dauerte das Rammeln.

Dann ging zweimal die Klospülung und beide kamen herunter, riefen nach mir, als sei nichts geschehen.

Ich beachtete sie nicht, setzte mich auf mein Fahrrad und fuhr den Feldweg zur Landstraße auf und ab.

Immer wieder. Auf dem Asphalt drehte ich um und wünschte mir, einmal eine Stunde geradeaus auf der glatten Straße zu fahren. Bis vor zur Danziger, dann links einzubiegen, vorbei an der Stichstraße mit den Reihenhäusern und am Viereck des Bauvereins mit der Jahreszahl 1912 vorüber, weiter bis zum Lazarett und bis nach vorn zur Endhaltestelle der Linie Sechs.

Oder rechts abbiegen, an der Eisdiele und den Schrebergärten vorbei, links der Friedhof, voraus die Bahnschranke, rechts den kleinen Weg am Bahndamm entlang. Bis dahin hatte der alte Rand mir die Welt beschrieben, was dahinterlag, malte ich mir in meiner Fantasie aus.

Wenn er kam, weil die Toilette wieder mal verstopft war, beschrieb er mir die ferne Großstadt mit ihren Riesenkinos und Straßenbahndepots, den Theatern mit Säulen an den Eingängen und Friedhöfen, zehnmal so groß wie unserer an der Eisbude.

Wir konnten von uns aus die Wassertürme und die Kirchtürme sehen, die Kinos leider nicht, aber die Straßenbahnen hören, wenn sie quietschend um die Kurve fuhren. Früher sei die Stadt nachts hell erleuchtet gewesen, erzählte er, seit Kriegsbeginn aber völlig verdunkelt. Wer sich nicht daran hielte, käme ins Gefängnis für Jahre bei Wasser und Brot.

An diesem Abend ging ich früh zu Bett und versuchte in meinen Geburtstag hineinzuschlafen.

Ich war zu aufgeregt. Ich spielte wieder mal Pappa, gebrauchte Wörter wie »parasitischer Aspekt des Fremdvölkischen« oder »ein richtiger Gelehrter ist wie Schiller und Goethe zusammen«. Das gefiel mir, daraus konnte man ein kleines Stück fürs Kaspertheater machen. Der schwarze Pastor mit dem bleichen Gesicht ruft:

»Unserem Reisrandfresser, dem ist die religiöse Reformation auch kein Fremdwort!«

Aus dem Gebüsch antwortet der Räuber mit der Geierfeder am Schlapphut: »Juda verrecke! Amen!« Und die Hexe ruft aus zahnlosem Mund: »Es lebe die Volksmotorisierung!«

Und dann ruft eine helle Stimme, es war die Greti im Stück, aber sie klingt sehr nach Mamma: »Mein Leben liefere ich euch allen aus!«

Da bekam ich es mit der Angst zu tun. Vielleicht wollte sie sich gleich aufhängen. Ich betete zu Gott, dass er Mamma beschütze und dass er die Schwerdtfegern zur Hölle schicken sollte.

Einmal war sie schon nahe dran.

Der Alte hatte sie auf Anweisung von ganz oben mit auf Transport geschickt. Sie sollte mit einem ungezieferabweisenden Serum des Instituts alle Fahrgäste vor Abfahrt, einschließlich des Wachpersonals, impfen. Um alle nach Ankunft auf Wirkung zu untersuchen.

Die Aktion gab dem Unternehmen bei Einstieg in aller Bahnhofsöffentlichkeit etwas »Seriös-Offizielles« und vermied die üblichen theatralischen Szenen, das Haareraufen der Frauen, das Auf-den-Boden-Werfen der Männer, das Kindergeschrei. Das war eine Idee des Alten.

Das enttäuschte zwar das anteilnehmende Publikum, das immer schon zwei Stunden vor Beginn der Vorstellung erschien. Aber die NSV hatte es leichter, belegte Brote an die Fronturlauber zu verteilen – und echten Bohnenkaffee. Siebenhundert geimpfte Jidden, Alt und Jung, Groß und Klein, bestiegen auf Bahnsteig 26 zwölf Güterwaggons, beruhigt von Staats wegen, denn wer impft, hat nichts Böses im Sinn.

Hinter der Lok fuhr das Wachpersonal mit den Schäferhunden in einer umgebauten Mitropakarosse. Es pfiff, und ab ging es in den Osten. Vorn hörte man nichts von den Passagieren hinten. Da sang man »Alte Kameraden auf dem Kriegespfad …«, »Steige hoch, du Brandenburger Adler« und »An Backbord ist Laboe in Sicht, der Seemann prüft sein Sackgewicht«. Hinten, am Zugende, verwehte der Fahrtwind die Pisse und Scheiße und die Schreie der Durstigen zusammen mit der Hoffnung auf den Allerhöchsten.

Schon am zweiten Tag verstummten die Kinder. Die Kleinsten wurden heimlich aus dem Zug geworfen, und so wurde der Schmerzenschoral der 700 Verzweifelten immer dünner und dünner und ihm ein schnelles Ende bereitet.

So erzählte es die Schwerdtfegern, als sie zurück und bei uns zu Mittag eingeladen war.

Kurz nach dem Grenzübertritt ins Generalgouvernement merkte die Wachmannschaft, dass es keine Laus gewagt hatte, sich ihnen zu nähern. Hinter Breslau hatten sie sich normalerweise immer filzen müssen. Jetzt feierten sie ungezieferfrei mit der Schwerdtfegern bei Schnaps und Herrengedeck. Der mitgenommene Koch musste jeden Tag die Kartoffelpuffer in die Pfanne schmeißen oder schlesisches Himmelreich servieren.

Endlich, nach fünf Tagen anstrengender Fahrt durch langweiliges Polackenland, erreichte der Zug Auschwitz. Die Schwerdtfegern hatte sich für das Reiseziel extra fein gemacht. Im weißen, gestärkten Arztkittel, das Stethoskop am Halse baumelnd, entstieg sie dem Speisewagen, den kleinen Arztkoffer in der Hand, die Hochfrisur immer wieder zurechtrückend, und erwartete ihre Patienten.

»Aber die ließen auf sich warten, Herr Professor. Die rührten sich noch nicht mal, als die Lager-SS im Verein mit den Ordnungspolizisten die Schiebetüren der Wagen aufriss. Es wurde nur ›Raus!‹ geschrien. Dann aber quollen sie wie in Zeitlupe aus dem Zug!«

Die Schwerdtfegern schilderte das beim Mittagessen ausführlich und vorwurfsvoll.

»Herr Professor, sie fielen neben- und aufeinander, stöhnten und wimmerten, hatten sich eingekotet und gegenseitig vollgekotzt!«

Das Wachpersonal hätte sich heiser geschrien, die Geimpften hätten keine Kraft mehr gehabt, sich zu beschweren.

Aber die Beweglichen hätten den Halbtoten auf Auschwitzens Erde geholfen.

Doch die Schwerdtfegern glaubte nicht an diese Wirklichkeit. Sie sprach zu uns von einer ganz raffinierten Filmkulisse. Wer würfe denn schon tote Kinder vor die Schäferhunde der Wachmannschaften?

»Herr Professor, mein weißer, gestärkter Laborkittel, ich hatte mir extra die Haare machen lassen, keiner sah in mir die Frau Doktor, die eine wichtige Aufgabe zu bewältigen hatte. Ich kam zu keinem einzigen Abstrich. Das stand offensichtlich nicht im Drehbuch. Meine Patienten, nach Exkrementen stinkend, wurden an mir vorbeigetrieben, und die spielten mit! Ja, wirklich! Ein älterer Herr in Anzug und Weste rief: ›Wo, bitte, geht’s zur Gärtnerei?‹ Und wie auf Stichwort brachen die Wachsoldaten in brüllendes Gelächter aus. Einer rief, sich vor Lachen schüttelnd: ›Da hinten, wo’s raucht, mein Herr!‹ Und ich war hin- und hergerissen. War das nun ein nationalsozialistischer Film oder nicht!« Wo war der Hauptdarsteller, wollte sie wissen?

Diese Kulisse war so echt und gut gebaut – die Zugrampe, der dreckige, vollgeschissene Zug. Die Elendsgestalten und die Zigaretten rauchenden Offiziere, die mit ihren kleinen Handpeitschen nach links oder rechts wiesen.

Das waren Statisten für die Schwerdtfegern. Die hätten wie richtige Menschen ausgesehen. Es spielte sogar eine Damenkapelle Zigeunermusik, während sie ihre Patienten suchte. »Herr Professor Zeitler, das ist nicht Gottes und der Menschen Welt, dachte ich. Ein Meer von Menschen, in kalter Qual im Wasser ertrinkend, so stellte ich mir immer den Untergang der Titanic vor: Nein, das war Film!« Und sie musste doch ihre Abstriche machen, wie es der Alte ihr aufgetragen hatte.

»Wegen der Schnaken und Mücken, der Läuse und Wanzen in den Weiten des Ostens, Herr Professor, und der Reaktion auf das Serum.«

Und sie erzählte weiter, wie sie einer Rotkreuzschwester entgegenstammelte, dass sie sich nichts Schöneres denken könne, als hier mitzuspielen, sie wüsste aber gern als was.

Die aber hätte sie angeschrien, sie sei eine Verkleidete, eine ganz Raffinierte des auserwählten Volkes, sie würde sich in so einem hohen Gewande vor dem Tode drücken. Sie habe einen Offizier herbeigeschrien, und der habe sie dann in die rechte Reihe gestoßen. Noch immer hätte sie gedacht, der Film sei fast abgedreht und alle würden gleich wieder zu normalen Menschen. Die toten und die angefressenen Kinder stehen auf, wischen sich die Schminke und die Tränen ab, und jeder bekäme gleich eine Bockwurst mit Senf und Semmel.

»Aber, Herr Professor, da schlug man mich brutal ins Gesicht. Ich brüllte alle an. Ich sei eine Parteigenossin und in der Frauenschaft und arbeite für den berühmten Bakteriologen Professor Doktor Armin Zeitler! Es nützte nichts! Ich entfliehe! Sie packen mich, schleifen mich zurück in die Reihe. Meine Hochfrisur geht entzwei, ich verliere meinen schönen Medizinkoffer!«

Wieder in der rechten Reihe, befand sie sich zwischen lauter Ungarn. Die stanken noch schlimmer als ihre eigenen Patienten und sprachen dazu noch in einer unmöglichen Sprache. Sie hoben ihre Kinder hoch und schüttelten sie, und die Soldaten hätten sie angebrüllt: »Nicht arbeitsfähig! Kommen gleich unter die Dusche!« Sie hätte daraufhin versucht, diesen Ungarn zu erklären, was Dusche bedeutet. Ein junger Wachsoldat half ihr dabei. Freundlich hätte er zu den Ungarn gesprochen, die in Wirklichkeit Zigeuner gewesen wären. »Duschen, ihr guten Leute, Duschen! Wasser, Woda, Water! Zieht eure Sachen aus, legt sie auf einen Haufen, recht ordentlich, damit ihr alles wiederfindet, und dann rein in die Kabinen!«

Alles entspannte sich, die Schwerdtfegern dachte, sie hätte nun doch, ohne gefragt zu werden, eine kleine Rolle im Film gespielt.

»Die Menschen spürten die Zuwendung, Herr Professor. Selbst die Impfaktion vor der Abfahrt – Hosen runter, Hintern frei und flutsch – ist eine Art Probe zu etwas Gutem gewesen. Sobald ein Doktor beteiligt ist oder selbst eine Krankenschwester, hat man das Gefühl, alles ist desinfiziert, es kann nichts mehr schiefgehen. Wir wandern in Zukunft gesund in unserem Leben herum.« Mamma hatte ihr Essen schnell beendet und fing an im Hintergrund zu bügeln. Es zischte vom nassen Bügeltuch und hörte sich an wie einer von Pappas Heißluftöfen zum Sterilisieren in seinem Institut.

Die Schwerdtfegern erzählte vom Angstschweiß, der sich unter der Dusche verflüchtigen würde, und die Mütter hielten wieder ihre Kinder hoch, damit sie die erlösenden Baracken sehen könnten, wo man das ersehnte Nass gleich fände.

Man begann die Kinder zu necken, manche Eltern fingen an zu singen mit ihren trockenen Mündern. Die Lippen klebten aufeinander und rissen ein, einer spielte, die Damenkapelle begleitend, auf der Mundharmonika ein Pusztaliedchen. Selbst die mit den zerschlagenen Nasen und den gebrochenen Schlüsselbeinen nahmen sich zusammen. Sie spielten alle überzeugend, die Statisten des Films. Auf der Rampe sei Ruhe eingekehrt, alles freute sich auf die zu erwartende Dusche, selbst wir, denen die Schwerdtfegern von ihren Erlebnissen in Auschwitz berichtete, begannen uns zu freuen über den zwar drastischen, aber doch gut gemeinten Film über die Verbrechen der Kommunisten – oder der Engländer?

Die Soldaten schlugen die Frauen nur noch über die Waden, die Schäferhunde wedelten mit den Schwänzen, und Fräulein Schwerdtfeger wollte jetzt aber mal was Genaues wissen.

Sie traute sich plötzlich, wie sie uns stolz erzählte, nach dem Regisseur zu rufen. Die Riefenstahl fiel ihr nämlich ein, machte die nicht solch exotische Filme? »Frau Riefenstahl! Frau Riefenstahl, sind Sie hier nicht irgendwo? Ich bin eine Deutsche, ich passe leider nicht in diesen Zigeunerfilm!«, rief sie über alle Köpfe hinweg.

Die Soldaten hätten alle genickt und gegrinst, und noch weit vor den Duschräumen hätten die Blessierten sich beeilt, keiner brauchte sie mehr anzutreiben.

Inzwischen wurden die Viehwagen gesäubert. Mit Feuerwehrschläuchen spritzten ansässige Häftlinge die Wagen sauber. Einige Wohlmeinende sandten hier und dort eine kurze Abkühlung zwischen die Menschenreihen. Wie gut das tat, Gutes zu erfahren.

Noch immer suchte die Schwerdtfegern nach der Riefenstahl. Die musste doch irgendwo sein. Wenn man einen solchen Film dreht, hat man doch eine Verantwortung, dass alles sozusagen nur so geschieht und nicht etwa so!

Die Schwerdtfegern hatte keinen großen Kinoverstand.

Aber die Komparserie, Kompliment, sei ordentlich gewesen.

»Das waren keine Arbeitslosen wie zur Weimarer Zeit. Das waren ehrliche Berufsstatisten, so ernst haben die ihre Aufgabe genommen. Sogar echte Zigeuner sind dabei gewesen, die strähnigen Haare voller Pomade und die grässlichen Münder in den bösen Gesichtern!« Die ganze Ungepflegtheit, die sei total echt gewesen. Das brächte nur eine wie die Riefenstahl fertig, sie zu finden und zu begeistern für die Schläge auf die Waden und die gebrochenen Schlüsselbeine, den Durst und das Hundegebell. »Übrigens, Herr Professor, alle haben sich gekratzt!« Der Alte wollte seinen Nachtisch. Sie sollte jetzt mal langsam zum Schluss kommen.

Sie sammelte sich, Mamma stellte Rührkuchen und dünnen Kaffee auf den Tisch.

Ja, die Hunde hätten die für tot geschminkten Kinder bepisst: Warum so was im Drehbuch stehen müsste, da hätte sie auch lange drüber nachgedacht.

In der linken Reihe hätten sie begeistert von der Arbeit bei Krupp und der IG Farben geschwärmt.

In der rechten, wie gesagt, sich auf die Duschen gefreut. Sie selber wurde weiter mit allen vorwärtsgeschubst, auf die Eingänge zu, obwohl sie immer wieder versicherte, vorher im Mitropawagen geduscht zu haben.

Noch mal hätte sie, jetzt ein wenig verzweifelt, nach Leni Riefenstahl gerufen. Aber die ließ sich einfach nicht blicken.

In diesem Augenblick fuhr ein BMW – Cabrio zwischen die Reihen. Vorsichtig umfuhr es die auf dem Boden liegenden toten Kinder und einige alte Männer und Frauen. Dann hielt das glänzende Fahrzeug an, und mit einem Telegramm in der Hand sei der Lagerführer ausgestiegen. Leider hätte sie seinen Namen vergessen – irgendwas mit »H« am Anfang.

»Ein schmaler, feingliedriger Mann, bekleidet mit einer schicken SS – Uniform, rief nach mir! Seine Stimme ähnelte der von Heinrich George, er schwenkte meinen Medizinkoffer, schaute über das ganze Filmelend hinweg und rief immer ›Ulla Merethe Schwerdtfeger!‹. Dann schoss er mit seiner Pistole in die Luft, und alles war still wie auf dem Friedhof. Als ich auf ihn zuwankte, küsste er mir die Hand. Merethe, sagte er bewegt, vergeben Sie uns. Sie sind in die falsche Veranstaltung geraten. So ist das oft mit der deutschen Gründlichkeit.«

Es sei noch immer still um sie gewesen. Sogar die Kinderstimmen waren nicht mehr zu hören.