Hilfe für Helfer - Christine Behrens - E-Book

Hilfe für Helfer E-Book

Christine Behrens

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Beschreibung

auf den Punkt gebracht: Balance halten – zwischen Stress und Gelassenheit. Spiritualität für Pflegekräfte – ganz praktisch und konkret. Übungen für einen achtsamen Umgang mit sich selbst und anderen. Was hält Pflegekräfte stabil? Welche Strategien gibt es gegen den Stress im Pflegeberuf, gegen die Konfrontation mit Leiden, Krankheit, Sterben und Tod? Was hilft gegen den steigenden Zeit- und Arbeitsdruck? Dieses Buch weist den Weg zu einer spirituellen Grundhaltung, einer achtsamen Gelassenheit im Alltag. Es offeriert viele praktische Übungen, die sich ganz leicht im Alltag umsetzen lassen. Ein idealer Ratgeber für Menschen, die eine belastbare Spiritualität im Alltag suchen – nicht esoterisch, sondern praktisch und spezifisch für Pflegekräfte geschrieben.

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Christine Behrens

Hilfe für Helfer

Wie Pflegende ihre spirituellen Ressourcen nutzen können

schlütersche

Christine Behrens ist Diplom-Theologin, Sozialmanagerin und Transaktionsanalytikerin. Darüber hinaus arbeitet sie als Trainerin und Supervisorin für Pflegekräfte und Ärzte in Pflegeheimen, ambulanten Diensten und Kliniken.

»Ein Zen-Mönch wurde gefragt, worin das Geheimnis seiner Zufriedenheit und seiner so glücklichen Ausstrahlung bestehe.

Er antwortete: »Das ist ganz einfach: Wenn ich stehe, dann stehe ich, wenn ich gehe, dann gehe ich, wenn ich esse, dann esse ich, und wenn ich rede, dann rede ich.«

Erstaunt antwortete der Fragende: »Aber das tun wir doch alle!« »Nein«, erwiderte der Mönch, »das tut ihr eben nicht: Wenn ihr steht, dann denkt ihr schon ans Gehen, wenn ihr geht, ans Essen, beim Essen redet ihr, und beim Reden denkt ihr an das, was ihr danach machen werdet!«

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-89993-344-4 (Print)

ISBN 978-3-8426-8600-7 (PDF)

ISBN 978-3-8426-8617-5 (EPUB)

© 2015 Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannover

Alle Angaben erfolgen ohne jegliche Verpflichtung oder Garantie des Autoren und des Verlages. Für Änderungen und Fehler, die trotz der sorgfältigen Überprüfung aller Angaben nicht völlig aus-zuschließen sind, kann keinerlei Verantwortung oder Haftung übernommen werden. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der gesetzlich geregelten Fälle muss vom Verlag schriftlich genehmigt werden. Die im Folgenden verwendeten Personen- und Berufsbezeichnungen stehen immer gleichwertig für beide Geschlechter, auch wenn sie nur in einer Form benannt sind. Ein Markenzeichen kann warenrechtlich geschützt sein, ohne dass dieses besonders gekennzeichnet wurde.

Reihengestaltung:

Groothuis, Lohfert, Consorten | glcons.de

Titelfoto:

Olga Lyubkin –

fotolia.com

Satz:

PER Medien+Marketing GmbH, Braunschweig

Druck:

Stürtz GmbH, Würzburg

INHALT

Einleitung

1Spiritualität – nichts spezifisch christliches

1.1Spiritualität und Gesundheit

1.2Spiritualität und Gesellschaft

1.3Spiritualität im Alltag

2Die erste wichtige spirituelle Ressource: Das Innehalten

2.1Anke und der Stress

2.2Innen Halt suchen

2.3Übung – Bewusstes Innehalten

3Die zweite spirituelle Ressource: Die Achtsamkeit

3.1Ein ganz normaler Arbeitstag in der Pflege

3.2Anschauen, was ist

3.3Übung – Achtsam werden

4Vom Nutzen der spirituellen Ressourcen

4.1Der Pflegealltag – von Krisen und Kraftquellen

4.1.1Petra in der Krise

4.1.2Die Krise als Chance

4.1.3Übung 1 – Krisen annehmen

4.1.4Übung 2 – Krisen aktiv angehen

4.2Ständig unter Strom – der Kampf gegen die Uhr

4.2.1Martas Kampf

4.2.2Im richtigen Takt – von Hirnfrequenzen und Entspannung

4.2.3Übung – Frequenzbereiche regeln

4.2.4Rituale – Ankerplätze der Seele

4.2.5Übung – Rituale finden

4.2.6Rituale als Unterbrechung des Alltags

4.2.7Übung – Unterbrechungen des Alltags finden

4.3Pflege bis 67? – Vom Sinn der Selbstpflege

4.3.1Unsere Grundbedürfnisse

4.3.2Spirituelle Ressource: Das konzentrierte Tun

4.3.3Übung – Was bereitet Ihnen wirklich Freude?

4.4Mein Körper – mehr als nur ein Arbeitsgerät

4.4.1Sandra funktioniert

4.4.2Spirituelle Ressource: Atmen

4.4.3Übung – eine Unze Praxis

4.5Freizeit, Familie, Beruf – Darf’s ein bisschen mehr sein?

4.5.1Inge sagt immer »Ja«

4.5.2Von Antreibern und Erlaubern

4.5.3Spirituelle Ressource: sich selbst die Erlaubnis geben

4.5.4Übung – Setzen Sie Ich-Zeiten

4.5.5Übung – Überprüfen Sie Ihr Ego

4.6Eigenlob stimmt! Das Recht auf die eigene Persönlichkeit

4.6.1Julias Angst

4.6.2Spirituelle Ressource: Introversion

4.6.3Übung – Die eigene Stärken kennenlernen

4.6.4Übung – Mit der Angst leben

4.6.5Übung – »Was will ich jetzt gerade«

4.7Der Umgang mit Leiden

4.7.1Gundula und Norbert

4.7.2Spirituelle Ressource: Empathie

4.7.3Übung – Empathisch werden

4.7.4Fatimas Problem

4.7.5Hans und die Zigarettenpause

4.7.6Übung – sich ergreifen lassen

4.7.7Jennifer und Jesus am Kreuz

4.7.8Spirituelle Ressource: Glauben

4.7.9Übung – seinen inneren Kern erfahren

4.8Der Umgang mit dem Tod

4.8.1Marie lässt los

4.8.2Carmen und der Tod

4.8.3Der Tod als Übergang

4.8.4Spirituelle Ressource: Vertrauen

4.8.5Übung – die Vertrauensskala

4.8.6Übung – Vertrauen erkennen

4.8.7Glauben heißt Vertrauen

4.9Spiritualität to go – So werden Sie mobil

4.9.1Anke und die Topfblume

4.9.2Übung – Spiritualität mit allen Sinnen

4.9.3Spiritualität – ein lebenslanger Begleiter

5Das Team in der Pflege – eine spirituelle Herausforderung

5.1Ihre Kollegen: alles echte Charaktertypen

5.1.1Die Perfektionistin

5.1.2Die Verbissene

5.1.3Die Eilige

5.1.4Die Ungerührte

5.1.5Die Vielgeliebte

5.2Die drei wichtigsten spirituellen Ressourcen fürs Team: Achtsamkeit, Vertrauen und Rituale

5.2.1Achtsamkeit im Team

5.2.2Übung – die drei sokratischen Siebe

5.2.3Übung – auf den Gong lauschen

5.2.4Vertrauen im Team

5.2.5Übung – Was Ihr Team so alles kann

5.2.6Rituale fürs Team

5.2.7Übung – Entwerfen Sie ein Teamritual

6Salutogenese – bitte bleiben Sie gesund!

6.1Übung – der Kohärenz-Fragebogen

6.2Übung – Ihre Ressourcen

6.3Übung – Team-Ressourcen

7Spirituelle Ressourcen – Zehn Tipps für jeden Tag

Nachwort

Glossar

Literatur

Register

EINLEITUNG

Ich will (nicht) so bleiben wie ich bin …

Jeder achte Berufstätige in Deutschland arbeitet im Gesundheitswesen. Das sind über fünf Millionen Menschen. Rund eine Million von ihnen arbeitet in der Altenpflege. Das sind viele, doch für die anstehenden Aufgaben in einer alternden Gesellschaft immer noch zu wenige. »Bereits heute leben in Deutschland rund 2,54 Millionen Pflegebedürftige (Stand: 2012). Rund ein Drittel der Pflegebedürftigen erhält dabei vollstationäre Pflege in Pflegeheimen. Etwa zwei Drittel werden hingegen in der häuslichen Umgebung und dabei oft durch ihre Angehörigen, betreut und versorgt.«1

Eine weitere Million Pflegekräfte arbeitet in den Krankenhäusern der Republik, immer am Rande der absoluten Erschöpfung, eingezwängt zwischen Fallpauschalen und Personalmangel.

Schon vor etlichen Jahren, als die Zustände nach heutigen Maßstäben noch traumhaft waren, und viele Angehörige in Großfamilien noch mithelfen konnten, gab es schon zu wenig, die in der professionellen Pflege arbeiteten. Heute wird der Pflegenotstand längst von Politik und Medien bestätigt. »Aufgrund des zu erwartenden Anstiegs der Zahl der Pflegebedürftigen wird auch der Bedarf an Pflegekräften in den kommenden Jahrzehnten weiter stark ansteigen. Hierfür gilt es Vorsorge zu treffen.«2

Dass es lange schon zu viel Arbeit und viel zu wenig Zeit ist, ist inzwischen selbst dem Gutmütigsten aufgefallen. Hinzu kommt, dass die meisten Menschen nicht »Nein« sagen können, sich in ihrem Beruf aufreiben und krank werden. Selbst das ist bereits in der Politik angekommen. Noch einmal das Bundesministerium für Gesundheit: »Wichtig ist …, dass Pflegekräfte sich über ihre oft persönlich herausfordernden Erlebnisse austauschen können. Supervisionen können hier ein geeignetes Instrument sein.«3 Wichtig sind den Pflegenden allerdings auch eine leistungsgerechte Bezahlung, eine generelle Anerkennung ihres Berufes, eine bessere Ausbildung – und auch eine verbesserte Gesundheitsprävention.4

Zu einer verbesserten Gesundheitsprävention gehören nicht nur Unterstützungen bei den enormen physischen Anforderungen des Pflegeberufs, Supervisionen oder eine leistungsgerechte Bezahlung. Um (länger) gesund zu bleiben, bedarf es eines gesunden »Seelenheils«, und um das zu erreichen, haben Sie sich vermutlich dieses Buch gekauft. Sie haben den ersten Schritt also bereits getan: Sie haben »Ja« zu sich selbst gesagt. Vielleicht wollen Sie Unterstützung. Vielleicht suchen Sie einen Weg in eine andere berufliche Zukunft oder wollen Ihre Klienten ganzheitlicher begleiten. Und wenn da eine leise Stimme in Ihrem Kopf flüstert: »Ja, wenn wir uns alle nur noch um uns selber kümmern – wer kümmert sich dann um die Klienten?« – Dann stellen Sie bitte die Gegenfrage: »Wenn ich mich nicht mehr um meine Klienten kümmern kann, weil ich vor lauter Arbeit krank geworden bin – wer kümmert sich dann?«

Sie möchten also etwas für sich selbst tun, damit es Ihnen – und Ihren Klienten – besser geht. Sie übernehmen Selbstverantwortung und das bedeutet, »die eigenen Bedürfnisse, Möglichkeiten, Grenzen zu kennen, dafür einzutreten und damit die eigene Lebensgestaltung voranzubringen.«5

Fürchten Sie, dass Sie Ihrem Beruf nicht gewachsen sind? Diese Sorge ist unbegründet. Es liegt nicht (nur) an Ihnen, wenn Sie sich belastet fühlen. Sie arbeiten in einem »High-Touch-Beruf«, kümmern sich um andere Menschen – und damit stehen Sie immer in der Gefahr, an Symptomen wie »emotionaler Erschöpfung, nachlassender Leistungsfähigkeit und einer zunehmenden Gleichgültigkeit bzw. Depersonalisierung«6 zu leiden.

Doch es genügen bereits kleine Schritte, um das zu ändern. Ich werde Ihnen von Menschen erzählen, die kleine Veränderungen in ihr Leben eingebaut haben und damit sehr viel zufriedener leben. Kurzum: Sie werden Ihre spirituellen Ressourcen kennenlernen und sie ganz bewusst einüben. Ja, auch Sie haben spirituelle Ressourcen – aber Sie nennen sie vielleicht anders: Auszeiten, Gelassenheit, Konzentration aufs Wesentliche.

_____________________

1http://www.bmg.bund.de/pflege/pflegekraefte/pflegefachkraeftemangel.xhtml [Zugriff am 04.11.2014]

2 Ebd.

3 Ebd.

4 Vgl. http://www.pflege-am-boden.de/ [Zugriff am 10.11.2014]

5 Huhn, S. (2012). Ab heute sorge ich für mich! Selbstpflege. Vortrag auf dem Heilberufe Kongress, Berlin

6 Pfaff, H. (2014). Gesunde Mitarbeiter: Erfolgsfaktor in der Pflege. Vortrag auf der AOK-BGF-Tagung in Solingen 2014. Im Internet: http://www.bgf-institut.de/fileadmin/redaktion/downloads/Aktuelles/2013-03-12_Prof._Dr._Pfaff.pdf [Zugriff am 10.11.2014]

1SPIRITUALITÄT – NICHTS SPEZIFISCH CHRISTLICHES

Uta ist 42 Jahre alt und seit mehr 20 Jahren in der ambulanten Pflege tätig. In letzter Zeit aber ist Uta müde und erschöpft. Die Arbeit macht ihr mehr Mühe als früher. Außerdem ist sie gerade dabei, sich von ihrem Mann zu trennen. Es ist alles so mühselig: Mit den Kindern sprechen, die Wohnung ausräumen, den Anwalt einschalten etc.

Als Uta an einem diesigen Herbstmorgen zu Frau B. in die Wohnung kommt, hat sie besonders schlechte Laune. Sie grüßt nur kurz, reißt mit Schwung die Jalousien hoch – und hört auf einmal, wie Frau B. mit sanfter Stimme sagt: »Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist …« Uta führt den Satz unwillkürlich zu Ende »…wird es lange bleiben«, denn sie kennt auch das Gedicht »Herbsttag« von Rainer Maria Rilke. Die klassischen Dichterworte bremsen Uta in ihrem Tatendrang. Sie dreht sich zu Frau B. herum und sieht sie etwas schuldbewusst an. Frau B. winkt sie zu sich, nimmt ihre Hand und sagt: »Da ist es egal, wie alt man ist, was? Es geht uns beiden so, nicht wahr?« So sitzen die beiden Frauen eine kleine Weile beieinander, schweigend, aber in Verbindung miteinander.

Als Uta zur nächsten Patienten fährt, fühlt sie sich kräftiger, erholter. Später berichtet sie einer vertrauten Kollegin von ihrem Erlebnis auf Frau B. und wundert sich selbst darüber, wie ein »so kurzer Moment einen so entlasten kann«.

Tatsächlich hat Uta mit Frau B. einen spirituellen Moment erlebt – sofern wir Spiritualität als Grundeinstellung »zum Leben, zur Welt und zu den Mitmenschen«7 sehen. Spiritualität ist etwas, das sich auf uns, auf unsere Haltungen und unsere Werte bezieht.

Spiritualität

Spiritualität drückt sich darin aus, wie wir mit Anderen, der Umwelt, der Natur, unserem Selbst und/oder auch dem Göttlichen/dem Heiligen verbunden sind. Spiritualität ist immer etwas Individuelles.

Spirituell zu leben bedeutet nicht, sich als buddhistischer Mönch zur Meditation zurückzuziehen oder als gläubiger Christ, Jude, Moslem oder Hindu zu leben. Als die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) 2012 in einem Projekt die »Spiritualität in Deutschland und den USA« erforschte, sagten viele Probanden: »Ich bin eher spirituell als religiös« – dieser Satz findet die Zustimmung der Hälfte aller Befragten, unabhängig davon, ob sie selbst einer Religionsgemeinschaft angehören oder nicht.«8

1.1Spiritualität und Gesundheit

Viele Untersuchungen belegen, dass Spiritualität gesund für den Körper und die Seele ist. »Siebenten-Tages-Adventisten, die täglich die Bibel meditieren und beten, leben im Schnitt fünf Jahre länger. Zen-Priester in Japan, die meditieren, werden deutlich älter. Kalifornische Forscher beobachteten die gesundheitliche Entwicklung von mehr als 5200 Amerikanern. Diejenigen, die regelmäßig spirituelle Praktiken ausübten, speziell Meditation, erkrankten seltener, ihr körperliches Immunsystem war stärker. Italienische Nonnen, die regelmäßig den Rosenkranz beten, haben einen deutlich niedrigeren Blutdruck als gleichaltrige Frauen.«9

Auch die sogenannte Klosterstudie von Marc Luy10 weist darauf hin, dass Mönche deutlich länger leben als Männer der Allgemeinbevölkerung. Ihre Lebensgrenze reicht fast an die Lebenserwartung von Frauen heran. Wie lässt sich das erklären? Eine Möglichkeit ist der gesundheitsförderliche Lebensstil von spirituellen Menschen: Viele von ihnen lehnen den Genuss von Drogen ab. Auch hier belegen Studien, dass Menschen, die spirituell eingestellt sind, meistens nicht trinken oder rauchen, geschweige denn zu harten Drogen greifen. Viele disziplinieren sich beim Essen, bevorzugen vegetarische oder vegane Kost, fasten häufiger. Das hält gesund: Herz und Kreislauf werden entlastet.

Ein anderer Grund für die gesundheitsfördernde Konsequenz von Spiritualität ist natürlich der entspanntere Lebensstil spiritueller Menschen: In allen Burnout-Prophylaxen wird darauf hingewiesen, was Stress für den Körper bedeutet. Die Stressreaktion war für Steinzeitmenschen noch wichtig, um wilden Tieren zu entkommen: Der Atem geht schneller, der Herzschlag wird beschleunigt, die Muskeln besser durchblutet, die Verdauung gestoppt und der Blutdruck steigt. Die Nebennieren schütten Cortisol und Adrenalin aus.

Aber heute? Wohin mit der Kraft, die der Körper im Stress ausschüttet? Wie gehen wir mit dem Erbe unserer Urahnen um, das immer noch in uns steckt? Kurzfristig kann unser Körper Stressreaktionen auffangen, langfristig aber nicht. Spirituelle Praktiken, ob es Atemtechniken, Achtsamkeitstrainings oder Meditationen sind, beugen Zivilisationskrankheiten vor und beeinflussen auch den Verlauf von chronischen Erkrankungen.11 In seinem Buch »Psychologie der Spiritualität« schreibt der Schweizer Theologe Anton A. Bucher ausführlich über »psychologisch nachgewiesene Effekte von Spiritualität, die als positiv gewürdigt werden, und zwar auf die physische und psychische Gesundheit, Stressreduktion, Bewältigung kritischer Lebensereignisse etc.«12

1.2Spiritualität und Gesellschaft

Spiritualität ist nicht nur gesundheitsfördernd. Auch ihr gesellschaftlicher Nutzen ist ganz offensichtlich: Menschen, die spirituell leben, leben achtsamer. Sie achten auf sich und ihre Umwelt. Sie sorgen sich darum, dass es auch anderen Menschen gut geht. Viele Menschen, die spirituell sind, finden ihren Sinn darin, politisch aktiv zu werden.

Für mich war die Begegnung mit Joan Carrero, Mystiker, engagierter Naturschützer und Friedensaktivist, besonders beeindruckend. Nachdem er lange Zeit als Eremit in den Bergen Spaniens gelebt hatte, wollte er sein spirituelles Leben mit politischer Aktivität fortsetzen. Er engagierte sich für Ruanda, eines der ärmsten Länder Afrikas, zerrüttet von Gewalt und Hass. Rund 800.000 Menschen – meist Tutsis – wurden von Hutu-Milizen umgebracht. Mehr als eine viertel Million Frauen wurde vergewaltigt. Joan Carrero unterstützte mit Geld und Öffentlichkeitsarbeit die Aussöhnung zwischen den unterdrückten Tutsis und den überlegenen Hutu. Nobelpreisträger und Politiker schlugen Carrero für den Friedensnobelpreis vor. Einen Mann von tiefer Freundlichkeit und Bescheidenheit, der von sich selbst sagt: »Für mich gehören Spiritualität und die Liebe zum Menschen zusammen.« Auch andere Menschen setzen ihren Glauben oder ihre Spiritualität für politische Ziele ein.

Spirituelle Menschen und gesellschaftliches Engagement

Ernesto Cardenal

Ernesto Cardenal war ein katholischer Priester in Nicaragua. Während der Revolution in Nicaragua war er zwischen 1979 und 1987 sogar Kulturminister seines Landes. Sein Leben lang setzte sich Cardenal für Freiheit und Frieden in Nicaragua ein. Durch seine Bücher und Gedichte machte er die Situation in Nicaragua sozusagen weltöffentlich.

In den 60er Jahren gründete Cardenal in Nicaragua ein Dorf nach urchristlichem Vorbild. Er sprach mit den Bewohnern über die Bibel und ihre Spiritualität. »Die Liebe zur Schönheit der Natur und zu den Frauen hat mich zu Gott geführt, und die Liebe zu Gott zur Revolution«, heißt es an einer Stelle seiner Werke.

Cardenal ist als Vertreter der urchristlichen Vorstellung von Gerechtigkeit heute noch genauso bedeutend wie vor 50 Jahren.

Mahatma Gandhi

Gandhi kämpfte ohne Waffen und Gewalt für den Frieden in Indien und führte sein Land 1947 zur Unabhängigkeit. Sein Glauben – der Hinduismus – prägte ihn für seinen Weg. Gandhi konnte aber die Teilung seines Landes in drei Staaten nicht verhindern: die mehrheitlich muslimischen Länder Pakistan/Bangladesch und das mehrheitlich hinduistische Indien.

Es kam zu kriegerischen Auseinandersetzungen bei der Landteilung. Gandhi trat in den Hungerstreik. Keiner der Staaten wollte den Tod des berühmten Mannes verantworten, so schlossen sie kurzfristig Frieden. Gandhi: »Es gibt keinen Weg zum Frieden, der Frieden ist der Weg.«

Gandhi wird heute wie damals als große Seele – »Mahatma« – verehrt. Diese ehrenvolle Bezeichnung ist verbreiteter als sein Geburtsname.

Dalai Lama

Dalai Lama ist ein religiöser Titel, kein Name. Der jetzige 14. Dalai Lama heißt eigentlich Tendzin Gydtsho, wurde 1935 geboren und 1940 als Tibets geistliches und weltliches Oberhaupt eingesetzt. Für die Tibeter ist seine Stellung wie die eines Gottes. Durch sein unermüdliches politisches Engagement für Tibet ist der Dalai Lama zur Ikone seines Landes geworden.

Er setzt sich für eine Politik der strikten Gewaltlosigkeit gegenüber den chinesischen Machthabern ein, aber auch für ein freies Tibet. 2011 übergab der Dalai Lama seine Funktion als weltliches Oberhaupt an einen gewählten Nachfolger.

Hildegard von Bingen

Man kann zu Recht behaupten, dass Hildegard nach heutigen Maßstäben die »erste Frau in einer Führungsposition« war. Sie war Nonne, Medizinerin, Naturforscherin, Dichterin und Komponistin. Sie predigte zwar nicht in Altarräumen, aber auf öffentlichen Plätzen. Sie las auch männlichen Kirchenleuten die Leviten, wenn sie nicht so handelten, wie es die Bibel vorschrieb. Sie mischte sich in die Politik ein und unterhielt einen regen Briefwechsel mit Papst und Kaiser, wohlgemerkt: im 12. Jahrhundert! Hildegard verband ihre Spiritualität mit moralischer Autorität und öffentlichem Handeln. Somit war sie Vorbild für viele Novizinnen ihrer Zeit. In späteren Jahrhunderten folgten weitere hervorragende Nonnen wie Katharina von Siena oder Teresa von Avila.

1.3Spiritualität im Alltag

Noch vor 30 Jahren glaubten Philosophen und Hirnforscher, dass wir einen unveränderlichen Kern in uns trügen. Heute geht man davon aus, dass es gar kein unveränderliches Selbst gibt. Wir haben kein festes Ich, sondern eher ein tanzendes Selbst: formbar, irritierbar, aber stets Neuem gegenüber aufgeschlossen. Die humanistische Psychologie folgt dieser Sichtweise. Sie wies nach, dass sich jeder Mensch verändern und immer wieder neu entscheiden kann. »Es ist die Idee, den ganzen Menschen unserer Zeit zum Leben zu erwecken und ihn zu lehren, wie er seine inneren Kräfte nutzen kann, um ein Führer zu sein, ohne ein Rebell zu werden, eine Mitte zu haben und nicht Hals über Kopf zu leben.«13 Der alte Grundsatz »Wer »A« sagt, muss auch »B« sagen«, ist zwar noch tief in unseren Köpfen verankert, hat aber keine Berechtigung mehr. Mittlerweile dürfen wir »A« sagen und können getrost das »B« weglassen.

Auch Spiritualität ist dynamisch und entwickelt sich mit unseren Erfahrungen, Bedürfnissen und Begegnungen. Spiritualität hat viele Gesichter, die sich unterschiedlich zeigen und immer wieder verändern können.

Stellen Sie sich vor, ein Marsmensch käme auf die Erde. Klein, grün und auch ein bisschen buckelig. Er guckt sich um, sieht die Menschen, schaut in Buchläden und in Messehallen, blättert in Volkshochschulprogrammen und besucht Kirchen. Nun trifft er Sie und fragt: »Entschuldigung! In diesem Land wird viel zum Thema ›Spiritualität‹ angeboten. Was ist das eigentlich? Etwas zum Essen oder etwas, womit ich fliegen kann? Ich möchte das begreifen. Bitte geben Sie mir doch ein paar Schlagworte. Was denken Sie dazu?« Was würden Sie sagen?

Abb. 1: Wenn ein Außerirdischer Sie fragen würde, was Spiritualität ist – was würden Sie antworten?

Vielleicht ist Ihnen gar nichts eingefallen oder vieles. Vielleicht dachten Sie an Begriffe wie Kirche, Glauben, Gott oder Musik. Hinter dem Begriff »Spiritualität« verbirgt sich etwas, das nicht so einfach zu fassen ist. Wenn ich eine Wanderung unternehme und dann und wann still ins Tal hinabblicke, ist das dann schon ein »spiritueller Moment«? Oder sind es Handlungen wie Beten oder Meditieren? Die Antwort ist einfach: Ja, das sind bereits spirituelle Momente.

Vor einigen Jahrzehnten wäre es undenkbar gewesen, dass Menschen eigene spirituelle Pfade suchen und beschreiten. Mit der Öffnung der Welt, den neuen Medien und zunehmendem Selbstbewusstsein werden Menschen kreativer und schauen, was Ihnen gut tut. Viele nehmen sich heute das Recht heraus, sich aus allen Religionen, Weltanschauungen oder Philosophien einfach Versatzstücke herauszusuchen, sich eine eigene Überzeugung zu bauen. Wir leben in einer Zeit, die uns ein Höchstmaß an geistiger Freiheit zubilligt. Wir sollten uns dieser Freiheit bewusst werden, statt uns mit Ritualen zufrieden zu geben, die unsere Sehnsucht nach innerem Halt nicht befriedigen können. Wir müssen auch nicht erst »lebenslang lernen« – das haben wir immer schon getan und werden es auch weiterhin tun. Oder sind Sie bei Ihrem alten Wählscheibentelefon geblieben und lehnen Handys als »modernen Unfug« ab?

Wenn dies die Zeit ist, in der wir uns selbst auf die Spur kommen können, weil wir so viel mehr wissen, dann ist das eine große Freiheit – auch in spiritueller Hinsicht. Für mein Buch habe ich viele Menschen interviewt, die nicht unbedingt gläubig oder religiös sind. Sie sind aber sensibel für ihre Welt und haben ihre eigene Sicht der Dinge.

Selbsterkenntnis

Der Schlüssel zur Spiritualität ist die Selbsterkenntnis. Es geht darum, zu entdecken, wer man ist. Anita Moorjani* beschreibt es so: »Mir wurde klar, dass ich mein ganzes bisheriges Leben nur eines zu tun gehabt hatte: ich selbst zu sein, ohne Verurteilung oder das Gefühl, mit Makeln behaftet zu sein.« In der Spiritualität geht es um die Begegnung mit uns selbst. Von da aus kann die Reise zu der tiefer gehenden Erkenntnis und Einsicht, wer wir wirklich sind, gehen. Das geht über uns hinaus. Man spricht dann von Selbsttranszendenz.

* Moorjani, A. (2012). Heilung im Licht. München: Arkana, S. 109

Als Kind hatte ich einen Wunderblock. Eine Zaubertafel, auf der man Geschriebenes sofort wieder löschen kann, auf der aber einiges unsichtbar zurückbleibt. Ähnlich verhält es sich auch mit unserer Spiritualität. Manches bleibt uns ganz klar vor Augen, anderes verschwindet in unserem Unterbewusstsein.