Himmel hilf! - Tillmann Bendikowski - E-Book

Himmel hilf! E-Book

Tillmann Bendikowski

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Beschreibung

Warum wir Halt in übernatürlichen Kräften suchen: Eine neue Geschichte des Aberglaubens

Auf den ersten Blick wird unsere moderne Zeit von Vernunft und Wissenschaft geprägt. Doch angesichts multipler Menschheitskrisen und damit verbundener Ängste feiert zugleich der Glaube an übernatürliche Phänomene eine Auferstehung – das Spirituelle, die Esoterik und der Wunderglaube auch in Form von Verschwörungsmythen, kurz: das magische Denken. Tillmann Bendikowski zeigt, wie wir Menschen schon immer Halt und Trost bei übernatürlichen Kräften gesucht haben, aber auch, wie so manche Rituale verloren gegangen sind. Er unternimmt eine erzählerische Entdeckungsreise in die Welt des »Aberglaubens« seit dem Mittelalter, berichtet von Geistern, Engeln und Hexen und lässt Planetenleser, Wunderheiler oder Teufelsjäger zu Wort kommen. Dabei wird klar, warum wir auf der Suche nach Sicherheit Zuflucht bei magischen Ritualen fanden und warum in unserer Geschichte Krisenzeiten immer zugleich magische Zeiten waren.

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Seitenzahl: 388

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BUCH

Auf den ersten Blick wird unsere moderne Zeit von Vernunft und Wissenschaft geprägt. Doch angesichts multipler Menschheitskrisen und damit verbundener Ängste feiert zugleich der Glaube an übernatürliche Phänomene eine Auferstehung – das Spirituelle, die Esoterik und der Wunderglaube, auch in Form von Verschwörungsmythen, kurz: das magische Denken. Tillmann Bendikowski zeigt, wie wir Menschen schon immer Halt und Trost bei übernatürlichen Kräften gesucht haben, aber auch, wie so manche Rituale verloren gegangen sind. Er unternimmt eine erzählerische Entdeckungsreise in die Welt des »Aberglaubens« seit dem Mittelalter, berichtet von Geistern, Engeln und Hexen und lässt Planetenleser, Wunderheiler oder Teufelsjäger zu Wort kommen. Dabei wird klar, warum wir auf der Suche nach Sicherheit Zuflucht bei magischen Ritualen fanden und warum in unserer Geschichte Krisenzeiten immer zugleich magische Zeiten waren.

AUTOR

Dr. Tillmann Bendikowski, geb. 1965, Journalist und Historiker, promovierte 1999 bei Prof. Hans Mommsen an der Ruhr-Universität Bochum. Als Gründer und Leiter der Medienagentur Geschichte in Hamburg schreibt er Beiträge für Printmedien und Hörfunk und betreut die wissenschaftliche Realisierung von Forschungsprojekten und historischen Ausstellungen. Seit 2020 ist er als historischer Kommentator im NDR Fernsehen zu sehen, wo er in der Reihe »DAS! historisch« Geschichte zum Sprechen bringt. Bei C. Bertelsmann erschienen von ihm u. a. »Der Tag, an dem Deutschland entstand. Geschichte der Varusschlacht« (2008), »Friedrich der Große« (2011), »Sommer 1914« (2014), »Der deutsche Glaubenskrieg: Martin Luther, der Papst und die Folgen« (2016), »Ein Jahr im Mittelalter« (2019), »1870/71« (2020), »Hitlerwetter« (2021) und zuletzt bei Penguin »Sagenhafte NORDGeschichten« (2023, mit Sabine Knor).

TILLMANN BENDIKOWSKI

HIMMEL HILF!

Warum wir Halt in übernatürlichen Kräften suchen

Aberglaube und magisches Denken vom Mittelalter bis heute

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Autor dankt der VGWORT für ein Stipendium im Rahmen von Neustart Kultur.

© 2023 C.Bertelsmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagmotiv (und Vignetten): © Bridgeman Images/Granger

Lektorat: Eckard Schuster

Bildredaktion: Annette Baur

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-29816-6V001

www.cbertelsmann.de

Inhalt

Einleitung: Die Alraune im »mentalen Rucksack«

Wenn die Angst kommt

Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann …

Wundersam gesund

Hildegard von Bingen, das Einhorn und das Drachenblut

Die Geister bitten zu Tisch

Der Apotheker Karl Lotz macht gespenstische Erfahrungen

Es steht doch in den Sternen

Das Horoskop des Reichsbankpräsidenten und der Börsenkrach

Die Kirche in der Zwickmühle

Warum Don Ferdinand Sterzinger seinen Kampf verliert

Verhext!

Margarethe Meineken und die verzauberte Kuh

Die 13 und die magischen Zeichen

Herr Messmer möchte eine neue Hausnummer

Der Teufel in der Pluderhose

Andreas Musculus nimmt sich den Satan vor

Die Macht über die Menschen

Bertolt Brecht schreibt gegen den Aberglauben an

Ausblick: Mit der Wünschelrute in die Moderne

Anmerkungen

Literatur

Zeitungen und Zeitschriften

Register

Bildnachweis

Der Aberglaube gehört zum Wesen des Menschen und flüchtet sich, wenn man ihn ganz und gar zu verdrängen denkt, in die wunderlichsten Ecken und Winkel, von wo er auf einmal, wenn er einigermaßen sicher zu sein glaubt, wieder hervortritt.

Johann Wolfgang von Goethe in Maximen und Reflexionen[1]

Einleitung: Die Alraune im »mentalen Rucksack«

Vielleicht hat es sich so zugetragen: An einem Sommertag des Jahres 1914, der unselige Erste Weltkrieg hat gerade begonnen, sieht sich ein junger Soldat kurz vor Beginn einer Schlacht zum ersten Mal dem Feind gegenüber. Er hat gerade noch genug Zeit, leise den auch bei seinen Kameraden beliebten »Ölbergspruch« zu murmeln. Mit diesem lassen sich nämlich auf wundersame Weise die gegnerischen Schusswaffen unwirksam machen: »So wie Christus im Ölgarten stille stand, so sollen alle Geschütze stille stehen.«[2] So bittet der Soldat und vergewissert sich mit einem Griff in die Uniformjacke sicherheitshalber, ob er auch wirklich seinen Glücksbringer bei sich hat: ein kleines geschnitztes Männchen aus der Wurzel der Alraune, der schon seit der Antike Zauberkräfte zugeschrieben werden. Seine Mutter hat das Figürchen kurz nach seiner Einberufung für 1,75 Reichsmark im Berliner Kaufhaus Wertheim gekauft und es ihm in den Tornister gesteckt.[3] Damit ihr Junge bloß wieder heil nach Hause kommt …

Es gab 1914 tatsächlich solche Glücksbringer aus der Alraune zu kaufen, es gab Soldatenmütter, die sich von diesen und anderen Amuletten Schutz für ihre Söhne erhofften, und es gab Soldaten, die Zaubersprüche murmelten, um mit dem Leben davonzukommen. Damit praktizierten sie das, was gemeinhin als »Aberglaube« bezeichnet wird. Ob nun gekaufter Glücksbringer oder ein Ritual unter Verwendung eines magischen Zeichens – es finden sich zahlreiche Varianten, wie die Menschen ihr Schicksal günstig zu beeinflussen versuchten. Gerade wenn die Not besonders groß war, wie eben in einem Krieg, wollten sie sich mit allen nur zur Verfügung stehenden Mitteln schützen.

Über Jahrtausende hinweg gingen Menschen davon aus, dass es magische Phänomene gibt, dass übernatürliche Kräfte und fremde Mächte – und dabei handelt es sich keineswegs nur um den christlichen Gott – Einfluss auf ihr Leben haben. Das konnte auch schlicht das nicht näher bezeichnete vorbestimmte »Schicksal« sein, die »Vorsehung« – oder eine ganz bestimmte Konstellation von Sternen und Planeten. Und weil diese Menschen an solche übernatürlichen Kräfte glaubten, waren sie auch bereit, sich magischer Praktiken und Rituale zu bedienen, mit deren Hilfe sie im Einklang mit diesen Mächten handeln konnten – oder gegen sie auch eine Art Gegenzauber einzusetzen, um sich gegen sie zu wehren. Deshalb wurden Gebete gesprochen oder Zaubersprüche gemurmelt, magische Zeichen an Wände gemalt, Amulette und Glücksbringer erworben, allerlei Reliquien aufbewahrt und verehrt, Orakel bei Zukunftsfragen hinzugezogen, Menschen, Tiere und Orte beschworen, »besprochen« oder mit einem Fluch belegt. Es wurden sogenannte Untote gebannt, um von ihnen in Ruhe gelassen zu werden, oder weise Frauen um Rat gefragt, um endlich von einer Krankheit geheilt zu werden.

Solche Vorstellungen und Handlungen begleiteten das Leben unserer Vorfahren bis in die Neuzeit, sie sind also Teil unserer Geschichte. Und mehr noch: Sie sind nicht einfach »vergangen«. Wie andere Denkfiguren und Glaubensinhalte auch haben sie sich zwar verändert und waren stets Konjunkturen der gesellschaftlichen Nachfrage unterworfen. Aber sie haben – ob wir wollen oder nicht – als kollektive Erfahrungen noch immer einen festen Platz in unserem »mentalen Rucksack«. Wir können mit dieser magischen Vergangenheit unterschiedlich umgehen, diese Praktiken altmodisch, gefährlich oder schlicht unterhaltsam finden, sie ablehnen oder noch immer für höchst brauchbar halten – aber ignorieren können wir sie nicht. Sie gehören zu unserem gemeinsamen Kulturerbe. Denn es gibt auch in unserer Gegenwart Ereignisse und Herausforderungen, die Menschen zum »Aberglauben« greifen lassen. Der Glaube an das Wirken übernatürlicher Kräfte ist auf eine faszinierende Weise erstaunlich zeitlos.

Deshalb sollten wir einen Blick in diesen mentalen Rucksack werfen, um uns darüber klar zu werden, was wir als Gesellschaft da eigentlich noch immer mit uns herumtragen. Das ist angesichts der aktuellen Renaissance magischen Denkens besonders geboten: Beispielsweise übt die Astrologie noch immer eine ungebrochene Faszination auf viele Menschen aus. Zudem steigt seit Jahrzehnten die Nachfrage nach »alternativen« und esoterischen Behandlungsmethoden in Medizin und Naturheilkunde jenseits naturwissenschaftlicher »Beweise«, auch Handauflegen und Wünschelrutengehen werden hierzulande weiterhin praktiziert. Selbst »Geisterjäger« haben mehr denn je zu tun,[4] und katholische Theologen klagen darüber, dass sogar in ihrer eigenen Kirche eine Form von »Aberglauben« Einzug hält, die »jeden halbwegs gebildeten Theologen sprachlos zurücklässt«.[5] Es ist offensichtlich, dass in unserer Gesellschaft noch heute an mehr Dinge zwischen Himmel und Erde geglaubt wird, als wir uns zuweilen vorstellen können oder öffentlich zugestehen wollen.

Keine Frage: Der »Aberglauben« ist uns ein vertrauter Begleiter und verdient eine eingehendere Betrachtung. Deshalb erzählt dieses Buch aus heutiger Perspektive die Geschichte des magischen Denkens seit dem Mittelalter, und es beschränkt sich dabei auf den deutschsprachigen Raum. Vielen Leserinnen und Lesern mag es dabei ungewöhnlich erscheinen, dass auch die christliche Religion als Teil dieser magischen Tradition verstanden und dargestellt wird. Das geschieht nicht, um diesen Glauben ebenfalls als »Aberglauben« zu denunzieren, sondern um den jahrhundertelangen Kampf der Kirche gegen den so bezeichneten »Volksaberglauben« einzuordnen. Denn das Christentum und die magischen Angebote des »Aberglaubens« waren hierzulande vor allem Konkurrenten um die Deutung der Welt und die »richtige« Gestaltung des Lebens. Das musste zwangsläufig zu Konflikten führen, bei denen es oft genug übrigens auch ums liebe Geld ging. Welcher der Kontrahenten nach dieser langen Zeit der Auseinandersetzung als Sieger hervorgegangen ist, darf an dieser Stelle getrost offen bleiben …

Für das vorliegende Buch ist der Hinweis wichtig, dass »magisches«, »abergläubisches« und »religiöses« Denken und Handeln letztlich nie wirklich trennscharf zu unterscheiden waren und sind. Theoretisch gibt es zwar die Unterscheidung, dass sich der religiöse Mensch einer übermenschlichen Macht unterwirft und sie durch Befolgung von Geboten und Riten gnädig zu stimmen bemüht ist, während der magische Mensch durch Riten und Opfer zu seinem eigenen Vorteil oder zum Schaden anderer aktiv Einfluss auf übermenschliche Mächte zu nehmen versucht. In der Praxis jedoch sind Religion und Magie oft miteinander vermengt, wie wir später noch sehen werden. Umso schärfer war historisch gerade vonseiten des Christentums aus die Abgrenzung vom »Aberglauben« und dessen Verteufelung (wobei der Begriff als abwertende Bezeichnung für magische, nichtchristliche Praktiken stand). Es versteht sich von selbst, dass der Begriff »Aberglauben« im Folgenden ausdrücklich nicht als Kampfbegriff verwendet wird, mit dem die Kirche, aber auch die Aufklärung jenes magische Denken denunzierten und bekämpften. Deshalb wird er in diesem Buch fortan nicht in Anführungszeichen gesetzt – er soll beschreiben, nicht verurteilen. In diesem Sinne wird das historische Geschehen auch stets aus der Perspektive der Beteiligten aus unterschiedlichen Jahrhunderten erzählt, anhand konkreter Beispiele: etwa über den Homburger Apotheker Karl Lotz, der über das »Tischrücken« Kontakte in die Geisterwelt pflegte, die 17-jährige Margarethe Meineken, die mit ihrer angeblichen Zauberkunst prahlte und deshalb als Hexe gefürchtet wurde, über Hildegard von Bingen, die Organe vom Einhorn und das Blut von Drachen als medizinische Heilmittel empfahl, oder auch über jenen Hamburger Hausbesitzer, der im 19. Jahrhundert bei den Behörden die Korrektur seiner Hausnummer beantragte, weil seine Mieter angeblich nicht in einem Gebäude mit der Nummer 13 wohnen wollten.

Diese und andere Menschen nehmen uns als heutige Betrachter mit in ihre Gedankenwelten, zu ihren Ängsten und Sorgen, zu ihren Glaubensvorstellungen und ihren zuweilen verzweifelten Versuchen, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen. Wir sehen, wie sie auf eine wundersame Heilung bei Krankheit hofften, einem Fluch zu entkommen versuchten oder einmal sogar den Teufel überlisteten. Indem wir sie in ihrem magischen Handeln betrachten, erkennen wir letztlich ihre ganz eigenen Strategien, den Herausforderungen des Lebens zu begegnen. Damit ist dieses Buch eine erzählerische Entdeckungsreise in eine sehr private Welt oft verzweifelter Menschen in Not. Dies verlangt von uns als Zuschauern und Zuschauerinnen ein entsprechendes Maß an Takt und Respekt. Es geht nicht darum, über einen vergangenen »Volksaberglauben« vorschnell die Nase zu rümpfen, sondern dieses Denken und seine Wirkungen auf die Menschen zunächst zu verstehen – und selbstkritisch nach unseren vermeintlich »modernen« Glaubensvorstellungen und unseren heutigen Antworten auf individuelle Lebenskrisen zu fragen.

Zugleich handelt dieses Buch auch von den Menschen, die zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlichen Methoden abergläubisches Denken vehement bekämpft haben – denn ohne sie wäre diese Geschichte nicht vollständig. So kommt beispielsweise der katholische Theologe Ferdinand Sterzinger zu Wort, der im 18. Jahrhundert wortmächtig zum Kampf gegen diese angebliche »Pest« aufrief, ebenso der evangelische Geistliche Andreas Musculus aus Frankfurt an der Oder, der schon bald nach der Reformation mit Leidenschaft den Teufel jagte, aber auch Bertolt Brecht, der mehr als zwei Jahrhunderte später aus politischen Erwägungen mit viel Eifer gegen den Aberglauben anschrieb. Wenn Anhänger und Gegner des magischen Denkens aufeinandertrafen, vertraten sie ihre Positionen zuweilen mit regelrechtem Fanatismus – und die Auseinandersetzungen erhielten eine Schärfe, die wir sonst nur aus religiösen Glaubenskriegen kennen. Die Geschichte des Aberglaubens ist somit auch die Geschichte von höchst irdischen Konflikten, in denen sich die Menschen zuweilen sogar gegenseitig umbrachten …

Damit liegt zugleich die politische Bedeutung dieses Themas auf der Hand: Es kann einer Gesellschaft nicht gleichgültig sein, welche Glaubensvorstellungen das Verhalten der Menschen beeinflussen und welche Konflikte daraus resultieren. Wenn für die Religionen auf der Welt immer schon galt und heute noch gilt, dass kein theologischer Gedanke politisch unschuldig ist, trifft dies ebenso für den so bezeichneten »Aberglauben« zu: Auch magisches Denken und Handeln sind immer gesellschaftlich relevant, weil die Menschen auf eine ganz eigene Weise ihre Welt wahrnehmen und sie mit ihren Ritualen und Praktiken zuweilen auch verändern wollen. Damit rufen sie zuweilen sogar Polizei und Gerichte auf den Plan, beschäftigen den Gesetzgeber und die politische Obrigkeit.

Übrigens ist es für dieses Buch nicht von Belang, ob es übernatürliche Kräfte tatsächlich gibt – es geht darum, was allein der Glaube daran mit den Menschen macht und wie er ihr Zusammenleben beeinflusst. Um zu dem eingangs konstruierten Beispiel zurückzukehren: Einmal angenommen, der junge Soldat wäre nach Jahren des Ersten Weltkrieges tatsächlich unversehrt nach Hause gekommen: Woran hat es dann nach Meinung seiner Freunde und Verwandten wohl gelegen? An seinem Zauberspruch vom »Ölberg«? An dem geschnitzten Glücksbringer aus dem Kaufhaus? An beidem? Oder war es schlicht Zufall, dass er verschont blieb? Die Antworten darauf fallen bis heute unterschiedlich aus.

Doch eines dürfen wir ganz sicher annehmen: Dieser junge Soldat hatte gewiss Angst, er fürchtete sich fraglos vor Verletzung und Tod – und deshalb setzte er in seiner Not auch auf magische Sprüche und die Kraft der Amulette. Die Angst lässt sich für die folgenden Betrachtungen als höchst kreative Stimulanz verstehen: Ohne sie gäbe es solche Rituale nicht und ganz bestimmt auch keine Geschichte von den Wunderkräften der Magier und der obskuren Heilkundigen, keine Hexenverbrennungen und nicht einmal einen Freitag, den 13. Es ist die Angst, die den Menschen glauben und »aberglauben« macht. Deshalb beginnt dieses Buch mit einer Erörterung der Angst, die wir alle nur allzu gut kennen …

Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes.

Elias Canetti in Masse und Macht[1]

Wenn die Angst kommt

Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann …

Der größte Schrecken, das war schon immer so, lauert oft genug hinter unschuldiger Kulisse. Das gilt auch für den »Butzemann«. Bevor er auftritt, ist alles friedlich: Die kleinen Kinder liegen nach Einbruch der Dunkelheit brav in ihren Bettchen, haben womöglich ihr Nachtgebet gesprochen, sind schon fast eingeschlafen oder bereits im Reich der süßen Träume – und dann kommt urplötzlich: die Angst! Vor dem schwarzen Mann, der nachts in das Haus eindringt! War da nicht ein Geräusch im Flur? Ein Rumpeln und Knarzen auf der Treppe? Ist das der Butzemann, der womöglich vor Stunden noch in dem bekannten Kinderlied fröhlich besungen wurde? »Es tanzt ein Bi-Ba-Butzemann in unserem Haus herum, fidebum …« Doch in der Dunkelheit ist jetzt keinem Kind mehr zum Singen zumute, denn der Butzemann ist eine Furcht einflößende Gestalt, ein Kobold oder womöglich ein Geist, niemand weiß das so genau. Aber als sicher gilt, dass er sich von verschlossenen Türen nicht abhalten lässt, sondern sie auf unheimliche Weise einfach passieren kann. Die Kinder haben Angst vor ihm – und ihre Eltern womöglich ebenfalls …

Dabei sind es über Jahrhunderte hinweg ausgerechnet die Erwachsenen, die ihren Kindern Geschichten von Gestalten wie dem Butzemann erzählen und damit die Ängste ihres Nachwuchses erst wecken und schüren. Ihre Erzählungen sollen dem pädagogisch höchst fragwürdigen Zweck dienen, den Kindern Angst vor Strafen zu machen, wenn sie sich nicht an die Anweisungen der Erwachsenenwelt halten. Wenn die Kleinen Blödsinn anstellen, so die simple und gerade deshalb so weit verbreitete Logik, kommt eben zur Strafe der Kinderschreck. Der trägt in den Regionen unterschiedliche Bezeichnungen: »Buhmann« oder »Butzemann«, »Nachtmann« oder generell der »schwarze Mann«, der als Figur auch in das kindliche Fangespiel »Wer fürchtet sich vorm schwarzen Mann« eingeht.[2] Die Drohung mit diesem Mann ist allerdings alles andere als lustig: Je nach erzählerischer Ausprägung und nach »pädagogischer« Grobheit hat er einen Sack dabei, in den er die unartigen Kinder steckt, eine Rute, mit der er die Kleinen schlägt (hierin zuweilen identisch mit der Vorstellung vom weihnachtlichen Knecht Ruprecht)[3], oder einen langen Haken, mit dem er die widerstrebenden Kinder an sich zieht, um sie umstandslos zu fressen! Mit der Drohung mit so einem Unhold lässt sich munter agieren: Das Kind soll abends brav im Haus bleiben? Da hatte die Mutter einst Verse wie diesen parat: »Gang nit hinaus, der Mann ist draus!«[4] Welches Kind blieb da nicht lieber erschrocken daheim?

Die Angst gilt uns als ein negatives Gefühl, das wir lieber meiden und auf das wir im Alltag am liebsten so weit wie möglich verzichten wollen. Doch sie war immer auch ein nützliches Warnsignal vor Unglück und möglichem Schaden – für jeden Einzelnen wie für die Gemeinschaft. So war es in Zeiten, als die Menschen auf eine karge Getreideernte für ihr Überleben angewiesen waren, eben keine hinnehmbare Kinderei, wenn der Nachwuchs balgend über die Felder zog und die Pflanzen zertrampelte. Die Ängste, die mit den Erzählungen der Erwachsenen geschürt wurden, konnten hier helfen. Deshalb herrschten in den Feldern mit dem lebenswichtigen Getreide im Mittelalter und noch in der frühen Neuzeit die »Korndämonen«, die »Roggenmuhme« oder der

Alle haben sie Angst vor dem Butzemann, der die Kleinen holt. Hier eine Darstellung der spanischen Version »El Coco« von Francisco de Goya (aus dem Zyklus »Los Caprichos«, 1799). [>>]

»Roggenwolf«, die Kinder von diesem Treiben abhalten sollten. Und wenn die Kinder sich in den Weinbergen verbotenerweise über die ebenso süßen wie kostbaren Trauben hermachten, kamen die dort verborgenen »Trubehans« oder »Hanselima« und sperrten sie weg.[5]

Die Angst vor dem Butzemann und allen anderen Typen von »schwarzen Männern« konnte Kinder durch die damit erzwungene Verhaltensänderung womöglich schützen, und dies auch vor wilden Tieren, allen voran vor dem bösen Wolf, der in so manchem Märchen bis heute nicht fehlen darf. Denn tatsächlich gab es einst entsprechende Gefahren, und kein Kind sollte sich im Mittelalter nachts in den heimischen Wäldern herumtreiben, in denen Wölfe, Bären oder auch Räuber unterwegs waren. In vielen Geschichten wurden diese Gefahren geschildert, und sie sorgten beim Publikum zu allen Zeiten für Erregung und Unruhe, für Sorge, Furcht und blanke Angst. An die Tradition solcher Erzählungen mögen wir uns heute erinnern, wenn wir in den Medien von einer besonders spektakulären Begegnung eines Spaziergängers mit einem der hier wieder heimischen Wölfe hören. Dann wird offensichtlich: Nicht nur der Wolf ist wieder da, sondern auch die alte, fast zeitlose Angst vor ihm …

An diesem Beispiel zeigt sich, wie wir alle – wenngleich abhängig von unserer persönlichen Lebenssituation – noch immer von einem kollektiven Angstgedächtnis beeinflusst werden, das sich über Jahrhunderte hinweg gebildet hat. Und unsere heutige Wahrnehmung der Welt verbindet uns noch immer mit den Menschen, die vor vielen Generationen gelebt haben. Wenngleich es Zeiten gab, in denen die Menschen mal unbeschwerter und optimistischer, mal wieder in großer Not und voller Zukunftsängste lebten: Die Angst war stets ein Grundgefühl menschlichen Lebens, ein Gefühl, das ganz nach Ausprägung wahlweise auch als »Furcht«, als »Schrecken« oder als »Horror« bezeichnet wird.[6]

Dass eine begründete Furcht durchaus auch ein Akt der Klugheit ist, wurde dabei schon früh erkannt. Der französische Schriftsteller und Philosoph Michel de Montaigne (1533 – 1592) riet schon dazu, nicht aus falsch verstandener Tapferkeit übergroße Gefahren aushalten zu wollen – »Begriffsstutzigkeit und Dummheit« erweckten dann irrtümlich »den Eindruck von Tugendhaftigkeit«.[7]

Der Blick in die Geschichte der kollektiven Ängste zeigt, dass sich keine Gesellschaft diesen einfach nur ausgeliefert fühlte, sondern stets Mittel und Wege suchte, ihnen zu begegnen. Schon das erwähnte Beispiel mit dem Schutz der Getreidefelder vor herumstrolchenden Kindern verweist darauf: Die gefährlichen »Korndämonen«, die angeblich dort hausten, sollten eben die karge Ernte retten – und dahinter steckte eine der großen Urängste der Menschheit: die Angst vor dem Hunger. Wer klug war, hatte Angst vor Hunger, und deshalb tat er auch alles dafür, ihm bloß nicht zum Opfer zu fallen. Das erzählerische Verschrecken von Kindern auf den Feldern war da nur der Anfang. Es gab viele magische Mittel, die Ernte zu sichern, vor allem wenn es um den Schutz vor Unwetter ging. Die Bauern konnten zwar säen und pflügen, sie konnten die Felder umsorgen. Aber, so würden wir heute behaupten, Wetter machen konnten sie schließlich nicht. Doch das ist aus mittelalterlicher Perspektive nur zum Teil richtig. Denn oft genug kannten die Bauern damals sehr wohl Leute, die zumindest Einfluss auf das Wetter hatten oder Zugang zu höheren Wesen und übernatürlichen Kräften, die dann auf entsprechende Bitten hin Regen, Sturm und Sonnenschein beeinflussen konnten. Diese »Profis« holten die Bauern in ihrer Not zu Hilfe.

Oft – vielleicht sogar in der Mehrzahl der Fälle – waren diese professionellen Helfer zunächst die örtlichen Priester, die in vielen Fällen von persönlicher Not ohnehin die ersten Ansprechpartner waren. Bei ihnen war in der Regel Rat und Hilfe zu erwarten, denn Gott, so das selbstbewusste Versprechen der mittelalterlichen Kirche, ist in seiner Allmächtigkeit selbstverständlich auch Herr über alle Naturgewalten und Naturgesetze. Wenn er will, kann er Feuer entfachen und löschen, er kann wahlweise Regen und Sonnenschein schicken oder verwehren, er lässt aber auch Sturm und Unwetter über die Welt kommen. Die Menschen taten deshalb gut daran, sich mit diesem Gott gut zu stellen und nicht durch ein sündiges Leben oder gar gotteslästerliches Verhalten seinen Zorn zu provozieren. Denn Gott galt ihnen nicht nur als gerechter, sondern immer auch als strenger und strafender Gott.[8]

Aber solange sich die Gläubigen nicht allzu viel Böses zuschulden kommen ließen, konnte ihnen dieser Gott wie kein anderer helfen. Die überlieferten Gebete lesen sich heute wie ein Katalog aller denkbaren Nöte und Heimsuchungen, vor denen sich die Menschen schon immer fürchten. So auch jenes Gebet, das im 19. Jahrhundert an den heiligen Donatus als Schutz gegen Donner und Unbilden des Wetters gerichtet wurde:[9]

Möge der Herr uns durch deine heilige und mächtige Fürsprache die Gnade gewähren, uns mit allen Unbilden der Witterung zu verschonen, die nicht den Jahreszeiten entsprechen und die das Wachstum der Feldfrüchte beeinträchtigen, die unser größter Reichtum und zugleich zu seiner Erhaltung notwendig sind. Er bewahre uns vor Viehseuchen und vor Mißernten und gewähre uns den gerechten Lohn für unseren Schweiß und unsere durchwachten Nächte. Er möge unsere Häuser vor jeglicher Zerstörung bewahren.

Neben diesen eher allgemeinen Bitten vor Schutz bot sich immer auch die Möglichkeit, direkt Gottes Einwirken auf das Wetter zu provozieren. So war die Vorstellung verbreitet, dass der Herr es auf Wunsch regnen lassen kann, wenn nur die richtigen Rituale angewendet werden. Die konnten durchaus aufwendig sein: Als im 12. Jahrhundert im Westen des Reiches ein Dorf unter Trockenheit litt, mussten die Bewohner unter Führung des örtlichen Klerus in einer Regenprozession immerhin dreimal durch die Felder ziehen. Doch zunächst brachte alles Beten und Singen nicht den erwünschten Erfolg, erst nach einer vierten Prozession und der ausdrücklichen Anrufung der Mutter Gottes gab es schließlich den ersehnten ausdauernden Regen.[10] Ein ausgesprochen anstrengendes, aber – so zumindest die christliche Überlieferung – letztlich wohl erfolgreiches Verfahren.

In diesem Fall scheint der christliche Gott also ein Einsehen mit den Menschen gehabt zu haben. Aber was, wenn er es nicht hatte? Was taten die Bauern, wenn ihre Gebete oder Prozessionen durch die Felder keinen Erfolg hatten und der dringend benötigte Regen weiterhin ausblieb? Wir dürfen rückblickend durchaus davon ausgehen, dass es unter ihnen Verzweifelte und Ungeduldige gab, die womöglich schon nach einer ersten oder zweiten Regenprozession angesichts des ausbleibenden Niederschlags nicht mehr so recht auf den Herrn im Himmel setzen wollten. Stellten sich einige von ihnen vielleicht bereits die Frage, ob womöglich ein anderes, nicht christliches magisches Ritual sinnvoller gewesen wäre? Wie gesagt, der Priester war schließlich nicht die einzige Person mit magischen Kenntnissen und Fähigkeiten in der Umgebung, vielmehr kannten die Menschen ja noch die einen oder anderen zauberkundigen Frauen und Männer. Die konnten schließlich auch Regen machen, oder?

Davon waren offensichtlich auch die Einwohner eines deutschen Dorfes im 11. Jahrhundert überzeugt, deren Felder wegen großer Trockenheit ebenfalls ausgedörrt waren. Auch sie suchten nach einer Lösung und – womöglich hatten ihre Gebete nichts genützt, oder sie wollten sich vom Pfarrer nicht zu einer Regenprozession bewegen lassen – griffen in gewisser Weise zu magischer Selbsthilfe. Mit einem zugegeben etwas komplizierten Ritual wollten sie den Regen herauslocken: Die Frauen des Dorfes versammelten alle kleinen Mädchen um sich, worauf diese sich in einer langen Prozession aufmachten, um Bilsenkraut zu sammeln, dem traditionell Zauberkraft für verschiedene Anwendungen zugesprochen wurde. Dann galt es auf jedes Detail peinlich genau zu achten: War diese Pflanze gefunden, musste ein unbekleidetes Mädchen sie mit dem kleinen Finger der rechten Hand ausreißen, sich die Wurzel des Krautes an die kleine Zehe des rechten Fußes binden lassen und es so zum nächsten Fluss transportieren. Dort bespritzten die übrigen Kinder das Mädchen samt Bilsenkraut mit Wasser und riefen den Regen herbei, ehe das unbekleidete Mädchen abschließend im Krebsgang rückwärts zurück ins Dorf gehen musste.[11]

Es ist zu schade, dass sich heute mit dem Abstand von Jahrhunderten nicht mehr zweifelsfrei überprüfen lässt, ob dieses recht komplizierte Zeremoniell tatsächlich den gewünschten Regen gebracht hat. Und zu gerne wüssten wir, ob es statistisch gesehen im Mittelalter aussichtsreicher war, mithilfe eines Priesters und einer Regenprozession oder mit einer wie auch immer gestalteten Methode »Bilsenkraut« die Ernte vor dem Vertrocknen zu retten. Aber wir können gewiss sein, dass den Menschen in solchen wie anderen Notsituationen immer mehr Wege offen standen, als wir heute zuweilen glauben und wissen – auch wenn einige magische Rituale dabei eher der Belustigung einiger Beteiligter gedient haben mögen: In Tirol wurden zuweilen bei langer Dürre die Mädchen am 1. Mai von den Burschen eingefangen, mit Wasser begossen oder in die Bäche geworfen.[12] Ob das wirklich hilfreich war?

Es gab aber schon im Mittelalter Zeitgenossen, die bei solchen und anderen Vorfällen keinen Spaß verstanden, nämlich die Kleriker. Ihre Kirche fand sich nicht nur bei der Angst vor Dürre und Hungersnot in einer regelrechten Konkurrenzsituation der Glaubensangebote wieder. Sowohl die christliche Religion als auch die unterschiedlichen magischen Praktiken weckten schließlich die Hoffnung, das Leben in gewisser Weise zu »ordnen«, Orientierung zu bieten und nicht hilflos einem Zufall ausgeliefert zu sein. In der christlichen Welt war alles geordnet: So predigten die Pfarrer stets, dass Gott allein die Welt in seinen Händen hält, dass nur er die Macht hat, gestaltend in das Leben der Menschen einzugreifen – und dass er in diesem Fall selbstverständlich auch der alleinige Herr über Regen und Trockenheit ist. Aber offensichtlich war es schon vor Jahrhunderten mit der Disziplin des Kirchenvolkes nicht immer weit her. Das belegen die Strafandrohungen für all diejenigen, die an »abergläubischen« Handlungen teilnahmen, wie die Kirche solche Angebote zu nennen pflegte. So drohte einer der prominentesten Kleriker des frühen 11. Jahrhunderts hierzulande, Bischof Burchard von Worms, allen Christenmenschen mit einer saftigen Bußstrafe, wenn sie beispielsweise an den geschilderten Regenzauber mit den Mädchen und dem Bilsenkraut glaubten: Wer an so einem Ritual teilgenommen habe oder auch nur damit einverstanden gewesen sei, müsse 20 Tage bei Wasser und Brot fasten.[13] Diese damals ausgesprochen harte Strafe stellte der strenge Gottesmann auch all jenen in Aussicht, die sich nur des einfachen Regenzaubers bedienten, bei dem ein Mädchen schlicht mit Wasser begossen wird.[14]

Ob der Bischof tatsächlich glaubte, seine Schäfchen damit wieder auf den rechten christlichen Weg zu bringen? Schließlich wusste er wie seine Amtsbrüder nur zu gut, dass es im Land viele – wie er sie nennt – »ruchlose Leute« gab, die magische Sprüche über Felder oder Lebensmittel sprachen, die Kräuter oder irgendwelche Knoten auf Wegkreuzungen legten, die Tiere angeblich von Krankheiten befreien und andere durch ihre bösen Taten verderben lassen konnten. Ihnen gegenüber war und blieb der Ton der Kirche scharf, denn für sie stand viel auf dem Spiel: Die Kirche wollte gegen alle magischen nichtchristlichen Glaubensangebote ihren Anspruch auf die Interpretation der Welt durchsetzen, sie musste den Beweis erbringen, dass nur ihre religiösen Instrumente wirkten. Verärgert notierte im frühen 9. Jahrhundert der Erzbischof von Lyon:[15]

Hierzulande glauben fast alle Menschen, Adel und Volk, Stadt und Land, Alt und Jung, dass Hagel und Donner von Menschen gemacht werden können … Der Sturm habe sich erhoben aufgrund der Zaubersprüche von Leuten, die Wettermacher heißen.

Gegen die Konkurrenz trat die Kirche durchaus aggressiv auf, indem sie alle Menschen mit Strafen bedrohte, die diesen unchristlichen »Schabernack« nutzten. Zugleich denunzierte sie die »Magier«, »Hexen« oder »Zauberer« und forderte ihre Verfolgung und Bestrafung auch durch weltliche Instanzen. Nachträglich ließe sich allerdings sagen, dass diese Konkurrenz auf dem Markt der magischen Möglichkeiten für die Menschen durchaus ihre Vorteile hatte: Die verschiedenen Anbieter mussten sich stets bemühen, wirklich überzeugende oder zumindest vielversprechende, möglichst bessere Angebote zu machen, die in der Not Hilfe versprachen. Und die Menschen hatten dann bis zu einem gewissen Grad den Eindruck, dass es in der Not immer auch Lösungen gab: Es existierte also kaum eine Angst, gegen die es nicht auch das Versprechen eines magischen Mittels oder Rituals gab.

Dadurch verschwanden allerdings die Ängste nicht. Eine konkret bestehende Furcht konnte womöglich überwunden werden, aber neue kamen dafür hinzu – die Geschichte der Angst kennt die Konjunkturen von kollektiven Bedrohungsszenarien. Lange ging die Geschichtsforschung beispielsweise davon aus, dass vor allem die Menschen im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit besonders viele Ängste auszustehen hatten, weil im Zuge der Reformation und der einsetzenden europäischen Glaubenskonflikte oft von einem nahen Weltenende die Rede war.[16] Heute weiß die Forschung, dass auch vorher und später große gesellschaftliche Einschnitte mit entsprechenden Ängsten einhergingen: etwa der Einfall der Wikinger in Mitteleuropa im frühen Mittelalter, die in einem kolossalen Maße Angst und Schrecken verbreiteten, dann ein jeder Krieg, vor allem der Dreißigjährige Krieg mit seiner bis zu dieser Zeit kaum gekannten Gewaltentfesselung, aber auch die »Kleine Eiszeit« zu Beginn der Neuzeit, als sich besonders ab den 1570er-Jahren das Klima über Jahrzehnte hinweg spürbar veränderte und bitterkalte Winter, verregnete Sommer und zerstörerische Hagelstürme in Europa die Ernten vernichteten und unzählige große und kleine Hungersnöte auslösten.[17]

Solche kollektiven Krisen lehrten mit ihren Ängsten nicht nur das Beten, sondern ließen die Menschen auch nach anderen magischen Ritualen greifen. Selbst ernannte Sternkundige, Heilsbringer, angebliche »Hexen«, Okkultisten verschiedenster Couleur oder schlicht Betrüger hatten etwa während der »Kleinen Eiszeit« nachweislich alle Hände voll zu tun. Und sie dienten dabei keineswegs nur dem so bezeichneten »einfachen Volk«, auch wenn noch heute der Begriff »Volksaberglauben« das suggerieren mag. Tatsächlich zogen selbst gekrönte Häupter wie der Habsburger Kaiser RudolfII. oder die englische Königin Elisabeth I. in dieser Not Magier zur Hilfe.[18] Sicher ist sicher …

Die Nachfrage nach solcher Hilfe resultierte auch aus der Tatsache, dass die größte aller menschlichen Ängste in dieser Zeit sogar die Regenten umtrieb: die Angst vor dem Weltuntergang. Dass dieser eines Tages kommen werde, davon konnte die Menschheit vor allem im Mittelalter ausgehen. Schließlich stellten ihr dies die Kirche und ihre Kleriker mehr oder weniger permanent in Aussicht. Diese Ankündigung beinhaltete Drohung und Verheißung zugleich: An diesem »Jüngsten Tag« – was sich übrigens deutlich besser anhörte als »Weltuntergang« – werde das irdische Ende anbrechen und Gott als Weltenrichter über das Schicksal der Menschheit und vor allem jedes einzelnen Menschen beim »Jüngsten Gericht« entscheiden. Er werde dann die Gerechten von den Ungerechten scheiden, so heißt es im Neuen Testament, also die Guten von den Bösen. Und die Menschen wussten nur zu gut, dass sie vor diesem göttlichen Gericht, wie vor jedem weltlichen Gericht übrigens auch, besser nicht unvorbereitet erscheinen sollten: Wer also ein gottgefälliges Leben geführt hatte und mit den Sakramenten der Kirche versorgt war, konnte erhoffen, dass auch für ihn mit dem Jüngsten Gericht ein sorgenfreies Leben in Gottes Reich anbrechen würde.

Aber trotz dieser Aussicht auf eine mögliche himmlische Zukunft war die Erwartung des Jüngsten Tages auf Erden alles andere als angenehm, vor allem weil es nun mal zur Natur dieses Weltuntergangs gehört, dass er mit ziemlichen Schrecken und Grauen für die Menschen einhergeht. Erinnert sei nur an die oft genug angekündigten apokalyptischen Reiter, die als Vorboten des Geschehens die Menschheit mit furchtbaren Geißeln plagen würden. Und die Kleriker schürten zuweilen noch die Angst vor dem Weltenende, weil sie sozusagen auch sozialdisziplinierenden Nutzen aus dieser Vorstellung zogen: Sie versprachen den Gläubigen nämlich, dass sie keine Angst vor diesem kolossalen Ereignis haben mussten, wenn sie sich nur treu an ihre Kirche und an die Sakramente hielten. Dann bringe der Jüngste Tag für sie tatsächlich die Befreiung aus aller Not. Aber wehe dem, der ein schlechter und ungehorsamer Christ ist! So warnte ein Geistlicher im Jahr 1681:[19]

O Mensch, sündige nicht, denn das Jüngste Gericht verdammet … Die Menschen müssen Rechenschaft geben von einem jeden unnützen Wort … Da wird ein jeglicher empfangen, nach dem er gehandelt hat bey Leibes Leben, es sey gut oder böß. Die stinckenden Sünden-Böck zur Lincken wird der Herr verfluchen, verdammen und zum ewigen Feur verweisen und verstossen.

Solange dieses Weltenende irgendwie fern war, mochte sich der Schrecken ob des Geschehens womöglich in Grenzen gehalten haben. Aber das sah schon ganz anders aus, wenn plötzlich die Priester davon sprachen, dass der Jüngste Tag tatsächlich in greifbare Nähe gerückt sei. Entsprechende Ängste wurden vor allem zu Beginn des 16. Jahrhunderts geschürt, als die Reformation und die einsetzende Glaubensspaltung große Teile der europäischen Gesellschaften in Unruhe versetzten. Es waren vor allem die protestantischen Prediger, die ihren Aufrufen zu Umkehr und Reformation mit der Aussicht auf das nahe Weltenende besonderen Nachdruck verleihen wollten. Der Papst sei doch erkennbar jener »Antichrist«, so hieß es etwa, dessen Auftreten nach biblischer Prophezeiung die Wiederkehr des Herrn und damit den Jüngsten Tag ankündigt. Allen voran Martin Luther sprach viel vom Ende der Welt. Er hatte angeblich »viel grewliche schreckliche Treume vom jüngsten Gericht«, und vermutlich ging der Reformator davon aus, dieses welthistorische Ereignis noch selbst zu erleben.[20]

Die Zeit der Reformation zeigt zugleich, wie schwer es war, so geschürte kollektive Ängste wieder einzufangen und die Menschen zu beruhigen. Der wiederkehrende Hinweis von katholischen Klerikern, Martin Luther habe das baldige Weltende sozusagen als geschickte Marketingstrategie nur »erdichtet«, um die Welt »zu erschrecken« und die Menschen »zu seiner neuen Lehre zu ziehen«,[21] dürfte wohl nur den Gläubigen im eigenen konfessionellen Lager überzeugt haben. Die Angst vor der großen Katastrophe war auf jeden Fall in der Welt, Untergangsprophezeiungen hatten Konjunktur, düstere Vorhersagen fanden in der Regel immer ein Publikum, und der kommende Schrecken wurde zuweilen geradezu lustvoll konkret ausgeschmückt. Im Jahr 1550 erklärte der Schweizer Reformator Pierre Viret (1511 – 1571) kurzerhand:[22]

Die Welt ist am Ende … Jetzt aber bestell dein Haus …, entsage der Verderbtheit … und, nachdem du einige dir so unangenehme Gedanken an irgendeinen Ort verbannt hast, eile dich, die Welt zu verlassen. Denn es werden andere, schrecklichere Katastrophen, als die du kommen sahst, geschehen.

Die Welt ist am Ende, was für eine furchtbare Vorstellung. Dabei gehörte der Tod selbst ja als Erwartung zum Leben der Christen selbstverständlich dazu, vor ihm fürchteten sich die Gläubigen im Grunde nur, wenn er sie plötzlich und unvorbereitet ereilte und sie nicht mehr rechtzeitig den Segen der Kirche empfangen konnten. Denn nur, wer mit den Sakramenten versehen diese Welt verlässt, wer zuvor noch seine Sünden gebeichtet hat und wer noch ausreichend gute Werke an den Mitmenschen getan hat, darf darauf hoffen, ins himmlische Paradies zu kommen. Aus Angst vor ewiger Verdammnis noch schnell alte Rechnungen begleichen – das wurde zu einem bekannten Verhaltensmuster. So ist überliefert, dass italienische Kaufleute nach einem besonders heftigen Erdbeben im 14. Jahrhundert noch rasch ihrem Schuldner die Zinsen zurückzahlten, um dem Herrn nicht als Wucherer gegenübertreten zu müssen.[23] In diesem Fall profitierten also die Schuldner von der Angst der Christen, in der Regel aber war es die Kirche: Ihr bescherten die von ihr selbst noch weiter geschürten Jenseitsängste der Christen über die Jahrhunderte hinweg eine ungeheure Menge an Spenden und Schenkungen. Nüchtern betrachtet machten die Kleriker mit der Angst vor dem Jüngsten Tag also durchaus ein respektables Geschäft.

Für manche Menschen wurde die Angst allerdings zu groß, sie hielten dieses wiederkehrende Gerede vom Weltuntergang und den möglichen Strafen beim göttlichen Weltgericht nicht mehr aus. Es gibt Berichte von Gläubigen, die aus Furcht vor dem Jüngsten Tag regelrecht krank wurden, einige trieb die Angst vor dem Strafgericht wohl auch in den Selbstmord. Sie mussten zwar wissen, dass sie dafür nach kirchlicher Lehre unweigerlich in der Hölle landen würden – aber sie wählten offensichtlich bewusst diesen Weg, um die schreckliche Zeit des Wartens auf den Tod zu verkürzen.[24] Ihre Angst war schlicht zu groß.

Auf Erden konnte im Prinzip jedes schlimme Ereignis als Vorzeichen der Apokalypse gewertet werden, manchmal reichte da schon ein schweres Gewitter. Aber auch andere Wetterphänomene hatten zumindest das Zeug dazu, Angst vor dem zürnenden und strafenden Gott zu schüren. Sich unvorbereitet in einem Gewitter wiederzufinden und dann Blitz und Donner schutzlos ausgesetzt zu sein, war eine weit verbreitete Furcht. Die verspürte auch der junge Martin Luther, der im Sommer 1505 nördlich von Erfurt auf freiem Feld von einem heftigen Sommergewitter überrascht wurde und dadurch in Todesangst gestürzt wurde. Der 21-Jährige tat ganz offensichtlich, was die meisten Menschen in dieser Not machten: Sie riefen Gott oder einen Heiligen an – in diesem konkreten Falle angeblich die heilige Anna – und boten sozusagen im Tauschhandel für die himmlische Errettung eine Gegenleistung an. Martin Luther soll in seiner Not seinen Eintritt ins Kloster versprochen haben.[25]

Ein Stoßgebet gen Himmel war auf freiem Feld rasch gesprochen, ein Kreuzzeichen schnell geschlagen; zuweilen griffen die Menschen allerdings zu umfangreicheren religiösen Bekundungen. So glaubten sie, dass mit Inbrunst und Ausdauer geläutete Kirchenglocken auch in dieser Not halfen. Aus Köln wird noch Jahrhunderte später berichtet, dass bei heftigem Gewitter alle Glocken der Stadt läuteten, »deren nicht weniger als 300 waren«, und »so entstand ein solch ohrenbetäubendes Geläut, dass man den Donner nicht vernahm«.[26] Jedes nicht zu verstehende Naturphänomen konnte Angst machen, das galt auch stets für das Erscheinen von Kometen oder die Beobachtung anderer Himmelslichter am Firmament. Als Ende 1680 für mehrere Tage in ganz Europa ein Komet mit einem mächtigen Schweif über dem ganzen Himmel zu sehen war, berichtet ein Beobachter:[27]

Ich zittere, wenn ich mich an die schreckliche Erscheinung erinnere, die am Samstag Abend im klaren Himmel von allen mit unaussprechlichem Erstaunen beobachtet wurde. Es schien, als würde der Himmel brennen, oder ob die Luft selbst Feuer gefangen hätte.

1680 versetzt dieser Komet ganz Europa in Angst und Schrecken, auch wie in dieser zeitgenössischen Abbildung die Menschen in Nürnberg. [>>]

Viele Menschen schauten in jenen Tagen ängstlich auf diese »schreckliche Erscheinung«, und die Kleriker nutzten die Gelegenheit erneut, ihnen noch zusätzlich Angst zu machen. In religiösen Schriften wurde der Komet als prophetisches Zeichen eines göttlichen Strafgerichts gewertet und die Menschen zu Beichte, Buße und Umkehr gemahnt:[28]

Ach es redet ohne Rede Gott durch diesen Straff-Propheten

Ruthe, Schwerdt, Gifft stehen fertig, dich o böser Mensch zu schlagen

mit Krieg, Armut, Krankheit, Sterben und mit allen Jammer-Plagen

wann du wirst verstockt beharren in den Lastern ohne Scheu;

wirst du aber dich bekehren … so kannst du Vergebung hoffen.

Womöglich hat so mancher in diesem Winter 1680/81 noch rasch seine Sünden bereut und auch noch ein reichliches Almosen gegeben, aber die Welt ging bekanntlich damals und auch in der Folgezeit nicht unter. Doch das heißt rückblickend nicht, dass die Furcht und die Sorgen der Menschen unbegründet gewesen wären. Heute, mit dem sicheren Abstand von Jahrhunderten, lässt sich immer leicht sagen, dass die ganze Aufregung völlig unnötig gewesen sei – wir sind als Nachgeborene sozusagen automatisch retrospektive Besserwisser. Aber zur historischen Wahrheit gehört, dass diese und andere Ängste die Menschen tatsächlich bewegt und ihr Leben mit geprägt haben. Sie haben deshalb gebetet, womöglich haben sie auch an ihrem Gott gezweifelt, sie haben magische Sprüche gemurmelt oder Zauberer konsultiert und bezahlt. Und vielleicht würden sie uns mit unserer Skepsis auch entgegenhalten, dass sie genau mit diesen Mitteln damals das Schlimmste abwenden konnten …

Es gab schon immer einen Zeitpunkt, der ganz besonders für Ängste prädestiniert war: die Nacht. Was tagsüber womöglich nur für Verwunderung oder einen kurzen Schrecken sorgte, konnte bei Dunkelheit plötzlich bedrohlich erscheinen. Die von Elias Canetti beschriebene Furcht vor der Berührung durch das Unbekannte konnte sich nachts regelrecht »ins Panische steigern«.[29] Heute vielleicht kaum mehr vorstellbar, war die Dunkelheit der Nacht einst tatsächlich eine wahrhaftige Finsternis: Teure Beleuchtungsmöglichkeiten wie Bienenwachskerzen konnten sich bis in die Neuzeit nur wenige leisten, der Feuerschein des Herds in den Häusern, Fackeln oder das offene Feuer draußen waren die einzigen begrenzten Mittel, um künstliches Licht zu erzeugen. Wo dieses Licht nicht mehr hinfiel, herrschte pechschwarze Nacht. Und die war auch deshalb ungeheuer, weil die meisten Menschen lange gar nicht wussten, weshalb es eigentlich dunkel und hoffentlich dann am nächsten Morgen wieder hell wurde: Die wissenschaftliche Erklärung, wonach sich die Erde als Kugel um sich selbst dreht und dabei auch noch die Sonne umkreist, ist als selbstverständliches Wissen erst mit der Neuzeit vorhanden. Die Kirche lieferte noch lange eine andere Antwort auf die Frage, warum nachts die Sonne »untergeht«: weil Gott die Nacht als Beweis für die Existenz der Hölle geschaffen hat.[30]

Über Jahrhunderte hinweg sorgte die Kirche so dafür, dass Sünde und Dunkelheit zusammengedacht wurden, und gerade der Teufel spielt demnach vor allem in diesen schwarzen Stunden sein böses Spiel – kein Wunder, schließlich ist die Hölle als Reich des Teufels angeblich ja auch in ständige Dunkelheit getaucht. Kann es da verwundern, dass einige Menschen aus lauter Angst vor der Dunkelheit nachts gar nicht mehr schlafen konnten? Die Äbtissin eines Klosters berichtet im 15. Jahrhundert über eine ihrer Nonnen:[31]

Wenn sie einschlief, erschienen ihr sofort die Dämonen in unterschiedlicher Gestalt und ließen sie nicht schlafen. Es war notwendig, daß ich immer an ihrer Seite blieb, wenn sie ein wenig Schlaf haben wollte, denn wenn sie alleine geblieben wäre, verursachten sie derartigen Schrecken und Schläge, daß sie sie halbtot zurückließen.

Die Stunden der Dunkelheit, das wussten viele aus solchen und anderen Erfahrungen, schufen neue Leiden: Nachts verschlimmerten sich oft Krankheiten, so die Beobachtung, das Fieber wurde dann stärker, und bettlägerige Patienten starben dann in den frühen Morgenstunden.[32] Nachts, so der Verdacht, komme der Tod. Oder die »Geister«, die im Schutz der Dunkelheit ihre Opfer suchen. Im Schutz der Dunkelheit, so die bis ins 20. Jahrhundert weit verbreitete Vorstellung, beginnen sie mit ihrem unheimlichen Treiben: die seelenlosen Geister und Zauberwesen, die Gespenster und Werwölfe, Hexen, Untote oder Vampire.

Nachts kommen die Ungeheuer, die Gespenster oder – wie hier im Film »Nosferatu« aus dem Jahr 1922 – die Vampire … [>>]

Diese Wesen konnte man hören. Vor allem die Menschen, die nachts nicht schlafen konnten, vernahmen in ihren Häusern und Hütten zuweilen die Geräusche von dem einen oder anderen unheimlichen nächtlichen Treiben draußen vor der Tür; manchmal das Geschrei von Hexen, das schäbige Lachen bösartiger Geister oder sogar die Schritte des Todes, der um das Haus schleicht. Ein Geschichtsschreiber notierte etwa, wie die Kölner im Jahr 870 das nächtliche Heulen und Klagen von Dämonen erschauern ließ, die sich angeblich ausgerechnet auf dem Dom niedergelassen hatten.[33] Waren daheim Fenster und Türen fest verschlossen, kamen diese Dämonen oder Geister vielleicht nicht in die Stube, aber in den nächtlichen Albträumen fanden sie trotzdem stets ihren Weg zu den Menschen. Und darin tauchte oft genug der Teufel auf, etwa im Falle eines Mönches im 11. Jahrhundert:[34]

Eines Nachts vor dem Morgengottesdienst stand vor mir am Fußende des Bettes eine kleine menschenartige Gestalt von äußerster Häßlichkeit. Sie war nämlich, soweit ich sehen konnte, mittelgroß, mit schmalem Hals, eingefallenem Gesicht, tiefschwarzen Augen … mit abstehenden und wirren Haaren, Hundezähnen, spitzem Hinterkopf, geschwollener Brust, buckligem Rücken, zuckendem Steiß, verschmutzter Kleidung, glühend aufdringlich und mit dem ganzen Körper wie auf dem Sprung.

Anders als in diesem Fall bildete den Höhepunkt des schaurigen Treibens der Überlieferung nach die »Geisterstunde«, die in der Regel um Mitternacht beginnt. In manchen Gegenden hielt sich lange die Vorstellung, zu diesem Zeitpunkt würden die Toten regelrechte »Geistermessen« veranstalten oder auf den Friedhöfen tanzen,[35] und zuweilen wurde erzählt, dass die Hexen dann ihre wahre Gestalt zeigten und sich auf Bergen, Brücken oder bestimmten Bäumen versammelten, um dort ausgelassen zu tanzen.[36] Wer allerdings seine Angst vor Dämonen und Hexen überwinde, könne ausgerechnet die Geisterstunde als geeigneten Moment für eigenes magisches Handeln nutzen. Denn Kräuter und Wurzeln, die just in diesen Minuten ausgegraben werden, galten lange Zeit als besonders zauberkräftig.[37]

Zugleich galt die Nacht auch als jene Zeit, in der spiritistische Kontakte und jede Form von Hellsehen leichter möglich sind.[38] Die Dunkelheit schützte auch all jene, die sich magische Hilfe holen, dabei aber nicht gesehen werden wollten. Etwa beim heimlichen Besuch bei einem Henker, der oft als zauberkundig galt, mit dem sich aber rechtschaffene Bürger möglichst nicht bei Tageslicht blicken lassen wollten. In einer Novelle des Schriftstellers Wilhelm Raabe (1831 – 1910) suchen die Menschen einen Scharfrichter auf, den bei Tage »niemand kennen und grüßen wollte«. Das ändert sich abends:[39]

In der Dämmerung oder in dunkler Nacht erhielt er die gewöhnlichen Besuche von Leuten, die bei Krankheiten von Mensch und Vieh, Liebes- und anderen Sachen die Geheimmittel nöthig hatten, welche seit undenklichen Zeiten der Volksglaube in die Hand des Herrn vom Schwert gelegt.

In ihren Ängsten fanden die Menschen also wahlweise Hilfe im Gebet und den Ritualen der Kirche oder aber in den Angeboten des »Volksaberglaubens«. Aber bei keinem Anbieter war diese Hilfe umsonst zu haben: Die Kirche verlangte Abgaben und Spenden, und jeder »Zauberer« oder »Wunderheiler«, der ein magisches Zeichen zur Abwehr eines bösen Zaubers zeichnen konnte oder eine entsprechende Segensformel wusste, durfte ebenfalls mit einer Entlohnung rechnen. Wenn es um komplexere Methoden oder den Erwerb von womöglich exotischen Amuletten oder Gegengiften ging, floss schnell viel Geld. Kein Wunder also, dass das Geschäft mit den magischen Methoden schon immer auch Scharlatane anlockte, und die Geschichte des Aberglaubens ist damit zugleich eine kleine Wirtschaftsgeschichte von Profiteuren und Betrügern. Die Magie, so formulierte es dementsprechend einmal der Volkskundler Christoph Daxelmüller (1948 – 2013) treffend, wurde zu einer »nicht ganz ungefährlichen Lebens- und Betrugsstrategie einer sozialen Randgruppe«.[40] Wer damit seinen Lebensunterhalt verdienen wollte, durfte sich bei seinem Betrug besser nicht erwischen lassen …

Der Leipziger Gelehrte Jakob Thomasius (1622 – 1684) beschrieb einmal beispielhaft das Treiben von herumstreifenden Studenten, die sich einen Spaß mit dem Aberglauben des einfachen Volkes erlaubten und so ihre Börsen füllten. Sie dachten sich offensichtlich eigene magische Rituale aus, erfanden »geheimnisvolle« Rezepturen und boten allerlei Objekte zum Schutz vor Unheil an. Wohl gegen einige Münzen machten sie mit ihren Zaubersprüchen sogar Menschen unverwundbar, sie schützten Feldfrüchte vor Hagel oder das Vieh vor Krankheiten – und zogen dann frohgemut und ein Stückchen reicher weiter. Einem Bauern sollen sie zahlreiche Silbermünzen mit dem Versprechen abgenommen haben, dass sie ihn zu einem verborgenen Schatz führen wollten. Sie veranstalteten einen offensichtlich recht beeindruckenden Bühnenzauber, zogen mit einem Degen einen Kreis um das Haus des Gutgläubigen, hantierten mit angeblich geweihten Gegenständen, mit glühender Kohle und Kräutern, und wiesen ihm schließlich die Stelle eines verborgenen Schatzes. Dann verschwanden sie mit ihren Silbermünzen, während der Bauer wohl noch gleichermaßen lange wie erfolglos den heimischen Boden durchwühlte.[41]