Himmel (jetzt reicht's aber) - Andrea Ross - E-Book

Himmel (jetzt reicht's aber) E-Book

Andrea Ross

0,0
3,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wieder hat Stephen McLaman das Zeitliche gesegnet, man hat ihn hinterrücks erschossen. Leider weiß die himmlische Chefetage die Bemühungen ihres Engel-Azubis auch im Leben Nummer zwei nicht zu würdigen. Man schickt ihn postwendend zurück auf die Erde, damit er endlich seinen Auftrag erfüllt. Er soll lernen, was im Leben eines Menschen wirklich wichtig ist, ansonsten wird er am Ende doch noch in Luzifers feurigen Gefilden landen. Stephen ist gezwungen, sein Leben zum dritten Mal zu meistern. Doch wie soll er mit dem Wissen über den drohenden Meteoriteneinschlag umgehen? Das Ende ist nah und es ist mehr als fraglich, ob er diesmal Gnade findet. Selberverständlich warten, wie gewohnt, nicht vorhersehbare Schwierigkeiten auf ihn, Lena und die Welt. Im dritten Teil der Endzeit-Story führt Stephens Lebensweg ihn nach Prag und in den Alkoholismus.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 572

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Himmel (jetzt reicht‘s aber)!
Impressum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Epilog
Danksagungen
Die Autorin

Andrea Ross

Himmel (jetzt reicht‘s aber)!

Oder: Am Ende der Zeit

Teil 3 der Endzeit-Saga

XOXO Verlag

Impressum

»Es gibt nur eine Zeit, in der es wesentlich ist aufzuwachen. Diese Zeit ist jetzt.«

Buddha

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-032-3

E-Book-ISBN: 978-3-96752-532-8

Copyright (2019) XOXO Verlag Umschlaggestaltung:

© Ulrich Guse, Art fine grafic design, Orihuela (Costa)

© Collage von Ulrich Guse, unter Verwendung eines Lizenzbildes von: dreamstime.de

Buchsatz: Alfons Th. Seeboth

Rechtlicher Hinweis:

Sämtliche Personen, Orte und Begebenheiten rund um diesen Roman sind, abgesehen freilich von real existierenden Ortschaften, frei erfunden. Dasselbe gilt bezüglich der beschriebenen Vorgänge bei Behörden sowie anderen Institutionen oder Firmen. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Menschen sowie deren Vereinigungen sind von der Autorin nicht beabsichtigt und wären daher rein zufällig. Selbstverständlich gilt letzteres nicht für ›öffentliche Personen‹ aus der Politik.

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Kapitel 1

Nicht schon wieder!

»Hallo? He, hörst du mich?« Gregorius mühte sich redlich, seinen Neuzugang davon zu überzeugen, endlich die Augen zu öffnen. Der Mann im teuren Designeranzug wäre nicht der Erste gewesen, der mit seiner neuen Situation gehadert hätte, sich notorisch gegen die bittere Erkenntnis wehrte, mausetot zu sein. Aber die Dinge hatten nun einmal so und nicht anders zu laufen – er war der Schutzengel dieses tragischen Helden namens Stephen McLaman gewesen, daher oblag es ihm auch, ihn hier mitfühlend in Empfang zu nehmen. Gregorius kannte solche Situationen, er hatte sie x-mal durchgespielt. Zuerst sahen sich die Opfer von Unfällen, Attentaten oder Naturkatastrophen, welche viel zu plötzlich aus dem Leben gerissen worden waren, ungläubig mit großen Augen um. Sie versuchten herauszubekommen, wo sie sich eigentlich aufhielten. Danach folgte stets der jähe Schrecken, wenn sie den ersten Engel erblickten und ihnen langsam dämmerte, dass sie dieses Mal nicht in ihrem Bett erwacht waren. Das war dann der Augenblick, die Neuzugänge behutsam mit der Tatsache ihres Ablebens vertraut zu machen. Tot, hinüber, Gewesene.

Diese Aufgabe erforderte einiges an Fingerspitzengefühl. Man konnte nicht einfach überall dieselbe Begrüßungszeremonie abhalten, oh konträr! Es spielte durchaus eine Rolle, um WEN es sich jeweils handelte. War der Verblichene jung oder alt, welcher Kultur oder Religion gehörte er an, handelte es sich um einen gebildeten Menschen oder um einen Asozialen? Kopfschüttelnd dachte Gregorius, der einst als Lehrer Gregor in Russland gelebt hatte und jämmerlich am Alkoholismus zugrunde gegangen war, an seine ersten Versuche. Die derzeit lebendigen Menschen auf der Erde machten sich echt keine Vorstellung davon, wie anspruchsvoll solch ein Job als Engel sein konnte.

So wie neulich, als der 17-jährige Bursche hier heraufkam, der beim verbotswidrigen Abseilen aus dem Fenster eines Heimes für schwer erziehbare Kinder abgestürzt war. Der wollte erst verstehen, wo er sich neuerdings befand, als Gregorius sich überwinden konnte, die folgenden Worte von sich zu geben:

»Ey, Schwachmat, reich mir mal deine Lauschlappen rüber! Voll runtergeklatscht, du Vollpfosten, he? Na, jetzt biste jedenfalls übern Jordan; platt, abgeritten, kapiert? Der Reaper hat dich geholt!« Gregorius schüttelte es bei der bloßen Erinnerung an seine verbalen Entgleisungen, doch die gehörten gelegentlich leider zu seinem Handwerk, welches dennoch recht edel war.

Sobald Gregorius spürte, dass dem jeweiligen Neuankömmling langsam ein Licht über die neuen Umstände aufging, in denen er sich befand, vermochte er ihm zu helfen, sich damit abzufinden. Wäre Zeit hier oben existent gewesen, so hätte er festgestellt, dass dieser Prozess bei vielen Menschen sehr lange dauert. Zum Glück jedoch gab es hier oben in der Zentrale der Macht weder Zeit noch klar umrissenen Raum, wodurch auch während der längsten Erkenntnisprozesse nicht einmal ein Wimpernschlag in der Ewigkeit verging.

Manche wollten unbedingt wieder hinunter, sich selbst an der Unfallstelle oder im Operationssaal liegen sehen. Andere suchten verzweifelt nach Möglichkeiten, sich wenigstens von Familienmitgliedern zu verabschieden. Ein dritter Teil glaubte, jemandem auf der Erde unbedingt noch eine wichtige Botschaft überbringen zu müssen. So war das eben, wenn einer nicht planmäßig nach einem erfüllten Leben friedlich dahinschied, sondern abrupt lose Enden hinterließ. Auch bei sehr gläubigen Menschen, die zu Lebzeiten alles daran gesetzt hatten, in den Himmel zu kommen. Mit oft absurden Mitteln.

Manchmal dachte Gregorius zurück an die Zeit, als er selber noch ein Mensch gewesen war und im finstersten Sibirien gehaust hatte. Ein hartes Leben war das gewesen und doch wollte auch er nicht gerne dort fortgehen, konnte sich mit der Gewissheit seines Todes nicht gleich abfinden. Es war aber auch zu albern, was man sich als Mensch so unter dem »Himmel« vorstellte. Die einen ersehnten sich eine grüne Wiese, auf der sie bis ans Ende aller Zeiten selig dahinwandeln konnten; wie öde und langweilig!

Andere wiederum freuten sich auf das Wiedersehen mit ihren geliebten Angehörigen, die lange vor ihnen das Zeitliche gesegnet hatten. In manchen Religionen oder besser gesagt deren Auslegung gierte man sogar nach Jungfrauen, die für einen hier oben nur nach bestimmten fragwürdigen Todesarten bereitgehalten würden. Irdisch und menschlich, diese derart einfach strukturierten Gedanken, sinnierte Gregorius in solchen Momenten. Aber welches Individuum hätte mit einem begrenzten Geist schon ermessen können, dass all diese Vorstellungen zu kurz griffen? Viel zu kurz.

Gregorius wandte sich wieder seinem neuesten Erschießungsopfer zu, dessen Sakko ein ausgestanztes Loch mit einem stattlichen Blutfleck drum herum zeigte. »Ach komm, Stephen! Ich weiß doch, dass du glasklar bei Sinnen bist. Du machst es dir nur selbst schwer, eine absichtliche Verzögerung nutzt überhaupt nichts. Komm, schau mich bitte an!«

Der Engel korrigierte seine menschliche Erscheinungsform; falls er allzu durchscheinend aussah, verschreckte diese leuchtende Transzendenz manche Menschen, machte ihnen Angst. So! Nun spiegelte er optisch wieder detailgenau das Bild des Gregor Jukaschkin wider, genau wie dessen Konturen zu Lebzeiten ausgesehen hatten. Mitsamt dem wogenden Bierbauch.

»Wo … wo ist mein Vater?«

Aha, Steve realisierte zumindest bereits, dass er tot war. Das erleichterte die Sache. »Du erfährst von mir alles, was du wissen möchtest! Manches kann ich mir sparen, du bist schließlich nicht zum ersten Mal hier. Anschließend bringe ich dich zu deinem … Termin!«, sagte der Engel sanft; wohl wissend, dass die arme Seele noch lange nicht ausgelitten hätte.

* * *

Viele Fragen und Antworten später saß Stephen auf demselben unbequemen Stuhl wie … damals. Harrte vor dem riesigen Portal auf den Beginn des Tribunals mit den 12 Stimmen, die von sich selbst behaupteten, dennoch eine Einheit zu sein. Wie bei seinem letzten unfreiwilligen Besuch befand er sich in keiner heiteren Gemütsverfassung, obwohl dies hier offensichtlich der Himmel sein sollte, das vielgepriesene Paradies. Wenigstens war er sich nach Gregorius‘ Erläuterungen darüber im Klaren, dass die vagen Erinnerungen an einen Aufenthalt im Himmel, die ihn hartnäckig während seines Lebens verfolgt hatten, keine Hirngespinste gewesen waren.

Und wieder hatte er keine Ahnung, was er eigentlich falsch gemacht hatte. War die Welt, die er kannte, zwischenzeitlich nun untergegangen oder nicht? Gregorius hatte sich total bedeckt gehalten, was diese brisante Auskunft anging. Hingegen hatte er ihn bereitwillig darüber aufgeklärt, dass sein Vater Thomas McLaman keinen Zutritt in die himmlischen Gefilde erhalten durfte. Stephen nahm sich vor, im Angesicht des Tribunals nicht so schnell klein beizugeben. Die feinstofflichen Herrschaften da drin würden ihm schon Rechenschaft darüber ablegen müssen, was sie sich bei dieser Aktion gedacht hatten. Sein Vater und er hatten schließlich alles drangesetzt, was menschenmöglich war, um die Welt vor dem Untergang zu retten. War das der Dank? Er selbst durfte sich in Kürze dafür verantworten, dass er sein ganzes Leben ohne Rücksicht auf Verluste für diese undankbare Aufgabe verwendet hatte und erhielt hernach nicht einmal eine Auskunft, ob er am Ende erfolgreich gewesen war oder nicht. Seinen Vater hatte man sogar nach »unten« in Luzifers Abteilung verbannt, weil er angeblich ein egoistischer, rücksichtsloser Mensch gewesen sei.

Klar, Vater hatte so seine Fehler gehabt – aber schließlich und endlich war er der maßgebliche Urheber des Projektes IKARUSWING 2029 gewesen, welches dazu dienen sollte, den unheilbringenden Meteoriten Apophis von seinem Kollisionskurs zur Erde abzubringen. Darüber hinaus zeichnete er zumindest finanziell verantwortlich für das weltvereinende Videospiel »Die Ikarus-Matrix«, mit dessen Hilfe die Weltbevölkerung über alle Grenzen und Ideologien hinweg jahrelang die möglichen Endzeitszenarien durchprobieren konnte, um spielerisch eine Lösung zur Abwendung der apokalyptischen Katastrophe zu eruieren.

Hatte Vater solch einen fiesen Lohn für seine Bemühungen verdient? Schlussendlich waren Vater und Sohn dann auch noch von einem vermutlich gestörten Datenschutzfanatiker erschossen worden, quasi während sie im Dienste des Himmels die Welt retten wollten! Wie schätzte man diesen Vorfall hier oben eigentlich ein? Als bedauerlichen Dienstunfall, als Bauernopfer oder womöglich gar als jämmerliches Versagen? Bald würde Stephen das erfahren und sein Groll wuchs angesichts dieser Aussichten noch um ein paar weitere Grade auf seiner persönlichen Frustskala.

»Dieser Stuhl erscheint dir nur deshalb hart und unbequem, weil du gerade negative, unbequeme Gedanken hegst! Warum entspannst du dich nicht und materialisierst dir lieber eine kuschelige Couch?«

Erstaunt sah Stephen hoch. Vor ihm stand Julian, sein vor langer Zeit verstorbener »kleiner« Bruder, welcher ihn schon beim vorigen Besuch in die wolkige Machtzentrale der allwissenden 12-teiligen Einheit begleitet hatte.

»Hey Brüderchen! Du bist der erste Lichtblick seit meinem Ableben und ich freue mich echt, dich zu sehen! Zu fragen wie es dir geht, erübrigt sich hier oben wohl, oder?«

Stephen fand seinen Verlegenheits-Gag schon während des Aussprechens selber nicht mehr witzig; außerdem nahm Julians fein geschnittenes Gesicht bereits wieder die gewohnt ernsten Züge an, die keinen Zweifel daran ließen, dass es für Stephen nun wohl tatsächlich genau DAS zu werden drohte: ernst. Schon öffnete sich lautlos das Portal und Julian bat ihn mit einer entsprechenden Handbewegung, gleich einzutreten.

Den atemberaubenden Anblick des himmlischen KonferenzZentrums kannte Stephen bereits. Im Grunde existierte hier nichts außer ganz feinen Konturen, drapiert zwischen Wolkenstrukturen und Licht. Das 12-teilige Tribunal hatte Stephen zu Ehren dieselben Formen angenommen wie bei seinem vorigen Besuch, damit man ohne Erklärungen und Umschweife zur Sache kommen konnte.

Wieder stand Stephen in geradezu trotziger Körperhaltung da, die ihm eigentlich hier überhaupt nicht zustand. Jetzt lächelte er gar versonnen und das Tribunal fing seine Gedanken im selben Moment auf, in dem sie ihm durch den Kopf geisterten. Dieser unbedarfte Delinquent fragte sich soeben scherzhaft in Gedanken, wo denn bitteschön die himmlische Espresso-Maschine stehe, für die der liebe Gott zum Leidwesen von George Clooney doch immer neue Kapseln benötigte; zumindest, wenn man einer Werbung aus den 2010-er Jahren Glauben schenkte. Die fand er damals nämlich witzig.

»Stephen McLaman, bist Du nun fertig? Kannst Du jetzt bitte mit dem nötigen Ernst an unsere Zwiesprache herangehen?«, dröhnte die Stimme der Macht durch die heiligen Hallen. Er erinnerte sich; die 12 schemenhaften Gestalten sprachen mit einer einzigen Stimme.

»Ja gut, ich hätte da auch gleich eine Frage. Wieso ist mein Vater nicht hier bei mir? Er hätte eine Chance verdient, so wie er sich bemüht hat, die Welt zu retten! Das muss doch in eurem Sinne gewesen sein!« Stephen bemühte sich, an diese Feststellung nicht allzu viele negative Gedanken anzuhängen, denn diese blieben hier leider niemandem verborgen.

»Stephen, wir sind dir keinerlei Rechenschaft schuldig, eher du uns. Daher sollst du nur wissen, dass du über die wahre Motivation deines Vaters nicht im Bilde bist – er hat sich hauptsächlich deshalb so aktiv für die Abwendung der Apokalypse eingesetzt, um seinen persönlichen Ruhm zu steigern, Unsummen an Geld zu verdienen und deine Mutter bei sich zu halten. Nicht aus reiner Liebe, sondern weil deren Weggang einen Imageverlust für ihn bedeutet hätte. Sie hat er genauso ausgenutzt und verblendet wie dich. Seine Struktur passt nicht hierher, doch dort unten ist er unter seinesgleichen.«

Stephen schluckte; Vater konnte doch nicht nur … oder etwa doch?

»Aber nun zu deiner eigenen Seele, Stephen McLaman. Wir hatten dir die seltene Gnade zukommen lassen, eine neue Chance auf der Erde zu nutzen. Doch was hast DU getan? Bist eigenen, eitlen Interessen nachgelaufen, hast dich völlig verblenden lassen und rührtest gar noch an Dinge, die für Menschen seit jeher tabu sind. Sieh dich doch an! Sogar verkleidet hast du dich, um den Menschen deiner Umgebung eine eingebildete Erhabenheit vor Augen zu führen!« Steve sah an sich hinunter. Er steckte noch immer in seinem teuren Designer-Maßanzug, den er getragen hatte, als man am Hamburger Flughafen auf ihn schoss. Na und? Er war Geschäftsmann gewesen, zumindest zum Schluss …

»So kleidet man sich eben auf der Erde, wenn man etwas erreichen will! Kleider machen Leute. Ich habe schließlich bis zum bitteren Ende versucht, die Welt zu retten. In eurem Auftrag. Und das, obwohl man mir alle nur verfügbaren Steine in den Weg legte. Zuerst das ganze Theater, bis ich endlich zu Lena finden durfte, die schwierige Erziehung des Messias, dann die jahrelangen Bemühungen mit dem Videospiel, welches nebenbei die Welt vereinte. DAS soll falsch gewesen sein? Ihr findet auch immer ein Haar in der Suppe! Kann man euch überhaupt etwas recht machen?« Natürlich war Steve klar, dass er sich soeben nicht sehr beliebt gemacht hatte. Aber da musste eine Klärung her! Sonst würde er bestimmt bis ans Ende der Ewigkeit an offenen Fragen herumkauen müssen.

»Auftrag, Stephen McLaman? Du sprichst von einem ausdrücklichen Auftrag, die Erde vor der Apokalypse zu retten? Nun, dein Verhalten ist nicht diskutabel, wir stellen hier nur fest. Anstatt viele Worte zu verlieren, zeigen wir dir deinen letzten Besuch hier oben lieber noch einmal in Bildern. Ebenso eine Zusammenfassung deines – wie du das nennst – zweiten Lebens, das du von uns vertrauensvoll geschenkt erhalten hattest. Danach benenne uns bitte die Stelle, an der wir dir angeblich den Auftrag gaben, die Apokalypse abzuwenden!«

Die Zentrale der Macht verwandelte sich augenblicklich in eine Art IMAX-Kino, nur ohne technische Hilfsmittel. Stephen beobachtete sein früheres Selbst beim Auftritt vor diesem Tribunal. Sah, wie man ihn über die Bedeutung der Zahl 12 in Kenntnis gesetzt, ihm Lenas Kindheit und Jugend präsentiert und schließlich erklärt hatte, dass er sie unbedingt beschützen sollte. Vor allem hatte er Sorge dafür zu tragen, dass Lena nicht noch vor der Geburt ihrer Tochter, des neuen Messias, Selbstmord begehen würde. Was er zwar unter dem Strich gemeistert hatte, jedoch nach Meinung des Tribunals in höchst unzulänglicher Manier.

Es folgte die Zusammenfassung seiner zweiten Existenz auf Erden. Stephen tat sich selber Leid, all seine vergeblichen Bemühungen noch einmal mitansehen zu müssen, die Welt zu retten oder wenigstens den Ablauf seines parallelen Lebens auf die vertraute Schiene des ersten zu lenken, um nur noch die finale Sequenz seines unrühmlichen Abganges verändern zu müssen. Aber kleinste Abweichungen hatten seinen Lebensweg dieses Mal in eine komplett andere Richtung geführt, ihn wider Willen andere Abzweigungen auf dem Lebensbaum nehmen lassen. Sein verzweifeltes Gegensteuern hatte nichts gebracht.

Genau! Yggdrasil, die Weltenesche. Die Spanierin Mercedes hatte ihm einst mühevoll diese Zusammenhänge begreiflich gemacht, in der virtuellen Zusammenfassung seines Lebens hatte er diese interessante Frau soeben wiedersehen können.

Bald schon war die Vorführung an dem Punkt angelangt, als Steve sich mit Leib und Seele in seines Vaters Software-Firma LAMANTEC AG einbrachte und blind vor lauter Feuereifer an dem Videospiel »Die Ikarus-Matrix« arbeitete, zusammen mit dem ebenso besessenen Daniel »The Freak« Biterman. Wonach das Spiel schnell zum Welterfolg wurde und es der Menschheit ermöglichte, Lösungen zur Abwendung der drohenden Apokalypse zu erarbeiten. Zumindest theoretisch.

»Na ja«, musste Stephen an dieser Stelle gedanklich einräumen.

»Das Theater mit Geschäftsmann und Anzug hätte echt nicht sein müssen. Da war ich wohl wirklich nicht ich selbst, habe ein wenig meine Persönlichkeit verraten. Aber das wird doch hoffentlich nicht der Grund dafür sein, dass ich jetzt dort nach unten in die Hölle …«

Weiter konnte Stephen diesen Gedanken nicht spinnen, denn soeben wurde er in dieser abstrusen Kinovorstellung erschossen und die Aufzeichnung riss ab. Wieder erhielt er keinen Hinweis darauf, ob die Welt nun kurze Zeit später wie in seiner letzten SpielSimulation untergegangen war oder weiter existieren durfte. Er beschloss, das Tribunal bei passender Gelegenheit danach zu fragen.

»Also, Stephen? Hast du irgendwo eine Stelle gefunden, an der wir dich mit der Abwendung der Apokalypse beauftragten?« Die donnernde Stimme klang streng, fordernd. Stephen konnte sich lebhaft vorstellen, weshalb nordische Menschen früher an Thor, den Donnergott geglaubt hatten.

»Nein, nicht so direkt. Eher indirekt. Ich sollte doch die Mutter des Messias retten und diesen dann aufziehen und beschützen, nicht wahr? Nachdem der Messias wiederum für die Sache mit dem Weltuntergang zuständig war, verstand es sich doch selbst, dass ich mich da berufen fühlte, Jessica zum Umdenken zu bewegen!« Stephen war sich der Richtigkeit seiner Denkweise noch immer gewiss. Die Welt hatte ihn gelehrt, stets gegen alles was negativ, böse oder zerstörerisch anmutete, erbittert anzukämpfen. Woran wohlgemerkt die Religion nicht ganz unschuldig war.

»Richtig erkannt, Stephen McLaman. Du hattest den Auftrag also tatsächlich verstanden. Dein großer Fehler war, aus einer klaren Anweisung Dinge abzuleiten und zu interpretieren, die weit außerhalb deiner Befugnisse lagen. Selbst als du merktest, dass Jessica unbeirrt ihrer Bestimmung folgte – sie hat dich sogar mehrfach gewarnt – konntest du dieses irrige Verhalten nicht aufgeben und hast nebenbei noch Menschen aller Nationen in dieses sinnlose Streben mit hinein gezogen. Eigentlich müssten wir dich jetzt hinunter zu deinem Vater schicken, denn man kann dir durchaus Vorsatz unterstellen; du hast bewusst zuwidergehandelt und »Gott« spielen wollen. Nur aus einem einzigen Grund sind wir bereit, dir eine weitere Chance zuteilwerden zu lassen: der Messias hat persönlich um die Verschonung deiner Seele gebeten. Hat angeregt, dich noch einmal hinunter auf die Erde zu entsenden, denn du seist kein schlechter Mensch; dem konnten wir zustimmen. Aber sei gewarnt, Stephen McLaman: dies ist unwiderruflich der letzte Versuch, der dir gewährt wird. Um mit den einstigen Worten des Messias zu sprechen: du hast eine Entscheidung zu treffen, wäge sie im Interesse deiner Seele weise ab! Dieses Mal geben wir dir ausdrücklich keinen Auftrag mit auf den Weg; somit gibt es auch nicht den geringsten Grund für dich, wieder in blinden Aktionismus zu verfallen. Viel Glück!« Noch ehe Stephen das Gehörte verarbeiten oder akzeptieren konnte, verschwammen die Konturen der 12-teiligen Einheit zu einer einzigen, die jetzt die Umrisse von Jessicas schönem Gesicht zeigte. Dieses nickte ihm aufmunternd zu, verschwamm bis zur Unkenntlichkeit und löste sich dann in Nichts auf.

Als Stephen langsam das Bewusstsein verlor, wurde ihm schmerz-

haft klar, dass er erneut keine abschließende Auskunft erhalten würde, ob die Welt nun untergegangen war oder nicht. Oder darüber, weshalb man ihn und seinen Vater erschossen hatte. Hilflos dämmerte er hinüber in sein neues Leben.

* * *

Kapitel 2

Kleine Ursache – große Wirkung

»Stephen, ist dir nicht gut? Soll ich dir ein Glas Wasser bringen? Oder Kreislauftropfen vielleicht?«

Als Steve zu sich kam, tätschelte jemand vorsichtig seine Wange. Vorsichtig öffnete er die Augen, ihm war tatsächlich schwindelig, die Welt drehte sich im Kreise. Er lag rücklings auf einer Couch, die ihm äußerst bekannt vorkam. Seine Mutter Kirstie stand mit besorgtem Blick über ihn gebeugt und Steve fiel auf Anhieb auf, dass sie sehr blass wirkte und ganz in Schwarz gekleidet war, was untypisch und unvorteilhaft an Mama aussah.

Da die rothaarige Kirstie stets vergeblich versucht hatte, ihren sehr hellen Haut-Ton in der Sonne etwas dunkler zu bekommen und hieran jeden Sommer in schönster Regelmäßigkeit kläglich gescheitert war, machte sie die dunkelste aller Farben einfach noch blasser, als sie eigentlich sowieso schon war. Das einzig Dunkle in ihrem Gesicht bildeten nach ihren erfolglosen Versuchen alljährlich die Sommersprossen, deren Population sich schon beim ersten Sonnenbad zu vervielfachen pflegte; oft hatte Stephen sich als Kind hierüber köstlich amüsiert.

»Es geht schon wieder, glaube ich. Lass mich bitte einfach noch einen Moment hier liegen und ausruhen, dann komme ich sofort zu dir«, sagte Stephen mit dünner Stimme. Seine Mutter entfernte sich mit einem traurigen Nicken und ging langsam in leicht gebeugter Haltung auf die große Glastür zu, welche aus dem riesigen Wohnzimmer hinausführte. Sie schien es normal zu finden, dass ihr Sohn gerade unpässlich war. Warum eigentlich? Stephen registrierte zu seinem Erstaunen, dass er sich in der geräumigen Villa seiner Eltern in Hamburg-Blankenese befand. Er musste sich erst in der Situation zurecht finden und nachdenken, konnte gerade jetzt absolut niemanden um sich herum gebrauchen. Deshalb erhob er sich vorsichtig und suchte das Badezimmer im ersten Stock auf, auch um sich etwas kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Achtete sorgfältig darauf, im Flur und auf der breiten Treppe niemandem zu begegnen, denn er hörte die gedämpften Geräusche vieler Stimmen durch die geschlossene Terrassentür. Was war die Ursache? Eine Party, ein Geschäftsessen seines Vaters? Er erreichte das Badezimmer, sperrte erleichtert die Tür hinter sich ab. Himmel noch mal, bei welcher Gelegenheit hatte ihn eigentlich die peinliche Kreislaufschwäche ereilt? War der vorherige Aufenthalt im Himmel nun geträumt oder nicht? So viele offene Fragen … Stephen sah an sich herunter. Trug er nicht gerade seine Lieblings-Levi’s-Jeans, die er wegen Materialermüdung einst so ungern ausrangiert hatte, nachdem sich die Löcher endgültig nicht mehr hatten stopfen lassen? Die schaute heute noch ganz neu aus …

Ach, Du lieber Himmel! Klar, Kirstie hatte vor einigen Minuten viel zu jung gewirkt und er selbst … herrjeh, er konnte höchstens 25 Jahre alt sein! Also musste er seinen schlimmsten Verdacht bestätigt sehen – man verpasste ihm ungefragt ein weiteres Leben. Das Dritte in Folge.

Kraftlos ließ sich Stephen McLaman auf den Rand der riesigen, runden Badewanne fallen. Nicht schon wieder, nicht noch einmal! Konnte er nicht einfach wieder tot umfallen, gleich jetzt und hier? Oder sollte er vielleicht sogar nachhelfen? Er sah sich im Geiste schon die Pulsadern mit einer Rasierklinge aufschneiden. Aber in diesem Fall, so fiel ihm ein, würde man ihn wohl gleich ins Untergeschoss zum Teufel schicken, denn Selbstmord war nach Lage der Dinge strengstens verboten.

Er zwang sich, weiter nachzudenken. »Also, mal angenommen, ich liege richtig. Dann hat man mich 2029 zusammen mit meinem Vater erschossen und ich bin in den Himmel gekommen, zumindest vorübergehend, während mein Vater in die Hölle abgeschoben wurde. Oder ins Fegefeuer, was weiß ich«, murmelte Stephen frustriert vor sich hin.

»Man hat mich mal wieder zusammengefaltet und mir erklärt, dass meine Sichtweise über die Welt und meiner Rolle darin komplett daneben war und ich mir angemaßt hätte, Gott zu spielen. Na, fein! Mit dem Ergebnis, dass ich schon wieder eine Ehrenrunde drehen »darf«. Hmmm …«

Stephen erhob sich und sah in den Spiegel. Tatsächlich! Dieser zeigte zur Bestätigung einen jungen, blonden Mann mit Wuschelkopf, dessen Gesicht noch glatt wie ein Kinderpopo war. In Jeans und einem blauen T-Shirt, dessen Säume bereits ausgefranst waren. Auch ein Lieblingsstück, erinnerte sich Steve.

»Scheiße, ich hasse es manchmal, wenn ich recht habe!«, fluchte Stephen. »Bloß … zu welcher Zeit genau haben die mich wieder auf der Erde abgeladen? Das muss ich unbedingt als Erstes herausfinden. Und warum ich mich beim Wiedereintritt ins Leben dieses Mal in Hamburg und nicht in Spanien befinde, das wäre auch wichtig. Mann, ist das krank!«

Stephen wurde klar, dass er diese Punkte nicht ausgerechnet im Badezimmer würde klären können; er beschloss, sich in Vaters Arbeitszimmer zu schleichen. Dort musste es einen Computer geben, der ihm zumindest Auskunft über das Datum und das aktuelle Weltgeschehen liefern konnte. Wie ein Verbrecher drückte er sich leise an den Wänden entlang, doch hier oben hielt sich außer ihm sowieso niemand auf; die Stimmen klangen weiterhin aus einiger Entfernung zu ihm herauf.

Er passierte das Zimmer, das er selbst einst hier bewohnt hatte, warf einen raschen Blick hinein. Nanu, weshalb stand dort auf dem Schreibtisch sein Notebook? Das hatte er bei seinem Auszug doch mitgenommen gehabt!

Steve huschte ins Zimmer, schloss die Tür hinter sich. Hier lagen unordentlich massenweise Kleidungsstücke auf dem Boden verstreut und auf dem Bett stapelten sich Bücher und CDs. So wie üblich, als er dieses Zimmer noch bewohnte. Oft hatte Mutter diesen Raum als »Bermuda-Dreieck« bezeichnet, weil ihrer Ansicht nach in diesem Chaos garantiert nichts mehr auffindbar war.

Stephen drückte den Einschaltknopf des Rechners. Staunte darüber, wie langsam dieses altersschwache Ding hochfuhr.

»Mensch Meier, so wenig Anwendungen und kaum Rechenkapazität. Das ist, als wäre man von heute auf morgen ins Mittelalter zurückversetzt«, dachte Steve genervt. Endlich erschien die Mini-Anwendung mit dem Kalenderblatt rechts oben im Eck des Bildschirms auf seinem Desktop.

Exakt in diesem Augenblick wurde Stephen McLaman klar, dass man ihn dieses Mal zu einem früheren Zeitpunkt auf der Erde wieder ausgewildert hatte – man schrieb aktuell den 18. Juni 2004 und der jetzt wieder junge Mann glaubte sich zu erinnern, in der anderen Version seines Lebens erst im Herbst dieses Jahres nach Spanien ausgewandert zu sein. Somit dürfte sich auch der tragische Motorradunfall in Guardamar noch nicht ereignet haben, nicht einmal der erbitterte Streit mit seinem Vater hatte bislang stattgefunden, falls er mit seiner Analyse richtig lag. Das üble Zerwürfnis, dessentwegen er überhaupt erst wütend seine Sachen gepackt hatte und ohne viel nachzudenken gen Süden abgehauen war.

Das alles lag noch in der Zukunft – einer Zukunft, die er jetzt neu und besser gestalten konnte. Oder vielmehr MUSSTE.

* * *

Kirstie McLaman ging wie in Trance zwischen ihren Gästen umher. Sie fühlte sich, als wäre sie nur die Hauptdarstellerin in einem Albtraum, müsse jeden Moment aufwachen. Viele der Anwesenden drückten mit ehrlicher Anteilnahme im Blick ihre Hand, murmelten Beileidsbezeugungen; von anderen wusste sie mit ziemlicher Sicherheit, dass das Mitleid nur geheuchelt wurde; es gab leider immer Neider und Missgünstige, wenn einem geschäftlicher Erfolg beschieden war. Manch einer unter denen malte sich womöglich schon aus, auf welche Weise er von der Katastrophe, die ihr vor vier Tagen widerfahren war, profitieren würde.

Sie fühlte sich zu schwach, zu ausgebrannt. Ansonsten wäre ihr sprichwörtlich irisches Temperament sicherlich längst mit ihr durchgegangen und sie hätte den Herrschaften gehörig die Meinung gegeigt. Hätte ihnen an den Kopf geworfen, was sie von zielgerichteter Scheinheiligkeit hielt. Aber nicht heute, nicht jetzt. Sie hatte sowieso keinen blassen Schimmer, wie ihre eigene Zukunft aussehen würde. Zum ersten Mal in ihrem Leben packte Kirstie McLaman neben ihrer Trauer die nackte Existenzangst. Wo blieb eigentlich Stephen? Musste sie sich nun auch um seine Gesundheit Gedanken machen? Verstört und besorgt eilte Kirstie zurück ins Haus, doch seinen Platz auf der Couch fand sie leer vor.

»Stevie? Alles in Ordnung mit dir?«

Mutter! Stephen hatte ganz vergessen, dass sie sich Sorgen machen könnte. Aber war das ein Wunder? Er durfte sich vorsichtshalber mit niemandem konfrontieren, solange er nicht einigermaßen über sich selbst Bescheid wusste, nicht einmal mit seiner eigenen Mutter. Gerade eben las er fasziniert die E-Mails einer gewissen Kati auf seinem Rechner, mit der er 2004 eine Liaison am Laufen hatte. Na ja, die Mails legten eher den Schluss nahe, dass diese Beziehung im Sommer dieses Jahres schon ziemlich im Sterben lag. Musste sie wohl, denn er konnte sich beim besten Willen an keine rührenden Abschiedsszenen erinnern, die er mit seiner Abreise nach Spanien zu verbinden hätte.

Kati. Ja, die war hübsch gewesen, mehr aber auch nicht. Steve fand es echt interessant, was von einer einstigen Beziehung in der Erinnerung so übrig blieb, sofern sie nicht viel bedeutet hatte. Seltsamerweise war ihm in diesem Fall ein kotzgelbes T-Shirt am deutlichsten im Gedächtnis haften geblieben, welches Kati einst bei einem Date getragen hatte.

Kirstie klopfte nun leise an seine Zimmertür, schlüpfte dann in den Raum, ohne eine Antwort abzuwarten. »Ach so, hat dir Kati wieder geschrieben? Ich will dich ja nicht noch weiter belasten, aber ich denke, das hat wirklich keinen Sinn mehr.«

»Hast Recht! Die ist ab sofort Geschichte«, bestätigte Stephen zu ihrer Verwunderung. Seltsam – noch letzte Woche hatte er sich mit aller Macht gegen diese Erkenntnis gesträubt und Kati samt deren Eskapaden wortreich gegen seine Mutter verteidigt.

»Geht es dir besser? Dann komm doch bitte mit nach unten, lass mich mit diesen Hyänen nicht alleine. Ich fühle mich so verloren zwischen all den vielen Leuten«, bat seine Mutter.

Stephen verstand nicht. »Wieso Hyänen? Hat Vater wieder einmal seine dubiosen Geschäftsfreunde eingeladen? Soll er sich doch selber um die kümmern! Diese geschniegelten Blender kann außer ihm sowieso keiner von uns ausstehen, stimmt’s?«, versuchte er zu scherzen.

Einen Augenblick später tat ihm die Bemerkung bereits leid, denn sie schien seine Mutter ungewohnt stark zu deprimieren. Was war nur mit ihr los? Sie wirkte heute derart blass, dass man nicht einmal die Sommersprossen deutlich sehen konnte. Selbst das feuerrote Haar schien an Farbe verloren zu haben.

»Da hast du nicht Unrecht, auch wenn es gerade jetzt nicht an der Zeit ist, blöde Witze zu reißen! Aber so wie es aussieht, könnten wir schon sehr bald von genau diesen Leuten finanziell total abhängig sein«, seufzte Kirstie. »Kommst du jetzt mit mir hinunter oder nicht?«

Was meinte sie bloß? Kopfschüttelnd klappte er das Notebook zu und setzte sich in Bewegung. »Klar. Schon unterwegs.«

Kirstie, die bereits zur Tür hinaus war, blieb plötzlich stehen und drehte sich zu ihrem Sohn um. »Aber bitte nicht in diesem Aufzug, Stephen! Zieh dir schnell etwas Schwarzes an, so viel Respekt hat er zumindest sogar von dir verdient. Tu es und komm nach.« Mit diesen Worten ließ sie ihn alleine.

Jetzt dämmerte ihm ein furchtbarer Gedanke. Der Anblick seiner Mutter … schwarze Klamotten … Gäste, die keiner haben will … die nebulösen Äußerungen … ach, du lieber Himmel! Stephen klappte das Notebook wieder auf und rief mit fliegenden Fingern die Online-Ausgabe der Tageszeitung auf. Die Seite mit den Todesanzeigen.

»Harmstetter … König … Schumacher … Andersen … Scheiße!« Nicht, dass letzteres als Name in der Zeitung gestanden wäre. Stephen hatte seiner Befürchtung gemäß schlicht und einfach festgestellt, dass sein Vater vor vier Tagen einem Herzinfarkt erlegen war. Er fühlte schlagartig nahezu alle Energie aus seinem Körper schwinden, als müsse ihn auf der Stelle dasselbe Schicksal ereilen. Seine Gedanken überschlugen sich in einem wilden Reigen des totalen Chaos.

Vater TOT? Was wollte ihm die himmlische Zentrale der Macht eigentlich noch alles zumuten?

Den Rest dieser makabren »Feier«, im Volksmund »Leichenschmaus« genannt, ertrug Stephen nur unter Aufbietung sämtlicher Kräfte. Seiner Mutter zuliebe. Doch als die letzten Gäste sich schließlich verabschiedeten, stahl er sich wie ein Dieb zum Gartentürchen hinaus. Er musste unbedingt kurz alleine sein und einigermaßen brauchbare Gedanken aus dem Eintopf des Wahnsinns extrahieren, welcher sein Gehirn immer mehr zu verkleben drohte.

»State Of Doom« nannte er jene bittere Verzweiflung, die klare Gedanken so überaus effektiv vereiteln konnte; leider hatte er sich in diesem »State« schon öfters befunden, fast fühlte er sich darin zu Hause. Wie sollte er nun weitergehen, sein dritter Versuch eines Erwachsenenlebens? Stephen nährte den unangenehmen Verdacht, dass dieses letzte Bonusleben noch weitaus schwieriger auszufallen drohte als seine Vorgänger. Was schon so begann – wie würde das wohl enden?

Er hatte in seinem Schockzustand gar nicht bemerkt, dass jemand ihm heimlich folgte.

* * *

Die junge Frau, die Stephen in einigem Abstand verfolgte, wusste nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Sie hatte ihren Halbbruder schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen und er wirkte gerade so sehr in seine düsteren Gedanken versunken, dass sie ihn eigentlich gar nicht stören wollte. Andererseits hatte sie ihn von jeher gut leiden können, er zählte zu den sehr erträglichen Teilen ihrer merkwürdigen Familie. Was längst nicht für alle Mitglieder galt.

Sie sah auf die Uhr. Verflixt, schon in einer Stunde würde sie ihren kleinen Sohn bei der Nachbarin abholen müssen! Versprochen ist versprochen. Also blieb nichts anderes übrig. Sie ging schneller, um Stephen einzuholen. Dieser war inzwischen am Elbuferweg angekommen und blieb kurz stehen, um auf die Elbe hinaus zu sehen und tief Luft zu holen. Dann setzte er sich auf eine Bank, stützte seinen Kopf in beide Hände, als wiege er eine Tonne. Jetzt oder nie!

»Hey, Stevie! Entschuldige bitte, dass ich dich hier so einfach überfalle – aber vorhin warst du viel zu belagert, um in Ruhe mit dir sprechen zu können. Ich hoffe, du erkennst mich noch. Ich bin es, Belinda!«

Stephen hob den Kopf, sah seiner Halbschwester aus Vaters erster Ehe ungläubig ins Gesicht. »Belinda? He, ich dachte, du seist in Amerika drüben? Bist du vielleicht extra wegen der Beerdigung über den großen Teich eingeflogen?«

Belindas Gesicht verdüsterte sich. »Nein, ich habe nur eine Zeit lang drüben gewohnt. Bis mich dieser … dieser … abserviert hat. Du weißt, der Vater von Dennis. Dann stand ich plötzlich mit dem Kind alleine da, ohne Job und ohne alles. Mein lieber Herr Lebensgefährte hat sich abgesetzt, einfach so« – sie vollführte eine entsprechende Handbewegung – »wie das Würstchen vom Kraut! Na, und da es in USA kein Melderecht wie in Deutschland gibt, war er eben einfach nicht mehr auffindbar. Fort, weg, verschwunden. Ich weiß ja, ihr hattet mich gewarnt. Doch ich wollte damals vor lauter Verliebtheit nicht sehen, was das von Anfang an für ein verantwortungsloser Volldepp gewesen ist«, erzählte Belinda in ihrer erfrischenden, wenn auch etwas schnoddrigen Art.

»Ach so? Das hat mir niemand erzählt. Ich dachte nur, dass du noch drüben bist, weil ich dich nirgends mehr getroffen habe, auf keinem der üblichen Familientreffen. Da hatte ich dich jedes Mal schmerzlich vermisst, ohne dich waren diese Events ganz schön langweilig. Du kannst dich sicher erinnern, oder?«

Jetzt gelang Stephen sogar ein verhaltenes Lächeln. Er mochte Belinda und war froh, dass genau sie es war, die ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte. Vater hatte sich kurz nach ihrer Geburt von seiner damaligen Frau scheiden lassen und drei Jahre später seine Sekretärin geheiratet, seine eigene Mutter Kirstie. Acht Monate nach der Hochzeit brachte diese ihn, Stephen, zur Welt. Also musste Belinda heute 28 Jahre alt sein. Vater hatte sich leider nie für die verlassene Tochter interessiert und in der logischen Folge diese auch nicht für ihn.

Belinda erriet seine Gedanken. »Ich hing nicht sehr an dem Alten, wie du dir vorstellen kannst! Der war auch nicht gerade ein Muster an Fürsorge, außer einem monatlichen Geldbetrag haben ich oder meine Mutter nach der Trennung von ihm nichts mehr zu erwarten gehabt. Ach, Schwamm drüber. Heute wollte ich im Grunde nur sicher gehen, dass er seine gerechte Strafe erhalten hat! Wie meine liebe Familie über mich hergezogen ist, als ich Dennis erwartete, ist dir sicher noch im Gedächtnis. Dich und deine Mutter mal ausgenommen.«

»Ja, leider. Aber das ist jetzt alles Schnee von gestern. Gut siehst du aus, wie geht es dir denn?« Stephen musterte seine Halbschwester und stellte fest, dass sie genauso hübsch wie früher aussah. Er musste an Lena denken, seine andere Halbschwester mit dem rotblonden Haar. Schon fühlte er wieder die Stiche in der Herzgegend, die ihm leider vertraut waren. Er konzentrierte sich schnell wieder auf Belinda, bevor ihn die traurigen Gedanken an Lena allzu sehr übermannen konnten.

Belinda sah Lena entfernt ähnlich. Beide hatten Vaters Augenfarbe und die Form der Nase geerbt. Während sich in Lenas Blond viele rote Farbreflexe mischten, war Belindas Haar von einem hellen, warmen Goldton. Auch sie trug es lang, beide Frauen waren in etwa gleich groß und von ähnlicher Statur. Trotzdem mutete Belindas Erscheinung etwas derber, grober an. Vielleicht lag das an ihren Bewegungen, die nicht ganz so gemessen und feenhaft wirkten wie Lenas; Belinda gestikulierte gerne wild, um ihre Worte zu untermalen. Sie musste ja auch mit beiden Beinen fest im Leben stehen, schon wegen ihres kleinen Sohnes, da blieb vermutlich nicht viel Zeit für Träumereien.

»Mir geht es ganz gut. Dennis macht mir Freude, andererseits hindert er mich natürlich auch daran, auszugehen und Leute kennen zu lernen. Na ja, er ist jetzt Vier und wird auch größer, dann wird das bestimmt besser werden. Apropos Dennis – ich glaube, ich muss dann! War schön, dich wieder mal zu treffen.« Belinda drückte seine Schulter und wollte eilig davongehen.

»Warte mal, ich begleite dich zurück. Hast du ein Auto dabei, wo wohnst du denn eigentlich?« Plötzlich hatte Steve Angst vor dem Alleinsein, vor der Wiederkehr in seine arg belastete Gedankenwelt.

»Klar besitze ich ein Auto, das parkt bei eurem Haus gleich um die Ecke. Damit es den feinen Herrschaften nicht peinlich sein musste, mit welch einer alten Schüssel ich hier ankomme. Ich wohne aber nicht in Hamburg, sondern drüben in Cuxhaven«, verriet Belinda grinsend.

Cuxhaven! Wie Lena! Stephen war beim neuerlichen Gedanken an Lena wie elektrisiert, ohne sich das anmerken zu lassen. Im Plauderton meinte er: »Das ist ja nicht völlig aus der Welt. Wir könnten uns doch demnächst mal treffen, wenn du magst. Ich habe meinen Neffen schließlich noch nie gesehen und möchte den jungen Mann endlich kennen lernen«, schmunzelte Stephen, während er seine Halbschwester zum Auto begleitete. Belinda freute sich tierisch und die beiden tauschten eifrig ihre Telefonnummern aus.

»Bis bald!« Belinda stieg in ihren alten, grünen Peugeot 206 und brauste davon. Es fuhr einen heißen Reifen, das Schwesterchen. Ihr Temperament erinnerte eher an die Spanierin Yolanda als an die sanfte Lena.

Yoli … bestimmt war sie jetzt im Jahre 2004 noch/wieder am Leben, je nachdem, wie man es betrachtete. Dieser Gedanke freute Stephen, denn die Schuldgefühle wegen ihres Todes hatten ihn im vorigen Leben nie komplett verlassen. Schließlich war sie mit SEINER Harley verunglückt. Oder vielmehr würde ihr dieses Unglück erst noch passieren, schon im nächsten Jahr. Jedoch nur, falls er wieder nach Spanien auswandern und sich nicht von ihr fernhalten würde. Aber musste er denn unbedingt wieder nach Spanien gehen? Der ursächliche Streit mit seinem Vater jedenfalls würde nach Lage der Dinge todsicher ausfallen.

Nachdenklich blieb Steve noch ein paar Minuten auf demselben Fleck stehen. Er könnte ja Belinda besuchen, sich dabei in Cuxhaven etwas umsehen und vielleicht würde er, ob Zufall oder nicht, hierbei Lena treffen und einen ersten neuen Grundstein legen können …

Ihm war nicht bewusst, auf welche ihm bislang unbekannten Äste Yggdrasils er soeben im Begriff war abzubiegen.

* * *

Kirstie saß in ihrem Arbeitszimmer am Schreibtisch, wühlte sich seit Stunden entnervt durch riesige Stapel von Papieren. Um sie herum standen Dutzende von Aktenordnern, doch keiner davon schien das Gesuchte zu enthalten. Stephen lugte ins Zimmer, wollte seine Mutter mit einem Kaffee aus ihrer Grübelei retten.

»Du kommst gerade recht«, seufzte sie resigniert. »Ich muss dich unbedingt etwas fragen, auch wenn ich weiß, wie wenig du aus nachvollziehbaren Gründen mit Vater kommuniziert hast. Aber ich kann bestimmte Dokumente einfach nicht finden, vielleicht hat er ja trotzdem dir etwas darüber verraten!«

Stephen konnte sich durchaus denken, was sie suchte. »Jetzt komm erst mal mit hinunter, wir trinken auf der Terrasse einen Kaffee. Ich glaube, mir sind da einige Zusammenhänge klarer als dir. Zwar kann ich dir schlecht erklären warum – doch ich habe Vater im Laufe der Zeit besser kennen gelernt, als du denkst.«

Natürlich hatte er das; schließlich musste er gleich zwei Erwachsenenleben mit Thomas McLaman verbringen, das zweite sogar wegen der intensiven Zusammenarbeit bei der LAMANTEC AG ziemlich auf Tuchfühlung. Doch das konnte er seiner Mutter SO nicht erzählen, auf keinen Fall.

Mutter und Sohn nahmen auf der Terrasse neben dem Pool Platz. Stephen liebte diese Stelle ganz besonders, denn ein namhafter Gartendesigner hatte vor einigen Jahren begeistert seine spontane Idee aufgegriffen und eine kleine Wasserkaskade geschaffen. Die ergoss ihr Wasser nun gurgelnd und glucksend wie ein Bach in einen kleinen Teich, der optisch nur durch ein dekoratives Bruchstein-Mäuerchen von der geschwungenen Silhouette des Schwimmbeckens getrennt war.

Schweigend genossen beide ihren heißen Kaffee, jeder für sich in Gedanken versunken. Dann klärte Stephen seine Mutter schweren Herzens auf.

»Es gibt kein Testament und auch keine Lebensversicherung, Mama. Du brauchst gar nicht weiter danach zu suchen. Vater war halt so – nach ihm die Sintflut. Er war ein Mensch, der auch nie ernsthaft ins Kalkül gezogen hätte, vorzeitig abzuleben. Es durfte ohnehin keinerlei Umstände geben, die er nicht selbst kontrollieren konnte. Nicht einmal den Tod. Tut mir leid, aber ich glaube, wir müssen ohne solche hilfreichen Verfügungen zu Recht kommen.«

Kirstie starrte ihn erschrocken an. »Wie kannst du das wissen? Selbstverständlich kenne ich seine Denkweisen … aber dass er so weit gehen konnte?« Sie blickte ungläubig drein, sträubte sich innerlich gegen die bittere Erkenntnis, dass es ihrem verstorbenen Mann tatsächlich egal gewesen sein könnte, wie sie nach seinem Tod in finanzieller Hinsicht überleben würde.

»Ich bin mir ziemlich sicher, aber durchsuche ruhig weiter seine Unterlagen, wenn du mir nicht glaubst. Rufe zur Sicherheit seinen Anwalt an, falls er bei diesem oder einem Notar Verfügungen hinterlassen hat. Aber ich würde mich an deiner Stelle von vornherein damit abfinden, dass diese Bemühungen höchstwahrscheinlich vergeblich sein werden. Das hält hinterher wenigstens die Enttäuschung in Grenzen.«

Als Stephen registrierte, wie schockiert seine Mutter auf ihre Fingernägel starrte, taten ihm seine allzu nüchternen Ausführungen leid; er stand auf, legte ihr die Arme um die Schultern und sagte in weitaus einfühlsamerem Ton: »Wie dem auch sei – du bist nicht allein, schließlich hast du noch mich! Ich werde dir helfen, wo ich nur kann. Zum Beispiel kann ich in der Firma nach dem Rechten sehen, deren Leitung an Vaters Stelle übernehmen und die existierenden Projekte fortführen, das wird mir eine Ehre sein. Du wirst sehen, ich bringe die LAMANTEC AG eines Tages ganz groß raus!«

Jetzt sah Kirstie drein, als sei er Münchhausen persönlich, der gerade üble Lügengeschichten erzählt. »Stevie, sei mir bitte nicht böse, aber du hast dich noch nie für die Firma deines Vaters interessiert, ganz im Gegenteil! Was ihn übrigens sehr enttäuscht hat, doch das ist dir bekannt. Dir fehlt es an sämtlichen Kenntnissen über dieses Imperium, genau wie mir auch. Also, entweder Simon bekommt das in Kürze auf die Reihe, oder wir müssen uns zurückziehen und unsere Anteile verkaufen!«

»Simon? Wieso Simon?« Stephen kramte in seiner Gehirnschublade. Ach, genau! Siedend heiß fiel es ihm wieder ein. Anders als in seinem zweiten, parallelen Leben gab es Simon Jansen im ersten Leben als seinen Vorgesetzten und er selbst war nur ein ihm unterstellter Programmierer gewesen, der weisungsgebunden arbeitete. Aber hatte Simon überhaupt 2004 schon eine Anstellung bei der LAMANTEC inne gehabt?

Kirstie stöhnte. »Stimmt, du weißt es ja noch gar nicht! Vater wollte nächste Woche mit dir reden und befürchtete schon im Vorfeld, dass du dich mit ihm anlegen würdest. Genauer gesagt rechnete er fest mit deiner Absage. Also, zur Verdeutlichung: dein Vater wollte dich einstellen. Er hatte gemeint, dass du gefälligst dein Potential in das einstige Familienunternehmen einbringen sollst, anstatt mit deinen Programmen konkurrierende Firmen reich zu machen. Aber er kannte natürlich auch deine Einstellung zu allem, was mit seiner Person zu tun hatte. Insbesondere dein Problem, dich ihm bedingungslos unterzuordnen. Von der Pike auf hättest du dich in der Firma hocharbeiten sollen und gerade deshalb rechnete er nicht ernsthaft mit deinem Einverständnis. Aus diesem Grund sagte er diesem Simon gegen meinen Widerstand schon mal unter Vorbehalt zu, auch wenn die Verträge noch nicht unterzeichnet sind. Tut mir leid, aber haargenau so war das!« Himmel noch mal, genau dieses Gespräch mit Vater war einst dafür verantwortlich gewesen, dass er nach Spanien auswanderte! Nur mit seiner Harley, den Klamotten auf seinem Leib und dem Notebook. Viel mehr hatte nicht in den Rucksack gepasst, den er in sein neues Heimatland mitnahm. Doch dieses Mal hatte Vater sich vorzeitig ins Nirwana verfügt, dieses emotionsgeladene Gespräch würde nicht mehr stattfinden können.

Er sah seiner Mutter fest in die Augen. »Simon ist recht gut und ein netter Kerl obendrein. Aber er ist nicht innovativ genug, nicht wirklich brillant. Da die Verträge noch nicht unterzeichnet sind, können wir ihn immer noch als gewöhnlichen Programmierer ohne Aufstiegsoption einstellen, meinetwegen auch zur Koordination der einzelnen Programmbestandteile bei den Projekten. Aber die Leitung des Unternehmens und den Überblick darüber möchte ich mir selbst vorbehalten! Bitte vertrau mir; ich bin sicher, dass die Firma nahtlos weiterlaufen sowie sogar ihren Umsatz steigern wird.«

Kirstie war schlichtweg baff. »Du kennst Simon? Woher hast du denn Informationen über seine Qualifikation? Und wieso glaubst du, dass du die Firma im Griff hättest? Du weißt, wir haben einen Aufsichtsrat. Das ist eine Schlangengrube, vielen war Thomas schon lange ein Dorn im Auge, sie kamen nur nicht gegen ihn an. Wie könntest DU dich da behaupten?«

Wie sollte er seiner Mutter nun das wieder erklären, ohne ausgiebig über seine Erfahrungen aus den Vorleben berichten zu müssen?

Er verfügte als Programmierer über mindestens 60 Jahre Berufserfahrung aus zwei Karrieren und obendrein über Kenntnisse, die Innovationen bis 2029 beinhalteten. Im letzten Leben hatte er sich sogar die Firmenleitung mit Vater geteilt, dieser war für Finanzen und PR zuständig gewesen, er selbst für die technische Seite der Medaille. Simon war beim ersten Mal sein Chef gewesen, beim zweiten Mal ein einfacher Programmierer.

In nur scheinbar gelassenem Ton bat Stephen daher Kirstie: »Lass uns das in Ruhe angehen, Mama. Morgen gehe ich erst einmal ins Büro, die Lage checken. Ich schau mal, ob ich die Kombination für den Safe herausbekomme, da drin sind die Quellcodes und die wichtigsten Papiere aufbewahrt. Ich unterhalte mich zunächst mit Vaters Sekretärin, die wird hoffentlich auch so einiges wissen. Danach sehen wir weiter, okay? Vielleicht kann ich durch Kompetenz überzeugen.«

Kirstie stimmte halbherzig zu, was sollte sie auch anderes tun? Allerdings machte sie sich schon ein paar Sorgen, als sie ihren Sohn beobachtete, wie er zurück ins Haus schlenderte. Sah er wie ein angehender Firmenchef aus, wie ein Aufsichtsratsvorsitzender? Eindeutig nein.

* * *

An diesem ersten Tag seines dritten Lebens ereilte Stephen die zweifelhafte Freude, im Zimmer seiner Jugendzeit zu Bett gehen zu dürfen. Es fühlte sich seltsam an, von heute auf morgen wieder jung zu sein, genauer gesagt 25 Jahre jünger als zum Zeitpunkt seiner Erschießung auf dem Hamburger Flughafen.

Tagsüber hatten sich die turbulenten Ereignisse überschlagen, er war jeweils nur aus aktuellen Situationen heraus zum Nachdenken und Handeln gezwungen gewesen. Erst dieses makabre TrauerEvent nach Vaters Beerdigung, dann das Wiedersehen mit Belinda

… bislang hatte er sich weder ausreichend mit sich selbst, noch mit seiner neuen Situation befassen können. Geschweige denn mit der Frage, welche grobe Planung er für den Beginn seiner neuen und allerletzten Chance als am sinnvollsten erachtete. Nicht dass er womöglich gleich wieder seine Weichen in die falsche Richtung stellte.

Stephens Blick fiel auf seine CD-Sammlung, die reichlich chaotisch geordnet auf dem Regal neben seinem Bett residierte. Spontan griff er nach einer Scheibe von AC/DC, ließ den Song »Highway To Hell« abspielen; der dünkte ihm irgendwie passend. Als er nun hellwach auf seinem, nach wie vor, unordentlichen Bett lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, wurde ihm langsam die Tragweite der vielen Geschehnisse des heutigen Tages bewusst. So kurz erst war er im Leben zurück; und so viel hatte sich schon verändert, ohne dass er irgendetwas davon hätte maßgeblich beeinflussen können.

Nach dem eher unerfreulichen Gespräch mit seiner Mutter hatte sich Stephen zwecks Recherchen noch einmal ans Notebook gesetzt und eine weitere Mail von Kati gefunden. Sie klagte ihn darin wortreich an, sie ständig zu ignorieren und stellte ihm ein freches Ultimatum. Falls er sich bis zur genannten Uhrzeit nicht bei ihr gemeldet habe, sei es aus und vorbei, und zwar für immer und ewig.

»Sei’s drum!« Steve löschte die Mail. »Wenn DU wüsstest, wie lange du für mich schon abgemeldet bist«, grummelte Stephen grimmig. Er mochte Frauen grundsätzlich nicht leiden, die ihn dauernd unter Druck setzen wollten. Außerdem reagierte seine Seele nicht im Geringsten beim Lesen des Namens »Kati«.

Als Nächstes fand er eine Mitteilung unter der Rubrik »Wissenschaft«, die erst um 23 Uhr eingestellt worden war. Stephen hatte seit einiger Zeit diese Sparte aus den brandneuen Nachrichten auf der Startseite seines Internet-Explorers abonniert und saß jetzt mit weit aufgerissenen Augen stocksteif vor dem Rechner. Ein Adrenalinschub der Sonderklasse war ihm vom Kopf bis zu den Zehenspitzen durch den Körper geschossen.

Na klar! Deshalb also kam ihm das heutige Datum von Anfang an so bekannt vor! Nun brauchte er sich wenigstens nicht mehr das Gehirn zu zermartern, weshalb ihm dieses irgendwie bedeutungsvoll erschien – es war exakt jener Tag, an welchem dieser verfluchte Komet Apophis zum allerersten Mal von Wissenschaftlern einer Sternwarte in Arizona gesichtet worden war. In den Monaten vor dem errechneten Einschlag 2029 war dieses Entdeckungsdatum immer wieder durch die Presse gegeistert; als Beginn des Countdowns für das himmlische Planeten-Billard. Verdammt!

Damit stand wohl gleichzeitig fest, dass er von dieser unheilvollen Problematik auch in seiner neuen Existenz nicht befreit bleiben würde. Entmutigt ließ er sich auf sein Bett fallen, das war in etwa vor drei Stunden gewesen. Seither kam er aus dem Schwarzmalen und Sinnieren nicht mehr heraus.

Stephen fand sich damit ab, dass an Schlaf mit Sicherheit weiterhin nicht zu denken war. Es gab Wichtigeres. Er schälte sich aus den Kissen und setzte sich zurück an den Schreibtisch, zog ein DIN A 3-Papier aus der Schublade, denn ihm war ein Einfall gekommen. Warum zeichnete er nicht einfach diesen Lebensbaum Yggdrasil schematisch auf, mit allen wichtigen Ereignissen aus seinen verschiedenen Lebenswegen? Damit er nichts übersah? Richtig. Und er würde drei verschiedene Farben benutzen, wegen der Verwechslungsgefahr. Man konnte dann auf Anhieb erkennen, welches Ereignis in welches Leben gehörte, wo Überschneidungen sichtbar wurden.

Zunächst schrieb Stephen die einzelnen Begebenheiten in der jeweiligen Farbe auf ein Extrablatt. Danach wollte er sie auf dem Baum anordnen, um zu sehen, an welcher Stelle er jeweils eine andere Abzweigung genommen hatte, die dann in neue Richtungen führte. Offensichtlich gleich zweimal in die Falsche.

»Mercedes wäre stolz auf mich, wenn sie das sehen könnte!«, murmelte Stephen, während er konzentriert seine Aufzeichnungen begann. Als Ziel malte er ein Strichmännchen, das eine Chipkarte bei der Himmelspforte in einen Schlitz steckte und grünes Licht zum Eintritt angezeigt bekam. Mit 25 Jahren war Stephen McLaman eben immer noch ein unverbesserlicher Scherzkeks gewesen.

Zwei Stunden später, als er endlich befriedigt in sein Bett zurückkehrte, waren ihm beim Anblick seiner Zeichnung ganz von selbst mehrere Thesen in den Sinn gekommen:

Er durfte sich in keiner Weise mehr in puncto Weltuntergang oder dessen Abwendung engagieren, auch nicht bei seiner künftigen Tochter, dem Messias es war besser, die geschäftlichen Bemühungen der LAMANTEC AG aus diesem Themenkomplex total herauszuhalten, sich hier nirgends hineinzusteigern; vor allem: Kein Spiel namens »Die Ikarus-Matrix« zu kreieren Lena musste er zwar beschützen, doch durfte er dennoch nicht allzu krampfhaft versuchen, sie wieder zu seiner Frau zu machen; damit hatte er ihr im letzten Leben definitiv keinen Gefallen getan Er konnte es sich sparen, nach Spanien auszuwandern. Er war dort sowieso nie besonders erfolgreich gewesen und wollte überdies Yolandas Leben keinesfalls gefährden.

Im Grunde musste er nur eines tun – gar nichts, außer später vielleicht auf Lena und seine Tochter ein wenig zu achten. Aus einer gewissen Entfernung heraus, mehr gleich einem wachsamen Schatten. Wenn er dann neue Ereignisse immer zeitnah an der richtigen Stelle in seine Zeichnung integrierte, konnte er wahrscheinlich besser abschätzen, wohin sie führen mochten und adäquat darauf reagieren.

Vielleicht hatten die Menschen in grauer Vorzeit genau deswegen die Zeichnung dieses Baums erfunden … konnte es womöglich wahr sein, dass es schon vor ihm menschliche Unglücksraben gegeben hatte, die ihr Leben oder Teile davon mehrmals durchlaufen mussten?

Mit diesen wenig zuversichtlichen Gedanken fiel Steve erschöpft in einen langen, unruhigen Schlaf. Seine detaillierte YggdrasilZeichnung lag indessen unverändert neben dem Notebook auf seinem Schreibtisch.

* * *

Hektisch hängte Belinda ihren rosafarbenen Berufskittel an den Haken. Verdammt, warum waren manche Kundinnen nur derart geschwätzig? Sie vergab ihre Termine durchaus immer mit einem gewissen Spielraum, der Verzögerungen mit einberechnete. Aber diese Frau Schiller sprengte jedes Mal auch diesen großzügigen Rahmen, indem sie mit herausgedrehten Augen ausgiebig über jeglichen Klatsch und Tratsch berichtete, dessen sie habhaft werden konnte.

Wozu ließ diese fette Kuh mit dem teigigen Gesicht überhaupt ihre Augenbrauen und Wimpern färben? Ein wirklich sinnloses Unterfangen, eine solche Frau hätte höchstens ein Sack über den Kopf ansehnlicher gemacht. Oder ein Ganzkörperkondom.

Manchmal hasste Belinda ihren Job im Dienste der Schönheit. Sie arbeitete als angestellte Kosmetikerin in einem stadtbekannten Salon, einen anderen Beruf hatte sie leider nicht erlernt. Jedenfalls nicht zu Ende. Sie barg in ihrem Inneren wohl das, was man als flatterhafte Natur bezeichnete; Belinda liebte plötzliche Kehrtwendungen, verhielt sich alles andere als beständig. Deshalb war sie trotz eines sehr gut bestandenen Abis nach vielen anderen Experimenten auch in diesem eher schlecht bezahlten Beruf gelandet, wo Eskapaden langmütig geduldet wurden.

Sie war eben lediglich unbeständig, andere Kolleginnen hingegen stellten sich in ihren Augen wirklich ausgesprochen dumm an. Da zog ihre Arbeitgeberin Belindas Naturell wohl immer noch notgedrungen vor. Belinda war wenigstens hart im Nehmen, bekam nicht schon wegen eines abgebrochenen Fingernagels Flenn-Anfälle, feierte nie absichtlich krank.

Anfangs hatte es der quirligen Blondine sogar richtig Spaß bereitet, mit Farben zu hantieren. Jeden Tag schuf sie neue kleine Kunstwerke auf den Gesichtern der Frauen, die ihr dafür mehr oder weniger dankbar waren und gutes Geld im Salon zurückließen. Mit der Zeit jedoch gingen ihr die leeren, meist inhaltslosen Gespräche dieser verwöhnten Tanten ziemlich auf den Wecker.

Blabla … schon gehört? Die mit dem und der andere weiß nichts davon, hach, die neueste Mode … blabla. Und sie, Belinda, musste sich den ganzen Wortmüll geduldig anhören und Interesse heucheln, sonst gab es kein Trinkgeld. Am liebsten waren ihr noch die Damen, welche selbstverliebt einen bloßen Monolog hielten, egal worüber – da konnte sie währenddessen wenigstens geistig auf Durchzug schalten.

Diese Schiller war leider anstrengender. Was meinen Sie hierzu, was meinen Sie dazu … Belinda meinte in Gedanken insgeheim nur eines: »Du bist fertig geschminkt, mach den Kopf zu und verzieh dich!« Die junge Frau hatte sich stets einer etwas derberen Sprache bedient, weil sie in ihrem Alltag durchaus auch vielen derben Situationen ausgesetzt gewesen war.

Klar, die meisten davon hatte sie selbst verursacht. Man unterschätzte sie leicht, denn niemand vermutete bei ihr auf Anhieb einen IQ von 135. Oft fand Belinda es total witzig, wenn man ihr bei Erklärungen die Version für doofe Blondinen servierte; dabei hatte sie entgegen des beim Gesprächspartner hinterlassenen Eindrucks den jeweiligen Sachverhalt längst mühelos bis in den hintersten Winkel analysiert.

Uff! Nun war dieses weibliche Walross endlich zur Tür hinausgeschwabbelt, was Belinda ermöglichte, ihren Sohn aus der Kinderbetreuung zu holen. Wieder einmal um zehn Minuten zu spät! Aber der Kleine war es wert, dass sie sich all das antat, von irgendetwas mussten sie ja leben.

Ob sie heute Abend Stephen eine SMS schicken sollte? Gestern hatte sie wie in alten Zeiten, wenn sie ihn früher ab und zu bei Familienfeiern sprach, eine Art Seelenverwandtschaft verspürt. Die Halbgeschwister waren zuletzt vor fünf Jahren aufeinander getroffen, bevor Belinda mit dem farbigen US-Soldaten Brian Petterson ihren überflüssigen Abstecher nach Amerika antrat.

Danach ließ sie sich nirgends mehr blicken; sie mochte sich keine hundsgemeinen Kommentare über halb-negroide Kinder und deren nichtsnutzige Väter anhören, schon die ersten Bemerkungen nach ihrer Rückkehr hatten dicke gereicht. Ihre Verwandtschaft hielt sich leider für etwas Besseres, und da hatte vieles keinen Platz, was nicht ins Konzept einer ehrbaren Hamburger Familie passte. Brüderchen Stephen hatte gestern ebenfalls gewirkt, als müsse er sich mal so richtig bei jemandem auskotzen … auch er galt ja als eher schwarzes Schaf, wenngleich der Hauptverfechter dieser Einschätzung jetzt frisch verstorben war.

An diesem Punkt ihrer Überlegungen angelangt, betrat Belinda McLaman eilig das Kindergartengelände, wo sich im nächsten Moment ein kleiner, schokoladenbrauner Junge juchzend in ihre Arme warf.

* * *

Nervös stöckelte Annika Hugler, die Sekretärin mit dem kupferroten Haar, auf ihren schwindelerregend hochhackigen Sandaletten hinter Stephen McLaman her in den »Thronsaal«, wie das riesige Büro seines Vaters von den Bediensteten der LAMANTEC AG gerne bezeichnet wurde. Diese Bezeichnung kursierte nur halb im Scherz, denn Thomas McLaman hatte von Anfang an ein äußerst straffes Regiment geführt, welches keinen Raum für Widerspruch oder gegenteilige Auffassungen ließ.

Und nun kam sein Sohn daher und verlangte Einblick in alles und jedes, wollte auch noch den Safe entweihen. Den Safe, dessen Kombination niemand anderes in der Firma kannte und von dem man nur hoffen konnte, dass die geheime Nummernfolge für die Öffnung durch den verstorbenen Chef irgendwo hinterlegt worden war, wo man bislang noch nicht nachgesehen hatte. Denn gefunden hatte man trotz fieberhafter Suche nichts. Aktuell durchsuchte eine Horde von Programmierern den Rechner ihres ehemaligen Chefs nach versteckten Zahlenfolgen. Stephen sah es kopfschüttelnd und dachte sich seinen Teil: »Kaum bist du tot, kommen auch schon die Geier!«

»Stephen, was WOLLEN Sie hier überhaupt? Ich glaube nicht, dass es Ihrem Vater recht gewesen wäre, wenn Sie überall herumschnüffeln. Sein Stellvertreter, Herr Mühlenstein, kommt morgen von seiner Konferenz zurück und wird sich um alles kümmern! Bis dahin lassen Sie bitte alles unangetastet, Sie haben ohnehin keinerlei Befugnisse!«, konstatierte die Hugler in arrogantem Ton. Sie bedauerte längst, ihn leichtsinnigerweise in die Firmenräume eingelassen zu haben. Aber sie hatte eben gedacht, er käme nur vorbei, um sich von den ehemaligen Bediensteten seines Vaters das herzliche Beileid ausdrücken zu lassen oder ein paar persönliche Sachen aus dem Büro abzuholen.

Stephen gab sich gänzlich unbeeindruckt, grinste nur still in sich hinein. Er kannte Annika aus bereits zwei parallelen Leben und wusste daher recht genau, dass sie nur eines wirklich gut konnte: gut aussehen. Ansonsten war vor allem nicht wirklich viel Gehirn hinter diesen sagenhaft großen blauen Kulleraugen auszumachen. Halt nein, das war ungerecht, schalte sich Stephen in Gedanken. Kaffee kochen konnte sie auch noch ganz gut! Vater jedenfalls hatte die Aufgabenteilung so gefallen. Annika repräsentierte und gab das Covergirl der Firma, andere Damen erledigten währenddessen die restliche Arbeit des Sekretariats und ließen sich nebenbei von ihr zähneknirschend schikanieren.

Genau das versuchte sie nun auch mit dem Sohn ihres verstorbenen Chefs. »Wenn Sie nicht sofort verschwinden, rufe ich die Polizei! Ich habe klare Anweisungen und was Sie hier vorhaben, das ist nicht nur Hausfriedensbruch, sondern sogar … ach, keine Ahnung. So etwas wie Diebstahl, Raub oder Veruntreuung, ist ja auch egal!« Wütend funkelte sie ihn an, bevor sie ihr schickes Firmenhandy betont auffällig aus der Jackentasche zauberte.

Dieses Theater wurde Stephen nun doch zu viel. Er verspürte absolut kein Bedürfnis, sich vor diesem kühlen Püppchen und der Polizei rechtfertigen zu müssen. Jedoch war ihm klar, dass ER und niemand sonst in dieser Firma den letzten Trumpf im Ärmel stecken hatte. Denn er kannte die Safe-Kombination, hatte sie im letzten Leben (Gott, wie blöde das klang) selbst oft genug eingegeben, als er noch zur Geschäftsleitung gehörte.

»Wissen Sie was, Annika? Setzen Sie sich einfach wieder hinter ihren Schreibtisch und schlagen die Zeit tot, so wie sonst auch! Ich werde Ihnen den Gefallen tun und jetzt gehen. Aber ich wette mit Ihnen: spätestens in ein paar Tagen werden Sie mich anrufen und auf Knien darum bitten, dass ich Ihnen die Kombination verrate; ich kenne sie nämlich auswendig. Ach, übrigens: beten Sie lieber, dass ich niemals Ihr Chef werde – ansonsten wäre es ganz bestimmt meine allererste Amtshandlung, Sie zu feuern!« Das künstliche, glockenhelle Lachen Annikas, welches sie ihm zum Abschied verächtlich hinterherschickte, klang nicht ganz so souverän, wie sie beabsichtigte; Stephen bemerkte es mit Genugtuung.

Zuhause angekommen, berichtete er seiner Mutter von den Vorkommnissen im Büro ihres Mannes. Kirstie stieg augenblicklich die Zornesröte ins Gesicht und sie stellte ihr Glas mit einem Knall energisch zurück auf die Spüle. Wenn gelegentlich das irische Temperament mit Mama durchging, dann warf sie gerne mit Gegenständen um sich; das Glas hatte gerade noch Glück gehabt.

»Diese aufgeblasene Tussi! Jedes Mal, wenn ich Thomas dringend sprechen hätte müssen, hat sie mich ausgebremst. Und dieser Ton, den die an sich hat! Ich bin mir vorgekommen, als hätte ich dort in der Firma ohne ihre ausdrückliche Genehmigung nicht einmal das Recht zu atmen! Thomas hat sie natürlich auch noch in Schutz genommen, seine rote Ikone. DAS allerdings ist nun vorbei, die kann was erleben!« Kirstie rauschte an ihrem Sohn vorbei durch die Tür, um ihre Schuhe anzuziehen.

»Mama, stopp! Jetzt beruhige dich erst einmal, morgen ist auch noch ein Tag. Schau auf die Uhr, die meisten werden dort sowieso schon gegangen sein; alle bis auf die Programmierer, die sind ja ein wenig nachtaktiv«, schmunzelte Stephen. »Ich bin dafür, dass wir uns so richtig schön BITTEN lassen, vorbeizukommen und den Code zu verraten. Wetten, das werden sie innerhalb absehbarer Zeit tun? Im Safe liegen unter anderem die Zugangsberechtigungen, die Quellcodes für unsere Programme und diverse Kennwörter, die sie früher oder später brauchen werden.«

»UNSERE Programme? Du arbeitest doch überhaupt nicht für die LAMANTEC, oder ist mir da etwas entgangen?« Kirstie hielt irritiert inne, stellte aber den Schuh zurück an seinen Platz. Steve hatte recht, heute würden sie nichts mehr erreichen können. Außerdem gedachte sie Annika höchstpersönlich verbal zu zerlegen und dafür musste diese nun mal anwesend sein.