Operation Terra 2.0 - Andrea Ross - E-Book

Operation Terra 2.0 E-Book

Andrea Ross

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Beschreibung

Was tut eine hoch entwickelte Zivilisation, wenn sie nach Jahrtausenden der Besiedlung sämtliche Ressourcen ihres Planeten ausgebeutet hat und an Überbevölkerung leidet? Manchmal hilft nur die gefahrvolle Reise in die eigene Vergangenheit ... Eine gesellschaftskritische Science-Fiction-Odyssee, die der Menschheit zweier Welten einmal mehr die Grenzen ihrer Möglichkeiten aufzeigt.

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Seitenzahl: 314

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Operation Terra 2.0
Impressum
Prolog
Mars, vor mehr als 3 CALABTUN
Tiberia Wege in den Niedergang
Terra, Zeit: 13.5.5.6.9, Montag
Terra, Zeit: 13.5.5.8.8, Freitag
Terra, Zeit: 13.5.5.8.8, Sonntag
Terra, Zeit: 13.5.6.1.2, Dienstag
Terra, Zeit: 13.5.6.4.2, Samstag
Die Odyssee der Menschheit setzt sich mit dem Start zur Mission Terra 2.0 fort!
Anhang
Glossar
Quellennachweise
Danksagungen
Die Autorin

Operation Terra 2.0

1 | Menschheit im Exil

Andrea Ross

XOXO Verlag

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96752-180-1

E-Book-ISBN: 978-3-96752-533-5

Copyright (2020) XOXO Verlag

Umschlaggestaltung: Grit Richter

© Alexander Etz, Lemon Art Design www.lemonartdesign.com

© Lizenz Foto Umschlag: 123rf.com

Buchsatz: Alfons Th. Seeboth

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

XOXO Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Prolog

Liebe Leser/innen,

gleich vorab möchte ich Ihnen ein Hilfsmittel an die Hand geben, das es ermöglichen soll, sämtliche in dieser Science Fiction-Geschichte enthaltenen Zeitangaben verstehen und einordnen zu können. Es wäre schließlich ziemlich unwahrscheinlich, dass sich die Bevölkerung fremder Welten ausgerechnet am gregorianischen Kalender orientieren würde – nicht einmal hier auf der Erde ist bislang ein global einheitliches Kalendersystem in Gebrauch!

Ich habe mich für das System der Maya entschieden, weil deren überlieferte Lange Zählung auch zur Darstellung großer Zeitspannen geeignet ist. Da dieses Kalendarium den wenigsten Menschen im Alltag geläufig sein dürfte, hier ein kurzer Überblick über die Bezeichnungen und ihren jeweiligen Zahlenwert (vereinfacht durch Weglassen von Kommastellen, daher sind nur ungefähre Werte angegeben):

KIN 1 Tag

UINAL 20 Tage (Monat)

TUN 360 Tage (Jahr)

KATUN 19,73 Jahre

BAKTUN 394,52 Jahre

PICTUN 7.890,41 Jahre

CALABTUN 157.808 Jahre

Einige der im Text angegebenen Datumsangaben für Ereignisse auf Terra können Sie der Einfachheit halber hier nachschlagen:

24.12.0001 v. Chr. nach unserer Zeitrechnung

nach unserer Zeitrechnung

Selbstverständlich gäbe es rund ums mayanische Kalendersystem noch viel mehr zu erklären, aber ich will Ihnen doch endlich ohne weitere Umschweife meine Geschichte erzählen … sollte ich Ihr Interesse an der Thematik geweckt haben – in den Quellenangaben am Ende dieses Buches sind hilfreiche Fundstellen für weitere Informationen verzeichnet, außerdem finden Sie dort ein Glossar und Wissenswertes über den Planeten Tiberia.

Wer weiß? Vielleicht haben die alten Maya dieses System auch gar nicht selbst erfunden, sondern es ist tatsächlich auf anderen Wegen in ihre hochentwickelte Zivilisation gelangt …

Ihre Autorin Andrea Ross

Mars, vor mehr als 3 CALABTUN

Mein Name ist Karon. Erst vor kurzer Zeit wurde ich offiziell zum Chronisten dieser allerletzten Marskolonie ernannt, die derzeit noch bewohnbar ist. Mir

obliegt die schwere Bürde, die finsterste Epoche unserer sterbenden Zivilisation für die Nachwelt aufzuzeichnen. Das in mich gesetzte Vertrauen ehrt mich, doch plagen mich auch lähmende Zukunftsängste. Nichts und niemand kann diesem wahr gewordenen Albtraum entkommen.

Welche grauenvollen Schauergeschichten werde ich in den kommenden Stunden und KIN niederzuschreiben haben?

Ich weiß weder, ob diese Zeilen jemals gefunden werden, noch ob irgendjemand sie gegebenenfalls entziffern könnte. Tief in den Höhlen werde ich sie vor unserer Abreise in einer hitzeresistenten Kapsel verbergen, damit sie die kommenden Zeitalter hoffentlich unbeschadet überdauern können. Das stabile Behältnis ist mit einem sehr langlebigen Sender ausgestattet, welcher eventuelle Ankömmlinge auf den Fundort aufmerksam machen soll.

Erschreckend vorgezeichnet dünkt mir das Schicksal unseres geliebten Heimatplaneten, den wir nun für alle Zeit verlassen müssen. Welches vorbeiziehende Schiff sollte sich ernsthaft für eine verbrannte Welt aus Kälte interessieren, die kaum mehr Atmosphäre besitzt − geschweige denn, ein schützendes Magnetfeld?

Schon jetzt kann nichts und niemand mehr an der Oberfläche existieren. Allein die menschliche Neugier könnte ambitionierte Forscher eines fernen Tages auf diesen kahlen, toten Felsbrocken treiben.

In wenigen Stunden werden wir mit zwei Raumschiffen aufbrechen. Jedenfalls diejenigen von uns, welche übriggeblieben sind. Wir lassen unsere kulturellen Wurzeln in den schnell verfallenden Ruinen einer einst blühenden Umgebung zurück − und mit ihr unzählige Tote. Sie werden mit der Oberfläche dieses sterbenden Planeten verschmelzen, als hätten sie niemals gelebt.

Wie konnten wir es nur so weit kommen lassen? Hätten wir die Anzeichen einer nahenden Katastrophe mithilfe unserer fortgeschrittenen Technik nicht früher erkennen und darauf reagieren müssen?

Selbstverständlich gab es in der Vergangenheit warnende Stimmen! Immer wieder haben renommierte Wissenschaftler verzweifelt versucht, wider die Politik unserer allzu sorglosen Regierung zu insistieren. Doch sie wurden systematisch mundtot gemacht; im besten Fall stellte man sie als unkende Unheilspropheten dar, die man wegen einer sehr wahrscheinlichen geistigen Krankheit nicht ernst zu nehmen hätte.

Jetzt ist es zu spät. Auch ich muss ein paar Habseligkeiten zusammenraffen, die uns mitzunehmen erlaubt sind. Die seismischen Schwarmbeben vermehren sich, werden spürbar stärker. Mit einem Ausbruch des Vulkans ist wohl in Kürze zu rechnen. Nicht auszudenken, falls dies noch vor unserem Start geschähe!

Viele meiner Mitmenschen verfallen bereits in blinde Panik, denn niemand kann garantieren, dass nicht innerhalb der nächsten Sekunden sengend heiße Lava durch die unterirdischen Röhrensysteme schießt, in die wir uns seit einigen Jahrzehnten zum Schutz vor der vernichtenden Strahlung geflüchtet haben. Die Natur hat sich mit aller Macht gegen den Menschen verschworen. Es steht außer Frage, dass sie diesen ungleichen Kampf klar gewinnen wird.

So sind dies die wahrscheinlich letzten Buchstaben, die auf diesem vierten Planeten des Sonnensystems niedergeschrieben werden, dessen endgültiges Sterben unübersehbar eingesetzt hat. Wir nannten unsere Heimat ›Mars‹, doch fremde Völker aus fernen Galaxien werden wohl dereinst neue Bezeichnungen für sie wählen.

Ich, der Schreiber Karon, beende hiermit dieses schriftliche Vermächtnis in der Hoffnung, dass andere Zivilisationen aus unseren Fehlern lernen mögen. Man muss innovativen Ideen nicht zwangsläufig Taten folgen lassen, nur weil man es kann!

Was in einseitiger Betrachtung als Segen für die Geschöpfe dargestellt wird, kann stets abrupt ins Gegenteil umschlagen oder von Menschen minderwertigen Charakters pervertiert und missbraucht werden. Ist die Kettenreaktion der Zerstörung erst in Gang gesetzt, führt der Weg eines jeden Volkes schnurgerade Richtung Abgrund.

Für die meisten von uns kommt diese Erkenntnis leider zu spät. Sollten wir auf dem fernen Exoplaneten Tiberia die Chance für einen Neuanfang bekommen, werden wir uns hieran zu erinnern haben. Es ist an mir und meinen Nachfolgern, die tragische Geschichte unseres Untergangs über die Generationen hinweg am Leben zu erhalten.

Das zweite Schiff wird zum dritten Planeten unseres eigenen Sonnensystems fliegen, den wir Terra nennen. Es wird eine im Verhältnis wesentlich kürzere Strecke zurückzulegen haben. Aber was wird die Bedauernswerten, denen dieses Los zugefallen ist, dort erwarten?

Tiberia Wege in den Niedergang

Die Freunde Solaras und Arden saßen auf einem Felsvorsprung und genossen die wunderbare Stille. Gerne kamen sie hierher in die Abgeschiedenheit, um gemeinsam ihren Gedanken nachzuhängen oder inspirierende Gespräche zu führen. Meist verabredeten sie sich hierzu nicht einmal, sondern verspürten ungefähr zur selben Tageszeit das dringende Bedürfnis, sich für eine Weile aus dem summenden Bienenstock ihrer Gemeinschaft zu entfernen.

Es war mittlerweile nicht mehr ganz einfach, überhaupt noch ein Fleckchen mit Privatsphäre zu ergattern. Arden hatte diese Idylle mehr durch Zufall entdeckt, als er eines Tages mit seinem Gefährt versehentlich von der schmalen Piste abkam und wider Willen in einem Gebüsch landete.

Durch einen kurzzeitigen Ausfall des Magnetstromes konnte es mitunter vorkommen, dass Fahrzeuge seitlich von den Pisten rutschten. In letzter Zeit allerdings schien sich bei der Wartung der Verkehrswege ein gewisser Schlendrian einzuschleichen, was leider Auswirkungen auf die Sicherheit zeitigte.

Das dornige Gebüsch hatte Arden gehörig beide Arme zerkratzt, daher reagierte er zunächst verärgert auf sein Missgeschick. Dann jedoch gewahrte er aus dem Augenwinkel eine schmale, kaum sichtbare Felsspalte, die vage durch die dornigverschlungene Pflanzenansammlung schimmerte.

Neugierig war er hindurchgekrochen, um sich staunend in einem kleinen abgelegenen Tal wiederzufinden.

Das ringsum von hellen Felsen umfriedete, fast quadratische Areal war nicht sehr groß. Man konnte es von einem Ende zum anderen mit siebzig großen Schritten durchmessen. Dennoch bot es genügend Platz für einen seichten Teich, riesige, saftig grüne Farne und einen freien Blick in den Himmel.

Türkisgrüne Lichtreflexe irisierten je nach Sonneneinstrahlung, schufen eine indirekte Beleuchtung; der grünlich-blaue Himmel wurde durch die intensive Farbe der Vegetation noch verstärkt. Leuchtende Blütenkelche kleiner kobaltblauer Blumen nickten im sanften Wind, ab und zu durchbrachen weiße Fischleiber die spiegelglatte Oberfläche des Teiches. Das iridiumhaltige Gestein glänzte silbrig im Tageslicht, rundete die atemberaubend schöne Szenerie ab.

Arden dämmerte schnell, welch ein Juwel er zufällig gefunden hatte. Keinerlei Spuren menschlicher Anwesenheit waren hier zu sehen. Ein flacher, leicht zu erklimmender Felsen lud förmlich zum Niedersitzen und Genießen ein. Was hätte näher gelegen, als seinem besten Freund aus der Sektion Wissenschaft hiervon zu berichten? Und zwar ausschließlich ihm?

Sicher, egoistisch motivierte Gedanken und Handlungen waren verpönt. Seit einiger Zeit wurden aber immer mehr Stimmen laut, welche die derzeit noch herrschende, ausnehmend strikt-absolutistische Lebensweise auf Tiberia kritisch hinterfragten. Eine Gegenströmung war in der Entstehung begriffen, auch wenn man sie von offizieller Seite noch fleißig negierte. Etwas lag in der Luft.

Arden hatte jedenfalls für sich selbst beschlossen, seine revolutionäre Gedankenwelt im Großen und Ganzen für sich zu behalten und nach außen hin weiter den gehorsamen, sehr linientreuen Geschichtsschreiber zu mimen. So würde er bei der Obrigkeit nicht anecken, hätte sich auf diese Weise aber zumindest im Kopf ein wenig Freiheit vom System ergattert. Schon wegen dieser unentdeckten Enklave hier, die ihm ein gelegentliches Verschwinden aus dem Gewusel geschäftiger Menschen ermöglichte.

Vor etwa 0,0069 KIN war Solaras im Felsenrund eingetroffen, hatte sich wie üblich ohne größere Begrüßungsformeln neben ihn auf den Felsen gesetzt. Haargenau dieses stillschweigende Einverständnis schweißte die in etwa gleichaltrigen Männer schon seit Kindertagen zu Freunden und innig Vertrauten zusammen.

Dieses Mal war es der sanfte Solaras, der etwas Wichtiges auf dem Herzen hatte. Versonnen strich er sein langes Haar hinter die Schultern zurück, das den Status als Wissenschaftler anzeigte − zusammen mit der traditionell kobaltblauen Farbe seines fast bodenlangen Gewandes.

»Arden, ich hätte ein paar dringende Fragen an dich! Natürlich weiß ich, dass du mir diese eigentlich nicht beantworten dürftest. Schließlich haben wir strenge Regeln für die Interaktion mit anderen Unter-Sektionen zu beachten. Genauso wenig darf ich wiederum dir Auskunft über die Tätigkeiten des wissenschaftlichen Bereichs liefern.

Aber es ist neuerdings etwas Merkwürdiges im Gange, dessen Auswirkungen ich nur schlecht einschätzen kann. Ich bin beunruhigt, um es genau zu sagen. Könnten wir bitte die Gewaltenteilung für heute außer Acht lassen? Vertraust du mir?«

Arden lächelte. »Was für eine Frage! Wir sollten beim Sprechen besser den Eingang im Auge behalten … nicht auszudenken, wenn uns jemand bei einem solchen Vergehen ertappen würde!«

»Ich weiß!«, nickte Solaras. »Ich werde versuchen, mich so kurz als irgend möglich zu fassen. Spätestens in 0,042 KIN sollten wir getrennt den Rückweg in die Zivilisation antreten, damit unsere Abwesenheit nicht auffällt. Man würde uns sonst bestimmt als Verschwörer verurteilen, denn dieser Informationsaustausch ist eindeutig illegal.«

Solaras atmete tief durch. Das schlechte Gewissen ließ sich dummerweise nicht vollständig unterdrücken. Seine Ausbildung war viel zu gründlich gewesen, als dass er sich jetzt mühelos darüber hinwegsetzen hätte können. Manchmal fragte er sich sogar, ob das Bildungssystem Tiberias nicht eher einer ausgeklügelt organisierten Gehirnwäsche gleichkäme. Ardens beunruhigter Blick signalisierte ihm, dass er wohl ähnliche Ängste hegte.

»Arden, ich würde deinen Status als einem der führenden Geschichtsschreiber der Sektion bestimmt nicht gefährden, wenn es nicht wirklich Klärungsbedarf gäbe. In letzter Zeit habe ich jedoch so einige Gesprächsfetzen zwischen unserer Vordersten Alanna und diversen Kollegen von mir aufgeschnappt. Eine Audienz nach der anderen fand im großen Saal statt!

Ich konnte nicht anders, musste einfach darüber nachsinnieren. Es ging zweifellos um die existenzielle Frage, wie man den Niedergang unserer Zivilisation verhindern könne!«

»Den Niedergang? Hast du dich auch nicht verhört? Freilich, in letzter Zeit liegt einiges im Argen und das Bauland wird knapp. Bisher ist es jedoch stets gelungen, eine Lösung zu finden. Was sollte jetzt plötzlich anders sein?«, fragte Arden irritiert und zupfte nervös am Ärmel seines grünen Gewandes.

»Irrtum ausgeschlossen! Man hat mir zwischenzeitlich nämlich eine Frage gestellt, die das Gehörte unmissverständlich untermauerte.

Aber ich will von vorne beginnen, um dich nicht zu verwirren! Du bist ja bestens mit den Aufzeichnungen unseres ehrwürdigen Vorfahren Karon vertraut, der vor langer Zeit detailliert beschrieb, wie es zum Untergang der Mars-Zivilisation kam. Jedenfalls den Anteil am Desaster, welchen der Mensch höchstpersönlich verursacht hat. Nun ja … es scheint, als würden sich die Fehler der Vergangenheit wiederholen!«

Arden schüttelte den Kopf. »Wie bitte?! Das ist doch gar nicht möglich! Von Anfang an haben wir auf Tiberia alles vermieden, was auch nur ansatzweise in die falsche Richtung abdriften könnte. Angefangen bei der Gesellschaftsordnung bis hin zur Energieund Baupolitik. Wir haben weder die Umwelt ausgebeutet, noch diese mehr als nötig verschmutzt. Die Luft ist sauber, die Atmosphäre intakt. Es gibt zwar gelegentlich kleinere, regionale Auseinandersetzungen – doch von einem Krieg sind wir meilenweit entfernt. Was also sollte unsere Gesellschaft aus den Angeln heben?«

»Genau diejenigen Umstände, welche du mir soeben voller Stolz beschrieben hast, so abstrus dies auf den ersten Blick klingen mag. Das Fehlen größerer Naturkatastrophen, das milde Klima und die intakte Umwelt zeichnen verantwortlich dafür, dass unsere Bevölkerungszahl immer weiter angeschwollen ist. Wegen unserer strikten Vorsichtsmaßnahmen blieben wir von Seuchen ebenso verschont wie von Kindersterblichkeit. Arden, wir sind einfach zu viele geworden!

Offenbar hat das Bevölkerungswachstum bereits ein kritisches Stadium erreicht. Unzufriedenheit macht sich breit, sobald Menschen eng zusammengepfercht leben müssen. Dieser Frust wiederum wird über kurz oder lang in Anarchie münden, denn die Natur hilft sich irgendwann gegen allzu dominante Spezies selbst. Ich spreche von chaotischen Zuständen, lieber Arden!

Zuerst hat man die Anzeichen kaschiert, an den Symptomen herumkuriert. Darauf vertraut, dass sich Aggressivität wie bisher in sportliche Aktivitäten und Wettkämpfe kanalisieren lässt. Doch inzwischen scheint die gängige Art der Kompensation nicht mehr zu funktionieren. Unsere Friedfertigkeit ist lediglich über viele Generationen hinweg antrainiert, kann im Extremfall jederzeit wieder ins Gegenteil umschlagen.

Es werden bereits Stimmen laut, die fordern, dass ein Teil der Bevölkerung transferiert werden soll. Hauptsächlich Menschen aus der Sektion Landwirtschaft und Versorgung wären hiervon betroffen, weil deren Anzahl am extremsten zugenommen hat.

Jeder weiß doch, dass die Ungebildetsten unserer Gesellschaft es mit der Geburtenkontrolle alles andere als ernst nehmen! Sie vermehren sich nach Lust und Laune, schon weil sie keinen Überblick über die Gesamtzusammenhänge besitzen. Und genau hier, lieber Arden, zeigen sich die Schwächen unseres perfekt erscheinenden Systems!

Wie soll jemand eine Entscheidung der Regentenfamilie auf Dauer mittragen, wenn er den tieferen Sinn hinter ihren Anordnungen nicht zu eruieren vermag? Ich habe gehört, dass sich die Landwirte bereits zusammenrotten und ziemlich aufmüpfig werden. Das ist eine wahrhaft gefährliche Entwicklung, findest du nicht?«

Solaras forschte aufmerksam in der Miene seines Freundes danach, wie dieser die besorgniserregenden Nachrichten aufnahm. Erwartungsgemäß schwankte dessen Mimik zwischen Betroffenheit und Skepsis.

»Sie wollen Menschen transferieren? Aber wohin denn nur? So viel mir bekannt ist, haben unsere Sonden noch keinen einzigen Planeten entdeckt, der für ein solches Vorhaben infrage käme. Zwar gibt es eine stattliche Anzahl habitabler Planeten, die über die richtige Zusammensetzung der Atmosphäre, ein annehmbares Klima und Oberflächenwasser verfügen – doch keiner davon würde sich für eine Besiedelung von Hominiden eignen. Das hast du mir doch selbst kürzlich erst erzählt!

Wie war das doch gleich? Auf manchen der augenscheinlich vielversprechenden Kandidaten leben aggressive Bakterien, die uns Menschen innerhalb kürzester Zeit den Garaus machen würden. Auf anderen haben sich riesige fleischfressende Primaten herausgebildet, die neue Siedler wohl kaum akzeptieren dürften – es sei denn als Futterquelle.

Habe ich etwas Wesentliches verpasst, konntet ihr Wissenschaftler zwischenzeitlich etwa doch eine schöne neue Welt auftun?«, echauffierte sich Arden ungewohnt heftig. Ironie stand ihm überhaupt nicht gut zu Gesichte, fand Solaras in diesem Augenblick.

»Nein, hast du nicht. Das ist derzeitig der Stand der Dinge und gleichzeitig einer der Gründe, weshalb ich mit dir sprechen wollte. Alanna hat mich zwischenzeitlich nämlich ebenfalls zu einem Gespräch gebeten. Es soll dabei um die Frage gehen, ob ich zur Teilnahme an einer Mission bereit wäre. Zum Wohle unseres Volkes soll eine Abordnung nach Terra reisen. So, nun weißt du, weshalb mich gewisse Sorgen plagen!«

»Ausgerechnet nach Terra! Moment mal … die sind doch hoffentlich nicht auf die Idee gekommen, einen Teil der Bevölkerung dorthin umzusiedeln? Wie damals, als der Mars zu einem unbewohnbaren Felsbrocken wurde? Man hat doch hinlänglich gesehen, dass dieses Konzept zum Scheitern verurteilt war! Während sich das Leben auf Tiberia prächtig weiterentwickelte, sind die irdischen Menschen … na ja, sagen wir: entartet!«

Solaras nickte traurig, strich mit einem Zeigefinger versonnen über die samtige Oberfläche eines wohlgeformten Blütenkelchs.

»Da teile ich deine Ansichten punktgenau. Deswegen hätte ich vor dem Gespräch mit Alanna gerne nähere Informationen zur Geschichte von Terra, deren Hüter du bist. Sonst wüsste ich nicht, worauf genau ich mich im Falle meines Einverständnisses einlassen würde, verstehst du? Einerseits möchte ich unserer Gesellschaft einen Dienst erweisen, andererseits aber nicht für eine unrealistische Idee geopfert werden. Wirst du mir die Informationen liefern, die mich interessieren?«

Arden zögerte kurz, denn er hatte das leise Sirren eines passierenden Magnetfahrzeugs vernommen.

»Selbstverständlich! Aber nicht jetzt, wir sollten uns aus Sicherheitsgründen allmählich von hier entfernen. Beim nächsten Treffen, ich verspreche es dir! Wann genau ist denn dein bedeutungsschwerer Termin mit Alanna?«

»Schon in 7 KIN. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«

»Verstanden! Ich werde gerne sehen, was ich für dich tun kann. Gehst du heute als Erster zur Piste zurück, oder soll ich den Anfang machen?«

»Ich bleibe lieber noch einen Augenblick ruhig hier sitzen, hänge die Füße ins Wasser. Geh ruhig, mein Freund, und lasse besser niemanden sehen, aus welcher Richtung du kommst.«

Als Arden seinen Mitverschwörer verließ, war er deutlich nervöser als sonst. Er war im Besitz eines Geheimnisses, welches nicht für seine Ohren bestimmt gewesen war. Das versetzte ihn in die missliche Lage, seine Bestürzung sorgsam verbergen zu müssen.

Was war da Unheimliches im Gange? Er würde seinerseits im Zentrum künftig etwas mehr Aufmerksamkeit an den Tag legen müssen, damit ihn die Ereignisse nicht überrollten. Genau wie Solaras. Wer konnte schon wissen, ob die Sektion Geschichte nicht ebenfalls in das mysteriöse Unterfangen involviert sein würde?

*

Nachdenklich trottete Arden durch ein lichtes Waldstück mit Nadelgehölzen, sorgsam darauf achtend, dass er möglichst wenig vom Bodenbewuchs aus Bärlappgewächsen zertrampelte. Man hatte ihn Achtsamkeit gegenüber allen Lebewesen gelehrt und hierzu zählte auch die reichhaltige Flora seiner Heimat.

Das schwülwarme Klima ließ ihm stetig Schweißtropfen aus den Haaren rinnen – wobei er sich nicht ganz sicher war, ob er nicht hauptsächlich wegen der Mitteilungen von Solaras ins Schwitzen gekommen war. Noch immer hoffte er, sein Freund hätte etwas nur falsch verstanden oder in einen verkehrten Zusammenhang gebracht.

Konnte es denn tatsächlich im Bereich des Möglichen liegen, dass das Leben auf diesem wunderbaren Planeten in Gefahr schwebte? Hätte man die Bevölkerung in einem solchen Fall nicht längst informieren müssen, um drohendem Chaos von vorneherein entgegen zu wirken?

Arden sah sich um. Alles wirkte friedlich und geordnet. Nur wenige Pisten durchzogen in dieser Region das Land; sie waren durchwegs aus einem federleichten und doch sehr stabilen Material gefertigt, welches Magnetströme leitete. Diese wiederum sorgten dafür, dass die leisen, emissionsfreien Fahrzeuge mit einem immer gleichen Sicherheitsabstand in gemächlicher Geschwindigkeit zum Ziel gelangten. Bodenunebenheiten glich man mühelos aus, indem man die Pisten auf niedrigen Pfählen montierte.

Oh ja, man hatte aus den Fehlern der Urväter gelernt! Sowohl auf dem Mars als auch auf Terra verwendete man früher fossile Brennstoffe, um rasend schnelle Fortbewegungsmittel anzutreiben. Nur, wozu die Eile? Man konnte zu Fuß gehen, oder etwas größere Distanzen mit einem der überall frei zugänglichen Magnetfahrzeuge zurücklegen; diese sehr umweltfreundlichen Transportmittel fassten jeweils vier Personen und verfügten über einen Stauraum von ausreichender Größe.

Niemand wäre auf Tiberia der seltsamen Idee verfallen, fremde Distrikte oder gar die andere Seite des Planeten erkunden zu wollen! Einzig die Vordersten der übergeordneten Hauptsektionen mussten gelegentlich gigantische Entfernungen überbrücken, um miteinander zu konferieren oder Informationen an die Regentenfamilie zu überbringen. Dazu benutzten sie dann jedoch fliegende Raumfahrzeuge.

Aus welchem vernünftigen Grund hätte man seinen zugeteilten Lebensund Arbeitsbereich auch verlassen sollen? Die Oberfläche Tiberias war zum Großteil von warmen Süßwassermeeren bedeckt, die an keiner Stelle so tief waren, dass man darin nicht hätte stehen und den Grund sehen können. Dichte Regenwälder und Sumpfpflanzen durchzogen diese fischreichen Gewässer wie Lebensadern. An manchen Stellen wurden die Landmassen durch hügeliges, bunt blühendes Grasland unterbrochen. Vom Weltall aus wirkte Tiberia deswegen türkisfarben bis grünlich – nicht blau wie beispielsweise Terra.

Die ankommenden Marsianer waren einst froh, der Katastrophe auf ihrem Heimatplaneten knapp entkommen zu sein und passten sich nahtlos an diese vorgefundenen Gegebenheiten an; der Mensch fügte sich als neuer Bestandteil in die Landschaft ein, anstatt sie für seine Zwecke zu zerstören. Staunend und dankbar schworen sich die Neuankömmlinge, niemals wieder ihre eigene Existenz aufs Spiel zu setzen. Arden hatte sich wieder und wieder fasziniert mit den Aufzeichnungen der ersten Siedler befasst, denn sie wurden von seiner Sektion sorgfältig konserviert und aufbewahrt.

Auf Tiberia musste kein einziger Baum jemals einem ehrgeizigen Bauvorhaben weichen! Man wusste um die Bedeutung eines funktionierenden Ökosystems, denn der Mensch und seine Umgebung standen schließlich in einer stetigen Wechselwirkung zueinander.

Deswegen gab es zwei verschiedene Typen von Wohnhäusern, deren Design von klugen Köpfen dem jeweiligen Standort angepasst worden war. Auf den Wasserflächen schwammen die Plattformen und Pisten für die Fahrzeuge. Dazwischen befestigte man je nach Bedarf die Wohnhäuser für die Bevölkerung und verankerte alles sicher an der Uferlinie. Stürme oder allzu hohen Wellengang gab es auf Tiberia nicht, somit dümpelten die schwimmenden Städte nur sanft vor sich hin.

Jedes Modul konnte innerhalb kürzester Zeit wieder entfernt oder ausgetauscht werden, ohne Spuren zu hinterlassen. Die tierischen Meeresbewohner tauchten einfach unter den menschlichen Siedlungen hindurch oder nutzten diese sogar als Schutzzone, um Eier abzulegen und ihre Jungen aufzuziehen.

Optisch dominierten am Wasser runde oder wellenförmige Designs, wobei die Fassaden in allen nur denkbaren Blautönen schimmerten. Kein Gebäude bekam mehr als ein Stockwerk, damit die Endkonstruktion auf dem Wasser nicht zu sehr schwankte. Konnte es etwas Ansprechenderes geben?

Manche Menschen bevorzugten es, die saftig grünen Wälder zu bewohnen. Einige Wohneinheiten waren in luftiger Höhe als Baumhäuser angebracht, andere standen auf stabilen Pfählen, die man in den Waldboden getrieben hatte. Auf diese Weise wurde weder der Bodenbewuchs zerstört, noch versiegelte man Flächen gegen das Regenwasser.

Die Formgebung der Wohngebäude griff genau wie die Fassaden die Besonderheiten des Waldes auf: sie liefen nach oben hin schmal zu und spiegelten sämtliche Grünund Braunschattierungen wider, als hätte die Natur selbst sie sorgsam gestaltet. Man musste schon zweimal hinsehen, um sie zwischen den Bäumen zu entdecken.

Allein das Grasland war anderen Zwecken vorbehalten. Hier standen die verschiedenartigen Nutzbauten der vier Sektionen, streng voneinander abgegrenzt und nur von Angehörigen der eigenen Sektion erreichbar.

Diese Beschränkung stellte die einzige Restriktion für die Bevölkerung dar – alle anderen Flächen des Planeten durften von jedermann frei betreten werden, denn das Land war nicht in private Parzellen aufgeteilt. Alles gehörte jedem und niemandem, kein Zaun oder Wall grenzte bestimmte Gebiete ein.

Im Grasland befanden sich auch der riesige Raumbahnhof und die Fertigungsanlagen für Häuser, Fahrbahnen und die vielfältig nutzbare Magnettechnik. Ansprechend gestaltete Wettkampfstätten, Bibliotheken, Hologramm-Kinos, Wasserparks und Freilichttheater sorgten dafür, dass Körper und Geist ausreichend Erholung fanden.

Landwirte und einfache Handwerker hatten hier im Grasland traditionell nichts zu suchen. Ihnen waren bestimmte Gebiete zugeteilt, in denen sie ihre Felder bestellen und den jeweiligen Handwerken nachgehen konnten. Sie blieben meistens unter sich, nur alle 14 KIN suchten einige dieser einfachen Menschen die umliegenden Siedlungen auf, um ihre Produkte zu liefern. Ihnen war bewusst, dass sie im Austausch dafür Schutz, technische Errungenschaften und Fortschritt erwarten durften.

Die Angehörigen der Sektion Landwirtschaft und Versorgung verfügten weder über eine höhere Schulbildung, noch stand ihnen ein Mitspracherecht bei grundsätzlichen Entscheidungen zu. Jeder wurde seinen Neigungen und Talenten gemäß eingesetzt, denn schon in der Jugend zeigte sich, welches Geschick der Einzelne besaß.

Warum hätte man die Bauern und Handwerker auch darüber hinaus ausbilden sollen? Sobald die breite Bevölkerung auf die Idee gekommen war, im Wege einer Demokratie an der Regierung teilhaben zu wollen, war damals auf dem Mars alles schief gegangen. Von Terra ganz zu schweigen!

Nur sehr wenige Menschen konnten verantwortungsvoll mit Macht umgehen, oder eigneten sich als Entscheidungsträger. Sie mussten sorgfältig ausgewählt und auf ihre schwere Aufgabe schon von frühester Kindheit an vorbereitet werden. Was auch für die Wächter galt.

Arden schauderte bei dem unangenehmen Gedanken, dass nicht nur frühere Menschengeschlechter unablässig damit beschäftigt gewesen waren, möglichst viel Eigentum zusammenzuraffen, um sich mithilfe sinnlosen Plunders Macht über andere zu verschaffen. Erst vor kurzem hatte eine Expedition nach Terra bei ihrer Wiederkehr entsetzt von den fürchterlichen Auswirkungen solch egoistischen Verhaltens berichtet.

Und Solaras meinte nun allen Ernstes, Teile der Tiberianer würden sich ausgerechnet dort wieder ansiedeln können? Jemand, der diesem Transfer freiwillig zustimmen wollte, konnte doch nicht normal im Kopf sein! Er musste sich getäuscht, aus dem Gehörten falsche Schlüsse gezogen haben.

Dieses Paradies für immer zu verlassen − das konnte man sicher niemandem reinen Gewissens zumuten! Zum Glück lag das Sonnensystem, dem Tiberia angehörte – jedenfalls nach irdischen Maßstäben – etwa 2.700 Lichtjahre von Terra entfernt, war somit von dort aus nicht erreichbar. Die Raumfahrttechnik steckte auf jenem halb verwüsteten Planeten noch in den Kinderschuhen, das wusste er von Solaras. Zumindest eine Invasion der dortigen, total degenerierten Hominiden war auf Tiberia also nicht zu befürchten.

Ardens Laune besserte sich nach dieser beruhigenden Erkenntnis schlagartig, als er seine gemütliche Behausung im Wald ohne besondere Vorkommnisse erreichte.

*

Die Vorderste der Sektion Wissenschaft, Geschichte, Technik und Schrift wirkte ungewöhnlich matt. Die stundenlangen Diskussionen im zentralen Saal ihrer Einrichtung hatten sie gründlich zermürbt. Trotzdem musste sie durchhalten, denn ein Ende der Gespräche schien noch lange nicht in greifbare Nähe zu rücken.

»Könnte mir bitte jemand noch einen Energieschub verabreichen?«, rief sie einer Ansammlung schräg hinter ihr wartender Mediziner zu.

»Selbstverständlich, Vorderste!« Ein ganz in Gelbgrün gekleideter Mann eilte herbei, zog ein quadratisches Etui aus seinem Gewand hervor. Diesem entnahm er ein handliches weißes Gerät, platzierte es direkt auf dem Solarplexus Alannas. Ein optisch kaum wahrzunehmender Lichtbogen versorgte sie augenblicklich mit neuer Kraft. Man bezeichnete diese praktischen Hilfsmittel als ›Chaktivatoren‹, weil man mit deren Hilfe die Energiezentren des Menschen, also die Chakren, gezielt aktivieren konnte.

»Das ist schon viel besser! Also, wo waren wir stehengeblieben? Ach, genau. Die Terraforming-Option für den Mars! Darf ich also nach den bisherigen Ausführungen davon ausgehen, dass wir diesen Gedanken nicht weiter verfolgen sollten?« Die siebenköpfige Abordnung der führenden Wissenschaftler Tiberias nickte einhellig, darunter auch Solaras.

»Na schön!«, sagte Alanna erleichtert. »Der Schreiber möge bitte zu Protokoll nehmen, dass ein Transfer von Bevölkerungsteilen auf den Mars nicht infrage kommt. Und zwar aus folgenden Gründen:

Erstens würde es viel zu lange dauern, die notwendigen Gerätschaften aufzubauen und eine Biosphäre zu errichten. Ein dorthin entsandtes Wissenschaftler-Team hätte außerdem neben der lebensbedrohlichen Strahlung mit den rötlichen Feinstaubpartikeln zu kämpfen, welche die Restatmosphäre des Mars durchsetzen und Raumanzüge beschädigen können; die scharfkantigen Teilchen würden auch Filteranlagen verstopfen und im Falle von Staubstürmen die Solaranlagen ineffektiv machen.

Zudem existiert flüssiges Wasser nur noch unterhalb der Kryosphäre. Wir müssten es mühselig nach oben befördern, um die Trinkwasserversorgung und die Bewässerung der Kulturpflanzen zu gewährleisten. Selbst wenn wir all diese Probleme sicherlich innerhalb absehbarer Zeit lösen könnten: der Planet ist nach wie vor vulkanisch aktiv – wer weiß schon genau, wann der große Kegel wieder ausbrechen und seine Umgebung verheeren wird?

Dann wäre da noch ein zweiter, mindestens ebenso wichtiger Hinderungsgrund. Die vielen Bauteile für ein BiosphärenHabitat müssten hier auf Tiberia gefertigt und anschließend schubweise zum Mars transportiert werden. Das würde bedeuten, dass wir weitere Teile des Graslandes für Fertigungshallen und Raumtransporter annektieren müssten. Wir sind aber mit den Nutzflächen schon ohne solche zusätzlichen Bauprojekte hart am Limit!

Im Endeffekt würden wir also unsere heimatliche Landschaft beschädigen, nur um ein Projekt von ungewisser Erfolgsaussicht ins Leben zu rufen. Das ist für die Bevölkerung keinesfalls tragbar. Die Regentenfamilie könnte einem derartigen Vorschlag aus Fürsorgegründen ebenfalls nie zustimmen! Wir müssen uns somit etwas Besseres überlegen«, schloss Alanna ihre Zusammenfassung fürs Protokoll kopfschüttelnd ab.

»Realistisch betrachtet bliebe uns somit nur eine Option übrig. Euch ist doch sicherlich längst bewusst, welche ich hier anspreche?«, fragte Alanna in die Runde, forschte dabei aufmerksam in den Gesichtern ihrer führenden Wissenschaftler.

Solaras meldete sich zu Wort. Er drückte mit vorsichtig gewählten Worten aus, was offenkundig alle anderen Wissenschaftler im Saal ebenfalls über dieses Thema dachten.

»Terra? Bei allem Respekt – das kann doch nicht Euer Ernst sein, Vorderste! Schon die Grundvoraussetzungen für eine Besiedlung sind dort äußerst ungünstig, selbst wenn man die nahezu flächendeckenden Verwüstungen durch den Menschen einmal außen vor ließe.

Bedenkt doch bitte, es handelt sich um einen Planeten mit zerbrochener Erdkruste. Das bedeutet unter anderem ständige Erdbeben, welche die Bevölkerung und ihre Wohnstätten bedrohen! Mehrere Supervulkane könnten alles Leben innerhalb kürzester Zeit ausradieren, wir haben deren riesige Magmakammern doch erst wieder vermessen! Die Ergebnisse fielen alles andere als beruhigend aus.

Außerdem herrschen dort extreme klimatische Unterschiede zwischen den verschiedenen Regionen, von desaströsen Wetterphänomenen wie Hurrikanen, Überflutungen und schweren Gewittern ganz zu schweigen.

Die Meere sind tief und unruhig, können daher nicht für eine Besiedelung nach hiesigem Vorbild genutzt werden. Weite Gebiete auf dem Festland liegen ebenfalls brach – weil sie atomar verstrahlt oder mit Chemikalien verseucht sind. Überhaupt ist dort alles voller Müll; selbst im Weltall umkreist zurückgelassener Schrott den Planeten, als wäre das eine vielsagende Warnung an potentielle Besucher!

Die derzeitigen Bewohner von Terra sind meines Erachtens wahnsinnig geworden, bekriegen sich ständig untereinander. Sogar bis hin zur drohenden Selbstvernichtung. Sie kennen nur einen einzigen Lebensinhalt, nämlich das Streben nach ihrem Zahlungsmittel und Macht. Das ist doch kein annehmbarer Lebensraum für uns!«, fasste Solaras seine Gedanken trocken zusammen.

Alanna seufzte. Sie hatte durchaus mit einigem Widerstand gerechnet, jedoch nicht mit dieser ungewohnten Einigkeit unter den Sieben. Wie eine geschlossene Front saßen die Wissenschaftler mit versteinerten Mienen am Besprechungstisch und ließen keinen Zweifel daran, was sie von der Idee hielten. Normalerweise waren stets einer oder zwei unter ihnen, die eifrig als Opposition fungierten. Ausgerechnet heute schien jedoch schönste Eintracht zu herrschen.

Die Vorderste der Sektion Wissenschaft, Geschichte, Technik und Schrift befand sich gleichwohl in der misslichen Lage, der versammelten Runde eine äußerst weitreichende Entscheidung behutsam kundtun zu müssen. Denn selbige war im Grunde längst gefallen, sogar die Regentenfamilie hatte ihre Zustimmung zur Operation Terra 2.0 vor 3.25 KIN einstimmig erteilt. Es drehte sich nur noch um das Wie.

Ausgerechnet ihr oblag nun die undankbare Aufgabe, zunächst die Wissenschaftler und unmittelbar danach die Vordersten der darüber hinaus ebenfalls beteiligten Sektionen von deren Richtigkeit und Notwendigkeit zu überzeugen. Zum allerersten Mal in der langen Geschichte Tiberias hatte man sein eigenes Kontrollsystem verraten müssen, um eine notwendige Entscheidung quasi durch die Hintertür herbeiführen zu können. Alanna fühlte sich reichlich unwohl in ihrer Haut, durfte sich das jedoch keinesfalls anmerken lassen.

Würde sie es überhaupt schaffen, die Diskussionen in die vorgegebene Richtung zu lenken? Teil 1 ihrer Überzeugungsarbeit hatte bereits Früchte getragen. Die Option Mars war definitiv vom Tisch. Im Vergleich zu der Aufgabe, die noch vor ihr lag, war dies allerdings ohne Frage nur ein leichtfüßiger Spaziergang gewesen.

›Vielleicht sollte ich Solaras und den anderen ermöglichen, den unangenehmen Gedanken erst einmal zu verdauen, bevor wir allzu sehr ins Detail gehen!‹, überlegte Alanna angespannt. Die Vorderste straffte ihren Rücken, erhob sich mit gemessenen Bewegungen aus dem schwebenden Sessel.

»Ich möchte, dass ihr euch bis zum nächsten Treffen Gedanken darüber macht, auf welche Weise wir Terra in einen annehmbaren Zustand zurückversetzen könnten. Wir müssen auch diese recht unpopuläre Option gründlich prüfen, dürfen sie nicht gleich im Ansatz verwerfen.

Bitte lasst euch dabei nicht einseitig von negativen Einschätzungen leiten, bedenkt insbesondere die positiven Aspekte, die für Terra sprechen würden. Seid kreativ, durchleuchtet eure Konzepte sorgfältig. Es sollte mehr als eine gangbare Möglichkeit geben, den Planeten wieder lebenswert zu machen. Betrachtet es ausnahmsweise mal von dieser Seite:

Es gibt dort massenhaft Wasser in flüssigem Aggregatzustand an der Oberfläche. Die Atmosphäre weist eine gerade noch annehmbare Zusammensetzung auf; sie lässt trotz der erheblichen Verschmutzung das Atmen ohne Schutzmaske oder sonstige Filterung zu! Das sind schon einmal zwei wesentliche Punkte, die wir unbedingt ins Kalkül zu ziehen haben.

Die Sonne des Systems ist noch relativ jung, weit genug vom Stadium eines Roten Riesen entfernt. Da wäre es geradezu eine Verschwendung, würde man die ›Restlaufzeit‹ des Planeten nicht nutzen wollen!

Denkt bitte nicht, wir könnten die Sache einfach aussitzen, bis uns eines Tages von selbst etwas Bahnbrechendes einfällt. Die Lage hier auf Tiberia ist erheblich ernster, als viele von euch dem Anschein nach annehmen möchten. So viel kann ich schon heute verraten. Wir sind leider durch bestimmte Umstände gezwungen, zeitnah eine brauchbare Lösung zu finden.

Und noch etwas solltet ihr in diesem Zusammenhang besser jetzt sofort erfahren und in eure Gedankenkonstrukts einfließen lassen:

Die terrestrischen Wissenschaftler haben unser Sonnensystem mithilfe eines für dortige Verhältnisse fortschrittlichen Weltraum-Teleskops namens Hawking ausfindig gemacht. Sie nennen unser heimatliches Sternbild ›Cygnus‹, was so viel bedeutet wie Schwan. Man könnte also in absehbarer Zeit auf die unselige Idee kommen, uns hier auf Tiberia heimzusuchen. Hätten wir das Ding nur rechtzeitig zerstört, bevor es die verräterischen Aufnahmen nach Terra senden konnte!

Was, wenn auf Terra jemand den Antrieb der dort existierenden Raumfähren revolutionären würde? Man verfügt dank der Metrik eines gewissen Miguel Alcubierre bereits über theoretische Kenntnisse, welche die Funktionsweise des Warp-Antriebs grob beschreiben! Da fehlt im Grunde nur noch der zündende Einfall zur sinnvollen Umsetzung, was ich persönlich mehr als bedenklich finde. Man nähert sich der Lösung schrittweise, nicht zuletzt wegen eines gewissen Sergej Krasnikov.

Ich werde euch diese und andere Überlegungen gerne näher darlegen, doch im Augenblick benötigen wir dringend alle eine Ruhepause. Ihr wisst ja – ein gesunder Geist wohnt am liebsten in einem gesunden Körper, nicht wahr? Wir sehen uns also in exakt 0,25 KIN wieder. Vielen Dank für eure geschätzte Aufmerksamkeit!«

Die Wissenschaftler realisierten frustriert, dass die Versammlung damit unwiderruflich aufgelöst war. Verstört und nachdenklich verließen sie den Saal, niemand sprach ein Wort. Zu tief saß das ungute Gefühl, das sich in den Herzen der siebenköpfigen Gruppe breitgemacht hatte.

Besonders Solaras bekam es mit der Angst zu tun – ihn hatte Alanna schließlich bereits explizit nach seiner Bereitschaft gefragt, an einer gefahrvollen Mission nach Terra teilzunehmen. Die Antwort war er ihr bislang schuldig geblieben, hatte sich stattdessen Bedenkzeit ausgebeten.

Schließlich waren alle bisherigen Versuche, die Bewohner Terras auf den Weg der Vernunft zurückzuführen, ergebnislos im Sande verlaufen! Im Gegenteil, einige Expeditionen hatten dort sogar zusätzliche Schäden angerichtet, die in ihrer Summe überhaupt erst zum heutigen Zustand jener fernen Welt führen konnten. Sollte man diesen fatalen Fehlern aus der Vergangenheit einen weiteren hinzufügen?

Zum allerersten Mal in seinem Leben fühlte Solaras sich unter Druck gesetzt, mit der Entscheidungsfindung total überfordert. Hätte er nur besser einschätzen können, was ihn im Falle einer Zustimmung erwartete! Ihm schwante, dass es sich im schlimmsten Fall um eine Reise ohne Wiederkehr handeln könnte.

*

Die junge Frau betätigte den roten Kontaktschalter zur Unterbrechung des Magnetflusses, wodurch ihr lautloses Fahrzeug langsam ausrollte; sie ließ es routiniert in eine der vielen Parkbuchten gleiten, die sich seitlich der Piste befanden. Jene Parkmöglichkeit lag in einer langen Kurve, von welcher aus sich das Ziel ihres Ausflugs nicht einsehen ließ. Gut so!

Neugierig bahnte sich das Mädchen einen Weg durch das dornige Gestrüpp, blieb immer wieder mit den weiten Ärmeln ihres dunkelblauen Gewandes an den Zweigen hängen. Wie gehetzt sah Katelara sich um, denn niemand durfte sie hier bemerken. Wie hätte sie den Zweck ihrer kleinen Wanderung andernfalls glaubhaft darlegen sollen, ohne unangenehme Fragen aufzuwerfen?

Ein Glück, dass diese Piste kaum frequentiert wurde, seit man die Siedlung an ihrem Ende weiter nach Osten verlagert hatte! Das Gelände wäre an dieser Stelle viel zu unwegsam gewesen, um das Siedlungsgebiet einfach nur um weitere Flächen zu erweitern. Seit der Verlegung und dem Abtransport der Wohneinheiten führte die Strecke nur noch bis zu einer kleinen Wasserfläche, endete dort abrupt. Eigentlich ein Wunder, dass man bislang noch nicht auf den Gedanken gekommen war, deswegen den Magnetstrom der Piste zu kappen.

Jetzt hatte sich auch noch eine ihrer hüftlangen rotblonden Locken in den Dornen verfangen! Sollte sie ihren kühnen Plan unverrichteter Dinge aufgeben und lieber schleunigst zum Magnetfahrzeug zurückkehren? Wäre da bloß die brennende Neugierde nicht gewesen … eventuell bot sich hier im Nirgendwo auch die seltene Möglichkeit, die eigene Situation nachhaltig zu verbessern!

Katelara war bewusst, dass sie im Begriff stand, gegen eherne Vorschriften der Gemeinschaft zu verstoßen. Doch weshalb sollte ausgerechnet sie sich vorbildlich verhalten, wenn andere es nachweislich auch nicht mehr taten? Der Zweck heiligte in diesem Fall die Mittel, denn die Novizin der Wissenschaft hatte neuerdings nur noch wenig zu verlieren.

Von dort drüben war er gekommen … ungefähr jedenfalls!

Stück für Stück arbeitete die junge Frau sich mühsam zu der Stelle vor, die nach ihrer Ansicht am ehesten nach einer Felsspalte aussah. Es musste dort gemäß allen Regeln der Logik einen Durchgang geben. Der gutaussehende Mann im grünen Gewand konnte schließlich kaum aus dem Nichts aufgetaucht sein! Was mochte sie dahinter erwarten?

Ein schwacher Lichtschein zeigte ihr, dass sie sich auf dem richtigen Weg befand. Noch zirka zehn mehr oder weniger schmerzhafte Schritte, dann wäre sie endlich am Ziel angelangt!