Himmel über London - Håkan Nesser - E-Book

Himmel über London E-Book

Håkan Nesser

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Beschreibung

Sie erreichen London um 16.50 Uhr an der Paddington Station. Der fast 70jährige Leonard Vernim und seine amerikanische Lebensgefährtin Maud. Leonard ist schwerkrank – und Maud ist besorgt. Und zwar mehr, als es die Lage sowieso schon erfordern würde. Irgend etwas Geheimnisvolles geht vor sich, irgendetwas verschweigt ihr Leonard. Ein großes, wahrscheinlich letztes Geburtstagsfest hat er geplant. Auch ihre beiden Kinder aus erster Ehe sind eingeladen – die neurotische Irina, der ständig an Geldmangel leidende Gregorius. Sowie zwei mysteriöse Gäste, deren Namen sie nicht kennt. Gleichzeitig geht ein Serienmörder in der Stadt um – es braut sich etwas zusammen unter dem Himmel von London.

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Seitenzahl: 714

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Håkan Nesser

Himmel über London

Roman

Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt

btb

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Die schwedische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Himmel över London« bei Albert Bonniers, Stockholm.
Das Alessandro-Baricco-Zitatwurde übersetzt von Annette Kopetzki.
Copyright © der Originalausgabe 2011 by Håkan NesserCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2013 by btb Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-08971-9V003
www.btb-verlag.de

»Bei uns ist das so: Wenn man Bücher nicht in der Zeit erzählen kann, die eine Rasur dauert, dann sind sie Literatur. Und die ist nichts für uns. Lesen Sie?«

ALESSANDRO BARICCO: Diese Geschichte

I.

1Leonard

Wir kamen um 16.50 Uhr mit dem Heathrow Express in Paddington an.

Ich nahm den Evening Standard von einem Zeitungsjungen entgegen, und während wir in der Taxischlange warteten, schaffte ich es noch, etwas über einen Messermord draußen in Wimbledon Common zu lesen – ausgeübt von einem, den der Journalist »The Watch Killer« nannte, da er offenbar die Angewohnheit hatte, eine kaputte Armbanduhr bei seinen Opfern zu hinterlassen. Ich erwähnte Maud gegenüber nichts davon; wir hatten uns während der Reise überhaupt wenig unterhalten, und sie wird nicht gern an den Zustand der Welt erinnert.

Ich mag mich an meinen Zustand auch nicht erinnern, wenn man es genau nimmt, obwohl ich mir schließlich genau das vorgenommen habe.

Ernsthaft. In erster Linie, was die Gedanken angeht; nicht in diesen üblichen, irritierenden Zweifel zu verfallen, sondern in den nächsten zwölf Tagen so klar im Kopf wie möglich zu sein. Es geht doch vor allem darum, dass alles klappt, zu einer Lösung kommt, aber in schwachen Momenten habe ich das Gefühl, dass mein ganzes Leben nur eine Palette von Kompromissen und Entscheidungen war, die mir durch die Finger rannen. Was besonders deutlich kurz vor Toresschluss wird, wo man gezwungenermaßen eher in den Rückspiegel schaut, weil es nicht mehr viele andere Richtungen gibt, in die man blicken kann, und das soll mir nicht mehr passieren. Weg mit dieser verdammten Ambivalenz, denke ich; das Finale soll in einer anderen Tonart erklingen als die Symphonie selbst. Ein wenig Händel, warum nicht?

Ich gratulierte mir selbst zu diesen zusammenfassenden Gedanken, die sich ausgerechnet in so musikalischen Termini zeigten, und spürte diesen inneren, klaren Schimmer, der sich ab und zu in meinem Schädel zeigt, förmlich. Nur flüchtig und wahrscheinlich trügerisch, aber dennoch als überraschendes Aufblitzen von etwas Hellem und sicher Gutartigem. Ich weiß nicht, um was es sich dabei handelt und ob es überhaupt eine Rolle spielt. Ich warf die Zeitung in einen Abfalleimer und zündete mir eine Zigarette an, es standen mindestens noch zwanzig Leute vor uns in der Schlange, ich würde sie in aller Ruhe rauchen können.

»Du solltest doch nicht …«

Sie versuchte vergebens, sich zurückzuhalten. Es ist nicht diese Art von Krebs, die mich umbringen wird, auch wenn jede einzelne Zigarette wahrscheinlich dazu beiträgt, die Sache zu beschleunigen. Werner hatte das bei unserer letzten Begegnung unterstrichen, aber so etwas zu betonen, dafür werden Ärzte bezahlt, das wissen wir beide. Ich rauche seit mehr als fünfzig Jahren, warum sollte ich jetzt damit aufhören, wo die Zeit knapp wird?

Über das natürliche Enddatum brauchen wir nicht zu spekulieren, aber es wird sich unter keinen Umständen um mehr als ein halbes Jahr handeln. Nun ist es eine Frage von Tagen, ich habe es selbst in der Hand, und ich bin überzeugt davon, dass ich es auf jeden Fall begrenzen werde. Knapp zwei Wochen; wir schreiben heute den 13. September, der 25. ist das entscheidende Datum, und ich erwarte, dass ich an diesem Tag mit einem deutlichen Gefühl von Trost und Zufriedenheit erwache. Ich könnte auch schreiben Triumph – Händel, wie gesagt –, aber Demut ist eine Tugend.

Das Taxi brachte uns durch den dichten Verkehr und einen gelblichen Nieselregen die Bishop’s Bridge Road und die Westbourne Grove entlang zur Chepstow Road. The Commander liegt auf der Grenze zwischen Bayswater und Notting Hill, einen Moment lang wurde ich von einem Gefühl der Erinnerung überwältigt. Das ganze Gebiet nach Portobello hin hatte sich in den letzten Jahren verändert, besonders Westbourne Grove, wo sich neugegründete Restaurants, Möbelgeschäfte, Galerien und italienische Cafés mit den alten nützlichen Geschäften drängelten: Waschsalons, Eisenwarenhandlungen, Maler und Tapezierer, Friseure und Obstläden. Die viktorianischen Überbleibsel nicht zu vergessen, die immer noch wie leicht betagte Primadonnen ihr Dasein fristen: Kildare Terrace, Kensington Gardens Square, Pembridge Villas. Es ist insgesamt eine schöne Mischung, und ich denke, ich hätte mein ganzes Erwachsenenleben hier verbringen können. Warum bin ich jemals von hier fortgezogen? Alles wäre anders gekommen.

The Commander hat zehn oder zwölf Jahre auf dem Buckel. Ich habe hier früher schon einmal übernachtet, ein paar Tage im Zusammenhang mit Christophers Beerdigung, und wir bekommen dieselbe kleine Suite, die ich damals hatte. Ich hatte darum gebeten, als ich anrief, um das Zimmer zu buchen, und es hatte dem nichts im Wege gestanden. Ein großer Raum mit einem geräumigen Balkon nach Westen hin, auf Portobello und Notting Hill zu. Während wir eincheckten, hatte der Regen aufgehört, ich schlug ein Glas Sherry draußen an der frischen Luft vor, und Maud willigte ein. Sie wischte den Tisch und die Stühle mit einem Handtuch ab, während ich Gläser und die Flasche heraussuchte, die wir im Taxfreeladen gekauft hatten.

Schade, dachte ich, während wir die Gläser hoben und unsere Blicke einander begegneten. Schade, dass du deine Karten nicht besser gespielt hast.

Aber darum geht oder ging es natürlich nicht; dies ist nur eine dieser hohlen Formulierungen, die man in Ermangelung präziserer Worte benutzt.

Während wir draußen auf dem Balkon saßen, schluckte ich auch meine Medikamente – nach ihrer Ermahnung. Da ist sie sehr gewissenhaft. Zwei weiße, zwei rote, eine graue Tablette mit einem blauen Streifen. Dreimal am Tag, ärztlich verordnet. Es gefällt ihr, mich daran zu erinnern, da es sie in ein gutes Licht rückt. Sie erhält mich am Leben. Achtet darauf, dass ich keine Schmerzen habe, ich bin viel zu zerstreut, um mich um diese Sachen selbst zu kümmern.

Was sicher Quatsch ist, aber ich habe sie es genau in diesen Worten beschreiben gehört, sowohl Gertrud als auch Tom gegenüber. Das Problem mit den Medikamenten ist ein anderes, nicht, dass ich vergesse, sie zu nehmen; sie stumpfen mich ab. Nicht viel, aber ein wenig. Wenn ich einen klaren Kopf haben will, muss ich auf diese Pillen verzichten, aber der Schmerz stellt sich statt ihrer so sicher ein wie das Amen in der Kirche, dennoch entscheide ich mich manchmal für diese Alternative. Es ist ein verzwicktes Spiel, ich bin der Erste, der das zugeben würde, aber zwischen der Müdigkeit und den Schmerzen liegen einige erstrebenswerte Stunden – eine oder anderthalb zumindest –, und in Anbetracht dessen, was ich mir auferlegt habe, ist es wichtig, dass ich diese kurzen Zeitabschnitte jeden Tag nutzen kann. Siebzig, achtzig Minuten, in denen ich weder müde noch abgestumpft bin, noch von Schmerzen dominiert werde, ja, ich schätze, dass dies eine Art tägliche Notwendigkeit ist. Der späte Morgen und der frühe Abend, das sind die besten Zeiten.

»Wie fühlst du dich?«

»Ausgezeichnet, danke.«

»Schmerzen?«

»Nein.«

»Müde?«

»Nicht sehr. Wenn ich ein Nickerchen mache, können wir später essen gehen.«

»Dir gefällt dieses Viertel hier, oder?«

»Ja, es gefällt mir sehr.«

Sie zuckte mit den Schultern. Eine Weile blieben wir schweigend beieinander sitzen und betrachteten den westlichen Himmel über Wembley und Ealing, wo die untergehende Sonne gerade durch die Wolkendecke brach. Ich rauchte noch eine Zigarette und stellte fest, dass wir das erste Mal zusammen in London waren. Gewiss auch das letzte Mal. Die Stadt bedeutete Maud gar nichts. Sie hatte keine Beziehung zu Covent Garden, Little Venice oder Chalk Farm. War nie mit zwei Sterling in der Tasche in der Dämmerung über die Hungerford Bridge gegangen, hatte nie im The Elgin gesessen, Minuten bevor die Fußballbilder von Highbury eintrudelten. Highbury gab es nicht mehr, zumindest trägt Arsenal seine Spiele heutzutage woanders aus, ich sehe das als ein Zeichen, dass es Zeit zum Sterben sein könnte. Covent Garden sieht auch nicht mehr aus wie in den Sechzigern, als ich zum ersten Mal herkam, aber mein Gott, denke ich, das ist jetzt mehr als vierzig Jahre her. Fünfundvierzig genau genommen, aber nun spüre ich, dass mich der Schlaf am Wickel hat, und ich trinke die letzten Sherrytropfen. Es ist natürlich nicht die Stadt, die diese große Veränderung durchgemacht hat; was im Laufe eines knappen halben Jahrhunderts an Bau-, Entwicklungs- und Modernisierungsmaßnahmen getätigt wurde, ist reine Kosmetik zu der Veränderung und dem Absturz, der in mir selbst stattgefunden hat.

So ist es nun einmal. Es ist nicht die Welt, die altert, sie wird nur immer neuer und neuer, erfindet sich an jedem modernen Morgen und zu jedem jungfräulichen Krieg wieder aufs Neue. Es ist der Blick des Betrachters, der alt wird; unschön verpackt liegen uns all die Tage und Jahre in einem immer undurchlässiger werdenden Filter vor Augen, das ist eine von tausend denkbaren Arten, die Sache auszudrücken, und es ist nicht wirklich neu.

»Geh rein und leg dich hin, bevor du vom Stuhl kippst.«

Ich richte mich auf und lasse mich widerstrebend brummend in das Halbdunkel des Raumes führen.

»Während du schläfst, werde ich einen kleinen Spaziergang im Viertel machen. All right?«

All right. All right. Mögen die Engel dich in den Schlaf singen, Leonard Vermin.

Worte, Worte.

Bevor wir den 25. erreicht haben, habe ich noch einiges zu erledigen, das ist klar, aber an diesem ersten Abend begnügten wir uns mit einem einfachen Essen im Viertel. Bloody French, ein kleines Gasthaus an der Westbourne Grove, fast menschenleer, obwohl sie ein ausgezeichnetes Bœuf bourguignon und einen äußerst trinkbaren Merlot servierten. Maud drückte ihre Zufriedenheit mit dem Essen aus, war aber ansonsten ziemlich still. Ich versuchte sie mit der Geschichte vom abgetrennten Ohr und wie Portobello seinen Namen bekam zu unterhalten – und mit der Geschichte vom Mord an Whiteley; der weniger als hundert Meter von dort stattgefunden hatte, wo wir uns gerade befanden. Im Januar 1907, wenn ich mich nicht irre, der Mörder hieß Horace Rayner und behauptete, er wäre Whiteleys unehelicher Sohn, er entging um Haaresbreite dem Galgen, nachdem 180 000 Menschen eine Petition unterschrieben, in der sie darum baten, sein Leben zu verschonen – aber ich sah Maud an, dass nichts davon auch nur einen Funken von Interesse in ihr erwecken konnte. Eigentlich hatten wir in den letzten zehn Jahren keine Themen, über die wir uns hätten unterhalten können, und während wir auf den Käseteller warteten, den wir uns teilen wollten, kam mir in den Sinn, dass es nie, auch nicht in der ersten Zeit, irgendwelche tragfähigen Brücken zwischen uns gegeben hatte. Den Willen, sie zu bauen, den schon, diese positivistische Krankheit, aber wenn man lange genug auf einer Seite des Flusses gestanden hat, dann begreift man, dass es keinen Sinn hat, weiter zu rufen. Dann hält man lieber den Mund, dreht sich um und geht. Für einen Moment überlegte ich, ob ich ihr dieses Bild präsentieren sollte, manchmal habe ich das Gefühl, dass ich ihr so kurz vor dem Ende ein gewisses Maß an Aufrichtigkeit schuldig bin – aber ich ließ es bleiben. Die Aussichten, mich verständlich zu machen, sind gering, und es würde keinem anderen Zweck dienen als einer selbstgerechten Ehrlichkeit.

Auch Alexander Herzen und Bakunin, die beide einige Jahre in diesem Viertel gelebt hatten, erwähnte ich mit keinem Wort. Maud hat sich nie für diese frühen Revolutionäre interessiert.

Es ist ziemlich genau zwanzig Jahre her, seit wir uns das erste Mal begegneten, ich spreche jetzt von Maud und nicht von Herzen und Bakunin. Damals herrschte eine Niedrigwasserperiode in meinem Leben; ich hatte Michelle verloren, eine Frau, mit der ich den Rest meiner Tage zu verbringen nur zu gerne bereit gewesen wäre – und der Nächte natürlich auch (ganz besonders die Nächte, das gebe ich unumwunden zu). Ich war von ihrem Ehemann schwer verletzt worden, hatte zwei Monate im Krankenhaus gelegen, und auf Anraten des verantwortlichen Arztes (der mit zwei meiner guten Freunde, Justin und Tom, offenbar unter einer Decke steckte) willigte ich ein, mich in eine Therapie zu begeben. Es gab außerdem eine gewisse Suchtproblematik, ich stand kurz vor dem fünfzigsten Geburtstag, und es war wohl an der Zeit, einzusehen, dass das Leben nicht ewig währen würde.

Maud war vierunddreißig Jahre alt, als ich an einem verregneten Montagnachmittag Mitte August ihre Praxis betrat. Ihre Methode nannte sich Kognitive Verhaltenstherapie, und als wir uns zur Begrüßung die Hände schüttelten, bekam ich einen Eindruck von ihr, wie ich ihn noch nie zuvor von einer Frau gehabt hatte. Ich kann dieses Gefühl nur schwer beschreiben, auch jetzt, nach zwanzig Jahren, nicht, aber mittlerweile denke ich, dass es seinen Grund in ihrer Mütterlichkeit haben muss. Da stand ich plötzlich einer Frau gegenüber, die mir anbot, sich um mich zu kümmern. Meine eigene Mutter, es ist mir klar, dass ich bisher noch kein Wort über meine Eltern oder meine Kindheit verloren habe, vielleicht hätte ich lieber damit anfangen sollen, aber ich habe nicht die Zeit, alles immer wieder neu zu strukturieren – meine eigene Mutter also, sie starb an Tuberkulose, als ich erst vier Jahre alt war, und das ist eine Tatsache, die zumindest von einer gewissen Bedeutung für meine Beziehung zu Maud gewesen sein muss. Sie füllte ein altes Vakuum, es wäre idiotisch, sich etwas anderes einzureden.

Aber vielleicht komme ich noch darauf zurück. Es ist nicht die Begegnung mit Maud, die das Zentrum meiner Geschichte bildet; um diesen Punkt, diese imaginäre Nabe, zu finden, müssen wir noch weitere zwanzig Jahre in der Zeit zurückgehen, ja, genau genommen zweiundzwanzig. Zum September 1968, damals traf ich Carla, und jetzt, wo ich vor dem definitiven Ende des Buches stehe, weiß ich genauso klar und sicher wie die Herbsthimmel über Montana oder die Raben am Tower, dass es sich dabei um das alles überschattende Ereignis meiner Wanderung in diesem Jammertal handelt.

Die bald ihr Ende finden wird, aber jetzt fällt mir der Stift aus der Hand und die Gedanken schweifen ab, ich sehe, dass Maud bereits das Licht in ihrem Alkoven gelöscht hat und es höchste Zeit für mich ist, es ihr gleichzutun. Auf jeden Fall bin ich dankbar dafür, dass wir so weit gekommen sind, bis ins Grenzland zwischen Bayswater und Notting Hill. Und ein anderes Grenzland, das deutlich häufiger besungen wurde, winkt um die Ecke.

Keine Schmerzen, nur Müdigkeit und ein gewisser Druck auf der Brust.

2Das gelbe Notizbuch

Trafalgar Square.

Es war der 5. September 1968. Ich hatte den Tag mit Umziehen verbracht – aus einem engen Verschlag in Shoreditch, ein paar Straßen von der Liverpool Street Station entfernt, in einen nicht ganz so engen Verschlag (und mit besseren Kochmöglichkeiten) in der Nähe von Earl’s Court –, und ich weiß nicht, was mich dazu bewogen hatte, zum Trafalgar Square zu gehen. Wahrscheinlich wollte ich dort jemanden treffen. Jemanden, der jedenfalls nie auftauchte, vielleicht hatte auch der Umzug, das Schleppen von Reisetaschen und Pappkartons drei steile Treppen hinauf längere Zeit in Anspruch genommen als gedacht, und ich hatte mich verspätet; vielleicht war jemand des Wartens müde geworden, ich kann mich nicht mehr erinnern. Auf jeden Fall saß ich dort auf der Balustrade, rauchte eine Zigarette, während ich die Tauben und Menschen betrachtete und den Lord oben auf seiner Säule. Es war ein schöner, angenehm warmer Herbstabend, kurz vor halb sieben.

Lassen Sie mich auch feststellen, bevor das Schicksal seinen Lauf nimmt und nicht mehr aufzuhalten ist, dass ich achtundzwanzig Jahre alt war. Ich wohnte zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren in London; war das erste Mal – nach abgebrochenen akademischen Studien und abgeleistetem Militärdienst – im Juni 1965 hierhergekommen, und bis dato war es mir nicht gelungen, wieder fortzugehen. Es hatte kein Anlass dafür bestanden. London war in diesen späten Jahren der Sechziger die Weltmetropole überhaupt, daran bestand kein Zweifel. Ich wurde von ihr angezogen wie ein willenloses Insekt von einer herbstlichen Petroleumlampe, fing an, auf freiberuflicher Basis zu fotografieren und Artikel zu schreiben: Musik, Mode, Jugendrevolte, Politik, Pop-Art und was mir sonst so einfiel. Ein dreiseitiges Interview mit Arthur Brown für die International Times war bis jetzt der Höhepunkt gewesen, vielleicht in Konkurrenz zu einem zweiseitigen mit Bertrand Russell über den Vietnamkrieg für eine amerikanische Zeitschrift. Im Oktober 1967 hatte ich gemeinsam mit drei Gleichgesinnten, Christopher, Mary und Fjodor, so ein Undergroundkäseblatt gegründet, The Spiff, das entgegen allen Erwartungen bereits acht Nummern hinter sich hatte und bald sein einjähriges Jubiläum feiern sollte. Vielleicht war es sogar einer der anderen Spiffer, die ich an diesem Abend treffen sollte, wenn ich nicht zu spät gekommen wäre, aber noch einmal: das ist von untergeordneter Bedeutung. In wenigen Minuten sollte mein Leben sich von Grund auf verändern, ich drückte meine Zigarette aus und dachte an gar nichts. Oder vielleicht an die Beziehung zwischen Mary und Fjodor, das tat ich häufiger, ob es nicht bald an der Zeit war, dass sie ihn verließ und stattdessen mir eine Chance gab.

Was in vielerlei Hinsicht eine Gnade wäre, aber kaum eine glückliche Wendung, was Spiffs Zukunft betraf. Vielleicht Marys auch nicht, ich weiß es nicht.

Ein langbärtiger Jesusjünger mit runder blauer Lennonbrille und einem Kaftan, der nach Pferd roch, verließ seinen Platz auf der Balustrade gleich rechts von mir, nachdem er seine Bhagavad Gita zugeklappt hatte. Ich spürte, dass ich Hunger hatte, mir fiel ein, dass ich den ganzen Tag noch nichts gegessen hatte, und ich wühlte in meinen Taschen, um den Kassenstand zu überprüfen.

Aber so weit kam ich gar nicht, denn jetzt ging es los. Eine Frau kam schräg die Treppen herauf und blieb zwei Meter vor mir stehen. Sie schien in den Dreißigern zu sein, trug ein einfaches rotes Kleid und einen dünnen Mantel gleicher Farbe. Ihr Haar war dunkel, zu einem Pagenkopf geschnitten, und sie gehörte ebenso wenig in die Hippiewelt am Trafalgar Square wie ein Rubin in eine Shepard’s pie.

Aber es war nicht ihre Schönheit, die mir den Atem raubte, sondern ihr Zögern und ihre offensichtliche Unschlüssigkeit. Sie war mitten im Gehen stehen geblieben, und jetzt schaute sie auf ihre Armbanduhr. Warf einen Blick zurück, auf die Löwen und den Springbrunnen, als wollte sie sich vergewissern, dass sie nicht verfolgt wurde. Oder dass sie verfolgt wurde. Einige Sekunden lang blieb sie stehen, suchte etwas in ihrer Handtasche, zuckte dann mit den Schultern und entdeckte den halben Meter Sitzplatz, der soeben neben mir frei geworden war. Sie begegnete meinem Blick.

Ich nickte. Oder ich glaube, dass ich nickte. Auf jeden Fall versuchte ich sie auf irgendeine telepathische Art und Weise dazu zu bringen, herzukommen und sich zu setzen, ungefähr so interpretiere ich meine hochnervöse Passivität in diesen entscheidenden Sekunden. Dieses blanken, schicksalsträchtigen Augenblicks, zu dem es so selten im Laufe eines Lebens kommt, aber wenn doch, dann birgt er eine Art Schlüssel für alle vagen Fragen, die wir in uns tragen. Es passiert genau hier. Es passiert genau jetzt. Sie schaute sich erneut über die Schulter um, dann huschte ein kurzes, unsicheres Lächeln über ihr Gesicht, bevor sie sich auf dem von dem Jesusjünger geräumten Platz niederließ.

»Hallo. Ich heiße Leonard.«

Wie sonst hätte ich anfangen sollen? Als meine Identität zu präsentieren, frank und frei, dass ich ein selbstständiges Individuum in diesem Wirrwarr diffuser Existenzen war, es scharten sich wirklich ungewöhnlich viele Leute an diesem Abend um Trafalgar und Charing Cross … alles andere, ja, jeder andere Auftakt, jedes Preludium hätte in die falsche Richtung geführt. Das habe ich mir jedenfalls selbst eingeredet.

»I am Carla.«

Der Akzent. Osteuropa, soweit ich beurteilen konnte, aber es waren ja nur drei Worte. Ich streckte ihr meine Hand entgegen. Sie ergriff sie, ohne zu zögern, hielt sie einige Sekunden lang fest, während sie mich mit offenem Blick ansah. Der eigentlich nichts anderes als eine einzige Frage enthielt: Kann ich dir trauen?

Ich bot ihr eine Zigarette an. Sie nahm sie entgegen, und ich gab uns beiden Feuer. Bis jetzt hatten wir einander nicht mehr als unsere Namen verraten. Unsere Vornamen. Leonard und Carla. Schweigend rauchten wir. Sie saß so dicht neben mir auf der Steintreppe, dass ich ihre Körperwärme an meinem rechten Arm spüren konnte. Während wir rauchten, hielten wir unsere Blicke auf die Menschen und die Tauben gerichtet. Der weite offene Platz und das Menschengewimmel boten an diesem angenehmen Spätsommerabend wirklich ein Schauspiel. Ein buckliger junger Mann spielte ein Stück von uns entfernt Gitarre und sang ein Donovan-Lied. Der Duft von Haschisch und anderen brennenden Gräsern kam und ging. Ein Mädchen in orangefarbener langer Hose und mit nacktem Oberkörper ging auf den Händen. Carla schaute erneut auf ihre Armbanduhr.

»Will you help me?«

Ich nickte. »Ich helfe dir gern. Was soll ich tun?«

Sie schob die Hand in die Handtasche. Zog einen kleinen, hellgrauen Umschlag heraus. Hielt ihn einen kurzen Moment lang zwischen Daumen und Zeigefinger, dann reichte sie ihn mir. Ich nahm ihn entgegen und schaute sie fragend an. Sie holte tief Luft und betrachtete mich mit ernster Miene.

»Please go.«

Ich verstand nicht. Wie hätte ich es auch verstehen können? Ihre Augen wechselten zwischen grün und braun, wie ich jetzt sah, das rechte grüner als das linke. Ihren Mund hielt sie ein wenig geöffnet, nur wenige Millimeter, ich wartete, dass sie mehr erklären würde. Warf einen Blick auf den Umschlag, er war dünn und wog fast nichts.

»Wobei soll ich dir helfen?«

Mit einem Kopfnicken zum Umschlag hin wiederholte sie: »Please go.«

Dann machte sie diese versiegelnde Geste, die auf gewisse Weise alles entschied. Sie drückte sich einen Zeigefinger auf die Lippen, legte ihn anschließend auf meine. Eine Berührung nur für den Bruchteil einer Sekunde, und trotzdem konnte ich diesen Finger am nächsten Morgen, als ich aufwachte, immer noch spüren.

Sie hüpfte von der Balustrade hinunter. Richtete ihre Kleidung mit einer einfachen Handbewegung und eilte die Treppen hinunter, ohne sich umzuschauen.

Auf dem Umschlag selbst stand nichts. Kein Adressat, kein Absender. Ich zog die Lasche heraus. Holte eine Eintrittskarte heraus. Einfach gedruckt auf blassgelbes Papier, es ging um ein Konzert.

Musik von Bach, Vivaldi, Pachelbel und Telemann, aufgeführt von einem deutschen Barockensemble. Die Wiedermeirische Sieben.

Ort: die Kirche St. Martin-in-the-Fields, Trafalgar Square.

Ich drehte den Kopf und schaute hinüber. Sie lag weniger als hundert Meter von dem Platz entfernt, an dem ich mich befand.

Ich schaute auf die Uhr. Es sollte in zehn Minuten anfangen.

Ich schreibe diese Aufzeichnungen fast zwölf Jahre später nieder, und vieles aus der Zeit, die einzufangen ich beschlossen habe, bevor es zu spät ist, erscheint mir in verschiedenster Weise als ein Hirngespinst und verschwommen. Doch dieser erste Abend, auf dem Trafalgar Square und später in der Kirche, steht mir wirklich immer noch detailgenau vor Augen. Wie die einführende Szene eines Films, währenddessen man noch hellwach und erwartungsvoll ist – oder wie die ersten Seiten eines Buches, von dem man nicht weiß, ob es überhaupt die Aufmerksamkeit wert ist, dem man jedoch anfangs seine volle Konzentration schenkt. Gerade um dem Ganzen eine Chance zu geben, nicht vorschnell zu urteilen. Oder etwas in der Art; es ist natürlich nicht wichtig, es ist eher so, dass ich über diese Klarheit selbst verwundert bin. Hier in einer ganz anderen Stadt so viele Jahre später.

Doch genug davon. Der Kirchenraum war gut gefüllt, aber nicht vollbesetzt. Mein Platz befand sich ganz hinten rechts. Q 15, zwei Schritte in den Mittelgang hinein. Q 16, 17 und 18 waren von drei perfekt ondulierten Damen in den Siebzigern besetzt – während Q 14, der Platz direkt am Gang, leer war. Ich ließ mich in dem Moment auf der harten Holzbank nieder, als die Musiker hereinkamen und das Publikum ihnen verhalten applaudierte. Ein Kirchendiener schloss die Türen ganz hinten, aber ich konnte hören, dass der Verkehrslärm nicht vollkommen ausgesperrt wurde. Das Licht über den Zuschauern wurde ein wenig gedimmt, und die Musiker fingen an, ihre Instrumente zu stimmen.

Ich hatte St. Martin-in-the-Fields schon früher besucht, aber hier noch nie ein Konzert gehört. Überhaupt war ich nicht besonders bewandert in klassischer Musik, aber auch kein absoluter Ignorant. Ein dünnes Programmheft verriet, dass sechs Werke aufgeführt werden sollten, von denen mir die Hälfte bekannt war: Bachs Brandenburgische Konzerte (Nummer zwei und Nummer vier) sowie eine von Vivaldis Jahreszeiten (der Sommer). Die Werke von Telemann und Pachelbel kannte ich nicht.

Es begann mit einem der Brandenburgischen, ich weiß nicht, welchem, und bald befand ich mich in einem eigentümlich gespaltenen Zustand zwischen Schlaf und extremer Wachheit. Das Schlingernde, Kontrapunktische des Barock kann ja jeden schläfrig machen, ich habe mir manchmal eingebildet, dass genau das sowohl das Geheimnis als auch die Absicht dieser Musik ist – aber im Zusammenhang mit dem, was mir gerade eben draußen auf dem Trafalgar Square passiert war, erhielt die Schläfrigkeit einen fast surrealistischen Unterton. Ich hatte das Gefühl, in einem alten Schwarzweißfilm zu sitzen oder genauer gesagt in der Einspielung eines solchen Films – wieder so eine billige cineastische Assoziation, aber sie muss genügen –, eine Aufnahme, bei der der Regisseur seine Arbeit unterbrochen hat, um auf Toilette zu gehen, sich Zigaretten zu kaufen oder was auch immer, während die Kamera weiterläuft, obwohl das Skript ungelesen und unbearbeitet in den geräumigen Taschen des Meisters liegt, ja, Bilder dieser Art drängten sich mir tatsächlich auf, während ich auf der harten Bank saß, mit der Müdigkeit kämpfte und versuchte, mich an jedes Detail von Carla zu erinnern; die wenigen Details, die sie preisgegeben hatte, und dabei war zweifellos eines am stärksten: die leichte Berührung meiner Lippen durch ihren Zeigefinger. Ich weiß außerdem, dass ich während dieser ersten halben Stunde in der Kirche – bereits in dem Moment – begriff, was sie so radikal von meiner bisherigen Erfahrenswelt unterschied. Sie war die erste Frau. Alle meine früheren Beziehungen, es waren nicht so überwältigend viele gewesen, aber zumindest ein halbes Dutzend, die hatte ich mit Mädchen gehabt. Genau genommen wusste ich nichts über Carla, aber wer immer sie auch war, sie war kein Mädchen.

Auf den Applaus nach dem ersten Werk folgte eine kurze Pause, der Cembalospieler verließ das Ensemble, erneut wurde gestimmt, und kurz bevor das mir unbekannte Werk von Telemann begann, kam ein Herr und setzte sich auf den leeren Platz links von mir.

Q 14. Er war lang und dünn. Dunkler, abgetragener Anzug, braungetönte Brille und zurückgekämmtes, leicht lockiges, graumeliertes Haar. Weißes Hemd ohne Krawatte. So zwischen fünfzig und sechzig. Was sein Aussehen betraf, war das alles, was ich mitbekam. Der leichte Duft eines einfacheren Rasierwassers umgab ihn, und er hatte eine kleine schwarze Aktentasche dabei, die er zwischen seine Füße auf den Boden stellte.

Das ist alles, was ich über ihn sagen kann.

Bei Telemann schlief ich ein. Ich wünschte, dem wäre nicht so gewesen, doch trotz der frischen Erinnerung an das Treffen mit Carla und meinem bohrenden Gefühl von Hyperrealismus war es mir unmöglich, die Augen offen zu halten. Ich erwachte vom Applaus, und es dauerte eine Sekunde, bis mir einfiel, wo ich mich befand. Der Cembalospieler kam in Begleitung eines Flötisten zurück. Ein erneuter, etwas matterer Applaus hieß die beiden willkommen. Ich schaute mich um. Die drei Frauen auf Q 16, 17 und 18 saßen noch da, kerzengerade, eine bot den anderen gerade Halstabletten aus einer Schachtel an, es handelte sich wohl um Fisherman’s Friend.

Der Platz links von mir war leer. Q 14, der Mann mit dem abgetragenen Anzug und den grauen Locken, hatte seinen Platz verlassen. Er hatte auch seine Aktentasche verlassen. Sie lag flach auf der Bank, dort, wo er gesessen hatte, eine schwarze Ledergeschichte mit einigen Jahren auf dem Buckel, wie es aussah. Glänzende Metallbeschläge.

Bei Vivaldis Sommer war er immer noch nicht zurück. Auch nicht in der folgenden Pause, und kurz bevor Pachelbel den zweiten Akt eröffnen sollte, fasste ich einen Entschluss. Ich nahm die Aktentasche und eilte aus der Kirche. Über den Trafalgar Square hatte sich bereits Dunkelheit gesenkt, aber das Menschengewimmel war möglicherweise noch dichter geworden, als es eine Stunde vorher gewesen war. Touristen, Hippies, eine Gruppe berittener Polizisten und der eine oder andere verirrte Londoner.

Bevor ich mich zu meinem neuen Wohnsitz am Earl’s Court begab, hielt ich mich noch eine Weile in der Nähe des Platzes auf, an dem ich vorher gesessen hatte. Lauschte verschiedenen Straßenmusikanten und rauchte drei oder vier Zigaretten, aber keine Spur von Carla.

Auch nicht von Q 14, und ich ahnte, dass ich ein Steinchen in einem Spiel war, von dem ich mir überhaupt keine Vorstellung machen konnte.

3

Ich frühstückte allein. Ich hatte Maud aufgefordert, einen Spaziergang in Kensington Gardens und im Hyde Park zu machen, wo doch das Wetter so schön war, und sie war meiner Empfehlung gefolgt. Aber erst nachdem sie kontrolliert hatte, ob ich auch meine Medizin genommen hatte, manchmal verstehe ich ihre Beharrlichkeit in diesem Punkt nicht, ich habe nicht die Absicht, fahrlässig mit meiner verbleibenden Zeit umzugehen, indem ich bei den Tabletten nachlässig bin, in der Beziehung hat sie falsche Vorstellungen, aber in gewisser Weise gereicht ihr das auch zur Ehre.

Ich verließ das Hotel kurz nach halb elf. Ging die Westbourne Grove Richtung Queensway entlang und kaufte mir eine Independent an einem Zeitungskiosk. Dann gönnte ich mir einen Cappuccino an einem Tisch auf dem Bürgersteig vor einem neuen italienischen Café an der Ecke zur Garway Road, während ich die Zeitung durchblätterte und eine Zigarette rauchte. Nur gut zwanzig Meter von dem Restaurant entfernt, in dem ich ein anderes Mal zu einer anderen Zeit gesessen hatte, es gibt es noch immer, doch darüber wird im Notizbuch berichtet, und ich schob den Gedanken beiseite. An diesem Morgen las ich stattdessen wieder über den »Uhrenmörder«; das Opfer draußen in Wimbledon Common war aller Wahrscheinlichkeit nach sein drittes gewesen, und in allen Fällen hatte die Polizei eine kaputte Armbanduhr am Handgelenk des Toten gefunden, es gab Anzeichen, die darauf hindeuteten, dass die Tatzeit identisch war mit dem Zeitpunkt, an dem die Uhr stehen geblieben war. Ich dachte, dass ich genau das vermissen würde: einen Kaffee, eine Zigarette und eine neue, interessante Tageszeitung – vormittags an einem Cafétisch auf einem Bürgersteig in einer Großstadt. Gibt es solche Winkel im Himmel? Können wir damit rechnen? Andernfalls können wir uns wohl die Mühe sparen, uns dorthin aufzumachen; nun ja, was mich betrifft, soll’s mir egal sein, aber ich bin überzeugt davon, dass mindestens sieben von zehn Menschen verstehen, wovon ich rede. Es den restlichen dreien zu erklären, dazu fehlt mir die Zeit. Meine Tage sind gezählt.

Pünktlich um halb zwölf betrat ich das Bad im Porchester Center. Es rühmt sich, Londons ältestes Spa zu sein, und es gibt nichts, was diese Behauptung Lügen strafen würde; Anfang der Siebziger kam ich häufiger hierher, und bereits damals wirkte es ziemlich antik.

Nichts schien sich verändert zu haben. Dieselben cremefarbenen Kacheln. Dieselben Säulenkapitelle und bleieingefassten, nebelgrauen Fenstergewölbe. Dieselben dunklen Holzbänke und kleinen Tischchen für Getränke, mitgebrachte Lektüre und anderes. Aber die Aschenbecher waren konfisziert. Es war Mittwochvormittag und nur spärlich besucht. Ich entdeckte Fjodor fast sofort; er lag unter ein paar weißen Handtüchern und einer karierten Decke auf einer der Pritschen in dem Raum, der Frigidarium genannt wurde. Nur der Kopf und seine dicken Füße ragten heraus. Ich hatte ihn seit Christophers Beerdigung nicht mehr gesehen, aber damals war er natürlich angezogen gewesen. Er war noch weiter aufgegangen, wie ich feststellen konnte; sein Bauch erhob sich wie ein militärischer Sperrballon unter den Textilien, und ich hätte ihn fast gefragt, wie viel er wiege. Doch dann erinnerte ich mich daran, dass er etwas launisch sein konnte, und ließ es lieber bleiben.

Stattdessen begrüßten wir uns artig, er fragte nach meinem Befinden, und ich erklärte, dass ich mit Sicherheit keinen weiteren Sommer mehr erleben würde. Er nickte bekümmert, und ich hatte den Eindruck, dass er seinerseits bereits tot war und genau wusste, wovon ich sprach.

Ich zog mich aus, wickelte mich in Decken und Handtücher in der üblichen Art und Weise und schlug vor, in die Saunalandschaft hinunterzugehen. Es gelang ihm mit einiger Mühe, sich von der Pritsche zu erheben, und gemeinsam schritten wir die Treppen hinunter. Verbrachten eine Weile im Dampfbad, bis wir uns im Fünfzig-Grad-Ruheraum erneut auf Holzpritschen ausstreckten.

»Hast du getan, worum ich dich gebeten habe?«, fragte ich. Wir waren allein in dem kahlen, grün gekachelten Raum und konnten ungestört reden.

»Du bekommst es am Montag. Es ging nicht früher.«

»Montag?«

»Ja.«

»Und warum war es heute nicht möglich? Es ist ein Monat vergangen, seit ich dich darum gebeten habe.«

»Du brauchst es doch am fünfundzwanzigsten, oder?«

»Stimmt. Montag reicht.«

»Und dann sind wir quitt?«

»Dann sind wir quitt. Du hast mein Wort.«

Fjodor war mir seit Ende der Siebziger noch zweitausend Pfund schuldig. Es war ein Kredit um der alten Freundschaft willen, ich hatte angefangen, mir ein Vermögen anzusammeln, und Fjodor war nach der Scheidung von Mary in der Klemme gewesen. Wozu genau er das Geld brauchte, habe ich nie gefragt, und ich habe ihn auch nie an den Kredit erinnert. Das heißt, bis jetzt nicht – bis vor einem Monat nicht, als ich mich an seinen späteren Beruf erinnerte und dass es tatsächlich an der Zeit sein könnte, die Außenstände einzufordern. Wobei ich nicht in erster Linie von den finanziellen Außenständen rede.

»Ich werde dich nicht nach deinen Plänen fragen«, stellte er jetzt fest. »Aber soweit ich es verstanden habe, kannst du dich nicht damit abfinden, einfach so zu sterben wie normale Leute.«

»Vollkommen richtig«, antwortete ich. »Damit kann ich mich nicht abfinden. Aber du hast nie den wirklichen Wert des Lebens verstanden, deshalb werde ich es gar nicht mit irgendwelchen Erklärungen versuchen.«

»Sag ich doch«, erwiderte Fjodor. »Du bist schon immer ein verschrobener Kerl gewesen. Das habe ich früher schon gedacht, es aber nie so recht verstanden. Es gab zu der Zeit viele, die verschroben waren. Gewisse Dinge brauchen ein paar Jahre, um deutlich zu werden.«

»Willst du mich jetzt ärgern?«, fragte ich und legte mir ein kaltes, feuchtes Handtuch über Stirn und Augen. »Ist das deine alte Eifersucht, oder worum geht es? Die Sache mit Mary und mir? Da war nie etwas zwischen uns, das weißt du. Nicht in dieser Form.«

»Ach, halt einfach den Mund«, bat Fjodor. »Ich habe doch kein Wort über dich und Mary gesagt. Außerdem habe ich sie seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen und seit Februar nicht mehr an sie gedacht.«

»Februar?«, wunderte ich mich. »Warum hast du im Februar an sie gedacht?«

»Na, da hatte sie doch Geburtstag«, konstatierte Fjodor mit einem schweren Seufzer. »Genau siebzig. Scheiße, wie die Zeit vergeht.«

»Das stimmt, das tut sie«, stimmte ich ihm zu. »Aber du selbst bist doch erst achtundsechzig, oder? Obwohl du älter wirkst.«

»Vielen Dank«, sagte Fjodor. »Weißt du, es ist mir scheißegal, wie alt ich bin. Ob ich lebe oder tot bin, das ist mir auch vollkommen gleich. Aber Christina behauptet, sie könnte nicht ohne mich leben, deshalb versuche ich mich so gut es geht weiterzuschleppen. Uns geht es gar nicht so schlecht, zumindest wenn man bedenkt, wie sehr ich mich verausgabt habe.«

»Gebrannt an beiden Enden?«

»An jedem verdammten Ende, das es gab«, seufzte Fjodor. »Aber kannst du dir vorstellen, dass sie in den alten Räumen immer noch Zeitungen produzieren? Hinten in Camden, wo wir The Spiff herausgegeben haben. Das ist doch merkwürdig.«

»Äußerst merkwürdig«, stimmte ich zu, und plötzlich war die Müdigkeit da. Wie üblich. Es geschieht innerhalb von Sekunden, manchmal kann das lästig sein, oder es wäre für eine Person lästig, die dazu eine Veranlagung hat. Aber da wir uns an diesem bestimmten Ort befanden, in einem wohltemperierten Ruheraum in Londons ältestem Bad, erklärte ich Fjodor, dass ich eine Weile Ruhe brauchte und momentan keine Lust hatte, weiter mit ihm zu reden.

»Ist das die Krankheit?«, fragte er nach, aber ich gab mir gar nicht erst die Mühe, ihm zu antworten.

»Montag also?«, vergewisserte ich mich stattdessen, bevor der Schlaf mich übermannte.

»Montag«, bestätigte Fjodor.

4

Mir war gar nicht der Gedanke gekommen, dass diese Mütterlichkeit irgendwohin führen könnte, natürlich nicht. Maud war meine Therapeutin, da war es nur natürlich, dass ich sie mit Gefühlen überschüttete. Auch mit Gedanken darüber, wer ich war. Außerdem möchte ich betonen, dass es kaum die Aufgabe des Patienten sein kann, dafür zu sorgen, dass die Grenzen aufrechterhalten bleiben, das ist einzig und allein Aufgabe der Therapeutin. Von ihr wird erwartet, dass sie gesund ist, und sie ist diejenige, die dafür bezahlt wird, ihren Job zu machen.

In diesem Fall bestand der Job aus einem neunundvierzigjährigen Mann mit gestörtem Realitätsempfinden und Anzeichen einer Persönlichkeitsstörung. Das war die vorläufige Diagnose, die ich aus dem Krankenhaus mitbrachte. Dort hatte ich zwei Monate verbracht, nachdem ich vom Ehemann einer Frau, mit der ich jahrelang ein heimliches Verhältnis gehabt hatte, schwer zusammengeschlagen worden war. Ein heftiges und relativ zeitintensives Verhältnis, darüber stand nichts in den Krankenakten, aber ich erzählte es dennoch bei unserer ersten Begegnung. Wobei ich den Eindruck gewann, dass sie bereits informiert war.

Das war also im August 1989. Dragutin, Michelles bärenstarker und heißblütiger Ehemann, hatte seine achtzehnmonatige Haftstrafe ungefähr zum selben Zeitpunkt angetreten. Michelle war zu ihrer Schwester nach Perth in Australien gezogen. Weiter weg ging’s nicht.

»Was meinen Sie, wo sollen wir anfangen?«

Das war ihre erste Frage, und es dauerte eine Weile, bis ich eine Antwort fand.

»Jedenfalls nicht beim Anfang.«

Worüber sie lachte. Kurz, aber zustimmend.

»Dann machen wir es umgekehrt. Vielleicht können Sie mir erzählen, was für Sie momentan am problematischsten ist?«

Wieder musste ich eine Weile überlegen. Dachte, dass ich auf keinen Fall etwas sagen wollte, nur um die Konversation am Laufen zu halten. Das war eine Strategie, der ich in den letzten zehn, fünfzehn Jahren oft verfallen war und die mich nicht einen Zentimeter im Leben weitergebracht hatte.

»Ich bin ein amoralischer Dreckskerl.«

Sie faltete die Hände und betrachtete mich mit ernster Miene.

»Wenn das stimmt, dann stimme ich Ihnen zu, dass das ein großes Problem ist. Was hat Sie zu dieser Überzeugung kommen lassen?«

Wieder dachte ich nach.

»Nichts Spezielles. Ich habe den ganzen Sommer im Krankenhaus verbracht. Ich hätte ebenso gut sterben können, da denkt man über so einiges nach.«

»Können Sie mir erzählen, was passiert ist?«

»Das steht ja wohl in den Unterlagen?«

»Ich würde es aber gern von Ihnen hören.«

Ich zuckte mit den Schultern und fragte, ob ich rauchen dürfe. Das durfte ich nicht.

»Na gut. Er ist uns auf die Schliche gekommen. Nicht … wie heißt das? In fla…?«

»In flagranti?«

»Genau. So nicht, aber eines Abends stand er vor meiner Tür und klingelte. Soll ich weitererzählen?«

»Ja, bitte.«

»Ich machte die Tür auf, weil ich nicht wusste, wer da war, und er war innerhalb einer Sekunde in der Wohnung. Fing sofort an, auf mich einzuprügeln. Ich habe versucht, mich zu verteidigen, hatte aber keine Chance. Er wiegt hundert Kilo und hat bei der Olympiade in München eine Medaille im Ringen gewonnen. Griechisch-römischer Stil, Michelle hatte es mir erzählt. Zehn Jahre jünger als ich und gut durchtrainiert. Nachdem er mich bewusstlos geschlagen hatte, warf er mich vom Balkon.«

Ich sah, dass meine Schilderung sie berührte. Möglicherweise übel, aber sie berührte sie. Ich bildete mir ein, dass das wichtig und grundlegend für unsere zukünftige Beziehung wäre, und konnte spüren, wie diese warme Mütterlichkeit mir entgegenströmte.

»Der Staatsanwalt plädierte für Mordversuch beziehungsweise versuchten Totschlag«, fügte ich hinzu. »Aber es blieb dann bei schwerer Körperverletzung.«

»Welches Stockwerk?«, fragte sie.

»Viertes. Ich bin in einem Gebüsch gelandet. Sonst würde ich nicht hier sitzen.«

Sie notierte sich etwas. Ich überlegte, was das wohl sein konnte, fragte aber nicht.

»Aber jetzt sind Sie wieder gesund?«

»Im Großen und Ganzen, ja. Nur um meine psychische Verfassung ist es schlechter bestellt.«

»Können Sie mir das erklären?«

Das konnte ich, ich hatte es morgens bereits einstudiert.

»Ich verhalte mich anderen Menschen gegenüber nicht so, wie man das tun sollte. Wenn ich Frauen kennen lerne, dann verliebe ich mich leidenschaftlich in sie oder aber sie bedeuten mir gar nichts. Ich habe keine Freunde. Ich habe keine Familie und habe nie eine gehabt.«

»Aber haben Sie nicht gesagt, dass es zwei gute Freunde waren, die Sie dazu gebracht haben, hierherzukommen?«

»Zwei Geschäftsfreunde. Das war ungenau ausgedrückt. Aber vor allem lag es an diesem Hirnklempner.«

Sie las etwas von einem Zettel ab. »Justin und Tom?«

»Ja.«

»Wenn wir jetzt ein wenig weiter in die Vergangenheit gehen. Wie war Ihre Kindheit?«

Ich saß einige Sekunden lang schweigend da und versuchte einen treffenden Ausdruck zu finden.

»Gefühlsarm«, sagte ich.

»Führen Sie das bitte aus.«

Ich seufzte und führte es aus. »Meine Mutter starb an Tuberkulose, als ich vier Jahre alt war. Mein Vater war Pfarrer und heiratete nie wieder. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er jemals gelacht oder mich berührt hätte. Nach dem Abitur bin ich zu Hause ausgezogen. Er starb ungefähr zwanzig Jahre später. Das ist alles.«

»Das klingt traurig.«

»Nur wenn man dran denkt.«

»Und das tun Sie nicht?«

»Nein.«

»Und wie ist es mit dem Sohn des Pfarrers? Hat er eine längere Beziehung gehabt?«

»Nein.«

»Eine Zeitlang mit einer Frau zusammengelebt?«

»Nein.«

»Nur kürzere Affären?«

»Ja.«

»Viele?«

»Ja.«

»Was glauben Sie, woran das liegt?«

»Ich bin ein amoralischer Dreckskerl. Ich trinke zu viel und habe keine emphatischen Fähigkeiten.«

»Das klingt, als würden Sie aus einem Buch vorlesen.«

»Ich kann nichts dafür, wenn es so klingt.«

»Okay. Sie sagen, Sie haben ein Alkoholproblem?«

»So langsam glaube ich das.«

»Wieso?«

»Als ich im Krankenhaus lag, habe ich zwei Monate lang nicht einen Tropfen getrunken, aber das Erste, was ich getan habe, als ich nach Hause kam, war, mich besinnungslos zu besaufen. Und zwei Abende später habe ich es noch einmal gemacht. Das war vorgestern.«

»Ganz allein?«

»Ganz allein.«

»Warum?«

»Ich weiß es nicht.«

»Aber sicher wissen Sie es.«

»Ja, sicher weiß ich es.«

So machten wir weiter. Zwei Stunden die Woche. August, September, Oktober, November, Dezember. Mitte Januar beschlossen wir, die Therapiesitzungen abzubrechen. Zwei Monate später, also im März 1991, willigte sie zum ersten Mal ein, mit mir essen zu gehen. Um Mittsommer herum begann unsere Beziehung, und im August verbrachten wir eine Woche zusammen in Griechenland. Ihr ehemaliger Mann kümmerte sich um die beiden Kinder. Ich war nicht leidenschaftlich verliebt, und das fand ich äußerst angenehm.

5Milos

Als Jaroslav Skrupka schließlich starb, widmete sein einziger Sohn zehn Tage dem Versuch, zu trauern.

Das war im Herbst 2002, ein Jahr, nachdem das World Trade Center in Schutt und Asche gelegt worden war und die Welt ein hässlicheres Gesicht bekommen hatte. Milos war siebenundzwanzig Jahre alt und hatte soeben sein Studium an der NYU beendet. Seine Fächer waren Internationale Ökonomie mit Schwerpunkt auf Asien, Wirtschaftsgeschichte (ohne besonderen Schwerpunkt) sowie etwas, das unter dem Begriff »Strategien zur Versorgung der Dritten Welt« lief, und in Erwartung, dass jemand sich an seiner Kompetenz interessiert zeigen würde, arbeitete er in einer Autowerkstatt in East Village. Dort hatte er bereits während seiner Studienzeit gearbeitet; der Besitzer, ein gewisser Mr. Jan Kopper, war ein alter Freund seines Vaters, geboren in Bratislava, aber mehr als zwanzig Jahre vor dem Fall der Mauer in die USA emigriert. Während des Prager Frühlings 1968, genauer gesagt, Milos hatte als Kind bei jedem kleineren oder größeren Familientreffen ständig über diese Zeit Geschichte gehört.

Was ihn selbst betraf, so hatte Milos die Tschechoslowakei (wie sie von den meisten in seinem Bekanntenkreis immer noch genannt wurde) im Sommer 1990 verlassen, zusammen mit seinen Eltern und seinen beiden deutlich jüngeren Schwestern Marta und Helka – und es war genau jene Familie Kopper, Mr. Jan und Mrs. Priscilla (ehemalige Schönheitskönigin und Cheerleader aus Cleveland im Staate Ohio), die ihnen bei allem geholfen hatten, was in der ersten komplizierten Zeit in der spannendsten und lukrativsten Stadt der Welt vonnöten ist: New York City an der Mündung des Hudsonriver. Es ging ums Wohnen, es ging um Arbeit, es ging um Kontakte, Schulen, Aufenthaltsgenehmigung, erforderliche zinsfreie Kredite, Sozialversicherungsnummer, ja, buchstäblich gesprochen um alles. Und als Herrn Jaroslavs Arztkostenrechnungen immer weiter in die Höhe stiegen, war es auch Mr. Jan Kopper, der die Sache regelte.

Und als er starb, war es Kopper, der wusste, an welches Beerdigungsinstitut man sich wenden sollte und wie man auf die geschickteste Art eine Grabstätte bekam (während Mrs. Priscilla in ihrem Salon an der Atlantic Avenue für die richtigen Beerdigungsfrisuren von Milos’ beiden Schwestern und seiner Mutter sorgte). Die Beisetzung fand auf dem St. Michael’s Friedhof in Queens statt, acht Blocks von der Wohnung der Familie Skrupka entfernt, und als sie überstanden war, gab Milos seinen Versuch zu trauern auf. Helka und Marta hatten während der gesamten Zeremonie ein wahres Meer von Tränen vergossen, seine Mutter hatte leidend und gebrochen ausgesehen, aber er selbst hatte in erster Linie ein großes Loch von Gleichgültigkeit verspürt.

Mein Vater, so hatte er draußen auf dem windigen Friedhof gedacht. Du musst der Ursprung meiner Tage gewesen sein, aber du bist immer wie ein Fremder für mich gewesen. Ein Fremder und ein Quälgeist.

Er wünschte, es wäre nur Einbildung, doch dem war nicht so. Der Unterschied zwischen der Art, wie der Vater sich seinen kleinen Schwestern gegenüber verhalten und wie er versucht hatte, seinen Sohn zu erziehen, war himmelschreiend gewesen. Milos war ein Mann, und er sollte wie ein Mann angefasst werden. Von Anfang an, das war eine Art Credo gewesen; wen man liebt, den züchtigt man. Und wenn man ihn nicht züchtigt, dann stutzt man ihn zumindest zurecht. Die sechs und acht Jahre jüngeren Mädchen waren Puppen, sie waren immer schon Puppen gewesen, dachte Milos, amerikanische, verwöhnte, alberne Barbiepuppen – zumindest von seinem eigenen, erklärtermaßen subjektiven Standpunkt aus gesehen –, doch das war eine Wut, über die er nicht gern sprach und die er nicht loswurde. Schon gar nicht, wenn die Ursache sechs Fuß unter der Erde auf dem St. Michael’s Friedhof lag und es zu spät war, etwas daran zu ändern.

Es gab auch eine Wut, die sich gegen Mr. Jan Kopper richtete, doch die war anders, von eher allgemeiner Art. Und wenn er etwas bei den Tischgesprächen in der Küche in der Burns Street und später in der Roosevelt Avenue gelernt hatte, dann, dass man die Hand nicht beißt, die einen füttert. Das galt in Bratislava, genau wie es in New York City galt.

Gut sieben Jahre später, im Dezember 2009, arbeitete Milos Skrupka immer noch bei Kopper Car Splendid Service and Wash, doch da die Firma gewachsen war und er trotz allem eine solide betriebswirtschaftliche Ausbildung im Gepäck hatte, kümmerte er sich nun um die Bücher. Er saß in einem kleinen Büro über dem ersten KCSSW, in der East 3rd Street, nur fünf Straßen von der Wohnung von 350 Quadratfeet entfernt, in die er vor ein paar Jahren gezogen war, und da er inzwischen vierunddreißig Jahre alt war, hatte er langsam das Gefühl, dass ihm das Leben durch die Finger rann. Seit er geschlechtsreif geworden war, war er mit drei verschiedenen jungen Frauen zusammengewesen, einer Weißen, einer Gelben und einer Schwarzen, hatte aber nie mit einer von ihnen unter einem Dach gewohnt. Die letzte Affäre, mit Maureen aus Botswana und Brooklyn, hatte ihr Ende im Mai des letzten Jahres gefunden. Er ging mit guten Freunden aus (Zlatan und Phil, beide genauso hoffnungslos alleinstehend wie er selbst, beide Computernerds, was zu werden er selbst zu vermeiden versuchte) und trank sich einmal die Woche um den Verstand. Normalerweise in irgendeiner Bar in Lower East oder East Village. Ging einmal im Monat zum Basketball oder Eishockey in den Madison Square (in derselben Besetzung), guckte durchschnittlich fünfzehn DVD-Filme die Woche, und nachdem das lockere Verhältnis zu Maureen überstanden war, ging er davon aus, dass das Leben vermutlich nicht mehr viel besser werden würde.

Was sich – zumindest bis dato, anderthalb Jahre später – als größtenteils richtige Einschätzung herausgestellt hatte. Und dann rief an einem Donnerstag zwischen Thanksgiving und Weihnachten seine Schwester Marta von ihrer Arbeit in Upper West Side an und berichtete ihm, dass ihre Mutter ins St. Vincent’s Hospital in der siebten Avenue eingeliefert worden war und dass es ernst war.

Krebs in der Bauchspeicheldrüse, das erfuhr er, als er dort ankam. Inoperabel, diese Information bekam er außerdem. Es war nur noch eine Frage von Wochen.

Dieses Mal trauerte er. Er begriff, dass er sich seine Mutter als unsterblich vorgestellt hatte, was sie natürlich nicht war. Sie war neunundsechzig Jahre alt, und er begriff auch, dass sie das einzige Wesen auf dieser Erde war, das er jemals geliebt hatte, das einzige, das ihm etwas bedeutete, und er brach dort im Krankenhaus zusammen. Seine Schwestern fanden das beide peinlich, aber ihre Mutter erklärte, dass der Kummer, den man spürt, die Privatsache jedes Einzelnen sei und nichts, worüber andere sich ein Urteil erlauben durften.

Die Mutter blieb im St. Vincent’s, es war nur noch so wenig Zeit, dass es als sinnlos angesehen wurde, sie irgendwo anders hinzuschaffen. In den Tagen nach ihrer Einweisung verschlechterte ihr Zustand sich stetig, und es war fraglich, ob sie es überhaupt bis zum Jahreswechsel schaffen würde.

Am 23. Dezember, zwei Tage vor Weihnachten, rief eine Krankenschwester an, um ihm zu sagen, er solle ins Krankenhaus kommen. Sie erklärte ihm, dass seine Mutter ihm etwas Wichtiges mitzuteilen habe. Sie hatte der Schwester erklärt, dass es sich um ein Geheimnis handele und sie umgehend ihren Sohn sehen müsse. Milos fragte, ob er dafür sorgen solle, dass seine Schwestern auch kämen, aber die Krankenschwester zitierte seine Mutter mit den Worten, diese dürften unter keinen Umständen dabei sein.

Er nahm ein Taxi quer durch Manhattan, schloss die Augen vor allen Staus und jeglicher Weihnachtsdekoration, die ihn höhnisch aus allen Schaufenstern und von jeder Straßenecke aus anzugrinsen schien, während er sich vorzustellen versuchte, worüber seine Mutter wohl mit ihm sprechen wollte. Was es sein konnte, was so wichtig war, dass sie es ihm unbedingt mitteilen musste, bevor sie starb. Ein Geheimnis?

Als er auf der Station ankam, wurde er von derselben Schwester empfangen, mit der er am Telefon gesprochen hatte. Sie bat ihn, sich auf einen hellgrünen Plastikstuhl zu setzen, legte ihm eine Hand auf den Arm und teilte ihm mit, dass seine Mutter vor nur zwanzig Minuten gestorben sei. Es war unbegreiflich schnell gegangen, man hatte noch versucht, ihn über sein Handy zu erreichen, doch als er in seinen Jackentaschen suchte, wurde ihm klar, dass es zu Hause auf dem Küchentisch lag.

Die Schwestern waren bereits auf dem Weg.

6

Den Brief bekam er sieben Monate später. Am 23. Juli 2010.

Es war ein Freitag. Genau genommen war es sein letzter Arbeitstag vor einem zweiwöchigen Urlaub. Am nächsten Morgen wollte er zusammen mit Zlatan und Phil den Zug von der Grand Central Station nehmen, sie hatten eine Blockhütte oben in den Adirondacks gemietet; angeln, Wanderungen, Computerspiele, Bier, Single Malt Whisky, Lagerfeuer und zwei Dutzend DVD-Filme standen auf dem Programm. Es war der dritte Sommer in Folge, in dem sie sich diese Art von Arrangement gönnten. Der klebrigen Sommerhitze Manhattans für eine Weile zu entgehen, das war etwas, nach dem alle vernunftbegabten Menschen strebten. Als er mit dem Umschlag in der Hand dastand, war es halb sechs Uhr abends, und das Thermometer vor seinem Fenster zeigte einhundertunddrei Grad Fahrenheit.

In dem Umschlag lagen eine Nachricht und ein elektronisches Flugticket. Die Nachricht war nur wenige Zeilen lang, das Ticket war auf seinen Namen ausgestellt und betraf einen Flug mit British Airways vom Kennedy Airport am 22. September. Business Class nach London Heathrow, Rückreise am 27. Bevor er den Brief las, inspizierte er den Preis. 1380 Englische Pfund, er rechnete sie im Kopf um, das waren ungefähr 2000 Dollar.

Sehr geehrter Mr. Milos Skrupka,

Bitte machen Sie mir die große Freude, an meinem 70. Geburtstag am 25. September dieses Jahres mein Gast zu sein. Für Sie ist ein Zimmer für vier Nächte reserviert im Hotel The Rembrandt, 11 Thurloe Place, Knightsbridge, SW7 2RS London.

Weitere Informationen erwarten Sie bei Ihrer Ankunft.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Leonard V, ein Freund und Gönner

U.A.w.g. spätestens bis zum 15. August an [email protected]

Er las den Text drei Mal, ging alle Informationen auf dem Flugticket noch einmal durch und stellte sich dann unter die Dusche.

Es ließ ihm keine Ruhe. Während der Woche in den Adirondacks war er mehrere Male kurz davor, Zlatan und Phil von dem Brief zu erzählen, doch irgendetwas hielt ihn zurück. Nach seiner Rückkehr nach New York fragte er sowohl seine Schwestern als auch Mr. und Mrs. Kopper, inwieweit sie jemanden namens Leonard kannten, bekam aber überall nur negative Antworten. Er versuchte zu googeln, doch da er nur den Vornamen und das Initial des Nachnamens hatte, war das sinnlos.

Am 14. August schickte er eine E-Mail, in der er erklärte, dass er die Einladung dankend annehme, aber gern weitere Informationen hätte, bevor er sich ins Flugzeug setzte.

Er bekam keine Antwort, schickte eine Erinnerung am 21., doch auch die ohne Erfolg.

Freund und Gönner?

Er drehte und wendete diese Worte. Dachte, dass es sich vielleicht um einen Scherz handeln könnte. Dass es sich gar nicht um ein richtiges Flugticket handelte, sondern nur um etwas, das so aussah wie ein Ticket. Konnte es ein übler Scherz sein, von Zlatan und Phil in Szene gesetzt? Würden die beiden da draußen auf dem JFK stehen, wenn er versuchte einzuchecken, und sich totlachen? Das sah ihnen zwar nicht ähnlich, war aber dennoch nicht vollkommen ausgeschlossen.

Am 25. August rief er bei British Airways an und vergewisserte sich, dass er auf der Passagierliste stand. Eine freundliche Frau mit einem Akzent, der so britisch war, dass er fast nicht verstand, was sie sagte, teilte ihm mit, dass dem gewiss so sei, oh, yes indeed, Mr. Scroopcar! – und am folgenden Tag erklärte er Mr. Jan Kopper, dass er Anfang September eine Woche wegen einer speziellen Angelegenheit frei nehmen müsse. Mr. Jan Kopper erklärte ihm seinerseits, das sei das Lächerlichste, was er seit vielen Jahren gehört habe. Milos hatte ja nun for fuck’s sake gerade einen langen, unverdienten Urlaub gehabt, und er tue gut daran, sich diese Woche in irgendein zur Verfügung stehendes Loch zu stecken. Milos entgegnete, dass er sich in diesem Fall wohl von Kopper Car Splendid Service and Wash verabschieden müsse. Es gebe genügend Jobs für Leute mit seiner Qualifikation in dieser erfolgsverwöhnten Metropole.

Mr. Jan Kopper starrte ihn mit rot unterlaufenen Augen an und sagte, what the fuck, aber die Arbeit holst du nach, und glaub ja nicht, dass du nicht zu ersetzen bist.

Er konnte nicht sagen, wann der Gedanke an Leya aufgetaucht war. Ob vor oder nach den Adirondacks; vielleicht hatte sie sich wie ein kaum wahrzunehmender Same bereits in seinem Kopf eingenistet, als er mit dem Brief in der Hand dastand. Ein Same, der in seinem Unterbewusstsein bis zu der Nacht heranwuchs, in der er von ihr träumte, knapp zwei Wochen vor der Abreise. Es war nicht so abwegig, das anzunehmen. Auf jeden Fall hatte er weder mit Zlatan noch mit Phil über sie gesprochen, und auch sonst mit niemandem.

Als ob es jemand anderen gäbe, mit dem er hätte reden können, dachte er verbissen, während er an seinem dreibeinigen Küchentisch saß, Cornflakes mit Buttermilch in sich hineinschaufelte und auf die Uhr schaute, um sich zu vergewissern, dass er keine Zeit verschwendete. Wenn er demnächst von seiner verantwortungsvollen Arbeit bei Kopper Car Splendid Service and Wash frei nehmen wollte, würde ein verspätetes Erscheinen zweifellos seinem generösen Arbeitgeber und Gönner bis an die Grenze des Tolerierbaren missfallen.

Gönner? Nein, das Wort gehörte in einen anderen Zusammenhang.

Das tat Leya auch, und deshalb hatte er von ihr geträumt. Genauer gesagt waren sie in London zu Hause, alle beide. Sein Gönner und Leya.

Sie war die zweite der drei Frauen, mit denen er während seiner ungefähr achtzehn Jahre, die er nunmehr schon geschlechtsreif war, zusammen gewesen war; die Gelbe, und wie man die Sache auch drehte und wendete, sie war diejenige, die er am meisten vermisste. Sie waren fast ein Jahr zusammen gewesen, mehr oder minder, auf jeden Fall aber von August 1999 bis Juli 2000, und der Grund für ihre Trennung war nicht, dass sie Schluss gemacht hätten oder einander überdrüssig geworden wären, wie in dem weißen und in dem schwarzen Fall. Leya, die vom Ursprung her koreanisch war, aber in Philadelphia geboren, war nach London gezogen, ganz einfach. Die Bank, in der sie im Financial District gearbeitet hatte, hatte qualifizierte Leute für ihre Niederlassung in England gebraucht, und Leya war die Qualifizierteste, die sich ihre Chefs denken konnten.

Was ihre Qualifikationen betraf, so konnte Milos diese Beurteilung nur unterschreiben, auch wenn er dabei andere Arten von Qualifikationen im Auge hatte. Auf jeden Fall hatten sie, als vernünftige Menschen, die sie nun einmal waren, klein beigegeben und sich ohne übertriebene Dramatik getrennt – nach einem langen, teuren und traurigen Essen in einem kleinen französischen Restaurant in der Bedford Street in Greenwich Village. Das war am 20. Juli 2000 gewesen, in derselben Nacht hatten sie sich ein letztes Mal in der 27. Straße, in Leyas kleiner Wohnung, geliebt – die bis auf eine Matratze, eine Decke und zwei Kissen bereits leer war –, und am folgenden Nachmittag hatte Leya sich am JFK in ein Flugzeug gesetzt.

Sie hatten sich nie wiedergesehen. Hatten einige Jahre lang vereinzelt E-Mails ausgetauscht, doch wenn Milos sich recht erinnerte, dann hatte er nach dem elften September nichts mehr von ihr gehört.

Und jetzt wollte er sich demnächst in ein Flugzeug mit demselben Ziel setzen. Kein Wunder, dass sie in seinen Träumen auftauchte. Kein Wunder, dass er allmählich wieder an sie dachte.

Inzwischen waren zwar fast zehn Jahre vergangen, und London war eine große, lebendige Stadt, das wusste er, auch wenn er noch nie seinen Fuß in sie gesetzt hatte. Aber er hatte eine Telefonnummer und eine Adresse. Ob beides nach so langer Zeit noch aktuell sein konnte – und ob sie immer noch allein lebte oder überhaupt noch in London lebte –, das waren natürlich Fragen, die nicht zu beantworten waren. Aber wer nicht zu träumen wagt, der wagt auch nicht zu leben.

Als eine Konsequenz aus diesen Überlegungen vermied er es, ihr eine E-Mail zu schicken. Ich bin fünfunddreißig Jahre alt, dachte er. Ich kriege langsam eine Glatze und bin fast übergewichtig. Es ist an der Zeit, dass ich etwas aus meinem Leben mache.

7Irina

Irina Miller litt unter einer Zwangsneurose.

Das war schlimm, aber es hätte noch schlimmer sein können. Wenn man bedachte, dass ihre Mutter Therapeutin und ihr leiblicher Vater Psychiater waren, dann dachte sie jedes Mal, dass sie doch noch glimpflich davongekommen war. Deutlich schlimmer hatte es ihren Zwillingsbruder getroffen. Seit Gregorius in die Pubertät gekommen war, war er total verrückt, und es gab nicht viel, was darauf hindeutete, dass es irgendwann besser werden könnte.

Aber er lief trotz allem immer noch frei herum. Ein verwegener Psychopath, der sich mit allen Tricks und Täuschungen durchs Leben schlug, ebenso geschickt wie ein professioneller Slalomfahrer einen steilen Abhang hinunter – so hatte er es selbst vor ein paar Jahren einmal beschrieben, als sie gemeinsam gegessen und sich etwas betrunken hatten, und sie fand, das war ein ziemlich treffendes Bild. Und das fand sie immer noch, die Frage war eigentlich nur, wann die Geschwindigkeit so hoch sein würde, dass er ein Tor verfehlte und aus dem Rennen flog. Sie hatte das Gefühl, dass der Tag kommen würde, und sie war sich sicher, dass auch Gregorius dieses Gefühl hatte. Der lag wahrscheinlich in gar nicht so weiter Ferne, aber genau genommen war das ja nun nicht ihr Problem.