Hinter dem Gwätt - Leontina Lergier-Caviezel - E-Book

Hinter dem Gwätt E-Book

Leontina Lergier-Caviezel

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Beschreibung

Ein Bergdorf im romanischsprachigen Graubünden der 1960er-Jahre. Andrea, eine junge Eingeheiratete aus dem Unterland, versucht den seltsamen Bann um die alte Urschla zu brechen, "die Stumme", wie sie von den Einheimischen nur genannt wird. Jeder weiss, wann sie ihre Sprache verloren hat, doch um das Warum hat sich ein Mantel aus Schweigen, Unwissenheit und Gerüchten gelegt. Um herauszufinden, was am Tag des Unglücks vor vielen Jahren tatsächlich geschehen ist, wagt Andrea Opposition gegen die ungeschriebenen Regeln einer dörflichen Gemeinschaft – und bricht damit auch die Gesetze, die in der Familie ihres eigenen Mannes gelten. Die Frau komme zu kurz in der von Männern dominierten rätoromanischen Literatur, findet Leontina Lergier-Caviezel. Ihre Romane sollen dieses Missverhältnis ein Stück weit ausgleichen, mit Frauenfiguren aus Frauenschreibhand. In dieser Hinsicht ist Hinter dem Gwätt – 2018 unter dem Originaltitel "Davos ils mugrins" erschienen – eine logische Fortsetzung ihrer bisherigen literarischen Arbeit, denn auch in ihrem jüngsten Roman spielen Frauen die letztlich zentralen Rollen. Mit Hinter dem Gwätt liegt nun erstmals ein Roman von Leontina Lergier-Caviezel in deutscher Übersetzung vor. Übersetzt aus dem Surselvischen hat Jano Felice Pajarola aus Cazis.

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Leontina Lergier-Caviezel

Hinter dem Gwätt

verlag die brotsuppe

Leontina Lergier-Caviezel

Hinter dem Gwätt

Roman

übersetzt aus demRätoromanischen (Sursilvan)von Jano Felice Pajarola

verlag die brotsuppe

Gwätt, Surselvisch mugrin: Eckverbindung der Haus- und Zimmerbalken an einem aus Kant- oder Rundholz erstellten Gebäude. Typisch für die alpine Strickbauweise; in Bündner Dörfern häufig an alten Ställen oder Wohnhäusern zu sehen. Surselvisch »d’in mugrin a l’auter«: Verbreitet sich ein Gerücht im Dorf, macht es die Runde «von einem Gwätt zum anderen».

Inhalt

Prolog

Erster Teil

1. Ich

2. Pieder

Trudi

3. Pieder

Trudi

Zweiter Teil

1. Ich

2. Ich

Pieder

Trudi

Ich

3. Ich

Trudi

4. Pieder

5. Trudi

Pieder

6. Pieder

Trudi

Ich

7. Pieder

Ich

Trudi

Ich

Pieder

Trudi

Pieder

Ich

Pieder

Die Autorin

Der Übersetzer

Prolog

Ihre Augen sind erloschen, sie ist kalt und starr. Wird nichts mehr verraten können.

Urschla ist aufgebahrt, nur ganz wenige haben sich zu ihrer Beerdigung in der Kirche versammelt. Mitten im Raum lehnt ein einsamer Kranz am Sarg. Und alle fragen sich: Von wem ist er? Von ihrem Sohn? Der, kaum aus der Schule, Mutter und Elternhaus verlassen hat? Und nie mehr zurückgekehrt ist? Die wenigen Angehörigen der Stummen, Cousins oder noch entferntere Verwandte wüssten nicht mal, wohin der Kerl verschwunden sei. Heisst es im Dorf. Sogar die Tante, die einzige Schwester seines längst verstorbenen Vaters, habe keine Ahnung. Was aber nicht weiter verwunderlich sei, habe sie doch nie engeren Kontakt mit dem Sohn der Stummen gehabt. Auch damals nicht, als er noch im Dorf zur Schule gegangen sei. Seit dem Unglückstag vor vielen Jahren habe sie sich keinen Deut mehr um die Schwägerin oder den Neffen geschert. Nach der Tragödie, die das Dorf in seinen Grundfesten erschüttert hatte. Schlimmer als ein Erdbeben. Was passiert war, hatte alle verstört, entsetzt hatten sich die Leute wie Schafe zusammengedrängt und versucht, es zu verstehen.

Als Pieder, der Nachbar, eines Abends im Mai vom Maiensäss ins Dorf herabstieg, eine Tanse Milch für seine Familie auf dem Rücken, sah er Urschlas Bub auf der Treppe vor der Haustür sitzen, ganz verloren. Antwort gab der Junge nicht, und sobald Pieder vor ihm stand, wurde ihm klar, dass etwas geschehen sein musste. Er ging ins Haus und fand Urschla im Flur, am unteren Ende der Stiege, die hinauf ins Schlafzimmer führte. Bewusstlos und blutüberströmt. Sie musste die Stufen hinuntergestürzt sein, schwer zu sagen, wie lange sie schon dalag.

Früh am nächsten Morgen eilte einer der Verwandten aufs Maiensäss, um Gionantoni, dem Mann der Verunglückten, die schlimme Nachricht zu überbringen. Auch Gionantoni war, wie die meisten Bauern um diese Jahreszeit, auf dem Berg, um das Vieh zu füttern und es auf den Wiesen weiden zu lassen. Eine Telefonleitung bis dort gab es nicht, und das Handy war noch nicht erfunden. Was der Überbringer der Nachricht auf dem Maiensäss vorfand, waren hungrige Tiere, Kühe mit übervollen Eutern – und im Stall hing Gionantoni von der Heubühne herab. Stocksteif. Unglaublich! Als wäre der Unfall unten im Haus nicht schon schlimm genug gewesen. Die Polizei untersuchte die Sache, aber offenbar konnte niemand Antworten liefern, die irgendetwas geklärt hätten. Niemand im Dorf hätte auch nur von einem einzigen bösen Wort zwischen den Eheleuten berichten können. Nie und nimmer. Die ganze Tragödie blieb allen ein Rätsel.

Wusste der Bub, was passiert war? Alles Fragen nützte nichts, weder in diesen ersten Tagen noch später. Sprach man ihn auf den Unfall seiner Mutter an, blickte er ins Leere. War denn der Vater dabei gewesen, als es geschehen war? Mal schüttelte er den Kopf, mal nickte er. Es war Ende der Sechzigerjahre, niemand in der Gegend wäre auf die Idee gekommen, den Jungen von Pontius zu Pilatus zu schicken, um Hilfe oder Rat in psychologischen Dingen zu bekommen. Letztlich fanden sich die Leute damit ab, dass der Bub, eingeschult erst ein Jahr nach dem Unglück, keine Antwort gab, wenn es um diese eine Sache ging. Sicher habe er einen Schock gehabt, das wäre ja nicht weiter verwunderlich. Auch nicht, dass er so still geworden sei, er, der vor dem Unglück ein so fröhlicher Lausbub gewesen war. Seit jenem Tag redete er nicht viel mehr als das Allernötigste. Ja, nein, danke, guten Tag, weiss nicht, adieu. Und dabei blieb es. Aber in der Schule war er fleissig, trotz seiner Schweigsamkeit.

Die Wirbelsäule der Mutter war an zwei Stellen gebrochen, doch sie erholte sich wieder und kehrte mit Krücken aus dem Sanatorium zurück, wo sie sich so lange abgemüht hatte, bis sie wieder gehen konnte. Ja, sie lief ein bisschen krumm damals, und so sollte es auch bleiben, ihr Kopf aber hatte nicht weiter unter dem Unfall gelitten, davon konnte sich ein jeder bald selbst überzeugen. Auch wenn ihr das Gehen am Anfang viel Mühe bereitete, besorgte sie den Haushalt selbst, und ihr Sohn, der monatelang bei den Grosseltern gelebt hatte, konnte wieder bei ihr einziehen.

Während die Rückenverletzung halbwegs verheilte, war eine andere Beeinträchtigung von Dauer: Seit Urschla im Spital wieder zu sich gekommen war, schien sie nicht mehr sprechen zu können. Zuerst machte sich niemand Sorgen, hatte doch ihr Unterkiefer, gebrochen beim Treppensturz, operiert und fixiert werden müssen. Aber als der Unterkiefer wieder heil am richtigen Ort sass, sprach die Patientin noch immer nicht. Die Monate vergingen, doch sie blieb stumm. Die Ärzte zuckten mit den Achseln, sprachen von einem Schock, von zu langer Bewusstlosigkeit. Wie lange sie gedauert hatte, wusste ja niemand. Der Tisch im Haus war gedeckt gewesen, als man Urschla gefunden hatte. Für das Mittag- oder das Abendessen? Und auf dem Maiensäss hatte am Abend des Unglücks ganz offensichtlich niemand das Vieh gefüttert oder weiden lassen. Falls denn das Drama oben am Berg einen Zusammenhang hatte mit dem Unfall unten im Haus.

Mit den Jahren nannten die Leute Urschla nur noch »la metta«, die Stumme.

Nach der Rückkehr aus dem Sanatorium begann sie, die Leute zu meiden. In den ersten Wochen hatten noch fast alle den Kontakt zu ihr gesucht, sich um sie bemüht, die einen aus Mitleid, die anderen in der Hoffnung, mehr zu erfahren. Doch die Stumme, in ihrer Eigenart, vertrieb und verscheuchte sie alle. Die Leute wurden es bald leid, nie eine Antwort zu bekommen. Urschla zeigte weder ein Kopfnicken als Zeichen der Bestätigung noch schüttelte sie den Kopf, um etwas zu verneinen. Sie schaute die Leute, die zur Tür hereinkamen und ihre Hilfe anboten, nicht einmal an.

»Ein bisschen seltsam war sie ja schon lange«, stellten die Leute beleidigt fest und zuckten mit den Achseln.

Mit der Zeit hörte das Dorfgerede über das Unglück auf. Die junge Generation von heute weiss kaum etwas darüber, denn die Älteren reden längst nur noch in halbfertigen Sätzen oder hinter vorgehaltener Hand von den schrecklichen Vorfällen. Deuten Dinge an, die sie vermutlich erfunden haben, weil ja niemand etwas Konkretes weiss. Oder doch?

Erster Teil

1.Ich

lernte die Stumme irgendwann Anfang der Neunzigerjahre kennen. Als ich mich in unserem kleinen Bündner Dorf niedergelassen hatte, mehr aus Zufall als aus anderen Gründen.

Mit fünfundzwanzig war ich mehr oder weniger aus Zürich geflüchtet, ich brauchte etwas Abstand von meiner Familie, meinen Freunden, von Orten, die mich an eine missglückte Beziehung erinnerten. Ein Regionalspital in den Bündner Bergen suchte eine Krankenschwester, ich hatte mich ohne grosse Begeisterung beworben. Einzig, um diese Beziehung zu vergessen, die zwar kurz, aber umso intensiver gewesen war. Nicht einmal drei Monate hatte sie gedauert, und von diesen wenigen Wochen waren die letzten voller Misstöne gewesen. Dennoch war der endgültige Bruch für mich so unerwartet gekommen, dass ich litt wie ein Hund. Meine Eltern, die nicht mal Gelegenheit gehabt hatten, meinen Prinzen kennenzulernen, konnten meine Schwermut nicht verstehen. Und Marc, mein Bruder, der meine geröteten, geschwollenen Augen sah, versuchte mein trauriges Los mit lustigen Sprüchen etwas erträglicher zu machen.

Das Spital rief mich nach Graubünden, und ich gab meiner Familie Bescheid, ohne sie vorgewarnt zu haben. Während Vater meinte, das sei wirklich eine gute Idee, war meine Mutter beunruhigt:

»Aber warum denn ausgerechnet in den Bergen?«

Sie, die immer im städtischen Umfeld gelebt hat und sich noch heute nicht vorstellen mag, wie man es auf dem Land aushalten kann, geschweige denn im Gebirge.

Marc erkannte sofort die Vorteile meines unerwarteten Umzugs:

»Prima, Schwesterherz – ich komme dann im Winter jedes Wochenende zu Besuch. Schau einfach, dass du ein Eckchen für mich und meinen Schlafsack parat hast.«

Er, der ein passionierter Skifahrer war und blieb, trotz der Angst unserer Mutter vor Pisten, vor steilen Hängen überhaupt. Marc, der noch lange Zeit ein Student mit leerem Portemonnaie sein würde.

Wir beide, mein Bruder und ich, suchten gemeinsam eine Bleibe für mich und fanden schliesslich eine kleine Wohnung in einem Dorf, nicht weit von meinem neuen Arbeitsplatz entfernt. Marc löste sein Versprechen ein und machte während meiner ersten Jahre in Graubünden fleissig Gebrauch von meinem Sofa.

Der Wohnortwechsel zeigte bald die gewünschte Wirkung, meine Wunden verheilten in der neuen Heimat schnell. Wider Erwarten gefiel mir die familiäre Atmosphäre im Spital und im Dorf, in dem ich mich niedergelassen hatte. Ich mochte es, in meinen eigenen vier Wänden zu leben und völlig unabhängig zu sein. Ich hatte mein Elternhaus spät genug verlassen, nun konnte ich plötzlich nicht mehr verstehen, weshalb ich so lange bei Vater und Mutter geblieben war. Im Dorf, das zu jener Zeit um die vierhundert Einwohner zählte, kannte ich bald jede und jeden. Auch die Stumme – wenigstens aus gelegentlichen Bemerkungen, die zu hören waren, wenn man mit Einheimischen zusammensass.

Später sah ich sie manchmal. Auf der Sitzbank vor ihrem Haus.

Es liegt in Crestas, einem Weiler etwas oberhalb des Dorfs. Im zweiten Haus in Crestas wohnt mein Liebster. Silvio. In meinem dritten Jahr in Graubünden sind wir uns nähergekommen. Wer Silvio besuchen will, seine Eltern oder den Bruder, der später einmal den Hof übernehmen wird, kommt am Haus der Stummen vorbei. Den Eingang mit der Sitzbank zur Rechten sieht man von der Strasse aus gut, auch wenn sich dazwischen der Garten befindet. Nach den Häusern von Crestas führt die Strasse als Landwirtschaftsweg weiter zu den Maiensässen. Hinter dem Haus der Stummen: ein grosses Gebäude mit Scheune und zwei Viehställen. Überflüssig geworden, als sie nach dem Unglück Wiesen und Tiere verkaufte. Erzählt mein Schatz.

Ich grüsse die Stumme über den Gartenzaun und winke, als ich das erste Mal vorbeigehe und sie vor dem Haus entdecke. Sie rührt sich nicht, obwohl sie in meine Richtung schaut und mich gesehen oder wenigstens gehört haben muss. Aber was habe ich erwartet, nach all dem, was ich über sie vernommen habe? Dass sie sich ausgerechnet mit mir anfreundet, einer Fremden, sie, die ja offenbar mit niemandem etwas zu tun haben will?

Ein andermal treffe ich sie unterwegs, sie kehrt gerade mit vollem Rucksack vom Dorf zurück. Ich halte an und frage, ob ich sie das letzte Stück Weg im Auto mitnehmen kann. Sie schaut mich nicht einmal an, schüttelt den Kopf und marschiert weiter. Mit sichtlicher Mühe, gestützt auf den Stock.

An die Zeit, als er bei den Nachbarn noch ein und aus ging, kann sich Silvio kaum mehr erinnern. An die Zeit vor dem Unglück. Gemeinsam mit dem inzwischen längst verschwundenen Sohn der Stummen hatte er seine ersten Streiche ausgeheckt. Aber dann, als von einem Tag auf den anderen nichts mehr war wie zuvor, verbot ihm die Mutter, weiterhin zu den Nachbarn zu gehen. Sich überhaupt mit Norbert abzugeben, dem Jungen, der den Vater auf so tragische Weise verloren hatte.

»Mit solchen Leuten haben wir nichts zu tun.«

Hatte sie entschieden.

Mein Silvio, der – wie Norbert – erst im Jahr nach dem Unglück eingeschult worden war, widersetzte sich nicht. Soweit er sich erinnern kann.

»Hattest du denn keine Mühe damit? Er war doch neben deinen Brüdern das einzige Kind hier oben.«

Silvio zuckt mit den Achseln.

»Erinnerst du dich überhaupt an das Unglück?«

Er überlegt einen Augenblick.

»Ich weiss nur noch, dass Norbert bei uns schlafen durfte. Sonst … nichts.«

Für ihn ist das Thema damit abgehakt, und jegliches Nachbohren bleibt erfolglos.

Ich bringe das Schicksal der Stummen in Gegenwart seiner Familie, der Verwandten, die ebenfalls im Haus wohnen, aufs Tapet. Wenn ich mit ihnen am Tisch sitze – und nicht nur dann –, ist es vor allem Mutter Trudi, die für Unterhaltung sorgt. Pieder ist stets aufmerksam, aber nie ein Mann der grossen Worte. Mit ruhiger Stimme platziert er hie und da eine Bemerkung, stellt die eine oder andere Behauptung richtig und lenkt – wenn nötig – das Gespräch in sichere Bahnen. Martin, normalerweise ziemlich redselig, wird eher wortkarg, wenn die Mutter dabei ist, und lässt lieber sie das Wort führen. Silvio ist kein grosser Plauderer, in dieser Hinsicht kommt er nach dem Vater. Überhaupt findet er, die Mutter rede für drei, deshalb mischt er sich nur ein, wenn es sein muss. Meistens hält er es für ausreichend, gelegentlich zu nicken. Ich hingegen plaudere ganz gern und habe auch keine Hemmungen, Trudi zu unterbrechen, mag sie auch noch so viel zu erzählen oder zu kommentieren haben.

Bietet sich die Gelegenheit, versuche ich also, meine Neugierde zu stillen.

»Eure Nachbarin … die Stumme. Was ist eigentlich mit ihr passiert, damals? Weshalb machen alle so ein Geheimnis daraus?«

Silvio gibt mir unter dem Tisch einen Stoss. Am Tisch weicht das Geklapper von Besteck und Geschirr einer plötzlichen Stille, die über die ganze Runde fällt wie ein Tischtuch. Blicke werden gesenkt. Die Gabel von Vater Pieder fällt zu Boden.

»Bist du noch imstande, dein Werkzeug in der Hand zu halten?«

Blafft seine Frau ihn an, als wäre weiss Gott was passiert.

Niemand rührt sich. Da habe ich wohl in ein Wespennest gestochen. Ich stupfe Silvio neben mir leicht an, wie um zu sagen: Verzeih mir, mein Schatz. Und ich hoffe, es ist nicht so schlimm, wie es scheint.

Was muss ich auch überall meine Nase hineinstecken!

Ich suche nach einer befreienden Bemerkung, finde aber nur ein Hüsteln. Fast gleichzeitig räuspert sich Mutter Trudi und lädt mit einer resoluten Bewegung Makkaroni auf ihre Gabel, um sie im Mund verschwinden zu lassen. Auch Martin gibt sich einen Ruck und kaut weiter, Silvio tut es ihm nach kurzem Zögern gleich. Vater Pieder bückt sich, um seine Gabel aufzuheben.

Das drohende Gewitter hat sich verzogen, es kann weitergehen mit der Mahlzeit.

Ich, der Neuling im Kreis der Familie, wundere mich über die sonderbare Reaktion und bitte Silvio um eine Erklärung. Später.

»Ach … was weiss ich! Von der da reden wir bei uns einfach nie.«

Von der da! Eine Nuance, die man nicht nur aus dem Romanischen kennt, einer Sprache übrigens, in der ich mich ziemlich gut zurechtfinde, seit ich mich darum bemühe. Kaum hatte ich mich im Dorf niedergelassen, hatte ich mich ins Zeug gelegt und eifrig einen Kurs nach dem anderen besucht.

»Und warum nicht?«

Will ich trotz allem genauer wissen.

»Es gab da irgendeinen Streit. Wegen der Wiesen. Kann’s auch nicht genau sagen. Muss zur Zeit meines Grossvaters gewesen sein oder noch früher.«

Die Szene am Tisch und Silvios Antwort stacheln meine Neugierde weiter an –, als ob das nötig gewesen wäre. Und diese Neugierde versuche ich vorsichtig zu befriedigen, wann immer sich die Gelegenheit dazu bietet. Was zwar eher selten ist, aber ich bleibe beharrlich. Von Zeit zu Zeit wird meine Hartnäckigkeit mit dem einen oder anderen Bruchstück belohnt, das ich mir dann so schnell wie möglich aufschreibe. Diese Notizen verstecke ich von Anfang an vor Silvio, der später einmal der Vater meiner Kinder sein wird. Dass ich um meine Nachforschungen ein Geheimnis mache, geschieht ohne grosse Absicht. Oder habe ich etwa eine Vorahnung? Auf jeden Fall will ich mein Tun niemandem erklären müssen.

Silvio und ich heiraten, die Monate vergehen, die Jahre. Meine Notizen zum Unglück von einst bleiben spärlich, obwohl ich selbst in der Nachbarschaft der Stummen lebe, seit wir Haus und Geschäft in Crestas gebaut haben, wenige Schritte vom Elternhaus meines Mannes entfernt. Und obwohl Rino, unser Zweiter, schon laufen lernt und ich die Leute im Dorf immer besser kenne.

Klar, ich kann nicht einfach irgendwo hineinplatzen und Fragen stellen wie ein Detektiv. Es braucht ein gewisses Gespür dafür, im richtigen Moment am richtigen Ort zu bohren. Ich bin bekannt dafür, unkompliziert zu sein, und komme in der Regel schnell mit den Leuten in Kontakt. Ein Vorteil, denn die Einheimischen sind und bleiben grundsätzlich eher zurückhaltend gegenüber Auswärtigen. Dass mein Mann einer der Ihrigen ist, ist meinen Nachforschungen sicher eine Hilfe. Ich selbst gelte, wenn’s darauf ankommt, immer noch als »die Zugezogene«. Man darf diese Tatsache nicht unterschätzen, und es hat eine Weile gedauert, bis auch ich das verstanden habe. Die Einwände und Bemerkungen werden so subtil und beiläufig angebracht, dass man schon sehr gut hinhören muss, um sie wahrzunehmen. Niemand greift zum Vorschlaghammer, aber wenn es sich als nötig erweist, wird man dennoch in die Schranken gewiesen.

Zur Hochzeit hatte ich mir von meinem Mann ein Buffet mit reihenweise kleinen und grossen Schubladen gewünscht. Mein Silvio ist Schreiner und Holzschnitzer, er legte sich richtig ins Zeug und baute mir ein wunderschönes Möbel mit allen Schikanen. Voller Stolz präsentierte er mir unter anderem eine Schublade mit doppeltem Boden.

»Ein verborgenes Fach, um deine Kostbarkeiten sicher aufzubewahren.«

In diesem Moment wusste ich, wo ich die Erzählungen und Anmerkungen versorgen würde, die ich sorgfältig auf Zetteln festgehalten hatte.

Dass ich meine Notizen zum Unglück in Crestas als Kostbarkeit einstufe und sie im versteckten Fach aufbewahre, würde meinen Mann vermutlich auch dann nicht interessieren, wenn er davon wüsste. Er gehört nicht zu denen, die überall Geheimnisse wittern, würde nie auf die Idee kommen, mich auf Schritt und Tritt zu überwachen, und noch weniger würde er in meinen Schubladen herumschnüffeln. Er hat ein Herz aus Gold, mein Silvio. Zwar ist er keiner, der grosse Gefühle zeigt, und besonders gesprächig ist er auch nicht, dafür aber eine feste Stütze, wenn’s darauf ankommt. Gutmütig und gelassen. Streit haben wir selten, und falls es doch mal so weit kommt, gibt er als Erster nach.

Dass Silvio um mein Geheimfach weiss und es ihm jederzeit zugänglich wäre, hilft mir, die leichten Gewissensbisse zu besänftigen, die sich hie und da bemerkbar machen. Es ist aber nicht so, dass das schlechte Gewissen mir den Schlaf rauben würde. Schliesslich ist es ja nicht verboten, sich für rätselhafte Dinge zu interessieren. Also lasse ich die gesammelten Erzählungen mit meinen Anmerkungen weiterhin in der Schublade mit dem doppelten Boden verschwinden.

(Juli 1996, Letizia)

Ich ging damals das letzte Jahr zur Schule, vielleicht waren es sogar die letzten Wochen. Die Väter waren mit dem Vieh auf dem Maiensäss, die Mütter mit den Kindern daheim – wir hatten ja noch Unterricht. Etwa jeden zweiten Tag hatten wir grösseren Kinder, ich oder einer meiner Brüder, die Aufgabe, aufs Maiensäss zu gehen und eine Tanse frische Milch und manchmal ein Stück Butter zu holen. Mein Vater war oben am Käsen, gemeinsam mit Onkel Fidel, der ebenfalls Stall und Scheune in Acla Dado hatte. Die Maiensässhütte teilten sich die beiden. Später hat dann mein Bruder Curdin die Gebäude übernommen.

Ja, ich erinnere mich noch gut an die Ereignisse von damals. Ein Verwandter der Stummen – wie nahe verwandt er war, weiss ich nicht, sie war ja ein Einzelkind, vielleicht war es ein Cousin … oder eher ein Cousin zweiten Grades, da musst du meine Mutter oder meinen Vater fragen. Auf jeden Fall ist er schon tot. Dieser Verwandte also ist nach Plaungrond hinaufgestiegen, um wegen der Stummen Bescheid zu geben, die schwer verletzt im Spital lag. Und dort hat er den Gionantoni gefunden – erhängt. In aller Eile ist der Verwandte danach offenbar nach Acla Dado gekommen, in den Stall, wo mein Vater noch das Vieh am Füttern war, und er soll gezittert haben wie Espenlaub. Es habe einen Moment gedauert, bis er erzählen konnte. Mein Vater ging daraufhin rüber zu seinem Bruder – meinem Onkel – und schickte ihn ins Dorf, um Hilfe zu holen.

In der Schulpause bestaunten wir Kinder das Polizeiauto, das auf dem Dorfplatz stand. Polizei – für uns war das etwas Unerhörtes, ein Abenteuer. Was passiert war, bekamen wir erst am Mittag mit.

Mein Vater kam vom Maiensäss herunter, nachdem er den beiden Polizisten Red und Antwort gestanden hatte, ohne ihnen viel berichten zu können. Er und mein Onkel hatten am Tag zuvor gekäst und am Nachmittag etwas weiter oben ein neues Stück Weide eingezäunt.